Erkül Bwaroo bittet zum Tanz - Ruth M Fuchs - E-Book

Erkül Bwaroo bittet zum Tanz E-Book

Ruth M Fuchs

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  • Herausgeber: Raposa
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Was würde passieren, wenn Agatha Christie über Märchenprinzessinnen schreiben würde? Richtig: mindestens ein Mord.

Der exzentrische Privatdetektiv Erkül Bwaroo wird von Königin Rosamunde zu einem großen Ball geladen. Natürlich ist er mächtig stolz darauf. Aber die Sache hat einen Haken: Unter all den Gästen ist ein Mörder. Der hat es auf zickige Prinzessinnen abgesehen. Und davon gibt es auf dem Ball so einige …

„Smart, clever, humorvoll und mit ganz viel Charme. Das ist Erkül Bwaroo und ich liebe diesen fantastischen Elfendetektiv.“ Renas Bücherleidenschaft

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Inhaltsverzeichnis

Hilfe für eine Königin

Erkül Bwaroo bittet zum Tanz

von Ruth M. Fuchs

Phantastischer Kriminalroman

Impressum

© 2023 Raposa

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Werks darf in irgendeiner Form ohne ausdrückliche vorherige Zustimmung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herausgeber: Raposa – Ruth Fuchs

c/o Block Services, Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach

eMail: [email protected]

Umschlaggestaltung: Chris Schlicht

www.dreamspiral.de

Lektorat: Jochem Reineck

www.ruthmfuchs.de

Für Verena

und ihre tollen Ideen!

Hilfe für eine Königin

Ich war nach Laundom gekommen, um zwei Arztpraxen zu besichtigen. Mein bisheriges Betätigungsfeld war ja Pendrin – die Stadt mit dem renommiertesten Heilbad und den angesagtesten Ärzten. Aber ich hatte beschlossen, lieber nach Laundom zu wechseln, um dort zu praktizieren.

Mein guter Freund Erkül Bwaroo hatte mich eingeladen, bei ihm zu wohnen, so lange ich in Laundom beschäftigt war. Er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, mich persönlich vom Zug abzuholen.

„Mon ami Heystings!“, rief er, als er mich entdeckte und tänzelte begeistert auf mich zu. „Wie schön, Sie endlich einmal wiederzusehen. Es ist viel zu lange her!“

„Ja, da haben Sie recht“, schmunzelte ich. „Aber das wird ja jetzt vielleicht bald anders werden.“

„Mais oui, das wäre schön. Sie wollen also tatsächlich hierher umziehen? Mais pourquoi? Es ist doch sicher nicht der alte Bwaroo, der Sie zu diesem Entschluss getrieben hat. Immerhin ist Pendrin très chic. Alles, was Rang und Namen hat, kommt dorthin.“

„Ich bin es leid, die eingebildeten Wehwehchen müßiggehender Damen zu behandeln, die es aufregend finden, sich eine lebensbedrohliche Krankheit einzubilden“, erklärte ich. „Und die Art und Weise, wie nicht wenige der reichen Faulenzer einfach nur aus Langeweile mit ihrer Gesundheit Schindluder treiben, will ich mir einfach nicht mehr länger mit ansehen. Ich bin Arzt geworden, um Leiden zu lindern. Und auch wenn der Wohlstand, den mir meine Tätigkeit in Pendrin gebracht hat, durchaus angenehm ist – ich will endlich wieder richtige Kranke behandeln! Außerdem dachte ich mir, es wäre vielleicht ratsam, in eine Gegend zu ziehen, in der ich das ganze Jahr über zu tun habe. Vier Monate im Jahr ist in Pendrin der Teufel los, das stimmt. Aber danach kommen acht Monate, in denen Pendrin im Schlaf versinkt und ich meine Praxis eigentlich schließen könnte.“

„Ah non, mon ami!“, winkte mein Freund jedoch ab. „Ce n‘est pas vrai! Zumindest ist es nicht die ganze Wahrheit.Es ist wohl vor allem Mademoiselle Maja Behn, die Sie in die Hauptstadt zieht und ziehen lässt, n’est-ce pas?“

„Fräulein Behn hat gar nichts damit zu tun“, behauptete ich. In den vielen Jahren meiner Bekanntschaft mit Bwaroo hatte ich mich daran gewöhnt, dass er es liebte, französische Brocken in seine Sprache einzustreuen, obwohl das beileibe nicht seine Muttersprache war. Manchmal ging es mir aber trotzdem auf die Nerven. Ich bereute es bereits ein wenig, seine Einladung angenommen zu haben. Das lag aber vor allem daran, dass er, wie ich mir selbst im Stillen eingestehen musste, mal wieder voll ins Schwarze getroffen hatte. Ich hatte Fräulein Behn kennengelernt, als Bwaroo und ich gemeinsam in einem Entführungsfall ermittelten. Das ist gar nicht so seltsam, wie es im ersten Moment klingt, denn mein guter Freund ist Privatdetektiv, und zwar der beste, den es gibt. Zumindest seiner eigenen Meinung nach. Und auch wenn ich das etwas anmaßend finde, ist es doch eine Tatsache, dass er ziemlich brillant und entsprechend erfolgreich ist. Es durfte mich also eigentlich gar nicht wundern, dass er mich sofort durchschaut hatte.

„Nun, Fräulein Behn auf diese Weise öfter zu sehen, ist ein angenehmer Nebeneffekt“, gab ich also zu.

„Nebeneffekt, bah!“, wedelte Bwaroo meine Antwort fröhlich beiseite. „L‘amour est tout. Alles für die Liebe. Und was ist falsch daran? Einen angenehmen Nebeneffekt würde ich eher nennen, dass ich Sie dann auch öfter sehen werde.“

„Das natürlich auch.“ Ich schmunzelte. Es war einfach unmöglich, Bwaroo lange böse zu sein. Seine beinahe kindliche Freude war einfach ansteckend.

„Was haben Sie denn so getrieben, seit unserem letzten Treffen?“, wechselte ich das Thema.

„Bwaroo ist gerade von einer Reise ins Ostreich zurück. Ich habe meinen alten Bekannten im Rotgrasgebirge besucht, den Drachen Hermendrack. Er hat vor kurzem gute Freunde verloren, und ich fuhr zu ihm, um ihn ein wenig aufzumuntern.“

„Freunde, die Sie kennen?“

„Non. Es handelte sich um ein Drachenpaar, das bei einem Erdrutsch ums Leben kam. Allem Anschein nach wurden sie im Schlaf überrascht, was seltsam ist, denn Drachen haben von Natur aus einen sehr leichten Schlaf. Dieses Paar schien vom Pech verfolgt. Erst zwei Jahre zuvor hatte es den Tod seines einzigen Sohns zu beklagen, und die Drächin war danach so deprimiert, dass sie nie wieder ein Ei legte.“

„Haben Sie ermittelt?“

„Da gab es nichts zu ermitteln. Es war ein tragisches Unglück, nichts weiter.“

„Dann also keine interessanten Fälle?“

„Non, für Bwaroo gibt es im Moment überhaupt nichts zu tun. Alle Verbrecher meiden Laundom. Sie haben gelernt, dass sie gegen mich keine Chance haben.“

„Ist das nicht ein wenig übertrieben?“ Ich schmunzelte.

„Natürlich nicht!“ Bwaroo warf mir einen empörten Blick zu. „Selbst der übelste Gauner ist lernfähig. Sie haben sich alle aus Laundom zurückgezogen. Und nun sitze ich hier und langweile mich.“

„Sie sollten sich ein Hobby zulegen. Vielleicht könnten Sie einem Schachclub beitreten. Oder kaufen Sie sich ein Rätselbuch, damit die grauen Zellen fit bleiben. Sie selbst betonen doch immer wieder, wie wichtig das ist.“

„Oui, die kleinen grauen Zellen müssen gefordert werden. Aber sterile, theoretische Denkspielchen – das ist nichts für Bwaroo. Er braucht das Leben und die Wirklichkeit. Die Schicksale hinter den Untaten.“

Wir saßen inzwischen bei Würzmilch und Éclairs in Bwaroos Salon. Unser Gespräch wurde unterbrochen, als Orges eintrat. Orges ist der Diener Bwaroos, der tüchtigste und perfekteste Butler, den man sich denken kann. Er ist ein Mensch. Das betone ich deshalb, weil Bwaroo ein Elf ist. Klein, rundlich, mit einem riesigen schwarzen Schnurrbart und bemerkenswert spitzen Ohren ist er allerdings überhaupt nicht das, was man sich unter einem Elfen vorstellt. Das liegt daran, dass er ein Niederelf ist. Die überirdisch schönen Elfen, die unsereiner mit dem Begriff Elf verbindet, sind in der Regel Hochelfen, der Adel unter den Elfen. Niederelfen sind eher die Arbeiterschicht – auch Bwaroo stammt aus einfachen Verhältnissen, die er jedoch längst hinter sich gelassen, aber nie verleugnet hat.

Orges kam also herein. Auf einem silbernen Tablett trug er einen Brief vor sich her. Daneben lag ein silberner Brieföffner, dessen ziselierter Griff mit Saphiren verziert war.

„Dies wurde eben für Sie abgegeben, Monsieur Bwaroo“, erläuterte er in so neutralem Tonfall, als würde er uns zum Essen bitten.

Dabei war der Brief durchaus nicht irgendeiner. Ein großer cremefarbener Umschlag mit Goldrand und dem königlichen Siegel konnte nur eines bedeuten: Königin Rosamunde, die Herrscherin über die menschliche Bevölkerung der Westländer, beehrte meinen Freund mit einer Nachricht.

„Eine Antwort wird nicht erwartet“, fügte Orges noch hinzu und zog sich dann wieder zurück.

„Na, dann wollen wir doch gleich einmal nachsehen, was Ihre Majestät von mir will.“ Bwaroo lachte, als er die Neugier auf meinem Gesicht bemerkte.

Schwungvoll schlitzte er den Umschlag auf und zog eine Karte heraus.

„La Reine bittet uns zum Tee“, stellte er dann fest.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich auch eingeladen bin“, wandte ich ein, obwohl mich, ich gestehe es, die Aussicht, mit der Königin Tee zu trinken, in freudige Erregung versetzte.

„Unsinn, mon ami“, widersprach Bwaroo vergnügt. „Wenn Königin Rosamunde mich zum Tee bittet, tut sie das, weil sie meine Dienste als Privatdetektiv benötigt. Und Sie, cher Heystings, sind nicht nur mein geschätzter Freund, sondern auch mein Assistent, n’est-ce pas? Also sind Sie auch eingeladen.“

„Wenn Sie es so sehen“, freute ich mich. „Natürlich stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, wenn es etwas zu ermitteln gibt.“

„Bon. Dann wäre das geklärt. Wir können der Königin einen Besuch abstatten und danach die erste der Arztpraxen inspizieren, die Sie besichtigen wollen.“

„Sie wollen mich dabei begleiten?“, staunte ich. „Das hatte ich gar nicht erwartet.“

„Bien sûr, mon ami. Bwaroo wird sich alles ganz genau ansehen. Wenn etwas faul ist an diesen Praxen, wird er es zweifellos sofort bemerken.“

Ich schmunzelte. Natürlich schätzte er sich selbst so ein. Aber vier Augen sehen immerhin mehr als zwei. Es war mir also durchaus recht, dass er mich begleiten wollte.

Das königliche Schloss liegt im Zentrum von Laundom Königsstadt, dem Teil der Stadt, der von Menschen bewohnt wird. Umgeben von Gärten ist es eine weiße Monstrosität, die mehr an eine Zuckergußtorte erinnert, als an ein bewohnbares Gebäude. Einer der beiden Wächter am Eingangstor musterte mich ausgiebig.

„Von ihm steht aber nichts auf der Einladung“, sagte er dann zu Bwaroo.

„Dr. Heystings ist mein Assistent“, antwortete Bwaroo und richtete sich stolz auf. „Wenn er abgewiesen wird, verzichte ich ebenfalls auf die Ehre, die Königin zu sehen.“

Als der Wächter immer noch zögerte, zuckte mein Freund mit den Schultern und drehte sich um, um tatsächlich wieder zu gehen.

„Ja, schon gut, das ist in Ordnung“, hielt ihn der andere Wächter da aber schnell auf. Er bedeutete seinem Kollegen, das Tor aufzustoßen. Wir gingen also hinein.

„Die Königin hält große Stücke auf diesen komischen Kerl“, hörte ich den zweiten Wächter noch leise zu dem ersten sagen. „Da mischt man sich besser nicht ein.“

Bwaroo, dessen Ohren nicht nur überaus spitz, sondern auch sehr gut waren, grinste zufrieden.

Ein Diener empfing uns und führte uns durch zahlreiche Gänge und über fast genau so viele Treppen bis zu einer unscheinbaren Tür, an die er klopfte. Nachdem eine weibliche Stimme von drinnen „Herein“ gerufen hatte, öffnete er die Tür.

„Herr Bwaroo und Dr. Heystings“, verkündete er und bedeutete uns einzutreten.

Da ich im Moment noch in Pendrin residierte, also ein Untertan des Königs des Ostreiches war, hatte ich die Königin bisher noch nie gesehen. Natürlich hatte ich gehört, dass die Königin der Westländer eine besonders schöne Frau sein sollte. Ich hatte aber nie viel darauf gegeben. Mächtige Menschen gelten immer als schön, einfach weil niemand wagt, sie hässlich zu nennen.

Die Frau, die in dem sonnendurchfluteten Zimmer hinter einem Schreibtisch saß, war jedoch tatsächlich eine Schönheit. Nicht mehr in der Blüte der Jugend, aber dafür mit der sicheren Ausstrahlung, die Frauen erst erhalten, wenn sie die dreißig überschritten haben. Ihr goldenes Haar fiel bis über die Ohren herab und wurde dann hinten zusammengefasst. Es sah aus, als würden Flügel ihr ebenmäßiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen umrahmen. Als sie sich erhob, konnte ich feststellen, dass sie außerdem groß und schlank war. Ich bin nicht gerade klein, aber diese Frau war fast mit mir auf Augenhöhe. Sie erlaubte sich ein Schmunzeln, als sie uns begrüßte, und ihre großen blauen Augen blitzten amüsiert.

„Ah, Monsieur Bwaroo.“ Ihre Stimme klang wie dunkler Samt. „Sie brauchen also Verstärkung, um sich in meine Nähe zu wagen?“

„Pas du tout!“, protestierte Bwaroo. „Mein Freund Doktor Heystings ist mein geschätzter Assistent. Und da ich annehme, dass Ihr meine Dienste benötigt, habe ich ihn der Einfachheit halber gleich mitgebracht.“

Er wies auf mich, und ich, der ich ganz in die Betrachtung dieser schönen Frau versunken war, hatte immerhin noch genug Geistesgegenwart, um mich tief zu verbeugen.

Sie nickte mir zu und wies dann auf eine Sitzgruppe.

„Nehmen wir doch dort in der Ecke Platz. Ich habe mir erlaubt, Tee für uns drei zu ordern.“ Sie lachte leise. „Zum Glück habe ich schnelle Diener. So bleibt mir die Verlegenheit erspart, ein Gedeck zu wenig zu haben. Ein leichter Kräutertee für Sie, Monsieur Bwaroo? Und ich hoffe, Sie schließen sich mir beim Hagebuttentee an, Doktor Heystings?“

„Gerne.“ Nun war es an mir zu schmunzeln. Die Königin war wirklich ausgezeichnet informiert. Ihr war sogar Bwaroos Abneigung gegen Hagebuttentee bekannt, den Tee, der eigentlich immer und überall bevorzugt serviert wurde, wenn man etwas auf sich hielt.

Wir wechselten zu einigen eleganten und trotzdem recht bequemen Sesseln, die um einen niedrigen runden Tisch gruppiert waren. Sie waren, wie eigentlich das ganze Mobiliar, sehr geschmackvoll in dezenten Farben gehalten. Dadurch fiel ein großes Portrait an der Wand gegenüber der Tür ganz besonders auf. Es zeigte in kühnen Strichen einen lächelnden Mann – zweifellos König Edelgar, dessen Witwe die Königin war. Durch die Farbwahl dominierte das Bild praktisch den ganzen Raum. Ich fragte mich kurz, ob die Königin sich dadurch überwacht oder eher unterstützt fühlte – wahrscheinlich Letzteres.

„Sie haben völlig recht, Monsieur Bwaroo“, erklärte die Königin derweil, während sie es höchstpersönlich übernahm, die drei Teeschalen zu füllen. „Ich benötige Ihre Hilfe.“

„Was kann ich für Euch tun?“, wollte Bwaroo wissen.

Die Königin zögerte einen Moment und gab den beiden Wachen an der Zimmertür einen Wink. Sofort verließen sie das Zimmer. Aha, ging es mir durch den Kopf, die Königin will nicht belauscht werden.

„Die Sache ist die ...“, begann Rosamunde, „der Kronprinz des Königreichs des Nordens soll endlich heiraten.“

„Dieser Hohlkopf?“, platzte Bwaroo heraus, und ich hielt erschrocken den Atem an.

Doch Königin Rosamunde lächelte.

„Er ist nicht gerade der Hellste“, nickte sie. „Aber, nun ja, er wird irgendwann den Thron besteigen und braucht eine Frau dazu. Sicher erinnern Sie sich noch, Monsieur Bwaroo, dass er ursprünglich meine Stieftochter Adelinde heiraten sollte. Leider wurde sie vorher ermordet.“

„Mais oui“, nickte Bwaroo. „Dieser Fall hat mich sehr beschäftigt, zumal viele Leute Eure Majestät für die Mörderin hielten. Aber ich habe letztendlich den wahren Täter überführt.“

„Und das so bravourös wie immer.“ Die Königin schien die Schwäche meines Freundes, sich selbst für den Größten zu halten, ganz genau zu kennen. „Aber wie auch immer – der Prinz stand plötzlich ohne Braut da. Ihn störte das, glaube ich, nicht besonders. Aber seine Eltern verzweifeln allmählich. Es wird wirklich langsam Zeit, dass er heiratet und dem Reich einen Erben schenkt. Deshalb ist seine Mutter an mich herangetreten, um einen Ball zu veranstalten, zu dem alle heiratsfähigen Mädchen von Adel geladen werden sollen. Das Stammschloss des Nordreiches bietet dafür nicht die erforderlichen Räumlichkeiten. Es ist eher klein. Und ich, nun ja, nach der Enttäuschung mit meiner Stieftochter war ich dem Königspaar einen Gefallen schuldig.“ Sie hob ihre Schale aus zartem Porzellan und nahm einen Schluck Tee. „Insgesamt wird etwa ein Dutzend Damen erwartet, natürlich mit der entsprechenden Begleitung. So werden König, Königin, Kronprinz und Prinzessin des Südlichen Königreiches unter den Gästen sein. Eine Zwergin erweist mir ebenfalls die Ehre …“

„Aber die Zwerge haben doch überhaupt keine Adelsgeschlechter“, entfuhr es mir.

Zum Glück nahm Königin Rosamunde daran keinen Anstoß.

„Das stimmt“, erklärte sie, „aber der Hohe Zwergenrat hat immerhin einen gewählten Kanzler. Derzeit hat Iwan Tütler dieses Amt inne. Seine Tochter wird eine meiner Gäste sein.“

„Die wird aber wohl kaum auf Bräutigamschau sein.“

„Wer weiß? Aber auch, wenn sie nur zum Vergnügen kommt, ist es ein großes Zeichen des Respekts. Menschen und Zwerge stehen nicht unbedingt auf freundschaftlichstem Fuß. Dieses Fest soll auch dem Frieden und der Gemeinschaft dienen.

Selbst Prinzessin Turandot von den Östlichen Inseln wird mit ihrem Vater, dem Großfürsten Altoum, anreisen. Eine große Ehre, wenn man an die spärlichen Beziehungen der Inseln zu den Festländern denkt. Das Schloss wird geradezu überlaufen sein mit adligen Mädchen im heiratsfähigen Alter. Und deshalb brauche ich Sie, Monsieur Bwaroo.“

„Bwaroo ist weder Kindermädchen noch Alleinunterhalter!“, begehrte mein Freund da auf, und sein Schnurrbart sträubte sich geradezu vor Empörung.

„Selbstverständlich nicht“, versicherte Königin Rosamunde schnell. „Darum geht es auch gar nicht. Es ist nur – die eine oder andere der Prinzessinnen könnte in Gefahr sein.“

„Pourquoi ça?“ Bwaroo war skeptisch. „Welche Gefahr könnte den Damen denn hier schon drohen?“

„Sie könnten ermordet werden.“

Königin Rosamunde atmete tief durch.

„Was wissen Sie über die Fürstentochter Persea, Monsieur Bwaroo?“, fragte sie dann.

„Ich las, dass sie unglücklich auf einer Treppe gestürzt ist.“

„Nun, Treppe stimmt. Allerdings lag der Sturz eher an dem Messer, das ihr jemand in den Rücken gestoßen hat.“

„Aber wie kann das sein?“, rief ich aus. „Wann ist eine Fürstentochter schon einmal komplett allein?“

„Sie war es in ihrem Glasberg.“

„Ihrem … was?“

„Persea hat sich einen Berg – na ja, eher einen Hügel – bauen lassen. Natürlich ist er nicht aus Glas, sondern aus poliertem Kalk. Aber der schimmert und leuchtet so stark im Sonnenlicht, dass er schnell den Namen Glasberg bekam. Wenn ein Bewerber um die Hand von Persea bat, setzte sie sich oben auf den Berg, und der Bewerber musste zu ihr hinaufklettern, ohne den Berg zu beschädigen. Also keine Steigeisen, Pickel oder ähnliches. So glatt, wie die Oberfläche ist, hat das noch keiner geschafft. Das Fürstentum ist reich, Persea war schön – es gab da eine Menge Männer, die sich daran versuchten.“

„Mais c’est étonnant! Es muss einen Weg nach oben geben! Wie sollte die Fürstentochter selbst sonst hinaufkommen?“ Bwaroo zupfte an seinem beeindruckenden Schnurrbart.

Die Königin nickte anerkennend.

„Für Persea gab es einen Schacht mit einer Wendeltreppe im Inneren. Eines Tages hat ein Freier die Wachen bestochen, das Schloss der Tür zum Schacht geknackt und den Gipfel erklommen. Aber sie verweigerte ihm ihre Hand, weil sie das als Betrug ansah. Man einigte sich auf eine Wiederholung, doch der junge Mann erschien nicht. Als Persea nicht mehr länger warten wollte und sich auf den Weg nach unten machte, wurde sie erstochen.“

„Dann war es vermutlich der verärgerte Bewerber!“, bot ich an.

„Soviel ich weiß, wusste der gar nichts von einem zweiten Termin oder hatte es sich inzwischen anders überlegt. Jedenfalls war er weit weg, als die Tat begangen wurde.“

„Ihr seid hervorragend informiert, votre Majesté.“ Bwaroo lächelte die Königin an. „Eure Spione leisten hervorragende Arbeit.“

Sie erwiderte das Lächeln: „Ich kann mir die besten leisten.“

„Aber ich dachte, die vier Königreiche pflegen freundschaftliche Beziehungen untereinander“, merkte ich an.

„Das stimmt auch“, nickte Rosamunde, „aber erzählen Sie Ihren Freunden immer alles?“

Ich spürte, wie ich rot wurde.

„Nein“, musste ich zugeben.

„Natürlich nicht.“ Die Königin nickte amüsiert. „Wenn es um Königreiche geht, ist das erst recht keine gute Idee. Also schicken wir uns gegenseitig ein paar Leute, die auf Dinge achten, die öffentlich nicht zur Sprache kommen sollten.“

„Verstehe“, murmelte ich betreten. Darauf hätte ich wirklich auch selber kommen können. Die Königin musste mich jetzt für einen ausgemachten Trottel halten.

„Wie auch immer“, beendete sie jedoch einfach das Thema. „Es gibt keine Spur vom Täter – außer einer Spielkarte neben der Leiche: den Herzbuben.

Noch Tee, Doktor Heystings?“

Ich nickte.

„C‘est tragique“, reagierte Bwaroo. „Aber ich verstehe nicht, wie das nun Eure Gäste in Gefahr bringt.“

„Nur Geduld. Sagt Ihnen der Name Prinzessin Loreley etwas?“

„Die Tochter von Elfenfürst Amunry?“

„Eben die. Wenn zu ihr ein Bewerber kam, ließ sie sich zu einer kleinen Insel fahren, wo sie dann auf einem Felsen saß, ihr Haar kämmte und Lieder sang. Und der Bewerber musste zu dieser Insel hinüber schwimmen. Bei den tückischen Strömungen hat das aber keiner geschafft.“

„Meine Güte“, rief ich, „ertranken die armen Männer?“

„Bisher ist nur einer ertrunken, vor einem halben Jahr. Loreleys Vater, der Herzog, ließ stets einige Boote folgen, um die Ärmsten herauszufischen, sobald sie erschöpft waren. Ertrunken ist der eine nur, weil er sich geweigert hat, Hilfe anzunehmen. Aber so oder so, Loreley hat munter weiter gemacht und natürlich jeden gescheiterten Freier immer tüchtig ausgelacht.“

„Wie starb die Prinzessin?“, wollte Bwaroo wissen.

Königin Rosamunde hob eine Augenbraue. Der Scharfsinn meines Freundes überraschte sie anscheinend.

„Sie wurde in einem Waldsee ertränkt, in dem sie alle paar Wochen allein badete“, gab sie jedoch nur Auskunft, ohne weiter darauf einzugehen. „Immer bei Vollmond, weil sie glaubte, das würde ihre Schönheit erhöhen.“

„Und wieder ein Herzbube?“

„Am Ufer, ganz genau.“ Die Königin nahm noch einen Schluck Tee und beugte sich dann nach vorn. „Irgendjemand hat es auf kapriziöse Mädchen von Adel abgesehen. Und zwar ausschließlich auf heiratsfähige.“

„Und die sind demnächst alle hier versammelt“, stellte ich fest. „Ein unwiderstehliches Szenario für den Mörder.“

Bwaroo stimmte mir mit einer Geste zu.

„Wann ist es soweit?“, wollte er wissen.

„Die Bälle beginnen in drei Tagen.“

„Mehrere?“ Erstaunt hob Bwaroo die Augenbrauen. „Wie lange braucht so ein Prinz, um sich eine Braut zu erküren?“

„Gute Frage!“ Die Königin warf in gespielter Verzweiflung die Hände in die Luft. „Es ist wohl eher eine Frage der Überzeugungskunst – sowohl bei der Braut als auch beim Bräutigam. Und dann sind ja auch noch andere junge Männer von Adel zu Gast, die die Chance der ... hm ... zweiten Wahl nutzen werden. Es soll drei Bälle geben. Tagsüber muss selbstredend für die Zerstreuung der Gäste gesorgt werden. Eine Beizjagd, ein Picknick im Wald … Natürlich werden meine Leute alles tun, die adligen Damen zu bewachen. Aber spätestens, wenn sie sich in ihre Gemächer zurückziehen, ist es damit vorbei. Wir brauchen Ihren unvergleichlichen Verstand, Herr Bwaroo, um eine Katastrophe zu verhindern. Denn wenn eine Prinzessin in meinem Schloss ermordet wird, kann das sogar einen Krieg lostreten.“

„Mein Assistent Doktor Heystings und ich stehen Euch ganz zur Verfügung“, versicherte Bwaroo. Seine Augen blitzten. Das war eine Herausforderung ganz nach seinem Geschmack.

„Aber ich benötige mehr Informationen. Eine Liste der Freier der ermordeten Mädchen und eine von den hier geladenen Gästen, die Namen der Männer, die mit Loreley und Persea zuletzt zu tun hatten, Berichte der Polizei ...“

„Natürlich“, stimmte die Königin zu. „Ich habe bereits meinen Pressesprecher Hagen von Tronnje angewiesen, sich darum zu kümmern. Er wird Ihnen alles Verfügbare zukommen lassen.“

„Und ich möchte einen Blick in die Unterkünfte der Gäste werfen.“

„In alle?“

„Non, c‘est trop“, wehrte Bwaroo ab. „Aber in die Gemächer der Damen, die als capricieuse gelten. Vielleicht könntet Ihr eine Führung für morgen arrangieren? Es genügt eine Hausangestellte, die uns die Türen aufschließt … Mademoiselle Louise arbeitet wohl nicht zufällig noch bei Euch?“

„Doch, das tut sie. Mittlerweile führt sie die Aufsicht über das Personal.“ Königin Rosamunde verzog belustigt die Lippen. „Ja, ich hörte schon, dass Louise schon einmal zum Tee bei Ihnen eingeladen war. Sie ist immer noch sehr stolz darauf. Ich werde veranlassen, dass sie Ihnen morgen zur Verfügung steht. Sagen wir um zehn? Sie kann Ihnen dann auch gleich die Räumlichkeiten zeigen, die ich für Sie beide vorbereiten ließ … für den Fall, dass Sie es vorziehen, vor Ort zu sein. Und selbstverständlich gibt es auch ein Zimmer für Ihren Diener Orges, Monsieur Bwaroo.“

„Très bien.“ Bwaroo wirkte sehr zufrieden.

Die Königin erhob sich. Das Gespräch war beendet. Also verabschiedeten wir uns.

Ganzheitliche Behandlung

„Sie hatten also Besuch von einer Bediensteten der Königin und haben mit ihr Tee getrunken? Bwaroo! Sie alter Schwerenöter.“ Ich konnte mir den Kommentar einfach nicht verkneifen, als wir wieder auf der Straße standen.

„Es war alles schicklich und in Ehren“, protestierte mein alter Freund sofort vehement. „Louise wandte sich an mich, weil sie Informationen zu dem Mordfall hatte, den ich damals untersuchte.“

„Und da machen Sie gleich Tee für sie?“

„Orges hat ihn zubereitet. Außerdem gehört sich das so, wenn man Besuch hat.“

Ich grinste. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, dass Bwaroo verlegen wurde. Zumindest ein bisschen.

„Ja, ich erinnere mich“, lenkte ich dann jedoch ein. „Sie haben mir von dem Mord an Prinzessin Adelinde erzählt. Ist sie nicht aus dem Schloss ausgebüxt?“

„Mais oui, und dann quartierte sie sich bei einer Familie von sieben Zwergen ein, wo sie dann schließlich ermordet wurde. Es war damals, dass ich Königin Rosamunde kennenlernte.“

Ich war inzwischen daran gewöhnt, dass Bwaroo jede Menge Persönlichkeiten zu seinem Bekanntenkreis zählte, die unsereins höchstens aus der Zeitung kannte. Aber dass die Königin des menschlichen Westreiches sich an einen Elfen um Hilfe wandte, war selbst für Bwaroos Verhältnisse ungewöhnlich. Ich nahm an, dass das der Hauptgrund war, warum er den Fall übernommen hatte. Das Königsschloss war immerhin hervorragend bewacht, und die Gefahr war bekannt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie auch nur eine Maus eindringen könnte, geschweige denn ein Mörder.

„Nun, es wird wohl eher langweilig werden“, bemerkte ich also, als Bwaroo und ich Richtung Teims gingen, an deren Ufer die eine der beiden Praxen lag, die ich mir genauer anschauen wollte. „Aber immerhin haben wir Gelegeheit, die Bälle zu besuchen.“

„Sie wollen Fräulein Behn doch hoffentlich nicht untreu werden?“, schmunzelte Bwaroo. „Oder sie für eine – nach Möglichkeit rothaarige – Prinzessin eintauschen?“

„Aber Bwaroo! Das ist absurd“, empörte ich mich. „Und was Sie immer mit rothaarigen Frauen haben …“

„Excusez-moi, mein lieber Heystings. Aber alle Frauen, von denen Sie bisher begeistert waren, hatten rotes Haar.“

„Hm, das war nur Zufall.“

„Bien sûr. Aber warum glauben Sie, dass es langweilig wird?“ „Ach Bwaroo, kommen Sie! Welcher Verbrecher könnte dort eindringen? Alles ist bestens bewacht, und bestimmt werden die Wachen jetzt noch verstärkt.“

„Aber bedenken Sie, es wurden bereits zwei Damen von Adel ermordet. Glauben Sie denn, dass es dabei keine Wachen gab?“

„Nun, in diesem Glasberg augenscheinlich nicht. Immerhin konnte einer der Freier das Schloss knacken und hineingelangen.“

„C’est vrai. Ein wichtiger Punkt, Heystings. Très bien! Der Eingang wurde jedoch bewacht. Oder nehmen wir den Waldsee: Auch wenn die Prinzessin allein darin baden will, stehen am Ufer gut verborgen doch sicherlich Wächter. Wie ist da jemand unbemerkt vorbeigekommen? Non, Heystings, dieser Auftrag wird keinesfalls langweilig. Er könnte einer der schwersten werden, den Bwaroo jemals gelöst hat. Vielleicht sogar einer, den selbst Bwaroo nicht aufklären kann.“

„Aber Bwaroo!“ Ich erschrak ein wenig, lachte dann aber auf. Der gute Bwaroo fischte doch ganz sicherlich nur nach einem Kompliment. Nun, das konnte er haben: „Sie mit Ihrem brillanten Verstand – wie sollten Sie einen Fall nicht lösen können?“

Doch mein Freund blieb ernst.

„Alors, Heystings, die Sache ist doch die: Wir haben einen raffinierten und eiskalten Mörder auf der einen Seite und etliche launische, zimperliche, dickköpfige und über die Maßen verwöhnte Adelstöchter auf der anderen. Mit dem Verbrecher kann Bwaroo fertig werden. Aber wie soll er gegen diese Ansammlung von affektierter Exzentrik ankommen? Wie sagt man doch so schön: Einen Sack Flöhe zu hüten, ist einfacher. Und Bwaroo ist kein Freund von Flöhen.“

Ich verkniff mir den Hinweis, dass auch Bwaroo so einiges an Exzentrik zu bieten hatte. Stattdessen deutete ich auf das Gebäude vor uns: „Das muss die Praxis sein.“

Ja, das musste sie sein. Ich war allerdings ein wenig irritiert. Die Fassade war in allen Regenbogenfarben bemalt. Aber nun ja, es ging hier ja nicht um Äußerliches, und Wandfarbe lässt sich leicht ändern. Also gingen Bwaroo und ich hinein.

„Dieser Arzt scheint mir ein Gynäkologe zu sein“; murmelte Bwaroo, als wir den Wartebereich betraten. „Sagten Sie nicht, er wäre Allgemeinmediziner?“

„So stand es in der Anzeige.“ Ich schaute mich um. Das Wartezimmer war voll besetzt – nur mit Frauen meist mittleren Alters. Und wenn ihre Kleidung nicht täuschte, handelte es sich ausschließlich um zumindest gut betuchte Damen. Was mir außerdem noch auffiel: Es herrschte eine fast feierliche Stille. Keine der Damen unterhielt sich mit einer anderen, noch nicht einmal im Flüsterton.

Ich fühlte mich ein wenig fehl am Platz, als ich mir den Weg zur Rezeption bahnte, wo eine junge Sprechstundenhilfe mit unscheinbarem Äußeren ein wenig verwundert, aber aufmerksam zu mir aufschaute.

„Ich bin Doktor Artur Heystings“, stellte ich mich vor. „Ich habe eine Verabredung mit Doktor Schuhm.“

„Oh ja, natürlich.“ Sie lächelte, was ihr Äußeres aber auch nicht interessanter machte. „Wenn Sie einen Moment Geduld haben würden … die Baronin muss jeden Augenblick fertig sein.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür, die zum Sprechzimmer führte, und eine beleibte Dame kam heraus, ganz in blauem Samt und mit einem Hut, der unter seinem Schmuck aus Federn und Kornblumen zusammenzubrechen drohte.

„Was ist, wenn ich mich verzähle?“, fragte sie ängstlich und drehte sich um zu einem Mann, der hinter ihr stand.

„Keine Sorge, Baronin, dann lassen Sie das Elixier eine Stunde ruhen und versuchen es dann noch einmal.“ Ich konnte um den Hut herum nicht sehen, wie der Mann aussah, der da sprach. Seine Stimme klang jedenfalls sehr angenehm, beinahe einschmeichelnd. „Anschreien und dann dreißig Mal im Uhrzeigersinn kreisen, keinesfalls umgekehrt. Dann noch einmal anschreien und nochmal kreisen lassen.“

Ein Elixier, das man anschreien musste – davon hatte ich noch nie gehört. An was für einer Krankheit mochte die Dame wohl leiden?

„Wirklich, Doktor Schuhm, Sie sind mein Lebensretter!“, hauchte sie derweil.

„Keine Ursache, Baronin. Ihr Fall ist zwar ungewöhnlich, aber nicht hoffnungslos.“

Einen Moment glaubte ich, die Baronin würde vor Ehrfurcht auf die Knie sinken. Doch dann nickte sie nur und wandte sich zum Gehen, eine braune Arzneiflasche wie einen großen Schatz an ihrer üppigen Brust bergend.

Endlich konnte ich einen Blick auf den Mann werfen, der sie verabschiedet hatte. Er sah kein bisschen aus wie ein Arzt – eher wie der Darsteller eines Arztes auf der Bühne. Er trug einen blütenweißen Kittel, war groß und breitschultrig, mit lockigem schwarzen Haar und braunen Augen hinter einer Brille mit Silberrand. Mir fiel auf, dass seine Hand, die er zum Abschiedsgruß erhoben hatte, so gepflegt war wie seine feinen langgliedrigen Finger. Eine Hand wie gemacht für einen Chirurgen. Doch ich bezweifelte sehr, dass dieser Arzt jemals ein Skalpell zur Hand nahm.

In diesem Moment fiel Doktor Schuhms Blick auf Bwaroo und mich.

„Doktor Heystings, nehme ich an?“, fragte er und kam mit ausgestreckter Hand und einem strahlenden Lächeln auf uns zu.

„Das bin ich“, bestätigte ich und ergriff die dargebotene Hand. „Und das ist mein Freund Erkül Bwaroo.“

„Oh, der Privatdetektiv? Ich habe von Ihnen gehört.“ Doktor Schuhm schüttelte auch Bwaroo die Hand, der geschmeichelt lächelte. „Sie sollen ziemlich gut sein.“

Bwaroos Lächeln erstarb.

„Bwaroo ist nicht ziemlich gut, Monsieur“, erklärte er indigniert. „Bwaroo ist der Beste.“

„Na ja, wie auch immer. Kommen Sie herein.“

„Herr Doktor“, merkte da eine der wartenden Damen an, „ist es wahr, Sie wollen die Praxis aufgeben? Das kann doch unmöglich stimmen?“

„Noch ist nichts entschieden“, beruhigte sie Schuhm. „Und nur, weil ich eventuell die Räumlichkeiten wechsle, heißt das ja noch lange nicht, dass ich nicht mehr praktizieren werde!“

Die Dame und mit ihr einige der anderen Wartenden seufzten erleichtert auf.

Schuhm bugsierte uns derweil durch die Tür in sein Sprechzimmer.

Ich schaute mich um.

Vor einem großen Fenster stand ein eleganter Schreibtisch, davor zwei Besucherstühle aus blankem Holz und mit hoher Lehne. Sie waren eindeutig nicht dafür gedacht, länger auf ihnen zu sitzen. An der Wand gegenüber gab es eine Liege und daneben einen Sessel, der weit bequemer aussah. Über der Liege hing ein großer Kristall von der Decke. Ein ähnlicher, allerdings kleinerer stand auf dem Schreibtisch. Auf einem Schränkchen an der Wand standen einige Fläschchen mit bunten Flüssigkeiten und braune Glasbehälter, die, soweit man das erkennen konnte, diverse Pulver und Pillen enthielten. Von einem der üblichen Behandlungsstühle oder irgendwelchen Geräten war nichts zu sehen. Nun, wahrscheinlich gab es ein extra Behandlungszimmer. Was ich aber wirklich vermisste, war ein Regal mit Fachliteratur. So etwas hatte eigentlich jeder Arzt. Dieser hier aber offenbar nicht. Oder die Bücher standen auch in einem anderen Raum. Nun, das wäre mir persönlich zu umständlich. Aber Doktor Schuhm wollte vielleicht die Harmonie der Pastellfarben, in denen die Wände gestrichen waren, nicht zerstören: Dunkler um die Liege herum wurde die Farbe zum Fenster hin nach und nach heller. Alles in allem ein seltsames Zimmer für einen praktizierenden Arzt.

Ich warf einen Blick auf Bwaroo, der sich umsah. Er schien längst nicht so irritiert wie ich. Vielmehr spielte ein Schmunzeln um seine Lippen.

„Nun, Sie möchten also meine Praxis übernehmen?“, wollte Schuhm wissen und forderte uns mit einer Handbewegung auf, auf den Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

„Das kommt darauf an.“ Ich versuchte, eine einigermaßen angenehme Haltung zu finden. Diese Stühle waren noch unbequemer, als sie aussahen.

„Monsieur Schuhm, Sie sind Allgemeinarzt?“ Erkül Bwaroo schien bemerkenswert entspannt. Vielleicht, weil er ja doch um einiges kleiner war als ich? Jedenfalls beneidete ich ihn ein bisschen.

Doktor Schuhm saß in seinem Sessel jedenfalls sehr viel bequemer: Der Stuhl war gepolstert, die Rückenlehne ein wenig nach hinten geneigt. So saß er mit übereinander geschlagenen Beinen locker da und nahm uns in Augenschein. Auf Bwaroos Frage setzte er sich auf, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und legte die Finger aneinander.

„Ich sehe mich eher als ganzheitlichen Arzt“, erklärte er, „ich gehe davon aus, dass jede Krankheit eine tief verwurzelte Ursache in der Seele des Kranken hat. Verdrängte oder verschüttete, frühe, unangenehme Erlebnisse, traumatische Ereignisse, erbärmliche Lebensumstände ...“

„Mais oui, Bwaroo fiel bereits auf, dass die Damen in Ihrem Wartezimmer in furchtbaren Lebensumständen leben.“

„Äh, nun ja, das ist es natürlich nicht allein“, Schuhm blickte ein wenig unbehaglich drein. „Jedenfalls, ich versuche, meinen Patienten durch eine ganzheitliche Lichttherapie Erleichterung zu verschaffen.“

„Ah!“ Mir ging nun auch ein Licht auf. „Der Kristall über dieser Liege! Und der hier auf dem Tisch ...“

„Genau.“ Eifrig schob Schuhm den Kristall vor mich. „Wenn er aktiviert wird, stellt er sich auf die Lebensenergie und die Stimmung des Patienten ein und ändert dann seine Farbe. Die Farben changieren dann kontinuierlich zum Helleren und nehmen damit auf die Stimmung des Patienten Einfluß.“

„Wie verhindern Sie, dass sich der Kristall auf Ihre Stimmung einstellt?“, wollte Bwaroo wissen. „Stellen Sie sich hinter einen Schutzschirm?“

„Ich ... äh ... nein. Aber ich befinde mich nicht im Einflussbereich des Kristalls.“

„Er strahlt nur in eine Richtung?“ Bwaroo schien beeindruckt. „C‘est étonnant! Wie machen Sie das?“

„Das … äh … ich fürchte, dazu kann ich Ihnen nichts Genaueres sagen. Ich bekam die Kristalle so geliefert. Aber Sie dürfen mir glauben, dass es einwandfrei funktioniert.“

„Bien sûr. Selbstverständlich.“

„Wollen Sie es selbst einmal versuchen?“

„Non, merci.“ Bwaroo tat das Angebot mit einer Handbewegung ab. „Ich fühle mich ausgezeichnet.“

„Und das ist alles, was Sie anbieten?“ Ich konnte es kaum fassen.

„Natürlich nicht!“ Schuhm schaute mich geradezu entrüstet an. „So eine Lichttherapie ist langwierig. Als erstes müssen natürlich die vordringlichen Krankheitssymptome behandelt werden.“

„Ach so.“ Beruhigt nickte ich.

„Ich behandle meine Patienten also auch nach dem Urschreiprinzip.“

„Davon habe ich noch nie gehört“, gab ich zu.

„Dieses Prinzip beruht auf der Vorstellung, dass für die Behandlung ein Arzneimittel anzuwenden ist, das in höherer Konzentration an Gesunden ähnliche Symptome hervorruft wie die Krankheit des Patienten.“

„Wie bitte?“

„Nun ...“ Schuhm stand auf und ging in großen Schritten zu der Ansammlung von Fläschchen. „Meine Arzneimittel werden durch Potenzierung von Grundsubstanzen hergestellt. Potenzierung ist eine starke Verdünnung bei gleichzeitiger Dynamisierung durch Einwirkung von Schallwellen. Die Urtinkturen werden mit Wasser verdünnt, dessen Gedächtnis durch Schreie aktiviert wird, so dass es sich auf das jeweilige Leiden einstellt.“

„Wasser hat ein Gedächtnis?“

„Natürlich. Wie würde es sonst zu Bächen oder Flüssen kommen? Jeder Tropfen würde woanders hinfließen. Die Erinnerung ans Meer, Sie verstehen?“

„Ich denke, Wasser läuft dahin, wohin es fließt, weil es in der Richtung bergab geht“, bemerkte Bwaroo trocken.

„Ach ja? Und wozu braucht es dann die Nixen und Nöcke? Die aktivieren das Gedächtnis des Wassers.“

„Haben Sie das von den Wasserwesen?“

„Nein. Ich habe noch nie eines getroffen. Aber ich bin davon überzeugt, dass es so ist. Es kann gar nicht anders sein.“ Schuhm hob eines der Fläschchen ans Licht. „Ich brülle das Elixier zuerst an, um es aufnahmebereit zu machen. Dann muss der Patient es mit seinen Schreien reagieren lassen. Zur besseren Verteilung lässt man es anschließend in der Flasche kreisen.“

Die ‚dreißig Mal kreisen‘ für die Baronin fielen mir ein. Du meine Güte!

„Durch das besondere Verfahren“, fuhr Schuhm derweil fort, „wird eine im inneren Wesen der Arzneien verborgene, geistartige Kraft wirksam. Durch die Einwirkung des angeschrienen Wassers löst sich die Materie roher Arznei-Substanzen zuletzt gänzlich in ihr individuelles geistartiges Wesen auf – ganz speziell auf den jeweiligen Kranken abgestellt. Der Patient nimmt einen Schluck davon und bringt es mir dann zurück. Ich nehme einen Tropfen der übrigen Flüssigkeit und verdünne sie mit weiterem Wasser, an das es sein Gedächtnis weitergibt. So erhöht sich die Wirksamkeit, wenn es erneut angeschrien wird.“

„Ach, tatsächlich.“ Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.

„Man könnte sagen, es ist das Gedächtnis des Wassers, das die Wirksamkeit ...“

„Was machen Sie denn mit dem ganzen Wasser, das so entsteht?“, unterbrach Bwaroo Doktor Schuhm.

„Äh … was meinen Sie?“ Schuhm wirkte irritiert.

„Nun, Sie sagen, der Patient nimmt einen Schluck, dann verdünnen Sie einen Tropfen des Rests und geben es dem Patienten wieder mit … was geschieht mit der übriggebliebenen Flüssigkeit? Und mit der weiteren, aus der Sie dann wieder einen Tropfen entnehmen. Und mit der danach? C‘est déjà presque un lac – ein ganzer See.“

„Äh, also, darüber kann ich wirklich nicht zu einem Uneingeweihten sprechen!“ Schuhm hatte wohl beschlossen, auf Bwaroos Frage mit Hochmut zu antworten.

„Bon“, winkte Bwaroo ab. „Und all die Damen da draußen sind schwer krank?“ Er strich sich den Bart, um sein Grinsen zu verbergen. Da ich neben ihm saß, konnte ich es hinter der Hand genau sehen.

„Sie leiden an ernsten gesundheitlichen Beschwerden“, versicherte Schuhm.

„Und warum geben Sie diese, wie ich sehen konnte, florierende Praxis auf?“, forschte Bwaroo weiter.

„Oh, ich möchte mich vergrößern. Und dann möchte ich auch anderen Frau … Menschen die neue Lehre näher bringen.“

„Dann liegt es also nicht daran, dass Sie ernste Probleme mit Behörden und Gerichten haben?“

„Was erlauben Sie sich?“ Schuhm war empört. „Was für eine böswillige Unterstellung! Gerüchte und Verleumdungen, von neidischen, verknöcherten Altärzten in die Welt gesetzt. Selbstverständlich nicht!“

„Bien sûr.“ Bwaroo machte eine wegwerfende Handbewegung. Er legte den Kopf schief, was ihn immer ein wenig wie einen neugierigen Spatz aussehen ließ. „Wo haben Sie eigentlich studiert, Monsieur Schuhm? Ich vermisse Ihr Diplom. Das hängt man doch üblicherweise gut sichtbar an die Wand, damit der Patient weiß, woran er ist.“

„Von solchen Äußerlichkeiten halte ich nichts“, erklärte Schuhm sichtlich verärgert, ohne jedoch Bwaroos Frage zu beantworten. Er hob den Kopf und schaute mich herausfordernd an.

„Sie haben eine interessante und schön gelegene Praxis“, ging ich auf seine unausgesprochene Frage ein. „Aber ich suche eher eine Praxis, bei deren Ausstattung ich, auch was die Patienten angeht, praktisch nicht bei null neu anfangen müsste.“

„Also die Grundausstattung meines Vorgängers muss noch irgendwo in einem der Abstellräume herumstehen ...“

„Und wie alt ist die?“

„Na ja, ein paar Jahre. Zehn oder fünfzehn vielleicht. Er war einer dieser altmodischen Mediziner und schon ziemlich alt, als er sich zur Ruhe setzte.“

„Das heißt, ich müsste alles neu anschaffen?“

„Tja, wenn Sie auf so etwas Wert legen ...“

„Allerdings. Ich fürchte, ich zähle mich selbst auch eher zu den altmodischen Ärzten. Aber ganz so alt bin ich dann doch noch nicht.“

Ich hatte die Genugtuung, dass Schuhm rot wurde.

„Bwaroo! Warum haben Sie mir denn nicht vorher gesagt, dass dieser Quacksalber Dreck am Stecken hat?“, warf ich meinem Freund vor, als wir wieder auf der Straße standen. „Dann hätten wir uns den Besuch sparen können.“

„Aber Bwaroo wusste von nichts!“, protestierte der jedoch. „Es war nur ein Schuss ins Blaue. Als ich bemerkte, dass dieser Schuhm kein Diplom hatte, machte ich mir so meine Gedanken. Außerdem – wer gibt eine so gutgehende Praxis auf, wenn er nicht muss? Die Patientinnen sind alle wohlhabend, und die Rechnungen sicher gesalzen.“

„So betrachtet haben Sie natürlich recht, Bwaroo“, gab ich zu. „Das lässt mich nichts Gutes für die andere Praxis ahnen.“

„Ah, mon ami, das ist kein Grund zum Trübsal blasen. Solche Scharlatane sind die Ausnahme! Lassen Sie uns jetzt erst einmal nach Hause gehen. Dort werden wir bei Würzmilch und Pollentörtchen die Unterlagen durchgehen, die Hagen von Tronnje uns zweifellos schon geschickt hat. Orges hat sicherlich schon alles für uns vorbereitet.“

Zwei Mordfälle

Bwaroo hatte natürlich recht. Als wir heimkehrten, erwarteten uns bereits zwei Becher mit dampfender Würzmilch und eine Platte mit Pollentörtchen – Bwaroos Lieblingsgebäck und wirklich äußerst delikat. Ein ganzer Stapel an Dokumentenmappen lag ebenfalls bereit. Doch der blieb zunächst unbeachtet. Und erst als wir uns an den Törtchen gütlich getan hatten, griff Bwaroo nach der obersten, und ich nahm mir die nächste: Diese behandelte den Tod von Prinzessin Loreley, der Tochter von Herzog Amunry. Die Prinzessin hatte wie jeden Monat bei Vollmond in einem ganz bestimmten kleinen Waldsee gebadet. Dieser See war laut einer alten Sage aus den Tränen einer Fee entstanden, die in einen Menschen verliebt, von ihm aber schmählich betrogen worden war. Das war natürlich möglich, aber ziemlich unwahrscheinlich – Feen sind in natura nicht nur launisch, sondern ziemlich von sich selbst überzeugt. Wenn ein Mensch eine Fee beleidigte oder gar betrog, war es wahrscheinlich, dass er sein Leben als Maus, als Baum oder mit einem gehörigen Fluch beladen fortführte. Fallsucht oder Verfolgungswahn sind auch sehr beliebt. Dass die Fee ihm auch nur eine Träne nachweinte, war mehr als zweifelhaft. Und wenn doch, hätte ich vielmehr erwartet, dass man von einem Bad in solchen Tränen Hautausschlag bekommt.

Loreley schien jedenfalls fest an eine positive Wirkung zu glauben und bestand darauf, in Vollmondnächten allein in dem See zu baden. Das hieß natürlich nicht, dass sie ganz unbewacht war. Doch die Wachleute hatten sich so aufzustellen, dass die Prinzessin nicht durch ihren Anblick belästigt wurde. Und sie mussten dem See den Rücken zukehren, denn die junge Dame badete selbstverständlich nackt.

„Frauen sind schon seltsam“, murmelte ich. „Was für eine absurde Idee, zu glauben, dass sie ein Bad in einem See bei Vollmond schöner machen könnte.“

„Wenn man fest genug daran glaubt …“ Bwaroo zwirbelte seinen Schnurrbart. „Es ist so wie bei den Patientinnen dieses Doktor Schuhm. Der einen oder anderen mag er tatsächlich geholfen haben.“

„Ja, aber nur die eigene Schönheit im Kopf zu haben …“

„Mais oui! Gerade bei adligen Frauen ist das immer noch das Wichtigste. Le …“ Er stutzte und sprang dann auf und lief durch die offene Tür in seine Bibliothek. Gleich darauf erschien er wieder. „L’idéal de la beauté“, fuhr er fort, als sei nichts gewesen. „Für viele von ihnen ist das Schönheitsideal der einzige Lebenszweck.“

Ich war im ersten Moment verwirrt, als er so plötzlich hinaus eilte. Doch inzwischen ahnte ich den Grund und unterdrückte ein Schmunzeln.

Bei meinem letzten Besuch hatte ich nämlich einmal in Bwaroos Abwesenheit in seiner Bibliothek nach etwas Bettlektüre gesucht und war dabei auf ein gelbes Buch mit einem großen blauen L gestoßen. Langenschwerts Wörterbücher kennt vermutlich jeder, der schon einmal in die Parallelwelt gereist ist. Als ich selbst als junger Spund eine solche Reise antrat, hatte ich zum Beispiel eines für Deutsch und eines für Italienisch dabei. Bwaroos war natürlich für Französisch – für Bwaroos Aufenthalt in Belgien, dem er seine Marotte für französische Phrasen verdankte. Damals war ich erstaunt, als ich feststellte, dass es sich jedoch nicht um ein altes Buch, sondern vielmehr um die neueste Ausgabe handelte. Und sie sah auch schon ziemlich abgegriffen aus. Da wurde mir klar, dass der alte Schwerenöter seine Kenntnisse immer wieder heimlich auffrischte! Von wegen Französisch sei ihm in Fleisch und Blut übergegangen, wie er gerne behauptete. Aber ich war entschlossen, das für mich zu behalten. Es hätte Bwaroo zu sehr verletzt.

Als ich nicht gleich antwortete und mir Bwaroo einen forschenden Blick zuwarf, erwiderte ich diesen, wie ich glaube, in aller Unschuld.

„Na ja, die Mädchen haben vermutlich sonst nicht allzu viel zu tun“, stimmte ich ihm zu und machte ein möglichst nachdenkliches Gesicht. „Eigentlich ein Jammer.“

„Der Müßiggang der Reichen. Bwaroo kann nicht verstehen, was daran so erstrebenswert ist.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie kann man seine kleinen grauen Zellen nur so verkümmern lassen?“

Mehr als ein Achselzucken fiel mir dazu nicht ein. Also las ich weiter.

„Hier steht, dass die Wächter am See alle ausgesagt haben, dass sie im Laufe der Nacht eine Sternschnuppe gesichtet haben“, bemerkte ich. „Das sei das einzig Ungewöhnliche in dieser Nacht gewesen. Vielleicht waren sie bei dem Anblick so damit beschäftigt, sich etwas zu wünschen, dass sich der Mörder unbemerkt nähern konnte. Die Wächter sagten weiter aus, dass unmittelbar nach dem Erscheinen der Sternschnuppe ein heftiges Plätschern zu hören war. Danach wurde die Prinzessin aber gesehen, wie sie ruhig im See herumschwamm und ihn dann schließlich verließ. Da hat natürlich keiner so genau hingeschaut, denn sie hatte ja nichts an. Man berichtete noch von einer weiß gekleideten Person, die Richtung Schloss ging. In der Annahme, das sei die Prinzessin, folgte man ihr, verlor sie aber aus den Augen. Das kam anscheinend öfter vor, also dachte sich keiner der Wächter etwas dabei. Erst als die Prinzessin im Schloss vermisst wurde, suchte man am See und fand ihre Leiche. Die weißgekleidete Person muss also der Mörder gewesen sein.“ Ich hielt kurz inne. „Ziemlich riskant“, gab ich wider Willen bewundernd zu. „Und wie er überhaupt der Prinzessin nahe kommen konnte, wurde nie geklärt.“

„Alles in allem scheint es mir ohne Weiteres möglich, der Prinzessin nahe zu kommen, wenn man ihre Gewohnheiten kennt“, bemerkte Bwaroo dazu nur. „Aus dem Bad im Mondenschein hat sie anscheinend nie ein Hehl gemacht.“

Da hatte mein Freund wohl recht. Ich beschloss, nicht mehr viel dazu zu sagen, um mich nicht weiter zu blamieren.

„Alors, bei Prinzessin Persea ging es ähnlich mysteriös zu. Unten am Eingang standen zwei Wachen, die schworen, sie hätten nichts gesehen.“

„Vielleicht wurden sie bestochen?“

„Il n'y a aucune indication de cela – darauf gibt es keinen Hinweis. Beide beschworen, brav an ihren Plätzen gestanden zu haben. Beide sind seit vielen Jahren in Dienst und haben einen einwandfreien Leumund. Und keiner hat hinterher mit Geld um sich geworfen oder auch nur eine größere Anschaffung gemacht. Rien d'extraordinaire, nichts Ungewöhnliches. Durch die Tür ist der Mörder also nicht eingedrungen. Und am Berg keine Spuren, die auf irgendwelche Hilfsmittel hingewiesen hätten. Aber irgendwie ist er hineingekommen.“

„Er könnte auf dem Rücken eines Drachen oder eines Greifs geritten sein.“

„Drachen sind dermaßen groß, die übersieht man nicht. Außerdem war es noch hell genug gegen Abend. Und Greife gibt es meines Wissens nur auf der Insel Saragessa. Wäre einer auf dem Festland aufgetaucht, hätte ich davon gehört.“

„Ein Zauberer?“

„Ah, non, mon ami. Für eine Levitation müsste das einer der mächtigsten Zauberer sein. Davon gibt es gerade mal ein halbes Dutzend. Und warum sollte der so etwas tun?“

Darauf fiel mir auch nichts mehr ein.

„Hier ist eine Liste mit den Männern, die sich um die Hand von Prinzessin Loreley bemüht haben“, sagte ich also stattdessen. „Vielleicht ist einer dabei, der auch Persea umworben hat.“

„Ausgezeichnete Idee, mon ami. Ich sehe schon, Bwaroos Genialität färbt langsam auf Sie ab! Auch in der Akte von Prinzessin Persea gibt es so eine Liste. Lassen Sie sie uns vergleichen.“

Ich las also die Namen auf meiner Liste durch, und Bwaroo verglich sie mit denen auf seiner. Am Ende hatten wir zwei Treffer: Graf Heinrich von den roten Hügeln und Prinz Wolfdietrich, der Neffe von König Dietrich, dem Herrscher des Ostreiches. Da König Dietrich und seine Frau Edeltraut kinderlos waren, würde Wolfdietrich ihnen auf den Thron folgen.

„Wolfdietrich wird auch auf dem Ball sein“, stellte Bwaroo fest, nachdem er die Gästeliste für das Fest herausgesucht hatte. „Graf Heinrich wurde ebenfalls eingeladen, hat aber abgesagt.“

„Warum?“

„Je ne sais pas. Davon steht hier nichts.“

„Dann sollten wir unser Augenmerk vor allem auf Wolfdietrich richten. Der Graf wird nach seiner Absage keine Gelegenheit haben, den weiblichen Gästen etwas anzutun.“

„Au contraire, mein lieber Heystings. Keinen Zugang zu haben, hat den Mörder bisher ja auch nie aufgehalten! Er könnte sich bei all dem Trubel ohne Weiteres einschleichen.“

„Sie haben recht“, gab ich ein wenig beunruhigt zu. „Aber das ist ja furchtbar. Wie sollen wir ihn denn dann entdecken? Wir wissen ja noch nicht einmal, wie er aussieht.“

„C’est vrai. Ich kann mich nicht erinnern, sein Konterfei schon einmal in einem Magazin gesehen zu haben.“

Bwaroos Vorliebe für Klatschspalten und leichte Magazine war etwas, das mich immer wieder erstaunte. Ich selbst lese nur die ‚Zeiten‘, das renommierteste Tagblatt des Landes. Aber Bwaroo brachte sich mit Boulevardblättern wie ‚Freundin der Frau‘ oder ‚Palastblick‘ immer wieder auf den neuesten Stand über vermeintliche Skandale und Skandälchen, die meistens so unglaubwürdig und lächerlich waren, dass ich mich fragte, was er daran fand.

„Der Graf scheint ein zurückgezogenes Leben ohne Affären oder Fehltritte zu führen“, fuhr Bwaroo derweil fort. „Wir sollten uns auf jeden Fall ein Bild von ihm machen. Die roten Hügel sind nicht allzu weit weg.“

Das stimmte im Prinzip. Der Landstrich lag nicht weit entfernt im Nordwesten von Laundom, aber abgesehen von den roten Hügeln, die ihm den Namen gaben, hatte er kaum etwas zu bieten. So führten nur wenige Wege dorthin.

„Dahin gibt es keine direkte Zugverbindung“, gab ich also zu bedenken. „Wir würden Stunden brauchen, um hinzukommen, und müssten vermutlich mehrmals umsteigen. Und mit einer Kutsche ist es nicht viel besser.“

„Wir fahren mit dem Automobil.“

„Ich wusste nicht, dass die jetzt schon so verbreitet sind, dass man sie auch mieten kann!“

„Mais non!“ Bwaroo schaute mich erstaunt an. Dann lachte er auf: „Je suis bête! Wie dumm von mir. Sie wissen ja noch gar nichts von meiner neuesten Errungenschaft: Erkül Bwaroo besitzt ein eigenes Automobil.“

„Was? Wirklich? Sie fahren ein Auto?“ Ich war sprachlos.

„Non. Orges fährt. Ich darf allerdings mitfahren.“ Bwaroo strich sich zufrieden über meine Verwunderung den Bart. „Bei unserem letzten gemeinsamen Fall, als Sie auch Mademoiselle Maja Behn kennengelernt haben, da hatten wir beide ja zum ersten Mal Gelegenheit, diese neue Erfindung zu benutzen. Danach stand für mich fest, dass ich so etwas haben muss. Es reist sich viel einfacher. Und bequemer. So ein Wagen ist viel besser gepolstert als jede Kutsche.“

Natürlich. Bwaroo liebte es bequem.

„Ist es dasselbe Modell wie das von Herrn Bleibtreu?“

„Non. Monsieur Bleibtreu hatte einen Wagen mit zurückklappbarem Verdeck. Das war mir zu unsicher. Was, wenn es anfängt zu regnen und der Mechanismus streikt? Außerdem hat Bwaroo eine empfindliche Gesundheit und erkältet sich sehr leicht.“

Ich verkniff mir einen Kommentar. Meiner Meinung nach hatte Bwaroo die Konstitution eines Ochsen. Abgesehen von seinem Übergewicht strotzte er nur so vor Gesundheit. Doch was weiß ich schon – ich bin ja nur Arzt.

„Mein Fahrzeug hat eine feste Kabine, in die es nicht hineinregnen kann. Und Fenster aus Glas rundherum, so dass es auch keine Zugluft gibt.“

„Das klingt sehr vernünftig“, versicherte ich diplomatisch. „Und mit so einem Automobil wären wir auf jeden Fall ganz schnell in den roten Hügeln.“

„N’est-ce pas? Wann besichtigen Sie ihre zweite Praxis?“

„Übermorgen.“

„Parfait. Dann lassen wir uns morgen Vormittag die Gästezimmer von Mademoiselle Louise zeigen und machen dann einen Ausflug in die roten Hügel.“

Wiedersehen mit Louise

„Ach, wie wunderbar, Herr Bwaroo, dass ich Sie endlich mal wiedersehe!“ Eine schon ältere Frau mit einem weißen Häubchen auf dem ergrauten Haar, einer blütenweißen Schürze und einem Staubwedel in der Hand eilte strahlend auf uns zu.

„Mademoiselle Louise“, Bwaroo tänzelte ihr begeistert entgegen. „Wie lange ist es her? Drei Jahre? Vier? Ich freue mich, Sie noch immer bei bester Gesundheit und ganz in Ihrem Element zu sehen. Und so hübsch wie eh und je.“ Er ergriff die Hand der Hausangestellten und beugte sich darüber, um einen Handkuss anzudeuten. Sie errötete, war aber sehr geschmeichelt.

„Aber Herr Bwaroo …“, protestierte sie schwach. Doch dann fiel ihr wohl plötzlich wieder der Grund unseres Besuches ein, denn ihr Gesicht nahm einen beunruhigten Ausdruck an. „Ist es wahr? Sind unsere Gäste in Gefahr?“

„Nun, Mademoiselle, wer weiß? Vielleicht ist alles Schall und Rauch …“

„Aber kein Rauch ohne Feuer.“

„Und wer mit dem Feuer spielt, kommt darin um.“

„Wohl wahr. Aber muss man denn auch noch Öl ins Feuer gießen?“

Meine Güte, die beiden waren ganz Feuer und Flamme im Austausch von Sprichwörtern! Ich räusperte mich.

„Sind Sie gut auf das große Ereignis vorbereitet?“, wollte ich wissen. Mir fiel auf die Schnelle nichts Besseres ein. Aber es half.

„Ach, soweit das überhaupt möglich ist“, Louise wedelte mit der Hand. „All die Adligen. Und jeder hat seine eigenen Wünsche, Launen und Grillen. Wir vom Personal tun natürlich, was wir können. Ich hoffe nur, dass wir nicht zu sehr aus der Übung sind. Ein Fest in dieser Größe gab es seit der Hochzeit von unserer Königin mit König Edelgard nicht mehr.“ Sie lief uns eifrig voran. „Alle Gäste sind auf den beiden Stockwerken im Westflügel untergebracht. Denken Sie nur, sogar Undina wird kommen, die Nixe der Teims! Natürlich übernachtet sie nicht bei uns – wohl zu trocken. Aber wir halten einen Raum mit einer extragroßen Badewanne bereit. Man weiß ja nie. Und wir wollen doch nicht, dass es zu einem Hochwasser kommt wie damals, als die Gräfin Landau Undina ein Fischweib nannte und die sich bitter rächte.“

Ich erinnerte mich daran, von einem starken Hochwasser vor einigen Jahren in der Zeitung gelesen zu haben. Das waren also die Hintergründe! Ich kam jedoch nicht dazu nachzuhaken, denn Louise war schon weiter geeilt und sperrte eine Tür auf.

„So, da wären wir. Das sind die Gemächer für Prinzessin Aurora. Ihre Eltern König Alfredo und Königsgemahlin Marietta wohnen nebenan. Und ihr Bruder Kronprinz Paolo, dessen Frau Flavia und deren Sohn Pedro sind gegenüber.“ Sie sperrte die Tür auf und ließ uns eintreten. „Ach, der kleine Pedro tut mir richtig leid“, plapperte sie munter weiter und kam hinter uns nach. „Er wird das einzige Kind sein im ganzen Schloss.“

„L’enfant wird bei Ihnen bestimmt in guten Händen sein“, beruhigte Bwaroo Louise. Als er ihren irritierten Blick sah, fügte er hinzu: „L’enfant – das Kind.“

„Oh, ach ja!“ Louise lachte auf. „Wir werden beileibe alle unser Bestes tun. Natürlich wird sich auch sein Kindermädchen um ihn kümmern. Da wird es dann wohl nicht so schlimm werden. Aber ich stelle es mir trotzdem langweilig vor, so ganz ohne Gleichaltrige.“

Ich schaute mich derweil im Raum um.

„Warum stehen hier überall leere Vasen?“, wollte ich wissen.

„Prinzessin Aurora besteht darauf, stets von Rosen umgeben zu sein“, erläuterte Louise. „Wenn Sie mich fragen, das ist ein Irrsinn. Was das kostet – vor allem im Winter! Aber jeder, wie er will. Wir bestücken die Vasen natürlich erst kurz vor der Ankunft der Prinzessin. Wäre doch ein Jammer, wenn sie jetzt schon vor sich hinwelken.“

„Ich habe gehört, die Prinzessin hat ein ungewöhnlich heftiges Schlafbedürfnis“, meinte Bwaroo. „Das macht es Ihnen sicher nicht einfach, die Räume sauber zu halten und die Vasen neu zu bestücken.“

„Ja, das können wir eigentlich nur abends machen, wenn die Prinzessin den Ball besucht“, nickte Louise.

„Sie denken wirklich an alles“, lobte Bwaroo und zwinkerte ihr zu. Die Hausangestellte wurde ein bisschen rot.

„Hier, sehen Sie! Die Fenster gehen alle zum vorderen Garten hinaus“, wies sie hastig zur Fensterfront. „Und das ist die Tür zum Schlafzimmer.“

Sie öffnete die Tür, Bwaroo trat ein und stieß beinahe mit einem kleinen, aber bulligen Mann zusammen, der gleich dahinter stand. Der drehte sich um, einen großen Hammer erhoben.

Ich bekam einen Schreck, als ich seine finstere Miene sah. Was mochte dieser ungeschlachte Kerl wohl Böses im Schilde führen?

„Oh, Ferdinand“, rief Louise, „ist der rosa Tüll endlich eingetroffen? Prinzessin Aurora besteht auf einem Baldachin aus rosa Tüll“, klärte sie uns auf. „Und Ferdinand hier ist unser Mann fürs Handwerkliche, wissen Sie … Ferdinand: Das ist Herr Erkül Bwaroo, der berühmte Detektiv, und sein Assistent Doktor Artur Heystings.“

Ferdinand ließ sich zu einem Nicken herab.

„Bist du hier fertig?“, forschte Louise weiter.

„Ja.“ Mit dieser schroffen Antwort schob Ferdinand sich an uns vorbei und verschwand.

„Redselig ist er ja nicht gerade“, stellte ich fest.

„Ach ja, Ferdinand ist ein bisschen wortkarg. Aber eigentlich ganz nett. Und immer zur Stelle, wenn man ihn braucht.“

Ich konnte mir nicht vorstellen, wie dieser mürrische Ausbund an Feindseligkeit nett sein konnte. Aber vielleicht mochte er ja auch nur keine Fremden.

Wir inspizierten das Schlafgemach der Prinzessin, das ebenfalls vor leeren Vasen nur so strotzte.

Danach kamen noch einige andere Suiten und Zimmerfluchten – anscheinend kam keine Prinzessin mit nur einem Raum aus. Alle Gemächer sahen ziemlich gleich aus, abgesehen von einigen Zugeständnissen an die jeweiligen Geschmäcker der Damen. So schien Prinzessin Turandot eine Schwäche für die Farben Schwarz und Gold zu haben. Und in der Suite für die Zwergin Goldamir Tütler waren die Möbel niedriger als in den anderen Zimmern.

„Ich muss sagen, wir sind schon ein bisschen stolz darauf, dass wir dieses Zimmer so gut hinbekommen haben“, gab Louise zu und schlug verlegen die Augen nieder. „Die Zusage kam praktisch in letzter Minute. Eigentlich gingen wir bereits davon aus, dass die junge Dame gar nicht kommen würde. Aber sie zierte sich wohl nur ein wenig.“

Ich bewunderte im Stillen, wie perfekt das Personal sich auf jeden der Besucher einstellte.

Bei einem der letzten Gemächer in dieser Etage war ich dann aber doch irritiert, als wir in einem relativ schlichten Zimmer standen, dessen Nebenraum nur mit Heu und Stroh ausgestattet war.

„Dies ist das Zimmer von Prinzessin Marianne“, erläuterte Louise, „Sie ist die Tochter von Großherzog August, der aber nicht mitkommen konnte. Stattdessen hat die Prinzessin ihren Dragen dabei.“

„Sie hat einen Drachen dabei? Aber der passt doch niemals in dieses Zimmer!“, rief ich aus.

„Non, mon ami, kein Drache, ein Dragen“, klärte mich Bwaroo auf.

„ Ah ja, genau“, erinnerte ich mich. „Eine Zeitlang war es Mode, dass die Damen von Welt von einem Dragen begleitet wurden. Sie sind so etwas wie die kleinere Version eines Drachen, aber mit Stummelflügeln, die nicht zum Fliegen taugen. Und sie können auch kein Feuer spucken.“

„Stimmt“, nickte Louise. „Wir waren schon sehr erleichtert, dass keine Gefahr besteht und dass das Schloss nicht abbrennt. Prinzessin Marianne besteht nämlich darauf, den Dragen immer in ihrer Nähe zu haben.“

Als Letztes zeigte Louise uns schließlich die Zimmer, die am Kopfende des Ganges für uns reserviert waren. Von einem Salon mit Kamin und gemütlich aussehenden Sesseln gingen zwei Türen ab, die jeweils in ein Schlafzimmer führten. Ich wusste sofort, welches der beiden für Bwaroo gedacht war. Denn während in meinem Zimmer das Bett in einer Ecke stand, waren die Möbel in dem anderen peinlich genau symmetrisch ausgerichtet. Das Bett stand genau in der Mitte, flankiert von zwei identischen Kommoden, auf denen einige Figuren aufgestellt waren, alle in genau gleichem Abstand. Dachte ich zumindest. Doch Bwaroo ging zu der linken Kommode und rückte eine der Figuren ein wenig zurecht.

„Bon“, erklärte er zufrieden und trat ans Fenster. „Von hier aus kann Bwaroo alles gut überblicken.“

„Leider muss Ihr Diener in einem Extrazimmer im Personaltrakt schlafen“, bedauerte Louise.

„Ich bin sicher, Orges wird das zu schätzen wissen“, winkte Bwaroo jedoch ab. „Immerhin kann er auf diese Weise Ihre geschätzte Bekanntschaft machen, Mademoiselle!“

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Orges Interesse an der Dame haben konnte, sie schien mir um einiges älter als er. Andererseits musste ich zugeben, dass ich keine Ahnung hatte, wie alt er eigentlich war. Immerhin, in seinem dunkelbraunen Haar fand sich keine Spur von Grau. Dazu sein praktisch faltenloses Gesicht. Vielleicht hielt ihn aber auch sein stets gemessenes und würdevolles Auftreten jung. Lachfalten würde Orges wohl niemals bekommen. Energisch schob ich diese Überlegungen beiseite. Das war im Moment ja nun wirklich nicht wichtig.

„Wollen Sie auch noch die Gemächer der eingeladenen Prinzen sehen?“, wollte Louise wissen. „Sie sind im ersten Stock, genau hier drunter.“

„Das wird fürs Erste nicht nötig sein“, winkte Bwaroo ab.

„Gut, wenn das alles ist, lasse ich Sie jetzt allein.“ Louise machte einen Knicks und verließ uns, nachdem Bwaroo ihr noch einmal wortreich gedankt hatte.

„Hätten wir sie nicht wenigstens fragen sollen, wo Prinz Wolfdietrich wohnt?“, wollte ich wissen, als sie gegangen war. „Er ist doch unser Hauptverdächtiger.“

„Er ist Ihr Hauptverdächtiger, Heystings.“ Bwaroo grinste mich an. „Moi, Erkül Bwaroo, ich bin für alles offen und habe noch gar keinen Verdächtigen.“

„Aber Bwaroo ...“

„Non, Heystings. Sie machen den Fehler, gleich Schlüsse zu ziehen, noch bevor es Schlüsse zu ziehen gibt.“ Er hob die Hand und wedelte mit dem Finger. „Haben Sie Geduld, Heystings. Und benutzen Sie Ihre kleinen grauen Zellen, wenn sich die Dinge entwickeln.“

Bwaroo und seine grauen Zellen. Damit meint er sein Gehirn. Glaube ich zumindest. Jedenfalls gehen sie ihm über alles.

„Na gut“, gab ich also nach. „Was machen wir nun? Wollen wir unser Gepäck holen?“

„Non. Das kann Orges besorgen. Später. Es ist ja noch Zeit, bis die Gäste eintreffen. Wir besuchen jetzt erst einmal Graf Heinrich. Ich habe Orges aufgetragen, mit dem Wagen vor dem Schloss zu warten.“

Ausflug mit dem Automobil

Ich folgte Bwaroo nach draußen, sehr gespannt darauf, wie das Fahrzeug wohl aussehen würde.