Tatort Amper - Ruth M Fuchs - E-Book

Tatort Amper E-Book

Ruth M Fuchs

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  • Herausgeber: Raposa
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Auch nördlich von München wird gemordet!

Die Amperauen bei Dachau sind ein friedliches Stückchen Natur. Doch dann findet Annamirl Hofstetter beim Spaziergehen gleich zwei Leichen. Die pensionierte Lehrerin weiß sofort: Die beiden wurden ermordet.
Als dann ausgerechnet ihr Patenkind in Verdacht gerät, die Mörderin zu sein, bleibt Annamirl gar nichts anderes übrig, als den Helden ihrer geliebten englischen Krimis nachzueifern und auf eigene Faust den wahren Täter zu finden.

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Inhaltsverzeichnis

Einige Wochen zuvor

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Montag

Eine Woche später

Anmerkung

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Bücher von Ruth M. Fuchs

Tatort Amper

ein Krimi aus dem Dachauer Moos

von Ruth M. Fuchs

Kriminalroman

Impressum

© 2022 Raposa

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Werks darf in irgendeiner Form ohne ausdrückliche vorherige Zustimmung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Dieses Buch ist auch als Taschenbuch erschienenen

Herausgeber: Raposa – Ruth Fuchs

c/o Block Services, Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach

eMail: [email protected]

Bild und Umschlaggestaltung: Ruth M. Fuchs

Lektorat: Jochem Reineck

www.ruthmfuchs.de

Für Dieter

Einige Wochen zuvor

„Was gibt‘s zum Essen?“

Das war seine übliche Frage, wenn er abends nach Hause kam. Aber es klang dieses Mal ziemlich gereizt. Nach so vielen Jahren Ehe bekam man ein Gespür dafür.

„Saures Lüngerl mit Semmelknödel“, war ihre gleichmütige Antwort. Nach so vielen Jahren Ehe entwickelte man seine eigene Methode, mit so etwas umzugehen.

Er gab etwas Unverständliches von sich. Saures Lüngerl war sein Lieblingsessen, und er schien fast ein wenig enttäuscht, dass er daran nichts aussetzen konnte.

Später beim Essen fragte er: „Und, wie war dein Tag? Was hast du wieder Weltbewegendes getrieben?“

„Ich habe die Goldfische im Teich vergiftet und überlegt, ob ich das nicht auch mit dir machen soll.“

„Ah ja, prima. Schön für dich.“ Mit der Gabel riss er den Knödel auseinander, zerteilte ihn in lauter kleine Stücke, die er ausgiebig in der Sauce wälzte, damit sie von allen Seiten etwas abbekamen. Dann probierte er. Alles war genau so, wie es sein sollte. Das schien ihn zu ärgern.

Natürlich hatte sie keine Fische vergiftet. Sie hatten ja auch gar keinen Teich im Garten. Aber sie hatte mal ausprobieren wollen, ob er überhaupt zuhörte. Nein, tat er nicht.

„Wie war es bei dir?“ Sie wusste längst, dass er eigentlich nur darauf wartete, dass sie ihn das fragte. Und wirklich, DIE Frage hatte er sehr wohl gehört.

„Wie immer. Stress“, er wedelte mit dem Messer. „Der Abschluss dieses neuen Projekts steht an. Wir werden expandieren – das Werk erweitern, auf dem Grundstück hinter dem alten Gebäude. Da steht im Moment eh nur Krempel rum. “

„Das ist doch gut.“

„Phh! Ich bin mir ja ziemlich sicher, der Asiate denkt, er könnte in die Firma einsteigen. Und der Stefan, der hat nicht genug Eier in der Hose, um rundraus nein zu sagen. Das bleibt wieder alles an mir hängen!“

Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass das wirklich so war.

„Was hat Stefan denn gesagt?“, forschte sie.

„Nichts hat er gesagt. Offiziell weiß ich davon noch gar nichts. Aber ich bin doch nicht blöd!“ Er schaute sie beleidigt an. „Der Chinese will einen Fuß in die Firma kriegen, das ist so klar wie Kloßbrühe. Und natürlich wird das alles wieder an mir hängen bleiben. Wenn ich nicht alles mache, macht‘s ja keiner.“

Er schob sich einen weiteren Löffel voller Essen in den Mund.

„Du wirst das sicher gut hinbekommen“, tröstete sie.

Er warf ihr einen forschenden Blick zu. Machte sie sich lustig über ihn? Doch sie widmete sich nur ihrem eigenen Teller. Ihre Gelassenheit ärgerte ihn.

„Das Sommerfest steht an. Das ist auch stressig“, sagte er, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.

„Ja, ich weiß.“

„Hast du den DJ engagiert?“

„Ja.“

„Und den Caterer?“

„Ja.“

„Tische, Stühle, Deko?“

„Ja.“

„Genügend Bier? Und der Wein ist hoffentlich trinkbar.“

„Ja.“

Die Sommerfeste der Firma waren legendär. Letztes Jahr hatte sogar die Dachauer Rundschau darüber berichtet. Das hatte ihm natürlich gefallen. Der Erste, der Beste, der Größte, das war es, was er sein wollte.

„Das diesjährige Motto ist ‚Karibik‘ ...“

„Ich weiß.“

„Hab drei Leute abgestellt, die bei der Deko helfen.“

„Dann hast du wenigstens in der Richtung keinen Stress.“

„Was soll das denn heißen?“

„Nichts, Schatz. Schmeckt es dir?“

„Der Bauer, dieser Depp, der hat doch glatt vorgeschlagen, dass wir doch diesmal einen Betriebsausflug machen könnten“, fuhr er leicht verstimmt fort. „An den Starnberger See. So was Blöd‘s. Des kriegt doch keiner mit, wenn wir wegfahren. Und was das kostet!“

Auch nicht mehr als die Feier hier, ging es ihr durch den Kopf. Aber es stimmte schon, darüber würde die Zeitung bestimmt nicht berichten.

„Aber für nächstes Jahr wäre es vielleicht eine gute Idee“, merkte sie vorsichtig an. „Und letztlich wäre es wahrscheinlich sogar billiger ...“

„Woher willst du das denn wissen? Du hast doch keine Ahnung von Geld. ICH bin hier derjenige, der das Geld verdient!“

„Das stimmt natürlich.“

„Du gibst das Geld ja immer nur aus ...“

„Ja, du hast recht.“

Musste dieses Weib immer gleich einlenken? Unzufrieden rührte er in seinem Teller herum.

„Der Bauer hat obendrein gemeint, ich soll ihm mehr Verantwortung geben“, wechselte er das Thema. „Ich – dem! Der kann gut mit Zahlen. Das war‘s dann aber auch schon. Der kann froh sein, dass ich ihn nicht rausschmeiß‘ und mir stattdessen ein Computerprogramm anschaffe.“

„Jetzt sei doch nicht so.“

„Wie soll ich nicht sein?“ Jetzt, da sie ihm endlich eine Angriffsfläche bot, wurde er gleich viel lebhafter.

„Ich meine ja nur.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Der Bauer macht seine Sache doch gut.“

„Wie bitte? Was verstehst du denn schon davon?“

„Nichts.“ Sie presste die Lippen zusammen und stocherte in ihrem Essen herum.

Eine Weile schwiegen beide.

„Was ist?“, herrschte er sie dann an. „Bist du jetzt mal wieder beleidigt?“

Sie sagte nichts und starrte nur weiter auf ihren Teller.

„Ach, hab ich mal wieder was Falsches g'sagt?“ Er warf die Hände in die Höhe. „Hast du jetzt wieder eine von deinen Stimmungen, wo ich‘s dir gar nicht recht machen kann? Lass deine schlechte Laune nicht an mir aus.“

„Welche schlechte Laune?“ Sie war erstaunt. Dass er sich abreagieren musste, war klar. Aber dass er es tat, indem er den Spieß umdrehte, war neu. Oder war es ihr bisher bloß nicht aufgefallen?

„Ach, du merkst es schon selber gar nicht mehr, oder?“ Er deutete anklagend auf sie. „Alles muss nach deinem Kopf gehen, nichts kann ich richtig machen.“

Sie schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Im Allgemeinen unterstellte man ja eher Frauen solche Reaktionen. Ein grobes Vorurteil. War er schon immer so gewesen? Sie versuchte, sich zu erinnern, wie es gewesen war, als sie beide noch jung waren. Damals hatte sie ihn regelrecht angehimmelt und dabei völlig übersehen, was hinter der Fassade steckte. Ratlos stocherte sie weiter in ihrem Essen herum, während er es sich, nun sichtlich zufrieden, schmecken ließ.

„Ich will die Scheidung.“ Sie sah ihn aufmerksam an, aber er hörte nicht zu. „Ich will die Scheidung!“, wiederholte sie lauter.

„Hast du was gesagt?“

„Die Scheidung. Ich werde mich scheiden lassen.“

Hatte er sie gehört? Er schaufelte weiter sein saures Lüngerl in sich hinein, als hätte sie nichts gesagt.

Dann hob er den Kopf. Sein Gesicht war wutverzerrt.

„So! Scheiden lassen willst du dich, du blöde Henna!“ Er warf den Löffel in den Teller, dass es schepperte und ein paar Spritzer auf dem Tischtuch landeten. „Spinnst du jetzt total? Warum? Du hast doch alles, was du brauchst!“ Er sprang auf, zog sie auf die Füße und schüttelte sie.

„Nein, habe ich nicht.“ Sie machte sich von ihm los und trat einen Schritt zurück.

„Blödsinn!“ Seine Augen verengten sich, dann grinste er boshaft. „Du willst mich also ausnehmen, oder? Vergiss es, da mach ich nicht mit.“

„Nein, das habe ich überhaupt nicht vor. Ich brauche dein Geld nicht.“

„Ach nein? Und das Haus? Mit dem Garten, den du so liebst?“

„Aber damit kannst du doch gar nichts anfangen!“

„Wurscht. Du kriegst es jedenfalls nicht!“

„Das würdest du nicht wagen!“

„Ach, denkst du!“, brüllte er da. „Dass du dich da bloß nicht täuschst. Ich werd' dir die Suppe versalzen, wenn du gehst. Du wirst gar nichts kriegen. Nichts, hast du gehört?“

Damit stampfte er davon. Der Stuhl am Esstisch, den er dabei streifte, fiel polternd um.

Sie sah ihm nach. Alles in allem war der Abend glimpflicher verlaufen, als sie gedacht hatte. Aber konnte er ihr das Haus wirklich wegnehmen? Das Haus und den Rosengarten, den sie mit so viel Mühe angelegt hatte und der seinesgleichen suchte? Das wäre wirklich eine Katastrophe.

Dienstag

Annamirl runzelte die Stirn. Es hatte den ganzen Morgen geregnet. Jetzt, gegen zehn Uhr, hatte es endlich aufgehört. Aber es sah so aus, als könnte es jeden Moment wieder anfangen. Sie hasste es, wenn das Auto nach nassem Hund roch. Andererseits würden die beiden sich sicher nicht lange stillhalten, ohne ihren Auslauf. Außerdem freute sie sich schon sehr auf den Spaziergang.

„Na, das Wetter wird schon halten. Und ihr zwei seid ja auch nicht aus Zucker. Genauso wenig wie ich.“

Kurzentschlossen packte sie eine Regenjacke und ein paar Ersatzschuhe in den Kofferraum. Einen Moment überlegte sie, ob sie vielleicht die Gummistiefel brauchen würde, entschied sich dann aber dagegen. Nach kurzem Nachdenken legte sie aber noch zwei große Handtücher neben die Schuhe, bevor sie die beiden Scottish Terrier auf den Rücksitz bugsierte und anschnallte.

Eine Viertelstunde später bog sie auf den Parkplatz nahe dem Amperwehr. Überall standen Pfützen, es tropfte von den Bäumen, und die Wolken hingen schwarz und bedrohlich am Himmel. Kein Wetter, bei dem man normalerweise einen Spaziergang machte. Aber zumindest war es nicht mehr so schwül. Annamirl beschloss, es darauf ankommen zu lassen, zog aber zur Vorsicht die Regenjacke an, die sie offenließ. Mit ihrer wasserdichten Beschichtung hätte sie ihr sonst nur den Schweiß aus allen Poren getrieben. Odin stürzte sofort zu der ersten Brücke Richtung Altamper, um eine Amsel vom Geländer zu verbellen. Schimpfend flog der Vogel in den nächstbesten Baum und machte von dort aus lautstark klar, wie ungehörig er ein solches Benehmen fand. Der Hund aber setzte sich auf die Hinterbeine und schaute mit schiefgelegtem Kopf zu ihm empor, als könnte er gar nicht verstehen, worüber der sich so aufregte.

Loki dagegen lief zielstrebig auf die Brücke. Er wusste genau, wohin sein Frauchen wollte. Über die Brücke drüber und vor der zweiten links acht Stufen runter und rein ins Grünzeug. Dort roch es immer so interessant. Für einen Hund ein Paradies. Auch Annamirl liebte diesen Abschnitt der Amperauen ganz besonders, denn man hatte schon nach wenigen Metern das Gefühl, mitten im Dschungel zu sein. Gut, ein Dschungel ohne Lianen und dementsprechend ohne einen gutgebauten Tarzan, der sich, nur mit einem knappen Lendenschurz bekleidet, von Ast zu Ast schwang. Aber das Gefühl, mitten in einer unberührten Wildnis zu stecken, war ja auch etwas Schönes. Wer brauchte da Tarzan?

Sie hatte jedoch kaum die erste Brücke betreten, als Loki plötzlich davon schoss, ohne sich um Annamirls Rufen zu scheren. Stattdessen fing er an, wie wild zu bellen, und wollte gar nicht mehr aufhören. Dann preschte auch Odin los und Annamirl zwangsläufig hinterher. Schon nach wenigen Metern blieb sie abrupt stehen. Mitten auf der zweiten Brücke lag ein Mann, und Loki stand daneben und bellte sich die Seele aus dem Leib. Dass der Mann tot war, daran bestand kein Zweifel, schon wegen des großen roten Flecks auf der Brust. Einen Moment stand Annamirl da wie erstarrt, die Hand vor den Mund geschlagen. Hysterisch loszuschreien oder wegzulaufen, kam ihr gar nicht in den Sinn. Vielmehr ging sie ein paar Schritte näher heran – und bekam gleich den nächsten Schreck: Der Tote war niemand anders als Stefan Brunner.

Ungefähr drei Meter von ihm entfernt lag eine Schusswaffe.

„Ein Revolver … nein, kein Revolver.“ Annamirl schüttelte über sich selbst den Kopf. „Das hier ist eine Pistole. Und ganz sicher keine Schreckschusspistole.“

Energisch riss sie den Blick von der Waffe los, holte tief Luft und zog ihr Handy aus der Tasche, um die Polizei zu rufen. Da lenkte sie ein Winseln ab. Odin saß etwas abseits neben einer zusammen geknautschten Jacke oder dergleichen und jammerte leise das Geländer der Brücke an. Genaugenommen ein ganz bestimmtes Stück. Ein Stück, um dessen Handlauf etwas geknotet war. Da musste etwas Schweres hängen. Neugierig trat Annamirl an das Geländer und spähte hinunter.

Dieses schüttere Haar mit der kahlen Stelle am Hinterkopf kannte sie doch!

Sie stürzte über die Stufen, die zum Fluss führten, und die Böschung hinunter. In ihrer Hast wäre sie beinahe ausgerutscht und ins Wasser gefallen. Sie konnte sich gerade noch an einem Busch festhalten. Fast furchtsam blickte sie zur Brücke. Da hing Ludwig Ellmaier am Brückengeländer, der Schwiegervater von Stefan, sehr blau im verzerrten Gesicht und mit heraushängender Zunge, aber eindeutig Ludwig. Er schwang an so etwas wie einem Band, das stramm um seinen Hals lag, sanft hin und her.

Mit einem Plumps setzte sich Annamirl auf die Kiesel. Jetzt war ihr übel. Was war hier nur geschehen? Was würde Helga dazu sagen? Und Marion?

„Reiß dich zusammen und alarmiere endlich die Polizei!“, rief sie sich dann selbst energisch zur Ordnung. „Du kannst dir später Sorgen um die beiden machen.“

Sie kletterte wieder auf den Weg zurück, wählte den Notruf, und schon bald meldete sich eine weibliche Stimme. Sie fragte freundlich nach Annamirls Namen, und wie sie ihr helfen könne.

„Ich möchte zwei Tote melden“, sagte Annamirl, nachdem sie sich vorgestellt hatte. „Sieht nach Mord aus.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte erst einmal betretenes Schweigen.

„Wo sind Sie?“, fragte die Stimme, nun sehr ernst.

„Kennen Sie das Amperwehr? An der Eschenrieder Straße geht doch parallel zur Straßenbrücke eine zweite für Fußgänger über die Amper … Nein, ich weiß nicht, ob die einen Namen hat. Na, jedenfalls, ein Toter liegt auf der Brücke, einer hängt dran.“

Die weibliche Stimme hatte es plötzlich sehr eilig, das Gespräch zu beenden. Sie bat Annamirl noch, nicht wegzugehen, und reagierte etwas pikiert, als diese ihr versicherte, dass sie das gar nicht vorhatte.

Wie lange würde es wohl dauern, bis die Polizei eintraf? In den englischen Krimis, die Annamirl so liebte, schwieg man sich dazu immer aus. Meistens fing ein neues Kapitel an, bei dem das Ermittlungsteam dann schon vor Ort war. Mittagessen mit Monika würde sie vermutlich vergessen können. Aber sie bezweifelte ohnehin, dass sie etwas hinuntergebracht hätte.

Annamirl wurde von den Hunden aus ihren Gedanken gerissen. Die beiden hatten wohl beschlossen, dass ihr Befehl, sitzen zu bleiben, schon so lange zurücklag, dass er unmöglich noch gelten konnte.

„Odin, Loki! Hierher!“, rief sie also so energisch sie konnte. Die beiden Terrier zögerten. „Das ist ein Tatort, da habt ihr nichts verloren“, fuhr Annamirl fort. Einen so ernsten Ton waren die beiden nicht gewöhnt. Vielleicht spürten sie auch, dass da etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, jedenfalls gehorchten sie, wenn auch widerwillig.

Sicherheitshalber nahm sie die Hunde an die Leine und ignorierte, dass die beiden erst empört bellten, dann mitleiderregend zu winseln begannen. Neugierig schaute sie sich den Toten an, der an seinem Seil sanft hin und her schaukelte. Oder nein, das war ja gar kein Seil. Auch kein einfaches Band. Vielleicht ein Stoffgürtel? Annamirl strengte die Augen an und sah ganz genau hin. Das war eine Krawatte!

Was ist hier nur passiert, fragte sie sich wieder. Hatte Ludwig seinen Schwiegersohn erschossen und danach Selbstmord begangen? Und wo hatte Ludwig die Waffe her? Oder hatte Stefan seinen Schwiegervater umgebracht und sich dann selbst erschossen? Dafür lag aber die Waffe ziemlich weit weg. Und welchen Grund sollte er gehabt haben? War vielleicht noch eine dritte Person vor Ort gewesen? Was machten die beiden überhaupt hier? Ludwig wohnte in Dachau, Stefan in Bergkirchen. Das war nicht zu weit weg, aber warum sollten sie sich hier treffen?

Annamirl grübelte immer noch darüber nach, als sie jemanden kommen hörte.

***

Als Hauptkommissar Auerbach eintraf, war die Spurensicherung bereits an der Arbeit. Einer der Männer im weißen Overall zeigte ihm einen Führerschein, den er Tote auf der Brücke bei sich gehabt hatte. Stefan Brunner stand da. Das Foto sah dem Mann beruhigend ähnlich. Na, immerhin dürfte damit die Identität des einen Toten klar sein. Ob auch der andere einen Ausweis bei sich hatte, war noch nicht klar. Einer der SpuSi-Kollegen hatte die tropfnasse Jacke aufgehoben, die am Geländer auf dem Boden gelegen hatte, und durchsuchte gerade die Taschen. Zwei andere machten sich daran, den am Geländer hängenden Körper zu begutachten.

Auerbach sah sich um. Knapp hinter der Absperrung aus Plastikband stand ein Streifenpolizist bei einer älteren Dame, die zwei Hunde an der Leine hatte. Das musste die Frau sein, die angerufen hatte. Der Polizist bei ihr sah ziemlich unglücklich drein. Kein Wunder, die Zeugin stand bestimmt unter Schock und gab nichts Brauchbares von sich. Wenigstens heulte sie nicht oder schrie hysterisch herum. Auerbach trat zu dem Streifenbeamten und der Frau, um sich vorzustellen. Sichtlich erleichtert zog sich der junge Beamte zurück. Die Dame, die da vor Auerbach stand, ging ihm kaum bis zur Schulter. Sie war ein wenig mollig, aber beileibe nicht dick. Zu ausgebleichten Jeans trug sie ein farbenfrohes Shirt und eine knallrote Regenjacke – seltsames Outfit für eine Rentnerin. Denn das musste sie dem Alter nach sein. Nach Auerbachs Erfahrung trugen die doch meistens gedeckte Farben, vorzugsweise beige oder braun. Auch die luftig leichte Frisur ihres schneeweißen Haares war ungewöhnlich. Am meisten irritierte ihn jedoch, wie ruhig diese Frau blieb. Zwei Leichen – sicherheitshalber sah sich Auerbach noch einmal um, ja, zwei Tote – und sie hatte die Ruhe weg!

„Sie sind?“ Die Frage war ihm schroffer herausgerutscht als beabsichtigt.

„Annemarie Hofstetter. Ich habe den Ludwig und den Stefan gefunden.“

Machte sich die Frau über ihn lustig? Auerbach warf der Rentnerin einen scharfen Blick zu. Mit großen blauen Augen, umgeben von zahlreichen Lachfalten, schaute sie ganz arglos zurück.

„Sie kennen die zwoa Toten?“, fragte er misstrauisch.

„Ich kannte sie als Lebende.“

Herrschaftszeiten, eine ganz Schlaue. Und ihre beiden Hunde liefen um seine Beine herum und schnüffelten dann ausgiebig an seinen Schuhen. Auerbach seufzte innerlich und nahm sich zusammen, damit er dem schwarzen der beiden, der seine Schuhe besonders intensiv begutachtete, keinen Tritt versetzte. Aber wehe, wenn der Hundskrippel ihn für einen Baum hielt und das Bein hob!

„Der Erhängte war der Mann meiner Freundin und heißt Ludwig Ellmaier. Der Erschossene war sein Schwiegersohn, Stefan Brunner“, führte Annamirl geduldig aus.

Sie wurde unterbrochen, als der schwarze Terrier jetzt auch noch anfing, vernehmlich in Auerbachs Richtung zu knurren.

„Loki, lass das“, befahl Annamirl.

Der Hund guckte sein Frauchen missbilligend an und setzte sich dann auf die Hinterbeine. Auerbach aber ließ er dabei keine Sekunde aus den Augen. Sein weißer Kollege gab keinen Ton von sich. Aber wie er Auerbach anschaute – so abschätzig, als wäre dieser Mensch entschieden unter seiner Würde.

Auerbach beschloss, den Köter zu ignorieren.

„Sie hab'n also beide Opfer kennt und war'n auch als Erste am Tatort“, fasste er zusammen und schaute Annamirl streng an. Er machte sich nicht die Mühe, hochdeutsch zu sprechen. Hier war schließlich Bayern. Da musste es genügen, wenn er den Dialekt etwas zurücknahm. „Des is a ziemlicher Zufall, net wahr?“

„Ja, ich weiß. Das macht mich zu Ihrer Hauptverdächtigen, oder?“

„Des … des … also, des ist fei schon ...“ Es kam nicht oft vor, dass Auerbach sprachlos war.

„Ich kannte die beiden und war vor Ort. Ein Alibi habe ich auch nicht wirklich. Das macht mich auf jeden Fall zu einer Verdächtigen“, erklärte die alte Frau freundlich. „Ich bin allein mit meinem Auto hergekommen, weil ich mit einer Freundin verabredet bin. Vorher wollte ich nämlich noch ein bisschen spazieren gehen. Da war ich auch allein, abgesehen von den Hunden, die aber kaum als Zeugen taugen werden. Und ob mich jemand hat vorbeifahren sehen, weiß ich nicht.“

„Sie sind mit der Frau des Toten verabredet?“ Sicherheitshalber ging Auerbach gar nicht erst näher auf ihre Ausführungen ein.

„Nein, eine andere Freundin. Ich habe mehr als eine.“

Auerbach kniff argwöhnisch die Augen zusammen. Doch die alte Frau lächelte nur, die Unschuld in Person.

„Entschuldigung, Chef. Es ging nicht früher.“ Ein junger Mann kam eilig auf Auerbach zu. „Es war … Frau Hofstetter?“ Mit vor Erstaunen offenem Mund blieb er abrupt stehen.

„Patrick, nicht wahr?“ Annamirl musste nur ganz kurz überlegen. „Patrick Scholl.“

„Äh, ja, Frau Hofstetter.“ Scholl starrte die alte Frau noch immer an. Dann räusperte er sich. „Frau Hofstetter war meine Lehrerin in Deutsch und Englisch auf dem Gymnasium“, wandte er sich dann an Auerbach.

„Und der Patrick war ein guter Schüler“, ergänzte Annamirl. „Oje, entschuldige, ich sollte ja jetzt wohl 'Herr Scholl' sagen.“

„Neinnein, Patrick ist schon in Ordnung.“ Der junge Mann lächelte. Er fühlte sich plötzlich wieder wie der Sechzehnjährige, dessen Klasse Frau Hofstetter, wenn der Unterricht gut gelaufen war, aus The Diaries of Adam and Eve von Mark Twain vorgelesen hatte.

Gedankenverloren bückte er sich, um die beiden Scottish Terrier zu streicheln, die jetzt schwanzwedelnd vor ihm saßen.

„Wieso kemmand Sie so spät, Scholl?“, riss ihn Auerbach unsanft aus seinen Erinnerungen.

„Tut mir leid. Auf der Viereinundsiebzig war ein Unfall und ich stand im Stau.“

„Ich sag‘s allweil: Net die deppade Bundesstraßen nehmen.“

„Ja, Chef.“ Patrick warf Annamirl einen verlegenen Blick zu. Vor einer früheren Lehrerin zurechtgewiesen zu werden, ist nicht gerade angenehm. Doch die alte Frau lächelte ihm aufmunternd zu.

„Meine Personalien hat der junge Mann, der nette Beamte dort drüben, schon aufgenommen“, wandte sie sich dann an Auerbach. „Meine Aussage habe ich auch gemacht. Natürlich werde ich noch aufs Revier kommen, um die Niederschrift zu unterschreiben ...“

„Sie scheinen sich ja ausz'kenna“, meinte Auerbach brüsk. Annamirls Ruhe war ihm nicht geheuer. „Machen Sie sowas öfter?“

„Nein, natürlich nicht. Aber ich lese gern Krimis. Obwohl ich die englischen den deutschen vorziehe ...“

Oje, auch das noch. Auerbach fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Eine damische Krimileserin, die dachte, sie wüsste alles besser.

Hinter ihm war inzwischen die Leiche von Ludwig Ellmaier über das Geländer gehievt worden.

„Gut, des wär's dann für Sie“, fertigte Auerbach seine Zeugin schnell ab und wandte sich der Brücke zu. „Verlassen'S aber die Stadt nicht.“ Und mit einer wegwerfenden Handbewegung zu Patrick sagte er: „Sagn'S der Witwe … äh … dene zwoa Witwen Bescheid. Wird Zeit, dass Sie des auch amol lernen. Mir sehn uns dann auf dem Revier.“ Damit ging er zu dem Rechtsmediziner, der sich über die zweite Leiche beugte, während Beamte der SpuSi immer noch auf der Brücke herumschwirrten und allerlei eintüteten.

„Ein reizender Zeitgenosse“, raunte Annamirl Patrick zu, der sich daraufhin nur mit Mühe ein Grinsen verbiss. „Odin und Loki mögen ihn auch nicht.“

„Odin und Loki?“

„Ja! Der hier ...“ Annamirl wies auf den weißen Terrier, „ist Odin. Und der andere ist Loki.“

„Odin und Loki ...“ Patrick kramte in seinem Schulwissen. „Das waren doch germanische Götter, oder?“

„Odin ist der Göttervater der Asen in der nordischen Mythologie der Edda von Snorri Sturluson“, nickte Annamirl. „Er ist weise und gerecht. Loki ist eigentlich nur ein Riese, hat aber mit Odin Blutsbruderschaft geschlossen und gehört deshalb auch zu den Asen. Er ist ein Schelm und ein Gauner, der gerne Streiche spielt.“

„Und die Hunde sind auch so?“

„Ein wenig.“ Annamirl lächelte ihren ehemaligen Schüler an. „Jedenfalls benehmen sie sich tadellos auf Autofahrten. Du wirst gar nicht merken, dass sie auf deiner Rückbank sitzen.“

„Wie bitte?“ Patrick war verwirrt. Hatte er etwas verpasst?

„Nun, wir fahren doch jetzt zu Helga ...“

„ICH fahre zu Helga. Ich meine, ich fahre zu Frau Ellmaier, um ihr die traurige Nachricht ...“

„Genau“, stimmte Annamirl zu. „Ich fahre natürlich mit. Helga und ich sind seit vielen Jahren befreundet. Es wird dir eine große Hilfe sein, wenn ich dabei bin. Ich muss nur noch kurz Monika Bescheid sagen, dass es nichts wird mit Mittagessen. Sie wird es verstehen.“

Patrick setzte zu einer ablehnenden Antwort an, doch da ging Annamirl bereits einen Schritt zur Seite, um zu telefonieren.

„Hallo Monika“, hörte er sie gleich darauf ins Telefon sagen. „Ich bin‘s, Annamirl. Leider kann ich nicht wie verabredet zum Essen kommen. Ich habe zwei Leichen gefunden … Nein, ich bin nicht über einem Krimi eingeschlafen! … Nein, ich kann dir nichts Genaueres sagen … die laufenden Ermittlungen, weißt du? … Nein, ich bin nicht die Mörderin. Also wirklich, Monika … Ja, ich melde mich selbstverständlich, sobald ich kann. Wenn es irgendwie geht, komme ich natürlich gerne noch.“

Patrick fühlte sich unbehaglich. Wie er es hasste, dass ihn sein Chef grundsätzlich einfach so ins kalte Wasser schmiss! Ob Auerbach das wirklich für die beste Lernmethode hielt oder einfach den neuen Kollegen nicht mochte, den man ihn aufs Auge gedrückt hatte, war Patrick noch nicht klar. Aber er glaubte eher Letzteres. Wenn er an die möglichen Reaktionen der Hinterbliebenen dachte, fühlte er sich schon im Vorfeld ganz hilflos. Da wäre ihm ein bisschen Unterstützung schon recht. Andererseits …

„Das ist gegen die Vorschriften“, brachte er lahm vor, als Annamirl sich ihm nach beendetem Gespräch wieder zuwandte.

„Unsinn“, winkte die jedoch nur ab. „Wer soll es denn erfahren? Die Hunde werden es niemandem erzählen. Wo steht dein Wagen? Oder wollen wir lieber meinen nehmen?“

Patrick sah ein, dass er keine Chance hatte.

„Warum fahren Sie mir nicht einfach hinterher?“, wollte er wissen.

„Dafür bin ich jetzt viel zu aufgewühlt“, versicherte Annamirl. „Ich würde nur am nächsten Baum landen.“

Patrick glaubte ihr kein Wort.

„Außerdem würde ich mich gerne mit dir unterhalten“, fügte sie dann aber noch hinzu. „Wir haben uns so lange nicht gesehen ...“

***

„Wie schaugt's aus?“, wandte sich Auerbach an den Rechtsmediziner. „Hat der oane den andern erschossen und sich dann aufg'hängt?“

„Ob der Erhängte einen Schuss abgegeben hat, weiß ich noch nicht“, war die Antwort. „Dazu muss ich die Hände erst nach Schmauchspuren untersuchen. Aber Selbstmord kann ich ausschließen.“

„Was Sie net sag'n!“

„Schauen Sie, wenn er sich selber aufgehängt hätte, wäre da eine blaue Linie um den Hals von der Krawatte und ein Abdruck vom Knoten im Nacken. Aber hier haben wir eine zweite Linie. Das Opfer wurde erst erdrosselt und dann aufgehängt, um das zu verschleiern. Außerdem hat er hier ein Trauma am Hinterkopf.“ Der Mediziner deutete auf die Stelle. „Ich nehme an, er wurde erst niedergeschlagen, dann von hinten erdrosselt und dann aufgehängt.“

„Kreuzkruzitürken. S'hätt so schön passt.“

„Tut mir leid.“

„Und mir erst! Aber mei, mein Neuer will ja dazulernen, jetz‘ konn er.“

Der Mediziner warf Auerbach einen fragenden Blick zu. Er kannte ihn schon länger und wusste, dass Auerbach ein typischer Einzelgänger war. Dass der sich jetzt um einen neuen Kollegen kümmern musste, ging ihm sicher gegen den Strich. So gemütlich der eher kleingewachsene Ermittler mit seinem Bierbauch und seinem silbergrauen Schnauzer wirkte, war er zweifellos imstande, jemandem, den er nicht mochte, das Leben schwer zu machen. Dann konnte er ein ziemlicher Grantler sein. Ein Urbild von einem Bayer eben, der in seiner Jeans und dem Poloshirt seltsam verkleidet aussah. Der Rechtsmediziner stellte ihn sich im Stillen immer in Lederhose und Filzhut vor.

Tatsächlich trug Auerbach privat meistens so einen Hut mit einem großen Gamsbart am Hutband. Bei Kälte war er außerdem meistens in einem grünen Janker unterwegs. Die Lederhose aber blieb im Schrank, seit ihn auf dem Dachauer Volksfest ein g‘standenes Mannsbild in einer wunderbaren, speckigen Lederhose in reinstem Sächsisch gefragt hatte, wo er denn ‚eine halbe Bierschorle‘ bekommen könnte. Das hatte Auerbach dieses Kleidungsstück gründlich verleidet.

„Der Bub is ja no grün hinter den Ohrwaschel“, beklagte er sich jetzt über seinen Assistenten, während er sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. Der kühle Wind hatte nachgelassen, und die schwüle Luft machte dem beleibten Hauptkommissar zu schaffen. „Und strebern tut er auch noch.“

„Wir waren alle mal Anfänger“, beschwichtigte der Mediziner, „und entsprechend übereifrig.“

„Aber muss man mir den denn auf meine alten Tag noch aufs Aug drücken? Zefix, Ich hab‘s net so mit‘m Anlernen von so ein‘m jungen Hupfer.“

„Na, so alt sind Sie doch noch gar nicht!“

„Ich hab die Sechz'ge schon hinter mir. Des g'langt.“

Auerbach schüttelte missbilligend den Kopf. Es hätte doch so schön sein können – der eine erschießt den anderen und begeht dann Selbstmord. Aber nein, es musste ja kompliziert werden!

„Wann is‘s denn passiert?“

„Um fünf Uhr sechsundzwanzig.“

„Echt jetzt?“ Auerbach war baff.

„Nein, natürlich nicht.“ Der Arzt schüttelte milde lächelnd den Kopf. „Sie wissen genau, dass ich da erst Näheres sagen kann, wenn ich ihn auf dem Tisch hatte.“

„Aber so ungefähr ...“ Auerbach machte ein beleidigtes Gesicht, grinste aber dabei. Der Scherz war gut gewesen.

„Ich würde sagen, so zwischen fünf und zehn.“

Na, immerhin. Wenn auch eine Zeitspanne von fünf Stunden recht lang sein konnte.

„Sonst irgend was B‘sonders?“, fragte Auerbach hoffnungsvoll weiter. „Zum Beispiel mit dem Bandl da?“

„Das ist kein Band, sondern eine Krawatte. Sie muss natürlich noch nach Hautschuppen und dergleichen untersucht werden. Selbst bei dem Regen, den wir heute früh hatten, sollte sich noch etwas finden lassen. Vielleicht können wir so feststellen, wem sie gehörte.“

„Bei unser'm Glück dem Opfer.“ Auerbach seufzte. Die Krawatte war jedenfalls ein edles Stück, das konnte sogar er beurteilen. Bestimmt Seide. „K-E“ war in Gold auf braunem Grund eingewebt und zog sich sozusagen in schrägen Streifen über die ganze Krawatte. K-E? Und der Tote hieß Ludwig Ellmaier? Dann bestand ja doch Hoffnung, dass diese Spur zum Mörder führte. Schon ein wenig fröhlicher bedankte sich Auerbach bei dem Arzt und wandte sich einem Kollegen zu, der gerade die Tatwaffe eintütete.

„Das ist a Hämmerle“, sagte er fachmännisch. „Da bin ich ja g‘spannt, ob‘s da Fingerabdrücke gibt.“

***

Das Haus der Ellmaiers lag nur etwa zehn Autominuten entfernt im Westen Dachaus.

„Anna, du bist es! Was für eine Überraschung.“ Helga Ellmaier wirkte weniger erfreut als ziemlich nervös. „Hab ich vergessen, dass du kommen wolltest? Und wer ist der junge Mann?“

„Das ist Patrick Scholl von der Polizei“, stellte Annamirl ihren Begleiter vor.

„Polizei? Dann haben Sie ihn gefunden?“ In Helgas blassem Gesicht spiegelte sich Angst, aber auch Hoffnung.

„Gefunden? Wen?“, wunderte sich Patrick.

„Meinen Mann natürlich! Ich habe doch vor einer halben Stunde bei Ihnen angerufen.“

„Mama, wer ist denn da?“, kam eine weibliche Stimme aus dem Inneren des Hauses.

„Die Polizei, Liebes“, rief Helga zurück. „Oh, Entschuldigung. Kommt erstmal herein.“ Sie trat zur Seite und machte eine einladende Handbewegung.

Loki zerrte bereits an seiner Leine, um hinein zu kommen. Odin zögerte einen Moment, tat es seinem Kumpel aber dann gleich. Annamirl wurde praktisch hinter ihnen hergezogen. Auch Patrick trat nun ein.

„Kommen Sie doch ins Wohnzimmer“, bat Helga. Eine junge Frau trat aus einem der anderen Zimmer neben sie. „Meine Tochter“, stellte Helga sie vor.

Damit nahmen die beiden Frauen auf dem Sofa Platz.

„Also, dann kommen Sie nicht wegen meinem Mann?“, fragte Helga, als auch Annamirl und Patrick saßen.

„Doch, eigentlich schon.“ Patrick fühlte sich sichtlich unbehaglich.

Bevor er mehr sagen konnte, wurde er unterbrochen.

„Odi, Lodi!“, rief eine Kinderstimme. Da kam auch schon ein kleiner Junge von vielleicht drei Jahren angewackelt. Die Hunde zerrten erneut an ihren Leinen, schwanzwedelnd und bellend.

„Mein Enkel“, stellte Helga den Kleinen vor und lächelte nun zum ersten Mal ein wenig. „Sag Grüßgott zu unseren Gästen, Max.“

„Üssgodd“, krähte der Junge, ohne die Augen von den Hunden zu nehmen. „Will spielen, Ante Anna“, verkündete er dann.

Annamirl warf einen fragenden Blick zu Marion und ließ, als diese nickte, die beiden Terrier von der Leine. Die sprangen sofort begeistert zu Max, der prompt auf seinem Hosenboden landete. Er quietschte vor Vergnügen, und schien gar nicht recht zu wissen, wen er zuerst streicheln sollte.

„Geh doch mit den beiden in den Garten, Max“, forderte Marion ihn auf. „Aber nicht zu weit. Ich glaube, es fängt gleich an zu regnen.“

Im Nu war das Kind wieder auf den Beinen und lief, gefolgt von den Hunden, hinaus.

„Ein netter Junge“, meinte Patrick, der nun erst recht nicht mehr wusste, wie er mit seinen schlechten Nachrichten beginnen sollte.

Annamirl warf ihm einen mitfühlenden Blick zu und beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

„Wir haben schlechte Nachrichten“, erklärte sie. „Auch für dich, Marion.“

Annamirl brachte den beiden Frauen die Nachricht vom Tod ihrer beiden Ehemänner so schonend wie möglich bei. Patrick war voller Respekt, wie gut sie das machte, auch wenn es ihm lieber gewesen wäre, dass sie den Fundort nicht erwähnt hätte. Doch trotz aller Rücksicht war die Wirkung der Nachricht verheerend. Helge brach in Tränen aus. Marion dagegen saß da wie zu einer Salzsäule erstarrt.

„Nein! Das ist nicht wahr!“, schrie sie dann unvermittelt. „Stefan geht’s gut! Wie kannst du so einen Schmarrn erzählen?“ Sie starrte Annamirl erst verständnislos, dann zunehmend wütend an. „Das ist bestimmt ein Irrtum“, behauptete sie schließlich.

„Ich fürchte nicht“, sagte Annamirl sanft. „Ging er denn öfter in den Amperauen spazieren?“

„Um diese Zeit? Nie! Was sollte er auch dort?“ Marion hob aufsässig den Kopf. „Das stimmt alles nicht. Das kann nicht stimmen! Er ging heute früher aus dem Haus, weil eine Besprechung anstand. Ein asiatischer Investor … ich ruf ihn an. Dann werden wir ja sehen ...“ Hastig zog sie ihr Handy heraus, drückte eine Kurzwahl und hielt sich das Telefon ans Ohr. „Er geht nicht ran“, sagte sie schließlich und ließ das Handy sinken. „Aber das hat gar nichts zu sagen. Bestimmt ist er beschäftigt. Er ist wahrscheinlich noch in der Besprechung und kann einfach nicht … Dumm von mir, ihn mitten in der Arbeit anzurufen. Das mag er überhaupt nicht. Er ...“ Sie schluckte. Langsam wechselte ihre Miene von Gewissheit zu Zweifel.

Dann brach sie unvermittelt in Tränen aus. Helga wischte die eigenen Tränen ab und nahm ihre Tochter in den Arm. Es war ein seltsamer Anblick, denn Marion war groß und eindeutig mehr nach ihrem Vater geraten. Außerdem wirkte sie sehr sportlich und durchtrainiert. Dass diese Frau nun Trost bei der kleinen und zierlichen Helga suchte, sah irgendwie falsch aus.

„Stefan war bei Ludwig? Aber wie kann das denn sein?“ Helga schüttelte verständnislos den Kopf. „Was haben die zwei denn überhaupt da gemacht? Das ist ja nicht mal auf dem Weg zur Firma.“

„Wir stecken noch mitten in den Ermittlungen“, erklärte Patrick. „Im Moment sieht es nur leider so aus, dass Ihr Mann und Ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen sind.“

„Du scheinst das ja mehr oder weniger geahnt zu haben“, hakte Annamirl nach. „Was war denn?“

„Ich habe heute Morgen einen Brief gefunden. Er liegt da drüben.“ Helga wies mit dem Kopf zu einem Schränkchen und erhob sich, während Marion sitzen blieb und vor sich hinstarrte. Auch Patrick stand auf, zog schnell noch ein Paar Latexhandschuhe über und holte sich das Schreiben. Während er las, beugte sich Annamirl zu ihm, um ebenfalls zu sehen, was da stand. Es war nur eine kurze Nachricht:

„Liebe Helga,

die Firma ist in echten Schwierigkeiten, aber ich weiß, wer dahinter steckt, und ich denke, ich bekomme das wieder hin. Ich will dich da nicht mit hineinziehen, deshalb sage ich dir nicht, wo ich mich mit meinem Gegner treffen werde. Sollte das Treffen heute morgen jedoch schieflaufen, gibt es nur noch einen Ausweg. Warte dann nicht auf mich. Bestimmt kommst du auch ohne mich zurecht, wahrscheinlich sogar besser als mit mir.

Ludwig“

„Und das ist Ludwigs Handschrift?“, erkundigte sich Annamirl.

„Ja, natürlich, Warum?“

„Nur so ...“ Annamirl griff nach dem Papier, wurde aber von Patrick daran gehindert.

„Das ist ein Beweisstück ...“ Etwas pikiert steckte er den Brief in eine durchsichtige Tüte. „Wir werden ihn auf Fingerabdrücke untersuchen müssen. Reine Routine“, wandte er sich dann an Helga, die ein wenig verstört aussah. „Hat nichts zu bedeuten. Aber je weniger Leute ihn in den Fingern haben umso besser.“ Er warf seiner früheren Lehrerin einen Seitenblick zu.

Annamirl sah ihn mit großen Augen ganz unschuldig an und lächelte reuevoll.

Genauso hatte sie auch damals geschaut, als der Schulrektor in den Unterricht geplatzt war. Der war ins Klassenzimmer gestürmt, um sich darüber aufzuregen, dass Annamirl den Schülern gesagt hatte, als Nächstes würden sie Unterm Birnbaum von Theodor Fontane als Beispiel für langweilige und vorhersehbare Literatur durchnehmen. Irgendwie hatte er davon erfahren. Blöde Vorgehensweise, fand Patrick. So etwas machte man doch nicht vor den Schülern! Aber Frau Hofstetter war ganz die reine Unschuld gewesen und hatte es geschafft, alles umzudrehen. So konnte sie sich am Ende gar nicht erklären, wie man denn so eine schlechte Meinung über einen Klassiker haben konnte. Der Rektor war schließlich verwirrt wieder abgezogen, und die Schüler hatten ihre Lehrerin alle sehr bewundert. Und jetzt schaute Frau Hofstetter wieder so. Am Ende würde er, Patrick, glauben, dass sie die Polizeibeamtin war und er nur ein kleiner Azubi. Aber nein, soweit würde es nicht kommen! Das würde er klarstellen. Nur nicht vielleicht jetzt, vor den beiden Frauen, sondern lieber unter vier Augen. Wobei das gar nicht nötig sein würde, denn noch einmal würde er seine ehemalige Lehrerin gar nicht mitnehmen!

„Wann haben Sie den Brief denn gefunden?“, erkundigte er sich bei Helga Ellmaier.

„Heute Morgen. Aber nicht gleich in der Frühe. Marion war gerade gekommen. Da fand ich den Brief hier auf dem Tisch liegen.“ Helga wies auf den Sofatisch.

„Und was haben Sie dann unternommen?“

„Ich hab natürlich einen riesigen Schreck gekriegt. Ich hatte ja gedacht, dass Ludwig im Büro ist. Aber als ich dort angerufen habe, hat man mir gesagt, er würde wohl später kommen, laut seinem Terminkalender. Ich habe dann ein paar Freunde angerufen. Aber bei denen war er auch nicht, und schließlich rief ich bei der Polizei an. Die haben aber gesagt, es wäre zu früh, um etwas zu unternehmen.“

„War Ihr Mann in letzter Zeit denn irgendwie anders als sonst?“ Nun fühlte sich Patrick auf sicherem Terrain. Für solche Situationen war er geschult worden. „Hatte er Sorgen, vielleicht finanziell? War er bedrückt? Oder depressiv? Gab es Probleme in der Arbeit? Immerhin schreibt er ja, die Firma sei in Schwierigkeiten.“

„Also, er schien tatsächlich irgendwie bedrückt zu sein. Vor zwei Wochen bei unserem Sommerfest war er noch besonders gut gelaunt, aber in den letzten Tagen schien er mir angespannt zu sein. Wenn ich nachfragte, meinte er aber nur, das läge an dem chinesischen Auftrag, der würde ihn stressen.“ Helga zuckte mit den Schultern. „Über die Finanzen kann ich leider gar nichts sagen. Überhaupt haben wir wenig über die Arbeit geredet.“

„Papas Unternehmen läuft sehr gut“, ließ sich da Marion vernehmen. Sie wischte die Tränen weg und zog ein Taschentuch hervor, um sich zu schnäuzen. „Ihm gehört Kachel-Ellmaier, Hersteller von Keramikfliesen. Mein Mann ist der Juniorpartner.“

„Aber er schreibt doch, dass die Firma in Schwierigkeiten ist“, gab Patrick zu bedenken. „Meistens bezieht sich so etwas doch auf die Finanzen. Und er schreibt von einem Gegner, den er sogar kennt.“

„Ich habe keinen Schimmer, was er damit meint. Laut meinem Mann läuft alles optimal.“ Marion sah einen Moment trotzig drein, dann liefen ihr wieder die Tränen über die Wangen. Sie wischte sie jedoch energisch weg.

„Noch etwas“, fragte Patrick weiter, „hatte Ihr Mann ...“ Er nickte Helga zu, „oder Ihr Mann ...“ Mit Blick auf Marion, „eine Waffe?“

„Stefan hätte so etwas nie angerührt“, behauptete Marion.

„Ludwig hat zwei Waffen oben in seinem Safe“, erklärte Helga jedoch. „Er ist in einem Schützenverein.“

Patrick horchte auf.

„In welchem?“

„Bei den Dachauer Pistolenschützen.“

„Darf ich die Waffen mal sehen?“

„Natürlich.“

Helga zögerte und warf einen besorgten Blick auf ihre Tochter, die jedoch abwinkte.

„Geht nur. Ich komm zurecht.“ Plötzlich wirkte sie sehr müde.

„Ich bleibe hier“, bot Annamirl da an. „Zeig Patrick ruhig, was er sehen will.“

Also erhob sich Helga und ging Patrick voran in den ersten Stock. Annamirl blieb sitzen und legte die Hand auf Marions Arm. Die schien das jedoch kaum zu bemerken.

„Hier.“ Mit einer Handbewegung wies Helga auf einen massiven kleinen Safe, der in der Ecke des Zimmers stand. Unter der Dachschräge gab es ansonsten noch einen großen Schreibtisch mit Computer und ein Sideboard. Mehr nicht.

Patrick beugte sich zu dem Safe hinunter.

„Wissen Sie die Kombination, Frau Ellmaier?“

„Leider nein. Mein Mann ist … war ...“ Mit einem Schluchzer brach Helga ab, fing sich aber gleich wieder. „Ludwig war da sehr eigen.“

„Und geradezu vorbildlich.“ Seufzend richtete sich Patrick wieder auf. „Wissen Sie, welche Pistolen Ihr Mann besaß?“

„Keine Ahnung.“

„Na ja, es müsste ja in der Waffenbesitzkarte stehen. Wo bewahrt Ihr Mann die auf?“

„Wahrscheinlich in seinem Schreibtisch.“ Helga ging zu dem besagten Möbelstück und zog die oberste Lade auf. „Ist sie das?“ Sie holte einen grünen Schein heraus.

Patrick trat neben sie und nahm ihn entgegen.

„Ah ja, eine Hämmerle und eine Smith & Wesson. Darf ich den mitnehmen? Danke. An den Tresor werden wohl die Experten ran müssen.“

„Wieso? Was hat denn ...“ Da dämmerte es Helga, und sie starrte Patrick mit großen Augen an. „Heißt das, Ludwig hat sich erschossen?“

„Frau Ellmaier, ich kann leider gar nichts ...“

„Aber so muss es doch sein, oder? Warum wären die Waffen sonst wichtig?“ Helgas Stimme wurde schriller.

„Es war nicht Ihr Mann, der erschossen wurde“, sagte Patrick vorsichtig. „Sondern, wie es aussieht, Ihr Schwiegersohn.“

„Stefan?“ Anscheinend hatte Helga Ellmaier ganz vergessen, dass auch ihr Schwiegersohn tot war. „Stefan? Aber ...“ Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich verwirrt über die Stirn. „Aber dann kann es doch gar keine Waffe von Ludwig gewesen sein. Ludwig hätte nie … “

So sanft er konnte, führte Patrick sie wieder ins Wohnzimmer hinunter.

„Würden Sie die Waffen Ihres Mannes wiedererkennen?“, wollte er wissen.

„Nein, ich habe mich nie für so etwas interessiert.“

Da kam Max hereingelaufen.

„Schau mal! Hab ich gefunden!“, rief er begeistert. In der Hand hielt er ein leeres Schneckenhaus. Marion wischte mit einer schnellen Bewegung die Tränen weg und lächelte ihren Sohn an.

„Das ist aber schön“, sagte sie. „Und gestreift ist es auch noch.“

„Das hat der Schnecke bestimmt leid getan, als sie umgezogen ist“, meinte Helga, die um Jahre gealtert aussah.

„Oma ...“ Der Junge schaute erst seine Großmutter, dann seine Mutter verwirrt an und zog die Stirn kraus.

„Von Zeit zu Zeit müssen Schnecken umziehen, weil ihnen ihr Haus zu klein wird“, sprang Annamirl ein. „Aber jetzt hast du es ja gefunden und passt gut darauf auf, nicht wahr?“

Max nickte unsicher. Da sprang Loki ihn an und lief bellend weg, und der Junge mit einem Jauchzen hinterher. Odin betrachtete die Menschen vor ihm eine Weile, dann lief auch er davon.

Annamirl legte tröstend die Hand auf Helgas, die ihr einen dankbaren Blick zuwarf und dann Ihre Tochter umarmte.

„Liebes! Es tut mir so leid!“, rief sie und brach in Tränen aus. „Sie glauben, Ludwig hätte Stefan ...“

„Nein, also, im Moment glauben wir gar nichts!“, protestierte Patrick. Oje, wenn Auerbach erfährt, wie ich mich hier gerade blamiere, gibt es Ärger, ging es ihm durch den Kopf. Er musste nachher unbedingt mit Frau Hofstetter reden.

„Müssen wir die beiden eigentlich identifizieren?“

„Nein, das ist heutzutage nicht mehr nötig. Wir machen das mit DNA und Zahnabgleich ...“ Patrick seufzte innerlich und wünschte sich ganz weit weg.

Doch Marion war bereits bei einem ganz anderen Problem: „Mein Gott, wie erkläre ich das alles nur Max?“

Als Marion nach Max rief, sammelte Annamirl ihre Hunde ein, und sie und Patrick verabschiedeten sich. Sie würden jetzt nur stören, das war beiden klar. Im Haus war es angenehm kühl gewesen, doch draußen traf sie die schwüle, warme Luft mit voller Wucht. Trotzdem atmete Patrick erleichtert auf.

„Du hast das noch nicht oft gemacht, oder?“, wollte Annamirl mitfühlend wissen.

„Bei Mord? Nein. Ich bin aber auch noch nicht lange dabei ...“

„Ich finde, du hast deine Sache sehr gut gemacht.“

Patrick grinste schief. Wenn seine Lehrerin wüsste! Aber ein Lob aus ihrem Mund war schon immer etwas Besonderes gewesen und auch jetzt genügte es, um seine Stimmung zu heben.

„Danke.“ Er zuckte die Achseln. „Darf ich Sie um etwas bitten?“

„Natürlich.“

„Könnte das eben … wie ich mich verhalten habe und so … könnte das unter uns bleiben?“

„Du möchtest nicht, dass dein Chef das erfährt?“ Annamirl lächelte. „Das kann ich verstehen. Ich sag‘s ihm bestimmt nicht.“ Sie zwinkerte Patrick zu. „Aber dann hab ich was gut bei dir!“

„Klar!“ Patrick war sehr erleichtert. „Wie ist es? Soll ich Sie nach Hause fahren, Frau Hofstetter?“

„Nein, zu meinem Auto.“

„In Ordnung. Der Parkplatz am Amperwehr oder der andere?“

„Der kleine am Wehr.“

Nachdem die beiden Hunde wieder auf dem Rücksitz verstaut waren, fuhren sie los.

„Sie waren mit den Hunden spazieren, als Sie die beiden Männer gefunden haben?“, fragte Patrick, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.

„Oh ja. Und eigentlich hat Loki sie gefunden“, nickte Annamirl. „Ich wollte meine Freundin Monika besuchen. Die wohnt in Günding, und wir wollten gemeinsam zu Mittag essen. Aber ich bin eine gute Stunde früher hin, damit die Hunde noch ein wenig Auslauf bekommen. Sonst halten sie nicht still, weißt du?“ Annamirl legte den Kopf schief. „Denkst du, Ludwig hat seinen Schwiegersohn erschossen und sich dann selbst umgebracht?“

„Das wäre eine Möglichkeit“, antwortete Patrick vorsichtig. „Aber wir müssen abwarten, was die Spurensicherung ergibt.“

„Verstehe. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum Ludwig so etwas tun sollte.“

„Haben Sie ihn gut gekannt?“

„Nicht wirklich. Mehr so über Helga. Die kenne ich noch aus der Schulzeit. Sie war ein paar Jahrgänge hinter mir, aber das hat nie gestört.“ Sie überlegte einen Moment. „Um ehrlich zu sein, ich mochte Ludwig nicht besonders. Ich fand ihn aufgeblasen und egomanisch. Aber ich denke, das muss man sein, wenn man ein Unternehmen leitet.“

„Egomanisch?“

„Na ja, das ist vielleicht das falsche Wort. Fokussiert nennt man das, glaube ich, heutzutage.“ Nachdenklich fuhr sich Annamirl über die Stirn. „Sei‘s drum. Helga hat Kunstgeschichte studiert, aber alles aufgegeben, als sie geheiratet haben. Ich fand immer, dass Ludwig das als viel zu selbstverständlich hinnahm. Er war noch von der alten Schule – der Mann bringt das Geld heim, die Frau bleibt zu Hause und macht es ihm behaglich.“

Patrick schmunzelte. Es war klar, dass seine alte Lehrerin für diese Einstellung nicht viel übrig hatte.

„Aber Helga schien das in Ordnung zu finden. Also habe ich mich nicht eingemischt“, fuhr Annamirl fort. „Sie schien zufrieden, und Marion hatte, soweit ich das sehen konnte, eine glückliche Kindheit. Die ist natürlich berufstätig. Als Max kam, kündigte sie zwar bei dem Betrieb, wo sie gearbeitet hat, und blieb daheim. Aber sie hat mittlerweile eine eigene kleine Firma für Internetauftritte oder so aufgezogen.“

„Und läuft das Geschäft gut?“

„Keine Ahnung. Jedenfalls hat sie mir schon das eine oder andere Mal bei Problemen mit meinem Computer geholfen.“

„Welcher Wagen ist es denn?“, wollte Patrick wissen, als sie auf dem Parkplatz ankamen.

„Die Gelbe Gefahr da vorne!“

„Wie bitte?“

„Na, der goldgelbe Japaner dort. Ich hatte mir ja eher einen roten gewünscht. Aber das war ein Jahreswagen. Da hab ich die Sonderlackierung eben akzeptiert.“

Patrick schmunzelte. Den Wagen mit Gelbe Gefahr zu betiteln, war typisch für seine ehemalige Lehrerin.

„Ein schöner Wagen“, stellte er fest.

„Für mich reicht er. Man sieht gut rundherum raus und sitzt ein bisschen höher. Außerdem ist er klein und wendig, und er hat eine richtige Automatik.“ Annamirl stieg aus und öffnete die hintere Autotür, um die Hunde herauszulassen. Die eilten zielstrebig auf das kleine, gelbe Auto zu. „Komm mich doch mal besuchen“, lud sie Patrick dann ein.

Der hatte den Verdacht, dass sie diese Einladung in erster Linie aussprach, weil sie so auf dem Laufenden bleiben konnte. Aber nichtsdestotrotz fühlte er sich geschmeichelt.

„Gerne“, sagte er also.

„Wunderbar!“ Annamirl nannte ihm ihre Adresse in Karlsfeld. Ihre Handynummer fügte sie auch noch hinzu. Patrick tippte die Zahlen gehorsam in sein eigenes Telefon.

„Und was vorhin betrifft: My lips are sealed“, versicherte Annamirl noch mit einem Augenzwinkern.

„Shakespeare?“

„Who knows?“

Patrick lachte, verabschiedete sich dann und fuhr Richtung Polizeirevier Fürstenfeldbruck davon.

Annamirl aber zückte ihr Smartphone, um ihre Freundin Monika anzurufen, die das Essen warm gestellt hatte und nun auf Annamirl wartete.

„Und untersteh dich, jetzt doch nicht zu kommen“, verkündete die. „Ich will alles wissen!“

Annamirl versprach, gleich loszufahren. Dann beorderte sie die Hunde ins Auto und stieg selbst schnell ein, denn es hatte erneut angefangen zu regnen.

***

„Schön, dass Sie auch amol vorbeischau‘n“, begrüßte Auerbach Patrick unwirsch, als der im Polizeirevier eintraf.

„Ich war bei den Witwen der beiden Toten“, verteidigte sich Patrick. „Ganz so wie Sie‘s mir angeschafft haben!“

„Schon recht“, winkte Auerbach ab. „Das war aber recht überflüssig, weil mir eh noch amol hinmüss‘n. Wie‘s ausschaut, war des kein Mord mit Selbstmord, sondern zwoa Morde. Aber des hab'n Sie ja net wissen können, weil Sie net da war‘n.“ Auerbachs Miene verriet, dass er das ziemlich rücksichtslos fand. Ein bisschen Hellsehen war doch wirklich nicht zuviel verlangt.

„Ludwig Ellmaier wurde auch umgebracht?“ Patrick beschloss, nicht weiter auf den Unfug einzugehen.

„Das hab ich g‘sagt.“

„Aber … das kann doch gar nicht sein! Es gibt einen Abschiedsbrief.“ Patrick zog das Dokument hervor.

Auerbach nahm es ihm ab und bemerkte anerkennend, dass Patrick es ordentlich in einem transparenten Plastikbeutel verstaut hatte, sagte aber nichts dazu.

„Auwehzwick, des werd ja immer schöner“, grummelte er, als er den Brief durchgelesen hatte. „Und des is bestimmt von dem Ellmaier? Na ja, zur Sicherheit lass ma noch ein graphologisches Gutachten macha. Die soll‘n auch was zu tun krieg‘n. Dafür spar‘n wir uns erst amol die Taucher.“

„Ganz, wie Sie meinen. Jedenfalls ist Frau Ellmaier sicher, dass das die Handschrift ihres Mannes ist.“

„Und hat sie sonst noch was erzählt?“

Patrick berichtete von seiner Begegnung mit Helga Ellmaier und deren Tochter, ließ aber sicherheitshalber Annamirl unerwähnt.

„Das ist die Waffenbesitzkarte vom Ellmaier“, endete er schließlich und reichte Auerbach auch dieses eingetütete Schriftstück. „Die Hämmerle am Tatort könnte also die vom Ellmaier sein.“

„Ah, das haben Sie g‘sehn, dass das eine Hämmerle war.“ Widerwillig war Auerbach beeindruckt. „Respekt.“

„Danke.“ Patrick strahlte.

„Sapperment, jetzt werden's nicht gleich übermütig“, schwächte Auerbach das Lob gleich wieder ab. „Jedenfalls, das könnt' passen ...“ Er nickte zufrieden. „Jetzt müssen wir bloß noch rauskrieg'n, welche von den beiden es war.“

„Wie bitte?“

„Scholl, lassen Sie sich eins g'sagt sein, hinter sowas steckt fast immer ein Familiendrama.“ Auerbach hob dozierend den Finger. „Zu fünfundneunzig Prozent ist bei so ein'm Doppelmord der Täter ein Verwandter.“

„Wenn Sie das sagen ...“

„Oder 's war Ihre alte Lehrerin“, fuhr Auerbach genüsslich fort.

Empört wollte Patrick widersprechen, besann sich dann aber eines Besseren: „Das meinen Sie jetzt aber nicht ernst, oder?“

„Net wirklich“, gab sein Vorgesetzter zu. „Obwohl's ja passen tät. Sie hat die zwei g'kannt, sie war vor Ort. Sie hat koa Alibi … Kommt ja oft vor, dass der Mörder das Opfer 'findet'. Was gar net so dumm is, weil er dann gleich erklären kann, woher seine Fingerabdrücke, Haare oder sonst was kommen, des man an der Leich' find. Aber na, des war wer von der Familie, da trau ich mich wetten!“

„Aber möglich wäre es doch trotzdem, dass es jemand anders war?“ Patrick konnte sich keine der beiden Frauen als Mörderin vorstellen.

„Ja, schon recht“, winkte Auerbach ab. „Wir sind natürlich für alles offen. Die erste Regel für gute Polizeiarbeit lautet: Net Hals über Kopf dem erstbesten Hinweis nachjagen. Auch wenn er am wahrscheinlichsten ist. Man sollt‘ zumindest den Versuch machen, alle anderen Möglichkeiten ausz'schließen.“

Natürlich kannte Patrick diese Regel – und auch Regel Nummer zwei: Such dir sofort einen Dummen, der die lästigen Aufgaben übernimmt. In Auerbachs Fall hieß das wohl, dass Patrick dieser Dumme war.

„Ein paar Kollegen sind schon unterwegs, um in der Gegend rumzufragen, ob jemand was g'sehn oder g'hört hat“, erläuterte Auerbach. „Die Eschenrieder Strass‘ verläuft ja gleich daneb'n. Und die ersten Häuser von Günding sind auch net so weit weg. Außerdem wird nach den Autos von den zwei Opfern g'sucht. Die müssen ja irgendwie hinkommen sein.“

Klar, das mussten sie. Ein paar Streifenpolizisten suchten also die Gegend ab und andere waren unterwegs Klingel putzen. Patrick erinnerte sich noch gut daran, wie er selbst als Streifenpolizist oft genug von Tür zu Tür getrottet war. Ein paar Leute waren wirklich unangenehm gewesen. Aber es gab auch nette. Und manchmal war auch wirklich etwas Brauchbares dabei herausgekommen, wenn auch leider selten.

„Mir zwei fahr'n jetzt aber erst amol nach Dachau zu Kachel-Ellmaier“, riss Auerbach Patrick aus seinen Erinnerungen. „So ganz ohne Grund hat der Ellmaier den Abschiedsbrief ja bestimmt nicht g'schrieben!“

***

„Annamirl, komm rein! Schön, dass du da bist“, begrüßte Monika die Freundin mit der ihr eigenen überschwänglichen Art. „Komm rein, setz dich. Ach, und die Hundis sind auch da. Gut schaut ihr aus, ihr zwei. Haltet ihr euer Frauchen ordentlich auf Trab? Ja? Gut so!“

Sie nahm Annamirl die Regenjacke ab und reichte ihr ein Handtuch. Nicht für die Freundin, sondern für die beiden Hunde. Annamirl hatte zum Glück einen Parkplatz gleich vor Monikas Haus in Günding gefunden, doch nass waren sie und die Hunde trotzdem geworden.

Kaum waren die Hunde trocken gerieben, wies Monika auf ein Sofa, über das sie eine Decke gebreitet hatte, und die beiden Terrier, die nicht zum ersten Mal hier waren, ließen sich nicht lange bitten, sondern hopsten über einen davorstehenden Schemel hinauf und streckten sich genüsslich aus.

„Aber Moni, ich hab dir doch schon oft gesagt ...“

„Ja, hast du, Annamirl. Aber ich mag es doch gern, wenn sie da liegen, und die Decke wasch ich hinterher ganz einfach.“

Annamirl gab es auf und setzte sich stattdessen an den gedeckten Tisch.

Kaum hatte Monika das Essen aufgetragen und sich selbst gesetzt, platzte sie auch schon heraus: „Also, jetzt erzähl mal, was ist passiert?“

„Könnten wir nicht vielleicht erst nach dem Essen ...“

„Kommt gar nicht in Frage! Du wirst doch wohl beides hinbekommen, essen und reden! So lange, wie ich das warmgestellt habe, ist das Fleisch sowieso papptrocken, und man achtet am Besten gar nicht mehr auf den Geschmack.“

„Unsinn, Monika, es ist köstlich.“

Annamirl widmete sich mit Hingabe dem Essen, wobei sie amüsiert bemerkte, dass Monika wie ein Erstklässler vor der weihnachtlichen Bescherung herumzappelte. Doch sie ließ sich nicht erweichen, beantwortete Monikas Fragen nur so knapp wie möglich und genoss den Rinderbraten mit Schwammerlsauce, der wirklich ausgezeichnet schmeckte.

„Das ist aber ein großes Stück Fleisch“, stellte sie dabei fest. „Da habt ihr ja noch tagelang dran zu essen ...“

„Bernd legt sich gern eine Scheibe aufs Brot. Mit Senf und einem Gurkerl.“ Annamirls Freundin war nicht glücklich über den Themawechsel, ging aber notgedrungen darauf ein. „Den Rest frier ich ein. Für schlechte Zeiten.“

„Wo ist Bernd denn eigentlich jetzt?“

„Golfspielen. Drüben in Eschenried, du weißt schon. Anders gesagt, er steht mit seinen Spezln in der Landschaft rum und ratscht. Bei diesem Regen sitzen sie aber eher im Vereinslokal, dem 19. Loch – und ratschen auch.“

„Er genießt wohl sein Rentnerdasein.“

„Nicht nur er!“ Monika verzog amüsiert den Mund. „Ich hatte schon Angst, dass er mir jetzt dauernd am Rockzipfel hängen würde, aber nein. Er ist bei uns im Sportverein, wo er zwar nicht sportelt, aber beim Organisieren voll dabei ist. Und dann eben Golf jeden Dienstag und der Stammtisch am Freitag.“

Annamirl nickte. Sie selbst hatte ja den Ruhestand mit ihrem Mann Norbert nicht genießen können. Ein Autounfall vor einigen Jahren hatte da alle Pläne zunichtegemacht. Aber inzwischen hatte sie sich ganz gut eingerichtet und genoss es. Zwar nicht gerade das Alleinsein, aber die Unabhängigkeit und die Freiheit, tun und lassen zu können, was sie wollte.

Nach dem Essen half sie, den Tisch abzuräumen. Erst dann erzählte sie.

„Du meine Güte, das muss ja der Schock deines Lebens gewesen sein!“, rief Monika und machte ein betroffenes Gesicht.

„Im ersten Moment schon.“

„Und dann hast du dich gefühlt wie Sherlock Holmes ...“

„Also wirklich!“ Annamirl bemerkte in all der Betroffenheit, die die Freundin zeigte, auch eine kleine Spur von Begeisterung in ihren Augen und wies sie energisch zurecht.

„Etwa nicht?“ Monika ließ sich davon kein bisschen überzeugen. „Na komm, gib es zu. Oder eher wie Miss Marple? Oder Hercule Poirot? Nein warte, eher wie Lord Peter Wimsey, hab ich recht?“

„Wenn überhaupt, dann wie Father Brown“, räumte Annamirl widerwillig ein.

„Father Brown? Nicht ernsthaft! Chestertons Bücher sind so an den Haaren herbeigezogen, die lass ich fast nicht als Krimi gelten!“

„Da gebe ich dir recht. Aber die Fernsehserie ...“

„Etwa die mit Heinz Rühmann?“ Monika warf entsetzt die Hände in die Luft. „Oder gar die mit Josef Meinrad? Ich habe mich immer gefragt, warum dieser großartige Schauspieler, immerhin ein Iffland-Ring-Träger, so etwas spielen musste.“

„Nein, keine von beiden“, widersprach Annamirl vehement, „die neue von der BBC – mit Mark Williams und Frank-Otto Schenk als Synchronsprecher! Ich liebe diese Stimme.“

„Ja gut, der Sprecher ist wirklich großartig. Die Serie ist allerdings höchstens ein kleines bisschen besser als die Bücher.

---ENDE DER LESEPROBE---