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Auf einem Felsvorsprung unter dem schneebedeckten Gipfel des Ship Rock entdecken Kletterer ein Skelett. Ein Unfalltoter, dem Jim Chee zwischen Papierkram und mysteriösen Viehdiebstählen zunächst keine Beachtung schenkt. Doch der frisch pensionierte Joe Leaphorn erinnert sich: Vor elf Jahren verschwand der Extremkletterer Hal Breedlove, Erbe einer reichen Rancherfamilie, in der Gegend spurlos. Den heiligen Geflügelten Berg zu erklimmen, ist für die Navajo ein Sakrileg, aber auch Weiße würden niemals allein im Ship-Rock-Massiv klettern. Warum hat niemand den Unfall gemeldet? Suchen Leaphorn und Chee noch eine zweite Leiche – oder einen Mörder?
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Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2024
Joe Leaphorn ist im Ruhestand, und Jim Chee schlägt sich mit Viehdiebstählen herum. Als die Überreste eines lang verschollenen Kletterers unter dem Gipfel des Ship Rock gefunden werden, geht Chee von einem Unfalltod aus. Leaphorn aber erinnert sich an einen vermissten reichen Erben und wittert die Lösung eines Rätsels, das er nie hat lösen können.
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Tony Hillerman (1925–2008) besuchte ein Internat für Native Americans, kämpfte im Zweiten Weltkrieg, studierte Journalismus und war als Journalist und Dozent tätig. Seine Romane um die Navajo-Cops Joe Leaphorn und Jim Chee wurden vielfach ausgezeichnet und in siebzehn Sprachen übersetzt.
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Klaus Fröba (*1934) ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Übersetzer, er veröffentlichte Jugendbücher und Kriminalromane. Er übersetzte aus dem Englischen, u. a. Werke von Jeffrey Deaver, Ira Levin, Tony Hillerman und Douglas Preston. Fröba lebt in der Nähe von Bonn.
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Tony Hillerman
Sturz in die Tiefe
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Klaus Fröba
Ein Fall für die Navajo-Police (11)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Für die vorliegende Ausgabe wurde die Übersetzung von Andreas Heckmann nach dem Original durchgesehen und grundlegend überarbeitet.
Die Originalausgabe erschien 1996 bei HarperCollinsPublishers, New York.
Die deutsche Erstausgabe erschien 1998 unter dem Titel Tod am heiligen Berg im Rowohlt Verlag, Reinbek.
Originaltitel: The Fallen Man
© by Tony Hillerman 1996
Alle Rechte an der deutschen Übersetzung von Klaus Fröba beim Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-31169-5
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
STURZ IN DIE TIEFE
1 – Bill Buchanan, den Rücken gegen den rauen Fels …2 – Der weiße Porsche im Rückspiegel seines Pick-ups lenkte …3 – Als Chee seinen Wohnwagen am Morgen verlassen hatte …4 – Der fremde Lastwagen, der in einer der Parkbuchten …5 – Die Herbstsonne stand tief über der Mesa Verde …6 – Er traf sich mit Janet im Carriage Inn …7 – Joe Leaphorn hatte ein unbehagliches Gefühl. Schließlich war …8 – Still und leise hatten sich über Nacht von …9 – Doch Officer Manuelito schaffte es nicht ins Büro10 – Das Erste, was Joe Leaphorn beim Eintreten ins …11 – Durch leichtes Verdrehen des Schwanzes bringt man eine …12 – Zum ersten Mal in seinem Leben verstand Joe …13 – Bei Sonnenaufgang parkte Acting Lieutenant Jim Chee an …14 – Die Frage, die an Jim Chee nagte …15 – Louise Guards Ford Escort stand nicht in der …16 – Es war Dezember geworden, doch der Winter hing …17 – Joe Leaphorn blieb abrupt stehen. Er hörte ein …18 – Lucy Sam schien froh über Chees Besuch zu …19 – Der Sonnenuntergang war hinter dem Beautiful Mountain verglüht …20 – Zunächst merkte Chee nur, dass etwas Unangenehmes auf …21 – Sollten Sie nicht im Bett liegen?«, fragte Leaphorn …22 – Am Abend hatte der Wetterbericht im KOAT-TV bitterkalte …23 – Chee fand, das Fett in der Bratpfanne sei …24 – Elisa Breedlove hatte sich bei Chees Anruf gemeldet …25 – Als Officer Bernadette Manuelito den Streifenwagen auf den …26 – Sie fuhren mitten in den Sturm hinein …27 – Ich möchte Ihnen ein paar Fotos zeigen« …DankMehr über dieses Buch
Über Tony Hillerman
»Der Angst vor seinem Pferd hat«
Claus Biegert: Die Navajo-Romane — ein Fall von Kultureller Wertschätzung
Über Klaus Fröba
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Dieses Buch ist den Teilnehmern der philosophischen Arbeitsgruppe um Dick Pfaff gewidmet, die sich seit einem Vierteljahrhundert jeden Dienstagabend trifft, um die Wahrscheinlichkeitstheorie auf ihre praktische Anwendbarkeit zu prüfen. Und manchmal leider auch die Chaostheorie.
Bill Buchanan, den Rücken gegen den rauen Fels gelehnt, sah knapp einen Meter vor sich Whitesides Gesicht im Profil. Wenn John sich zurücklehnte, tauchte der schneebedeckte Gipfel des Mount Taylor oberhalb von Grants, New Mexico, auf, ungefähr achtzig Meilen östlich. Nun allerdings beugte John sich vor.
»Dieses ewige Rauf und Runter«, sagte Whiteside, »ist wirklich nicht das Gelbe vom Ei. Kann sein, dass man nur so auf den Gipfel kommt, aber nach unten gibt es garantiert einen schnelleren Weg.«
»Entspann dich«, sagte Buchanan. »Wir sitzen hier, um uns auszuruhen.«
Sie hatten sich auf einem der wenigen relativ flachen Basaltfelsen im Rappel Gully niedergelassen, wie die Ship-Rock-Kletterer die schmale Schlucht nannten. Sie war auf dem Weg zum Gipfel der Ausgangspunkt für die letzte schwere Steigstrecke und durch den Basaltfelsen ein idealer Rastplatz – leicht seitlich geneigt, aber mit glatter Oberfläche, wie eine riesige Tischplatte, gut fünfhundert Meter über der Prärie. Beim Abstieg fing hier die kürzere, aber noch schwerere Klettertour an einer fast senkrechten Steilwand an – aufwärts, weil das die einzige Möglichkeit war, den Hang zu erreichen, der nach unten führte, ohne dass man sich den Hals brach.
Buchanan, Whiteside und Jim Stapp hatten gerade den Gipfel bezwungen, den alten Armee-Munitionsbehälter aufgeklappt, in dem das Gipfelbuch der Ship-Rock-Kletterer lag, sich eingetragen und durch ihre Unterschrift bestätigt, dass sie eine der Extremstrecken Nordamerikas bezwungen hatten. Buchanan war erschöpft. Er glaubte, dass er allmählich zu alt für so was wurde.
Whiteside hakte seinen Klettergürtel ab und legte Nylonseil, Steigeisen, Ringhaken und Karabiner beiseite, die Ausrüstung, ohne die der Aufstieg auf so einen Berg unmöglich gewesen wäre.
Er machte eine Kniebeuge, legte die Finger an die Zehen und streckte sich. Buchanan sah ihm unbehaglich zu.
»Was machst du da?«
»Nichts«, meinte Whiteside. »Oder sagen wir: Ich befolge die Anweisungen des Kletterführers, den du immer wieder zu schreiben androhst. Ich lege alles überflüssige Gewicht ab, bevor ich ungesichert losziehe.«
Buchanan richtete sich auf. Er kam sich vor wie bei einer Pokerrunde, in der Whiteside unerschütterlich darauf vertraute, dass ihm der Kartengeber zur Not auch noch das fünfte Herz hinschiebt. Whiteside ging gern Risiken ein.
»Um was zu erkunden?«, fragte Buchanan.
»Ich will mich da vorn nur mal runterbeugen und mich umsehen.« Er deutete auf die Felsklippen. »Nur etwa dreißig Meter von hier kannst du das ganze Felsgewirr überblicken. Ich glaube einfach nicht, dass es keine Möglichkeit gibt, sich da abzuseilen.«
»Du findest dort höchstens einen Weg, dich umzubringen«, sagte Buchanan. »Wenn du es so eilig hast, runterzukommen, hol dir einen Fallschirm.«
»Runter klettert es sich leichter als rauf.« Whiteside deutete auf Stapp, der gerade Vorbereitungen traf, sich an der vertikalen Basaltwand hochzuseilen. »Ich brauche nur ein paar Minuten.« Er bewegte sich vorsichtig auf den Steilhang zu.
Buchanan sprang auf. »Lass das, John! Das ist zu riskant!«
»Ach wo«, sagte Whiteside. »Ich gehe nur so weit, dass ich einen Blick über die Kante werfen kann. Bloß mal schauen, wie es da unten aussieht. Ob es tatsächlich nur Trümmergestein gibt oder ich nicht doch einen massiven alten Basaltfinger finde, an dem man sich runterhangeln kann.«
Buchanan ging auf den Abhang zu. Er hielt zwar für unvernünftig, was Whiteside tat, aber wie er es tat, nötigte ihm Bewunderung ab. Der Mann bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit auf allen vieren an der Klippe entlang, hielt den Körper gestreckt, balancierte das Gewicht auf den allenfalls drei Zentimetern festem Halt aus, die ihm blieben, und fand mit den Fingerspitzen jeden noch so kleinen Spalt, jeden Riss im Gestein oder zumindest eine raue Stelle, an der er sich notfalls abstützen konnte, wenn eine Bö ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Wunderschön anzusehen – eine perfekte Gratwanderung. Whiteside hatte den idealen Körperbau dafür, etwas kleiner und schlanker als Buchanan. Knochen, Sehnen und Muskeln, sonst nichts, kein Gramm Gewicht zu viel. Wie ein Insekt bewegte er sich scheinbar mühelos an der zerklüfteten Klippe entlang.
Und dreihundert, nein, vierhundert Meter unter ihm lag, was Stapp gern »das Antlitz der Erde« nannte. Buchanan blickte hinunter. Zwei Navajo ritten fast unmittelbar an der Steilwand entlang – Gestalten, die sich von hier oben so winzig ausnahmen, dass einem beim Hinschauen erst richtig klar wurde, welch erschreckendes Risiko Whiteside einging. Wenn er abrutschte, war er tot. Aber nicht sofort. Es dauert eine Weile, bis man ein paar Hundert Meter tief gestürzt ist, und zwischendurch schlägt der Körper immer wieder auf Felsvorsprüngen auf und stürzt weiter, schlägt wieder auf, stürzt weiter, bis er schließlich in den Basaltausläufern am Fuße dieses seltsamen erloschenen Vulkans landet.
Buchanan riss sich vom Anblick der beiden Reiter und diesem Gedanken los. Es war Nachmittag, aber die Herbstsonne stand schon so weit im Nordwesten, dass der Ship Rock seinen Schatten viele Meilen über die verdorrte Prärie nach Südosten warf. Nicht mehr lange, dann machte der Winter der Saison der Extremkletterer ein Ende. Die Sonne stand bereits so tief, dass ihre Strahlen sich nur noch auf dem Gipfel des Mount Taylor spiegelten, ganz oben, wo der Berg seine Schneehaube trug. Achtzig Meilen weiter nördlich, in den San Juans in Colorado, lag schon Neuschnee auf den Gipfeln. Weit und breit keine Wolke, nur der tiefblaue Himmel einer Trockenregion. Die Luft war kühl und – in so großer Höhe eine Seltenheit – völlig still.
Die Stille war so vollkommen, dass Buchanan das schwache Schaben von Whitesides weichen Gummisohlen hörte. Sechzig Meter unter ihm schwebte ein Rotschwanzbussard längs der Felswand mit der Thermik aufwärts. Hinter sich hörte Buchanan ein metallisches Klicken, als Stapp am Fuß der Steilwand seinen Klettergürtel sicherte.
Das ist der Grund, warum ich klettere, dachte Buchanan – um möglichst weit von Stapps »Antlitz der Erde« und all dem Lärm und der Unruhe entfernt zu sein. Whiteside dagegen klettert, weil er den Nervenkitzel sucht, der sich einstellt, wenn er sich in Todesgefahr bringt. Und nun turnt er dort am Abgrund herum, dreißig Meter vor mir. Das ist einfach halsbrecherisch.
»Das genügt, John«, rief er, »fordere dein Schicksal nicht heraus.«
»Noch einen halben Meter«, rief Whiteside zurück, »dann habe ich festen Halt und kann runtersehen.«
Er schob sich weiter vor. Machte halt. Blickte nach unten.
»Überall löchriges Gestein unter der Klippe«, sagte er und verlagerte das Gewicht, um den Kopf ein Stück nach vorn zu recken. »Jede Menge kleine Erosionshöhlen, und der Basalt drum herum sieht bröckelig aus.« Er schob den Kopf noch ein Stück vor. »Und weiter unten eine glatte Wand und …«
Stille. Dann rief Whiteside: »Ich glaube, ich sehe da einen Helm.«
»Was?«
»Mein Gott! Da steckt ein Schädel drin.«
Der weiße Porsche im Rückspiegel seines Pick-ups lenkte Jim Chee von seinen düsteren Grübeleien ab. Chee fuhr auf dem Highway 666 südwärts, auf den Salt Creek Wash zu, mit ungefähr 65 Meilen pro Stunde, also ein wenig über dem Tempolimit, dessen Einhaltung er neben vielem anderen zu überwachen hatte. Aber nach der Dienstvorschrift der Navajo-Police sollten geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitungen dieses Jahr toleriert werden. Außerdem war der Verkehr sehr dünn, die Saison neigte sich dem Ende zu – man konnte es an dem prächtigen Pink erkennen, in das die untergehende Sonne jetzt, Mitte November, die Wolken über den Carrizo Mountains tauchte –, und wenn er dem alten Motor eine Verschnaufpause gönnte und den Pick-up bergab beschleunigen ließ, sparte er Benzin und hatte anschließend genug Schwung für die lange Steigung über den Buckel zwischen dem Wash und Shiprock.
Der Porschefahrer lag mit seinem Tempo allerdings weit über der Toleranzgrenze und war mit über 95 Meilen, also mit fast 160 Stundenkilometern unterwegs. Chee löste den Blaulichtblinker vom Armaturenbrett, schaltete ihn an, ließ das Seitenfenster runter und setzte die Magnethalterungen in dem Moment auf das Dach des Pick-ups, als der Porsche an ihm vorbeischoss.
Sofort drang ein Schwall kalter Luft herein, vermischt mit Straßenstaub. Chee schloss das Fenster wieder und drückte das Gaspedal durch. Die Tachonadel stand auf 70, als er den Salt Creek Wash durchquerte, kletterte auf fast 75 und sackte dann auf 72 ab – die Steigung und der betagte Motor forderten ihren Tribut. Der Porsche war nun schon fast eine Meile vor ihm. Chee nahm das Mikro, schaltete es ein und hatte die Zentrale dran.
»Shiprock«, meldete sich eine Stimme. »Was gibt’s, Jim?«
Das musste Alice Notabah sein, die Veteranin. Die andere Frau in der Zentrale war jung, fast so neu auf ihrem Posten wie Chee auf seinem, und redete ihn immer mit »Lieutenant« an.
»Was gibt’s?«, wiederholte Alice etwas ungeduldig.
»Nur einen Raser«, gab er durch. »Weißer Porsche Targa aus Utah, südwärts auf der sechs sechsundsechzig Richtung Shiprock. Nichts Weltbewegendes.« Vermutlich hatte der Fahrer sein Blaulicht nicht gesehen. Wer schaut schon in den Rückspiegel, wenn er an einem verrosteten Pick-up vorbeizieht? Trotzdem, irgendwie wurmte es Chee. Der Tag hatte ihm schon so genug Ärger gebracht. Den Sportwagen zu jagen, wäre einfach blamabel gewesen.
»Verstanden«, sagte Alice. »Kommen Sie noch vorbei?«
»Ich fahre nach Hause«, antwortete Chee.
»Lieutenant Leaphorn war hier und wollte Sie sprechen.«
»Weswegen?« Streng genommen handelte es sich um Ex-Lieutenant Leaphorn, der letzten Sommer in den Ruhestand gegangen war. Endlich. Nach ungefähr einem Jahrhundert. Aber ob Ruhestand oder nicht – dass Leaphorn ihn sprechen wollte, löste in Chee sofort ein mulmiges Gefühl aus, und er betrieb Gewissenserforschung. Er hatte einfach zu viele Jahre für ihn gearbeitet.
»Er meinte nur, dass er Sie später bestimmt noch erwischt. Sie hören sich an, als hätten Sie einen schlechten Tag gehabt.«
»Einen Tag zum Vergessen«, bestätigte Chee. Aber das stimmte eigentlich nicht. Es war schlimmer gewesen als zum Vergessen. Zuerst die Episode mit dem Jungen in der Uniform der Ute-Mountain-Police (Chee weigerte sich, ihn als Polizisten zu sehen). Und dann die Sache mit Mrs Twosalt.
Ein arroganter Bursche. Chee hatte hoch auf dem Abhang unter dem Popping Rock geparkt, wo der Pick-up durch Gebüsch vor neugierigen Blicken geschützt war, er selbst dagegen einen weiten Blick über die Straßen auf dem Ölfeld unter sich hatte. Gerade hatte er einen mit Schlamm bespritzten GMC Pick-up im Visier, der an einer Viehkoppel stand, etwa eine Meile entfernt. Chee kramte das Fernglas heraus, stellte die Schärfe nach und versuchte herauszukriegen, warum der Fahrer den Wagen dort abgestellt hatte und ob jemand neben ihm saß. Doch er sah nur Schlamm auf der Windschutzscheibe.
Da rief der Junge laut: »He!«, und als Chee herumfuhr, stand er kaum zwei Meter hinter ihm und fixierte ihn durch eine dunkle, verspiegelte Sonnenbrille.
»Was machen Sie hier?«, wollte der Junge wissen, der, wie Chee nun feststellte, eine offensichtlich brandneue Uniform der Ute-Mountain-Police trug.
»Ich beobachte Vögel.« Chee tippte auf sein Fernglas.
Das fand der Junge gar nicht lustig.
»Zeigen Sie mir Ihren Ausweis«, verlangte er, was Chee so weit in Ordnung fand. So machte man das, wenn einem jemand, der irgendwie verdächtig aussah, über den Weg lief. Also fischte er den Dienstausweis der Navajo-Police aus der Tasche und wünschte, er hätte sich die herablassende Bemerkung über das Vogelbeobachten gespart. Solche Sprüche hörte jeder Polizist jeden Tag – kein Wunder, dass alle sie satthatten. Er hätte auch nie und nimmer so dahergeredet, dachte er, wenn der Junge sich nicht so lautlos angepirscht hätte. Richtig gekonnt. Und richtig peinlich für Chee.
Der Junge schaute vom Passfoto auf Chees Gesicht und wieder aufs Foto. Schien ihm beides nicht zu gefallen.
»Navajo-Police? Was machen Sie dann hier im Reservat der Ute?«
Chee erklärte ihm höflich, dass sie sich nicht im Ute-Reservat befanden, sondern auf Navajo-Land; die Grenze verlaufe etwa eine halbe Meile östlich. Der Junge grinste verächtlich. Chee habe sich wohl verfahren, meinte er, die Grenze liege mindestens eine Meile in der entgegengesetzten Richtung. Dabei zeigte er hangabwärts. Sie hätten nun lange diskutieren können, doch das wäre sinnlos gewesen, und so hatte Chee dem Jungen einen guten Tag gewünscht und war stinksauer davongefahren. Die Ute, erinnerte er sich, wurden in der Mythologie der Navajo vielfach als Feinde dargestellt, und jetzt verstand er, warum. Er musste zugeben, dass er sich für einen Acting Lieutenant (für einen Lieutenant also, der seinen Posten zunächst nur vorübergehend innehatte, seit drei Wochen nämlich) nicht besonders souverän aus der Affäre gezogen hatte. Das wiederum lenkte seine Gedanken zu Janet Pete, denn nur ihr zuliebe hatte er sich befördern lassen. An Janet zu denken, heiterte sein Gemüt regelmäßig auf. Der Tag würde bestimmt besser werden.
Von wegen. Als Nächstes kam Old Lady Twosalt.
Wie der junge Polizist der Ute stand sie plötzlich hinter ihm, ohne dass er das Geringste gehört hatte. Sie erwischte ihn in der Tür des Schulbusses, der neben dem Twosalt-Hogan parkte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben, wo er stand, und stammelnd und stotternd zu versichern, er habe auf die Hupe gedrückt und abgewartet und sich umgesehen und überhaupt all das getan, was man nach den ungeschriebenen Gesetzen der Höflichkeit zu tun hatte, wenn man in einem weitgehend menschenleeren Land einen Besuch macht. Zu guter Letzt sei er zu dem Schluss gekommen, dass niemand zu Hause sei. Damit war er mit seinem Latein am Ende gewesen.
Mrs Twosalt hatte nur dagestanden, den Blick höflich zur Seite gewandt, denn das Gegenüber anzuschauen, hätte nach der Tradition der Navajo bedeutet, ihm nicht zu glauben. Und als er endlich fertig war, war sie ohne Umschweife zur Sache gekommen.
»Ich habe nach den Ziegen geschaut«, sagte sie. »Aber was hast du in meinem Schulbus zu suchen? Hast du da drin etwas verloren – oder wie?«
Chee hätte ihr sagen können, was er in dem Schulbus gesucht hatte: Kuhdung, Kuhhaare oder einen anderen Hinweis darauf, dass in dem Fahrzeug nicht Schulkinder, sondern Rinder transportiert worden waren. Aus dem gleichen Grund hatte er drüben am Popping Rock das Fernglas auf den Pick-up an der Viehkoppel gerichtet. Immer wieder verschwand in letzter Zeit im Zuständigkeitsbereich der Polizei von Shiprock Vieh von den Weiden, und Captain Largo hatte angeordnet, dass sich Chees Leute in erster Linie um diese Viehdiebstähle kümmern sollten. Für ihn hatten sie höhere Dringlichkeit als die Dealerei am Junior College, eine Schießerei zwischen rivalisierenden Gangs, Schwarzbrennerei und andere Straftaten, die Chee für wesentlich interessanter hielt.
Er hatte sich im Morgengrauen und bei lausiger Kälte aus der Koje seines Wohnwagens geschwungen, Jeans und Arbeitsjacke angezogen und seinen alten Pick-up angeworfen, um sich einen Tag lang inkognito und auf eigene Faust nach Fahrzeugen umzusehen, die möglicherweise zum Abtransport gestohlener Rinder benutzt wurden.
Dass ihm der GMC Pick-up höchst verdächtig vorgekommen war, lag auf der Hand. Es war ein Modell mit Sattelkupplung, um damit schwere Anhänger zu ziehen, beliebt bei professionellen Viehdieben, die gestohlene Rinder vorzugsweise in größeren Mengen abtransportierten. Bei dem Schulbus war das anders, den hatte er zufällig entdeckt, als er den holprigen Feldweg vom Popping Rock heruntergerumpelt war und daran denken musste, dass die Twosalts sich nicht nur der Viehhaltung widmeten, sondern sich auch eines zweifelhaften Rufs erfreuten. Woraufhin er, wieder ganz zufällig, über die Frage gestolpert war, wozu die Twosalt-Lady einen alten Schulbus brauchte.
Nur taugte das alles nicht als Antwort auf Mrs Twosalts Frage, und sie stand immer noch da und wartete.
»Ich war bloß neugierig«, sagte er schließlich. »Ich bin als Junge in so einem Ding zur Schule gefahren und habe mich gefragt, ob die immer noch so aussehen wie damals.« Er brachte ein hohles Lachen zustande.
Mrs Twosalt stimmte nicht in seine Heiterkeit ein. Sie wartete, sah ihn an, wartete weiter und gab ihm so die Chance, sich eine bessere Geschichte oder eine plausiblere Erklärung für sein Auftauchen auszudenken.
Weil ihm nichts Besseres einfiel, hatte Chee schließlich seinen Ausweis gezückt und gesagt, er sei gekommen, um sich zu erkundigen, ob die Twosalts vielleicht Kühe oder Schafe vermissten oder etwas Verdächtiges bemerkt hätten. Mrs Twosalt sagte, sie passe gut auf ihre Tiere auf und vermisse kein Vieh. Damit war auch diese Episode abgehakt – nur dass Chee das unbehagliche Gefühl nicht loswurde, sich blamiert zu haben.
Es war beinahe dunkel, als er auf dem Hügel ankam und unter sich die weit verstreuten Lichter von Shiprock liegen sah. Keine Spur von dem Porsche. Chee gähnte. Was für ein Tag! Er bog von der Teer- auf die Schotterstraße ab, die zu einem unbefestigten Feldweg führte, von dem eine überwucherte Zufahrt zu seinem Wohnwagen abzweigte, der unter Pappeln am Ufer des San Juan River stand. Er rieb sich die Augen und gähnte wieder. Am besten, er stellte den Rest des Frühstückskaffees noch mal auf die Herdplatte, machte eine Dose Chili-Eintopf auf und legte sich früh ins Bett. Ein lausiger Tag, aber nun war er vorüber.
Nein, war er nicht. Die Scheinwerfer des Pick-ups spiegelten sich in der Windschutzscheibe eines verstaubten Fahrzeugs, das dicht hinter dem Wohnwagen stand. Chee erkannte es sofort. Ex-Lieutenant Joe Leaphorn hatte ihn, wie versprochen, doch noch erwischt.
Als Chee seinen Wohnwagen am Morgen verlassen hatte, war es darin empfindlich kühl gewesen. Jetzt war es eisig; das bisschen Wärme, das die Aluminiumhaut im November über Tag speicherte, schluckte die Kälte weg, die gegen Abend am San Juan aufkam. Also doch lieber frischer Kaffee. Chee zündete den Propangasofen an und setzte Kaffeewasser auf.
Joe Leaphorn saß steif und kerzengerade auf der Bank hinter dem Tisch. Er legte seinen Hut auf die Resopalplatte und fuhr sich durch sein altmodisch kurzes, immer mehr ergrauendes Haar. Dann setzte er den Hut wieder auf, schien sich unbehaglich zu fühlen und nahm ihn erneut ab. Chee fand den Hut so wettergegerbt wie dessen Besitzer.
»Es ist mir unangenehm, so hereinzuplatzen«, sagte Leaphorn und hielt inne. »Übrigens Glückwunsch zur Beförderung.«
»Danke«, sagte Chee, löste den Blick von der Kanne, durch deren Filter jetzt Kaffee tropfte, und zögerte. Dann aber gab er sich einen Ruck. Anfangs hatte er es nicht glauben wollen, aber warum nicht mal nachfragen?
»Sie sollen mich für den Posten empfohlen haben.«
Falls Leaphorn das gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Er betrachtete gedankenverloren seine gefalteten Hände und ließ die Daumen kreisen.
»Die bringt Ihnen viel Arbeit und Ärger«, sagte er. »Und dass sie sich auszahlt, kann man auch nicht gerade behaupten.«
Chee nahm zwei Becher aus dem Schrank, stellte den mit dem Aufdruck Farmington Times vor Leaphorn auf den Tisch und suchte nach der Zuckerdose.
»Wie gefällt es Ihnen im Ruhestand?«, erkundigte er sich. Es war ein diskreter Versuch, Leaphorn dazu zu bringen, ihm den Anlass für seinen Besuch zu erklären. Reine Höflichkeit war es kaum. Ganz bestimmt nicht. Leaphorn war immer der Boss und Chee immer sein Laufbursche gewesen. Irgendwie hatte der Besuch mit dienstlichen Belangen zu tun; es gab sicher etwas, das er erledigt haben wollte, und zwar durch Chee.
»Na ja«, antwortete Leaphorn, »als Pensionär hat man erheblich weniger Ärger am Hals. Man muss sich nicht mehr mit allen möglichen Problemen herumschlagen und …« Er zuckte die Achseln und gluckste in sich hinein.
Chee lachte mit, was sich aber ein bisschen gezwungen anhörte. An den neuen, veränderten Leaphorn musste er sich erst gewöhnen. An einen Leaphorn, der herkam, weil er etwas auf dem Herzen hatte, dann aber nicht damit herausrückte – das war nicht der Lieutenant, wie er ihn mit einer Mischung aus Staunen, Irritation und Bewunderung in Erinnerung hatte. Er fühlte sich ziemlich unwohl dabei, ihn wie einen Bittsteller in seinem Wohnwagen sitzen zu sehen, und beschloss, das zu beenden.
»Als Sie mir erzählten, Sie würden sich pensionieren lassen, sagten Sie zu mir, wenn ich mal Rat oder Hilfe brauche, soll ich ohne Scheu zu Ihnen kommen. Ich frage Sie deshalb, was Sie alles über die Viehdiebstähle wissen.«
Leaphorn überlegte und ließ die Daumen weiter kreisen. »Na ja«, sagte er, »es hat immer den einen oder anderen Diebstahl gegeben. Und Ihr Boss und seine Familie sind seit drei Generationen Rinderzüchter. Für Viehdiebe dürfte er also nicht viel übrighaben.« Er blickte nicht länger auf seine Daumen, sondern sah Chee an. »Gibt es in letzter Zeit mehr Ärger damit als sonst? Irgendwas im großen Stil?«
»Richtig groß nicht. Die Conroy-Ranch hat letzten Monat acht Färsen verloren, das war der übelste Fall. Dazu in den letzten zwei Monaten sechs, sieben weitere Anzeigen. Meist fehlen ein, zwei Tiere, manche sind wahrscheinlich nur davongelaufen. Aber Captain Largo sagt, es ist schlimmer als sonst.«
»Schlimm genug, um Largo zu beunruhigen«, meinte Leaphorn. »Seine Familie hat ausgedehnte Weiderechte im gesamten Checkerboard.«
Chee grinste.
Leaphorn lachte wieder in sich hinein. »Das wissen Sie sicher alles schon.«
»Stimmt.« Chee schenkte Kaffee ein.
Leaphorn nahm einen Schluck.
»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen einen guten Tipp geben kann, wie man Viehdiebe fängt. Ich weiß darüber nichts, was Ihnen nicht schon Captain Largo erzählt hat«, sagte Leaphorn. »Wir haben jetzt die Navajo Rangers, und da Vieh für das Wohl des Stammes wichtig ist und sie den Auftrag haben, alles zu schützen, was im Interesse des Stammes geschützt werden muss, sind Viehdiebstähle eigentlich ihre Angelegenheit. Das Problem ist nur, dass die Rangers eine recht kleine Gruppe sind. Sie haben alle Hände voll zu tun mit Wilddieben und Randalierern in den Parks und Burschen, die Holz stehlen oder Ölleitungen anzapfen – da kommt einiges zusammen. Die Rangers kommen kaum noch nach, deshalb muss man mit allen zusammenarbeiten, die sonst noch zuständig sind, mit den Veterinären vom New Mexico Cattle Sanitary Board, den Brandzeicheninspektoren aus Arizona und den Jungs aus Colorado. Und die Augen nach fremden Lastwagen und Pferdeanhängern offen halten.« Leaphorn sah Chee achselzuckend an. »Nicht gerade viel, was Sie tun können. Ich hatte nie viel Glück damit, Viehdiebe zu erwischen. Und die paar, die ich geschnappt habe, haben sie mangels Beweisen laufen lassen.«
Chee nickte. »Ich hatte mir schon gedacht, dass sich die Zeit, die ich da investiere, nicht auszahlt.«
»Bestimmt unternehmen Sie schon alles, was ich gerade vorgeschlagen habe.« Leaphorn rührte Zucker in den Kaffee, nahm wieder einen Schluck und sah Chee über den Rand seiner Tasse an. »Und dann fängt natürlich bald die Zeit der Zeremonien an. Sie wissen ja, wie das läuft. Jemand braucht einen Gesang. Dann muss die Familie sämtliche Verwandten und Freunde durchfüttern, die kommen und helfen, dass der Segen auch anschlägt. Ein Haufen hungriger Leute, und wenn es eine Zeremonie in voller Länge ist, hat man sie womöglich eine ganze Woche da. Und Sie wissen ja, was man in New Mexico sagt: Niemand isst seine eigene Kuh.«
»Tja«, meinte Chee. »Als ich die Polizeiberichte der letzten Jahre durchgesehen habe, ist mir aufgefallen, dass die Zahl der kleinen Viehdiebstähle, bei denen es nur um ein oder zwei Tiere geht, zunimmt, sobald die Zeit der schweren Unwetter vorbei ist und die Gesänge anfangen.«
»Ich habe dann immer ein bisschen herumgeschnüffelt. Hier und da findet man schnell ein frisch abgezogenes Kuhfell mit dem falschen Brandzeichen. Aber es bringt ja nicht viel, jemanden wegen so was festzunehmen. Ich habe dann ein, zwei Takte mit den Leuten geredet, damit ihnen klar ist, dass wir ihnen auf die Schliche gekommen sind. Und dann habe ich dem Viehzüchter Bescheid gesagt. Wenn er Navajo war, dachte er prompt, er hätte wissen müssen, dass die Leute etwas Unterstützung brauchen; und dass es besser gewesen wäre, er hätte etwas für sie geschlachtet und ihnen so die Mühe erspart, sich Fleisch zusammenzustehlen.«
Leaphorn brach ab. Da er Chee nichts Neues erzählte, waren seine Worte Zeitverschwendung.
»Das sind gute Ideen«, sagte Chee und wusste, dass Leaphorn darauf nicht hereinfiel. »Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?«
»Nichts Wichtiges. Nur so eine alte Geschichte, die mir seit Jahren im Kopf herumgeht. Eigentlich bin ich nur neugierig.«
Chee nahm einen Schluck Kaffee, fand ihn köstlich und ließ Leaphorn Zeit, die richtigen Worte für sein Anliegen zu finden.
»In diesem Herbst sind es elf Jahre«, fing Leaphorn an. »Ich war damals zu unserer Dienststelle nach Chinle abkommandiert. Wir hatten da den Fall eines jungen Mannes namens Harold Breedlove, der aus der Lodge im Canyon de Chelly verschwunden war. Er und seine Frau hatten dort ihren fünften Hochzeitstag gefeiert. Und seinen Geburtstag. Seine Frau hat uns erzählt, er habe einen Anruf bekommen und ihr gesagt, er müsse sich geschäftlich mit jemandem treffen, sei aber bald zurück. Dann fuhr er mit dem gemeinsamen Auto los, zurück kam er jedoch nicht. Am nächsten Morgen rief sie bei der Arizona Highway Patrol an, und die verständigten uns.«
Leaphorn machte eine kurze Pause. So viel Wirbel um eine Geschichte, hinter der nur ein kleiner Urlaub von der eigenen Frau zu stecken schien, bedurfte einer Erklärung, das war ihm klar. »Die Breedloves sind eine große Rancherfamilie. Ihnen gehört die Lazy-B-Ranch oben in Colorado mit Weiderechten in New Mexico und Arizona, jeder Menge Bergbaubeteiligungen und so weiter. Der Familienchef hat mal für den Kongress kandidiert. Na, wir haben eine Beschreibung des Wagens rausgegeben. Es war ein neuer grüner Land Rover. So einer fällt hier draußen auf. Und ungefähr eine Woche später hat ein Officer ihn entdeckt. Er stand in einem Arroyo neben der Straße, die von der 191 zum Gemeindehaus in Sweetwater führt.«
»Jetzt erinnere ich mich an den Fall«, sagte Chee. »Aber nur schwach. Ich war damals neu und habe weit weg in Crownpoint gearbeitet.« Und ich hatte absolut nichts mit dem Breedlove-Fall zu tun, dachte Chee. Was mochte Leaphorn also von ihm wollen?
»Keinerlei Hinweise auf Gewalt an dem Land Rover, richtig?«, fragte er. »Kein Blut, keine Waffe, keine Nachricht, nichts.«
»Nicht mal Reifenspuren«, bestätigte Leaphorn. »Dafür hat eine Woche Wind gesorgt.«
»Und wenn ich mich recht entsinne, wurde nichts aus dem Wagen gestohlen. Ich glaube, jemand erzählte damals, sogar die teure Musikanlage sei noch drin gewesen – und der Reservereifen und alles.«
Leaphorn nippte gedankenverloren an seinem Kaffee. Dann sagte er: »So sah es damals aus. Heute bin ich nicht mehr so sicher. Vielleicht wurde eine Kletterausrüstung gestohlen.«
»Ach«, meinte Chee und stellte seine Tasse ab. Jetzt ahnte er, worauf Leaphorn hinauswollte.
»Das Skelett oben am Ship Rock«, sagte Leaphorn. »Alles, was ich darüber weiß, habe ich aus dem Gallup Independent. Ist der Tote schon identifiziert?«
Chee schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Keinerlei Anzeichen für ein Verbrechen. Aber Captain Largo hat die Leute vom FBI-Labor kommen lassen, damit sie sich alles ansehen. Soweit ich weiß, haben die aber nichts gefunden.«
»Es soll kaum mehr als blanke Knochen geben«, sagte Leaphorn. »Und ein paar Überreste von Kleidungsstücken. Ich vermute, Leute, die in den Bergen klettern, nehmen keine Brieftasche mit.«
»Und keine Ringe mit Gravur. Oder andere Sachen, die sie da oben nicht brauchen. Der Mann jedenfalls hatte nichts dabei.«
»Gibt es schon eine Schätzung, wie alt er war?«
»Zwischen dreißig und fünfunddreißig, meint der Pathologe. Keine gesundheitlichen Probleme, die sich auf die Knochenstruktur auswirken. Bei Leuten, die in Steilhängen klettern, erwartet man das wohl auch nicht. Und er ist in einer Gegend aufgewachsen, wo es viel Fluorid im Trinkwasser gibt.«
Leaphorn gluckste. »Also keine Füllungen in den Zähnen. Somit ist keine Hilfe aus den Unterlagen eines Zahnarztes zu erwarten.«
»Wir hatten bei diesem Fall eigentlich nur Pech«, sagte Chee.
Leaphorn leerte seine Tasse und stellte sie ab. »Was hatte er an?«
Chee runzelte die Stirn. Komische Frage. »Die übliche Klettermontur. Sie wissen ja – spezielle Schuhe mit weichen Gummisohlen und die Ausrüstung, die Kletterer gewöhnlich tragen.«
»Ich frage wegen der Jahreszeit«, sagte Leaphorn. »So ein schwarzer Berg wie der Ship Rock heizt sich im Sommer durch die Sonne auf – sogar anderthalb Meilen über dem Meeresspiegel. Und im Winter ist er mit Eis überzogen. Wo es schattig ist, legt sich eine Schneelage über die andere. Da bilden sich richtige Eisschollen.«
»Stimmt«, sagte Chee. »Etwas gegen Kälte hatte der Mann nicht an. Nur eine Hose und ein langärmliges Shirt. Und vielleicht Thermo-Unterwäsche. Er lag auf einem Felssims, gut sechzig Meter unter dem Gipfel. Viel zu hoch, als dass die Kojoten ihn kriegen konnten, aber Raben und Bussarde waren da.«
»Hat das Bergungsteam alles mitgebracht? Oder gab es etwas, das er eigentlich dabeigehabt haben müsste, das aber nicht bei seinen Sachen war? Etwas, das zur normalen Ausrüstung von Extremkletterern gehört?«
»Soweit ich weiß, hat nichts gefehlt«, sagte Chee. »Kann natürlich sein, dass dieses oder jenes heruntergefallen und in einer Felsspalte verschwunden ist. Die Vögel werden auch einiges verstreut haben.«
»Es gab doch sicher eine Menge Seil«, vermutete Leaphorn.
»Stimmt. Ich weiß nicht, wie viel es normalerweise sein müsste. Largo hat alles ans FBI-Labor geschickt, damit sie prüfen, ob sich ein Knoten oder eine Schlinge gelöst hat oder ob das Seil gerissen ist – was auch immer.«
»Haben die auch das andere Ende mitgebracht?«
»Das andere Ende?«
Leaphorn nickte. »Wenn das Seil gerissen ist, muss es ein anderes Ende geben. Das hat er irgendwo befestigt. Entweder hat er einen Haken in den Felsen geschlagen oder es festgebunden. Damit es ihn hält, wenn er abrutscht.«
»Oh«, sagte Chee. »Der Trupp, der aufgestiegen ist, um die Knochen einzusammeln, hat kein zweites Stück Seil gefunden. Ich bezweifle allerdings, dass sie danach gesucht haben. Largo hat sie nur gebeten, die Überreste des Toten zu bergen. Ich weiß noch, dass sie gesagt haben, es müssten eigentlich zwei Tote sein. Weil niemand so verrückt ist, allein im Ship-Rock-Massiv zu klettern. Sie haben aber keinen Zweiten gefunden. Anscheinend war unser Absturzopfer verrückt genug dafür.«
»Danach sieht es aus«, sagte Leaphorn.
Chee schenkte ihm und sich Kaffee nach und sah Leaphorn an. »Harold Breedlove war Extremkletterer – habe ich recht?«
»Das war er«, bestätigte Leaphorn. »Aber wenn er euer Mann, der stürzte, ist, war er nicht besonders aufgeweckt.«
»Weil er allein da oben geklettert ist?«
»Oder mit jemandem in den Berg gestiegen ist, der ihn im Stich gelassen hat und abgehauen ist.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Chee. »Den Leuten vom Bergungstrupp zufolge ist er entweder zu dem Felssims hochgeklettert, was sie allerdings ohne Hilfe für unmöglich halten, oder er hat versucht, sich von oben abzuseilen. Aber das Skelett war intakt – nichts gebrochen.« Chee schüttelte den Kopf.
»Wenn jemand bei ihm war, warum hat er oder sie den Unfall nicht gemeldet? Hilfe geholt? Die Leiche geborgen? Haben Sie darüber auch schon nachgedacht?«
»Ja«, sagte Chee. »Aber dabei ist nichts herausgekommen.«
Leaphorn trank einen kleinen Schluck Kaffee. Dachte nach.
»Ich wüsste gern mehr über die Kletterausrüstung, die, wie Sie sagen, aus Breedloves Wagen gestohlen wurde«, sagte Chee.
»Die womöglich gestohlen wurde«, korrigierte ihn Leaphorn. »Und zwar vielleicht aus seinem Wagen.«
Chee wartete.
»Ungefähr einen Monat, nachdem Breedlove verschwunden war, haben wir einen jungen Mann aus Many Farms dabei erwischt, wie er einen Wagen von Touristen aufgebrochen hat, der an einem Aussichtspunkt über dem Canyon de Chelly geparkt war. Er hatte eine Menge gestohlenes Zeug zu Hause, Autoradios, Mobiltelefone, Kassettenrekorder und so, auch Klettersachen, Seil, Bergeisen und wie das alles heißt. Da wussten wir bereits, dass Breedlove Extremkletterer gewesen war, wir hatten ja schon eine Weile nach ihm gesucht. Der Junge hat behauptet, er habe die Sachen in einem Arroyo gefunden. An einer Stelle, wo die Flutwelle nach einem Unwetter Schotter und Äste weggeschwemmt habe, sodass die Ausrüstung zum Vorschein gekommen sei. Wir haben uns von ihm die Stelle zeigen lassen. Sie lag knapp fünfhundert Meter den Arroyo hinauf von dem Ort entfernt, an dem wir Breedloves Wagen gefunden hatten.«
Chee dachte darüber eine Weile nach.
»Sagten Sie vorhin, der Wagen sei nicht aufgebrochen worden?«
»Die Türen waren nicht abgeschlossen. Und das Zeug, das normalerweise zuerst geklaut wird, war noch da.«
Chee verzog das Gesicht. »Haben Sie eine Ahnung, warum er nur die Klettersachen mitgenommen hat?«
»Und das, was er verkaufen konnte, dagelassen hat?«, fragte Leaphorn. »Nein, das weiß ich auch nicht.« Er griff nach seiner Tasse, bemerkte, dass sie leer war, und stellte sie wieder ab.
»Ich habe gehört, Sie wollen heiraten«, sagte er. »Glückwunsch.«
»Danke. Soll ich nachschenken?«
»Eine sehr hübsche Lady«, meinte Leaphorn. »Und schlau. Eine gute Anwältin.« Er hielt ihm seine Tasse hin.
Chee lachte. »Ich habe noch nie gehört, dass Sie, wenn es um Anwälte geht, das Wort ›gut‹ verwenden. Zumindest nicht bei Strafverteidigern.«
Janet Pete arbeitete für das Dinebeiini Nahiilna be Agaditahe, was so viel wie »Die Leute mit der schnellen Zunge, die anderen Leuten bei Problemen helfen« heißt und in der nüchternen Amtssprache der Navajo-Police als DNA abgekürzt oder als »öffentlich bestellte Verteidiger« umschrieben wurde.
»Für alles gibt es ein erstes Mal. Und Miss Pete …« Leaphorn wusste nicht, wie er den Satz zu Ende bringen sollte.
Chee nahm Leaphorns Becher und schenkte Kaffee nach.
»Ich hoffe, Sie lassen es mich wissen, wenn es über Ihren Mann, der stürzte, etwas Neues gibt«, sagte Leaphorn.
Das verblüffte Chee. War der Fall nicht abgeschlossen? Leaphorn hatte seinen Vermissten gefunden. Und die Identität von Largos Mann, der stürzte, war geklärt. Was konnte sich da noch Neues ergeben?
»Sie meinen, falls sich herausstellen sollte, dass das Skelett im Vergleich zu Breedlove falsche Merkmale hat?«
»Ja«, sagte Leaphorn. Aber so, wie er mit seinem frisch aufgefüllten Kaffeebecher dasaß, war das Gespräch noch nicht beendet. Chee wartete und versuchte zu folgern, in welcher Richtung es weitergehen könnte.
»Hatten Sie damals jemanden in Verdacht?«, fragte er dann. »Ich nehme an, die Witwe könnte infrage kommen.«
»Das schien in diesem Fall naheliegend zu sein. Aber es hat uns nicht weitergebracht. Dann gab es einen Cousin, einen Anwalt aus Washington namens George Shaw. Der ganz zufällig auch klettert, zur fraglichen Zeit in der Gegend war und perfekt zu dem Bild gepasst hätte, das man sich gewöhnlich vom zweiten Mann in einer Dreiecksbeziehung macht. Er sagte, er sei damals gekommen, um mit Breedlove über einen Pachtvertrag für Bergbaurechte auf der Lazy-B-Ranch zu sprechen. Was nach unseren Ermittlungen der Wahrheit zu entsprechen schien. Shaw hat sich um die Geschäftsinteressen der Familie gekümmert, und es gab eine Minengesellschaft, die diese Rechte pachten wollte.«
»Von Harold? Hat ihm die Ranch denn gehört?«
Leaphorn lachte. »Er hatte sie gerade geerbt. Drei Tage vor seinem Verschwinden.«
»Ja, dann …« Chee dachte eine Weile darüber nach, während Leaphorn bedächtig seinen Kaffee trank.
»Haben Sie den Bericht über die Schüsse neulich am Canyon de Chelly gelesen?«, fragte Leaphorn. »Ein alter Mann namens Amos Nez wurde offenbar von der Felsklippe aus angeschossen.«
Chee nickte. »Habe ich gelesen.« Das Ganze war ziemlich rätselhaft. Nez war in die Seite getroffen worden und, die Zügel noch in der Hand, vom Pferd gestürzt. Der zweite Schuss hatte das Pferd erwischt – in den Kopf. Es war zusammengebrochen und hatte Nez teilweise unter sich begraben. Dann wurden vier weitere Schüsse abgefeuert. Einer traf Nez in den Unterarm, bevor er hinter dem toten Tier Deckung nehmen konnte. Das Letzte, was Chee über den Fall gelesen hatte, war, dass man oben zwischen den Felsen sechs leere Hülsen vom Kaliber 30.06 gefunden hatte. Danach waren, soweit Chee wusste, die Ermittlungen im Sande verlaufen. Keine Verdächtigen, kein Motiv. Nez war in nicht lebensbedrohlichem Zustand ins Krankenhaus von Chinle eingeliefert worden und hatte ausgesagt, er könne sich nicht erklären, warum jemand einen Grund haben sollte, auf ihn zu schießen.
»Etwas hat mich stutzig gemacht«, sagte Leaphorn. »Old Hosteen Nez war einer der Letzten, die Hal Breedlove gesehen haben, bevor er verschwunden ist.«
»Seltsamer Zufall«, sagte Chee.
Als Lieutenant Leaphorn in Window Rock sein Vorgesetzter gewesen war, hatte er ihm eingeschärft, niemals an Zufälle zu glauben. Immer wieder hatte er das gesagt. Es war eine von Leaphorns Grundregeln. Jede Wirkung hat eine Ursache. Wenn man zwischen Ereignissen einen Zusammenhang vermutete, ihn aber nicht finden konnte, hieß das lediglich, dass man sich nicht genug Mühe gegeben hatte. Doch in diesem Fall schien ein Zusammenhang zwischen Breedloves Verschwinden und den Schüssen tatsächlich zu weit hergeholt zu sein.
»Nez war ihr Guide durch den Cañon«, sagte Leaphorn. »Als die Breedloves damals in der Lodge wohnten, haben sie ihn angeheuert. Einmal hat er sie bis zum Canyon del Muerto geführt. Und am Tag darauf durch den Hauptcañon. Ich habe mich dreimal mit ihm unterhalten.«
Leaphorn hatte den Eindruck, das näher erklären zu müssen.
»Wissen Sie«, sagte er, »wenn ein reicher Mann ohne plausiblen Grund verschwindet und seine hübsche junge Frau einfach sitzen lässt, stellt man sich Fragen. Aber Nez hat mir erzählt, dass die beiden sich anscheinend sehr gemocht und viel Spaß miteinander gehabt haben. Einmal, hat er gesagt, ist er kurz verschwunden, weil er mal musste. Als er zurückkam, sah es aus, als weinte sie. Und Breedlove tröstete sie. Also hat er eine Weile gewartet, bis er sich wieder blicken ließ. Und da war dann alles schon wieder in Ordnung.«
Chee ließ sich das durch den Kopf gehen. »Was schließen Sie daraus? Das könnte alles Mögliche gewesen sein.«
»Stimmt«, sagte Leaphorn. »Habe ich erwähnt, dass sie Breedloves Geburtstag gefeiert haben? Er war in der Woche zuvor dreißig geworden. Und mit dreißig konnte er sein Erbe antreten. Sein Daddy hatte ihm die Ranch vermacht, allerdings in Form einer Familienstiftung. Es gab eine Klausel, dass ein Treuhänder sie verwalten sollte, bis Breedlove dreißig wurde. Dann fiel alles ihm zu.«
Chee ließ sich auch das durch den Kopf gehen. »Und die Witwe hat alles von ihm geerbt?«
»Genau das haben wir herausgefunden. Damit hatten wir ein Motiv und nach aller Logik eine Verdächtige.«
»Aber keinen Beweis«, vermutete Chee.
»Nein. Aber das ist nicht alles. Kurz bevor Breedlove weggefahren ist, kam unser Mr Nez bei ihnen an, weil sie abermals zu einer Führung durch den Cañon verabredet waren. Breedlove hat sich bei Nez entschuldigt, er könne nicht mitkommen, ihn im Voraus bezahlt und ihm fünfzig Dollar Trinkgeld in die Hand gedrückt. Dann sind Mrs Breedlove und Nez losgefahren und haben sich den ganzen Tag im Cañon umgesehen. Nez wusste noch, dass sie es, als es allmählich dunkel wurde, auf einmal eilig hatte, weil sie mit ihrem Mann und einem anderen Ehepaar zum Abendessen verabredet war. Aber als sie zur Lodge zurückkamen, stand dort kein Auto. Danach hat Nez sie nicht mehr gesehen.« Leaphorn ließ einen Moment verstreichen, sah Chee an und fügte hinzu: »Sagt er zumindest.«
»Und?«, fragte Chee.
»Ach, ich wollte damit nicht behaupten, dass er sie später noch gesehen hat. Ich hatte nur immer das Gefühl, Nez weiß etwas, das er mir nicht sagen will. Das war einer der Gründe, warum ich ihn mehrmals befragt habe.«
»Sie glauben, dass er etwas mit Breedloves Verschwinden zu tun hatte? Vielleicht waren die beiden, nachdem Mr Breedlove so plötzlich wegfahren musste, gar nicht im Cañon.«
»Nein, nein«, sagte Leaphorn, »ein paar Leute haben die beiden in Nez’ Truck abends aus dem Cañon kommen sehen, ungefähr um sieben. Kurz danach hat sie das Personal in der Lodge gefragt, ob ihr Mann angerufen habe. Und um halb acht hat sie mit dem anderen Ehepaar gegessen. Beide sagen, sie sei wegen der Verspätung ihres Mannes ein wenig verärgert gewesen. Und auch ein bisschen besorgt.«
»Ich würde sagen, so was nennt man ein wasserdichtes Alibi. Und wie lange hat es gedauert, bis Old Hal amtlich für tot erklärt wurde und sie ihren Mitverschwörer heiraten konnte? Ich nehme an, ich liege nicht falsch, wenn ich davon ausgehe, dass das George Shaw war?«
»Sie ist meines Wissens immer noch Witwe«, sagte Leaphorn. »Sie hat eine Belohnung von zehntausend Dollar ausgesetzt, die später auf zwanzigtausend erhöht wurde, und erst fünf Jahre später einen Antrag gestellt, ihren vermissten Mann für tot zu erklären. Sie lebt jetzt oben in Colorado, in der Nähe von Mancos. Sie und ihr Bruder leiten die Lazy-B-Ranch jetzt.«
»Wissen Sie was?«, sagte Chee. »Ich glaube, ich kenne die beiden. Ist ihr Bruder Eldon Demott?«
»Genau der.«
»Mit dem haben wir hin und wieder zu tun. Die Ranch besitzt weiter Pachtrechte in der Checkerboard Reservation, und sie haben dort immer wieder Angus-Kälber verloren. Er glaubt, einige von uns, also Navajo, haben sie gestohlen.«
»Eldon ist Elisa Breedloves älterer Bruder«, sagte Leaphorn. »Ihr Daddy war bei Old Man Breedlove Vorarbeiter, und als er starb, hat Eldon den Job sozusagen geerbt. Die Demott-Familie hat jedenfalls auf der Ranch gewohnt. Ich nehme an, so haben Elisa und der junge Breedlove sich kennengelernt.«
Chee unterdrückte ein Gähnen. Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen, und obwohl das Gespräch mit Leaphorn ihm viele nützliche Informationen brachte, trug es nicht gerade zu seiner Entspannung bei. In ihm waren zu viele Erinnerungen wach an die Zeit, in der er alles darangesetzt hatte, den hohen Ansprüchen dieses Mannes gerecht zu werden. Es dauerte sicher noch eine Weile, ehe er sich in Leaphorns Gegenwart wohlfühlen konnte. Mal sehen, vielleicht zwanzig Jahre.
»Nun«, meinte Chee, »damit dürfte geklärt sein, um wen es sich bei dem Mann, der stürzte, handelt. Das Skelett dürfte sich identifizieren lassen, und Sie dürften Ihren vermissten Hal Breedlove gefunden haben. Sobald das bestätigt ist, rufe ich Sie an.«
Leaphorn leerte seine Tasse, erhob sich, setzte seinen Hut auf und rückte ihn zurecht.
»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte er.
»Und ich Ihnen für Ihre.«
Leaphorn öffnete die Tür, und ein Schwall kalter Luft drang herein – der würzige Geruch des Herbstes und eine Ahnung des nahen Winters, der wie ein Kojote draußen lauerte.