Tanz des Blutes - J. R. Ward - E-Book

Tanz des Blutes E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Ein tragischer Schicksalsschlag machte den jungen Vampirkrieger Axe zu einem melancholischen Einzelgänger. Nun setzt er alles daran, in die Bruderschaft der BLACK DAGGER aufgenommen zu werden, denn nur im Kampf gegen die Lesser, so glaubt er, kann er seinem Leben einen neuen Sinn verleihen. Das ändert sich an dem Tag, an dem er der Aristokratentochter Elise als Bodyguard zugeteilt wird und sich mehr und mehr zu der schönen Vampirin hingezogen fühlt. Doch gerade als sich die erotische Leidenschaft zwischen den beiden in Liebe zu verwandeln scheint, droht ein dunkles Geheimnis aus Axes Vergangenheit alles zu zerstören ...

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Seitenzahl: 626

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Das Buch

Der junge Vampirkrieger Axe ist ein Bad Boy wie er im Buche steht: am ganzen Körper tätowiert, verschlossen und draufgängerisch. Mit der Liebe hat Axe eher weniger am Hut, mit schnellem, unverbindlichem Sex umso mehr. Doch er war nicht immer so. Erst ein tragischer Schicksalsschlag in seiner Jugend machte ihn zu dem melancholischen Einzelgänger, der er heute ist. Nur die Hoffnung, bei den BLACKDAGGER aufgenommen zu werden, verleiht seinem Leben noch Sinn, und so konzentriert sich er voll und ganz auf das Trainingsprogram der Bruderschaft.

Aber dann kommt der Tag, an dem Axe der Aristokratentochter Elise als Bodyguard zugeteilt wird. Mehr und mehr fühlt er sich zu der schönen, klugen Vampirin hingezogen, und entgegen aller Vernunft beginnen die beiden eine stürmische Affäre miteinander. Doch gerade, als sich die erotische Leidenschaft in Liebe zu verwandeln scheint, wird Axe von seiner dunklen Vergangenheit eingeholt …

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACKDAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die internationalen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:

www.jrward.com

Ein ausführliches Werkverzeichnis der im Heyne Verlag erschienen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

www.twitter.com/HeyneFantasySF

@HeyneFantasySF

www.heyne-fantastisch.de

J. R. Ward

TANZDESBLUTES

Roman

Wilhelm Heyne Verlag

München

Titel der amerikanischen Originalausgabe

BLOODVOW – BLACKDAGGERLEGACY

Deutsche Übersetzung von Corinna Vierkant

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 08/2017

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2016 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic GmbH, Bielefeld,

unter Verwendung eines Motivs von Fotolia/Valua Vitaly

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-20624-6 V004

www.heyne.de

Gewidmet:

Meinem Tatson, Dee.

In Liebe,

Mummy

Danksagung

Ein großes Dankeschön allen Lesern der Bruderschaft der Black Dagger!

Vielen Dank für all die Unterstützung und die Ratschläge an: Steven Axelrod und Kara Welsh. Alles Liebe an das Team Waud – ihr wisst, wer gemeint ist. Ohne euch käme die Sache gar nicht zustande.

Nichts von alledem wäre möglich ohne: meinen liebevollen Ehemann, der mir mit Rat und Tat zur Seite steht, sich um mich kümmert und mich an seinen Visionen teilhaben lässt; meine wunderbare Mutter, die mir mehr Liebe geschenkt hat, als ich ihr je zurückgeben kann; meine Familie (die blutsverwandte wie auch die frei gewählte) und meine liebsten Freunde.

Ach ja, und meinem WriterAssistant Naamah.

Glossar der Begriffe und Eigennamen

Ahstrux nohtrum– Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

Die Auserwählten– Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. Sie werden als Angehörige der Aristokratie betrachtet, obwohl sie eher spirituell als weltlich orientiert sind. Normalerweise pflegen sie wenig oder keinen Kontakt zu männlichen Vampiren; auf Weisung der Jungfrau der Schrift können sie sich aber mit einem Krieger vereinigen, um den Fortbestand ihres Standes zu sichern. Einige von ihnen besitzen die Fähigkeit zur Prophezeiung. In der Vergangenheit dienten sie alleinstehenden Brüdern zum Stillen ihres Blutbedürfnisses. Diese Praxis wurde von den Brüdern wieder aufgenommen.

Bannung– Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

Die Bruderschaft der Black Dagger– Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

Blutsklave– Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

Chrih– Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

Doggen– Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

Dhunhd– Hölle.

Ehros– Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

Exhile Dhoble– Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

Gesellschaft der Lesser– Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

Glymera– Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

Gruft– Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

Hellren– Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

Hohe Familie– König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

Hüter– Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

Jungfrau der Schrift– Mystische Macht, die dem König als Beraterin dient sowie die Vampirarchive hütet und Privilegien erteilt. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und besitzt umfangreiche Kräfte. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

Leahdyre– Eine mächtige und einflussreiche Person.

Lesser– Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren sie ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

Lewlhen– Geschenk.

Lheage– Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

Lhenihan– Mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

Lielan– Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

Lys– Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

Mahmen– Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

Mhis– Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

Nalla oder Nallum– Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

Novizin– Eine Jungfrau.

Omega– Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

Phearsom– Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

Princeps– Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

Pyrokant– Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesverse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

Rahlman– Retter.

Rythos– Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

Schleier– Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

Shellan– Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

Symphath– Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

Trahyner– Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

Transition– Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

Triebigkeit– Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

Vampir– Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«, in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

Vergeltung– Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

Wanderer– Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

Whard– Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

Zwiestreit– Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

1

Keys-Club

Caldwell, NY

Masken hatten einen festen Platz im Leben von Axe. Ob sie im wörtlichen Sinn sein Gesicht verbargen oder in übertragener Bedeutung seine Seele schützten, er liebte die Tarnung. Wissen war schließlich nur dann Macht, wenn es Auskunft über den Feind gab. Doch auf ihn selbst bezogen? Dann lieber ein Messer an der Kehle.

Und jeder war sein Feind.

Er stand in einem Pulk von sexuell erregten Menschen, über hundert von ihnen, und war drauf und dran, seine dunkle Seite zu befriedigen. Er würde einen Happen Frischfleisch in den Zwinger werfen, einen Schritt zurücktreten und zusehen, wie sein gieriger Sexualtrieb es verschlang und seinen animalischen Hunger kurzfristig stillte.

Es hielt nie lange vor. Deswegen war er dem Club beigetreten.

Im Keys hatten nur Mitglieder Zutritt, und es gab nur zwei Regeln: keine Minderjährigen. Nur einvernehmlich.

Waren diese Bedingungen erfüllt, konnte man sich jedem Spleen und jeder Sünde hingeben: Glory Holes, Gangbangs, Dreier. Es gab spezielle Räume für Fetische und Vertiefungen im Boden zum Vögeln und jede Form von Fesseln, Ketten und Aufhängungen, die man sich nur wünschen konnte.

Und natürlich die Kathedrale.

Sie war der größte und höchste Raum im Labyrinth des Clubs, der sich über mehrere Gebäude erstreckte, und war dem innersten Zirkel der Hardcorefans vorbehalten. Künstlicher Nebel kräuselte sich in der Luft, durchbrochen von roten und blauen Laserstrahlen, es gab kein Mobiliar, nichts, bis auf den Altar.

Hier trugen die Besucher immer Masken, selbst in Nächten, in denen diese im Rest des Clubs nicht vorgeschrieben waren.

Durch die Augenhöhlen seiner Totenkopfmaske blickte Axe hinauf zum Altar.

Der Aufbau erinnerte an eine Szene aus DasSchweigen der Lämmer: Ein menschlicher Leib hing hoch in der Luft, die Arme seitlich ausgestreckt, den Kopf zur Seite geneigt, umgeben von wallendem Stoff wie von Flügeln. Doch damit endeten die Gemeinsamkeiten mit Hannibal Lecters Kunstwerk. Denn es war kein Mann, der da hing, sondern eine Frau, und sie war nackt. Und was ihren Leib besudelte, war kein echtes Blut, sondern ein fieses Gebräu, das wie Regen von der Decke fiel und ihre Brüste benetzte, ihren Bauch überzog, an ihren Schenkeln herabrann und sie im Scheinwerferlicht feucht glänzen ließ.

Sie war auch nicht tot, sondern äußerst lebendig.

»Interesse?«, wurde er von hinten gefragt.

Axe lächelte und sparte sich die Mühe, seine Fänge zu verbergen.

Niemand hier wusste, dass er Vampir war. Und zwar kein neo-viktorianischer Dracula-Verschnitt mit kosmetisch veränderten Zähnen, Stiefeln mit Absatz und schwarzer Tönung im ohnehin dunklen Haar.

Nein, ein echter Vampir. Andere DNA. Andere Traditionen und andere Sprache. Andere biologische Zwänge, darunter tatsächlich die Notwendigkeit, ab und an das Blut eines Vampirs des anderen Geschlechts zu trinken.

Und auch sein Geschlechtstrieb war anders.

»Ja, ich mache den Anfang«, erklärte er.

Der Club-Angestellte pfiff und winkte, damit man das Baugerüst in Position rollte, und ein Raunen ging durch die Menge. Die Spannung stieg in Erwartung des ersten Spektakels. Einen Moment lang erwog Axe, ob er sich zu ihr auf den Altar materialisieren sollte, einfach nur, um die Anwesenden zu schockieren, einfach nur, weil er es konnte und er gerne Chaos stiftete.

Stattdessen kletterte er an dem Metallgerüst empor, mit der Leichtigkeit einer Spinne im Netz.

Als er auf Höhe der Frau war, bäumte sie sich auf. Ihr Rücken beschrieb einen Bogen, ihr Kopf fiel zurück, der Mund ging auf, und ihre Augen sahen ihn flehentlich an. Sie war nicht benebelt durch irgendeine Droge, sie war im Gegenteil übermäßig klar. Ihr Geschlecht verströmte seinen Duft, und ihr Fleisch schrie nach Erlösung.

Sie wollte ihn. Unter all den Leuten hatte sie ihn gewählt.

»Nimm mich«, sagte sie. »Nimm …«

Er streckte die behandschuhte Hand aus und verschloss ihre Lippen mit den Fingerspitzen. Dann beugte er sich über sie, bleckte die Fänge und näherte sich ihrem Hals. Doch er biss nicht zu. Er fuhr mit der Spitze eines seiner Fänge ihre Halsschlagader nach.

Sie zuckte in den Ketten, die sie sich anlegen hatte lassen, und kam zum Orgasmus. Die öffentliche Zurschaustellung, die Gefahr, die er darstellte, das war die Art von Sex, die sie brauchte. Stöhnend wand sie sich, und ihr Gesicht hinter der Maske errötete.

Ihre Lust übertrug sich wie eine sich kräuselnde Woge auf das Meer aus Körpern unter ihnen.

Und auch Axe war erregt, oh ja. Aber nicht auf die gleiche Art wie die anderen. Nicht auf die gleiche Art wie sie.

Das war ihm verwehrt.

Dennoch dämpfte der Sex die kreischende Stimme in seinem Kopf, die ihm vorhielt, dass er ein Stück Scheiße war. Lenkte ihn ab von seiner brennenden Wut auf sich selbst. Verdrängte die Schuldzuweisungen.

Insofern kamen sie beide auf ihre Kosten.

Er löste die Kordel an seinem Hals und ließ den schweren Umhang von den Schultern gleiten. Er trug eine schwarze lederne Hose und sonst nichts außer seinen Tätowierungen und den Piercings.

Axe legte die Hand auf ihren Körper und ließ sie wandern, zusammen mit dem Mund, überallhin.

Und der Sturm, den er heraufbeschwor, fegte über seine desolate Seelenlandschaft hinweg, verhüllte das verkarstete Trümmerfeld seines Selbst.

Sie bekam, wonach es sie verlangte, genau wie er.

Gut so. In einer Stunde war er im Trainingszentrum bei der Bruderschaft der Black Dagger, um seine Ausbildung fortzusetzen. Dazu musste er einigermaßen in Form sein. Er wollte Soldat werden im Kampf gegen die Gesellschaft der Lesser. Er wollte wandeln auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod.

Darin würde er finden, wonach er sich sehnte.

Inneren Frieden durch kriegerisches Handeln. An diese Hoffnung klammerte er sich. Denn wer den Untoten gegenüberstand, war gut damit beschäftigt, am Leben zu bleiben. Da blieb keine Zeit für andere Sorgen.

Einfach perfekt.

State University of New York

Caldwell

Elise, Tochter von Princeps Felixe dem Jüngeren, lächelte den Menschen an, der ihr an einem Tisch in der Bibliothek gegenübersaß. »Natürlich kann ich länger bleiben. Ich lasse Sie doch nicht mit dem ganzen Berg allein.«

»Der ganze Berg« war ein Wust aus Abschlussarbeiten, der sich über den Tisch verteilte, bis auf den halben freien Meter vor ihr und den halben Meter vor Professor Troy Becke. Die Teilnehmer des Seminars »Psychologie 342« reichten ihre Arbeiten zwar elektronisch ein, doch für die Benotung druckte Troy sie aus. Und nachdem Elise ihm schon bei der Korrektur der Zwischenprüfung geholfen hatte, gab sie ihm recht. Es war etwas anderes, wenn man die Arbeit in Händen hielt und seine Gedanken zu Papier bringen konnte. Wahrscheinlich deshalb, weil es nicht so schnell ging.

Am Bildschirm konnte man leicht etwas überlesen, außerdem tippte sie sehr schnell. Wenn sie ihre Kommentare von Hand schrieb, blieb ihr mehr Zeit zum Denken.

Troy lehnte sich zurück und streckte sich. »Weihnachten steht vor der Tür, es ist nach zehn, das hier ist Sklavenarbeit.«

Er lächelte sie an. Elise betrachtete ihn. Er war groß für einen Menschen, hatte leuchtend blaue Augen, und sein Gesicht war so offen und freundlich, dass sie darüber vergessen konnte, wie fremd sie in seiner Welt war. Denn Elise war nur Gast bei den Menschen, ein Gast, der blieb, weil ihn die Freiheit faszinierte, den die Bewohner hier genossen.

»Das war meine letzte.« Sie legte den Ausdruck auf die anderen benoteten Arbeiten links und streckte sich ebenfalls. Es war ein herrliches Gefühl im Kreuz. »Wissen Sie, das war ein angenehmes Seminar. Die Studenten waren fit und sind gut mitgekommen …«

»Es tut mir leid«, unterbrach er sie.

Elise runzelte die Stirn. »Warum? Ich bin Ihre studentische Hilfskraft. Das ist meine Aufgabe. Außerdem lerne ich viel mehr, seit ich …«

Sie führte den Satz nicht zu Ende, weil ihr nicht entging, dass er gar nicht zuhörte. Troys Blick war auf die Stapel gerichtet, die sich rings um sie türmten, doch er ging ins Leere.

Als Vampirin unter Menschen war Elise grundsätzlich ein wenig nervös, also blickte auch sie sich um, ob Troy etwas bemerkt hatte, das ihr entgangen war.

In die Foster-Newman-Bibliothek kamen die Studenten zum Lernen, obwohl das gedruckte Buch aus der Mode gekommen war, der Laptop den Schreibblock abgelöst hatte und es keine Kreide mehr in den Seminarräumen gab. Die Bibliothek erstreckte sich über vier Geschosse, angefüllt mit endlosen Regalreihen, gelegentlich unterbrochen von Sitzbereichen. Hier fühlte sich Elise immer sicher, hier gab es nichts als ihre Studien und ihren Ehrgeiz.

Das herrschaftliche Haus ihres Vaters war der Ort, an dem sie sich bedrängt fühlte. Verfolgt. Bedroht.

Wenn auch nur im übertragenen Sinne.

Doch sie entdeckte nichts Ungewöhnliches und rieb sich die Augen. Die Erkenntnis, dass sie zu dem großen alten Anwesen zurückkehren musste, bereitete ihr Kopfschmerzen.

Nach sieben Jahren Studium näherte sie sich langsam ihrem Ziel. Sie hatte einen Bachelor in Psychologie, der es ihr erlaubte, ohne Masterabschluss ihren Doktor in Psychologie zu machen. Sobald sie ihren Titel hatte, wollte sie private Therapien für Vampire anbieten, spezialisiert auf posttraumatische Belastungsstörungen.

Seit den Plünderungen vor zwei Jahren litten viele Vampire an den Folgen der traumatischen Erlebnisse, und kaum einer hatte die Gelegenheit, sich an einen Sozialpädagogen oder Therapeuten zu wenden.

Natürlich waren die Plünderungen auch Elise in die Quere gekommen. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie ihre Studien aufgab und mit Tante, Onkel und Cousine in ein sicheres Haus weit weg von Caldwell zog. Doch unmittelbar nach ihrer Rückkehr hatte sie das Studium wieder aufgenommen – obwohl ein weiterer Schicksalsschlag ihre Familie erschüttert hatte. Jetzt war alles noch viel schwerer geworden.

Sie hasste sich dafür, dass sie ihren Vater Nacht für Nacht belog. Dass sie Ausflüchte erfand, wohin sie ging und mit wem sie sich traf. Doch was hätte sie tun sollen? Für sie gab es nur dieses kleine Fenster in die Freiheit, und man hatte es geschlossen. Zumal ihre Cousine vor vier Wochen totgeschlagen worden war.

Es war ihr noch immer unbegreiflich, dass Allishon nicht mehr da sein sollte. Und genau wie Elise standen auch ihr Vater, ihr Onkel und ihre Tante unter Schock. Zumindest nahm Elise das an. Denn niemand redete über ihren Tod, die Trauer, die Wut. Aber natürlich reagierten sie darauf. Elises Vater wirkte so angespannt und verhärmt, als könnte er jeden Moment in die Luft gehen. Ihre Tante sperrte sich seit einem Monat im Schlafzimmer ein, und ihr Onkel wandelte umher wie ein Geist, ohne einen Schatten zu werfen oder ein Geräusch zu verursachen.

Elise dagegen stahl sich aus dem Haus, um an die Uni zu gehen. Aber hey, sie hatte jahrelang gearbeitet, um so weit zu kommen, und die Unfähigkeit ihrer Familie, mit dem Verlust von Allishon umzugehen, war doch nur ein weiterer Beleg dafür, wie dringend ihre Spezies fähige, gut geschulte Psychologen brauchte.

Probleme unter den Teppich zu kehren führte schließlich fast immer zur Katastrophe.

»Ich bin nur müde«, sagte Troy.

Elise riss sich von ihren Grübeleien los und sah ihn an. Ihr erster Gedanke war, dass er etwas verbarg. Ihr zweiter, dass sie herausfinden musste, was es war.

»Kann ich irgendwie helfen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das Problem liegt bei mir.«

Als er zu lächeln versuchte, stieg ihr ein Geruch in die Nase. Etwas …

»Ich glaube, Sie sollten sich besser auf den Heimweg machen.« Er bückte sich nach der Tasche, in der er die Prüfungen mitgebracht hatte, und fing an, sie wieder hineinzustopfen. »Es schneit, die Straßen werden immer gefährlicher.«

»Troy, können Sie mir bitte sagen, was los ist?«

Er stand auf und steckte sein Hemd in die khakifarbene Hose. »Alles bestens. Ich nehme an, ich sehe Sie erst im nächsten Jahr wieder.«

Elise sah ihn verwundert an. »Aber sollte ich Ihnen nicht bei den Studienplänen für Psychologie vierhunderteins, zweihundertachtundzwanzig und das Seminar über Bipolar zwei helfen? Ich hätte morgen Abend Zeit …«

»Das halte ich für keine gute Idee, Elise.«

Was war das nur für ein Geruch …

Oh. Ach, so.

Errötend wurde ihr klar, womit sie es zu tun hatte. Zumal er nun den Blick von ihr abwandte: Er war erregt. Wegen ihr.

Er war heftig sexuell erregt und alles andere als glücklich darüber.

»Troy.«

Ihr Professor hob die Hand. »Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Sie haben nichts falsch gemacht. Ehrlich.«

Er verstummte, und sie wünschte, er würde einfach mit der Wahrheit herausrücken. Nicht weil sie ihn unbedingt sonderlich anziehend fand, sondern weil sie jede Form der Geheimniskrämerei hasste. Davon hatte sie mehr als genug in ihrer Familie, wo niemand seinen Gefühlen Ausdruck verlieh, wenn sich das Leben von seinen unschönen Seiten zeigte.

Außerdem war sie ihm durchaus nicht abgeneigt. Er war auf harmlose Art attraktiv. Intelligent, humorvoll, der Schwarm vieler Studentinnen. Sie konnte oft genug beobachten, wie die Menschenfrauen ihn in den Seminaren anhimmelten.

Und vielleicht hatte sie sich auch schon das ein oder andere Mal ausgemalt, wie es wäre. Ihn zu berühren. Zu küssen. Andere … Dinge zu tun.

Sie hatte gegenwärtig keinen Vampir in Aussicht, und daran würde sich auf absehbare Zeit nichts ändern. Außerdem war sie in den Augen der Glymera ohnehin verdorben.

Nicht dass irgendjemand davon wusste. Der Vampir, mit dem sie geschlafen hatte, war bei den Plünderungen ums Leben gekommen.

»Ich bin volljährig«, hörte sie sich sagen.

Er sah sie an. »Was?«

»Ich bin nicht jung. Nicht zu jung, meine ich. Für das, woran Sie denken.«

Troys Augen weiteten sich überrascht. Dann fiel sein Blick auf ihre Lippen.

Ja, dachte sie. Mit diesem Menschen könnte sie gefahrlos zusammen sein. Er würde sie nie verletzen oder bedrängen, denn das lag nicht in seiner Natur, und selbst wenn er es versuchen sollte, konnte sie ihn problemlos überwältigen. Außerdem würde Elise sich nie vereinigen, nie ganz ihrem Vater entgehen, dem Leben niemals näher kommen als in den destillierten Lebensgeschichten aus ihren Lehrbüchern.

»Elise.« Er rieb sich mit dem Handballen übers Gesicht. »Oh, Gott …«

»Was? Tut mir leid, ich werde nicht so tun, als wüsste ich nicht, worüber wir hier reden.«

»Es gibt Regeln. Für Professoren und Studentinnen.«

»Sie leiten keinen meiner Kurse.«

»Sie sind meine studentische Hilfskraft.«

»Ich bestimme darüber, was ich tue, niemand sonst.«

Zumindest hier, an der Universität, diesem kleinen Bereich in ihrem Leben, den sie in der Menschenwelt verbrachte. Keine Regel dieser Gesellschaft, die nicht ihre war, konnte ihr vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hatte. Davon hatte sie in ihrer eigenen Welt schon mehr als genug.

Troy lachte rau. »Ich fasse es nicht, dass wir dieses Gespräch führen. Ich meine, in Gedanken habe ich es schon tausend Mal durchgespielt. Ich dachte nur nicht, dass es tatsächlich einmal dazu kommen würde.«

»Nun, mir ist einerlei, was die Leute denken.« Und das war die Wahrheit. Was Menschen betraf. »Ich habe keine Angst.«

»Das kann ich von mir nicht behaupten. Ich habe nie etwas Vergleichbares getan. Dieses ganze Klischee, der Professor und die Studentin, davon habe ich immer die Finger gelassen. Ich dachte, ich wäre stark genug. Aber Sie sind anders, und weil Sie das sind … bringen Sie mich dazu, mich anders zu verhalten.«

Er wirkte auf sonderbare Weise hilflos, als er sie ansah, als würde er sich nach langem Kampf geschlagen geben.

Jetzt blickte sie auf seine Lippen.

Und wieder erfüllte dieser Geruch ihre Nase, während sich seine Brust hob …

»Professor Becke? Hallo!«

Eine zierliche, kurvige Frau kam auf ihn zu, eingehüllt in eine Wolke von Parfüm. Mit ihren schulterlangen blonden Locken und dem Make-up hätte sie sich gut für ein Werbeplakat geeignet, das die Attraktivität der Universität bewirbt.

»Ich bin in Ihrem Grundkurs, oder war in Ihrem Kurs, und meine Zimmergenossin … sie ist da drüben … Amber, sieh mal, wer hier ist! Vielleicht erinnern Sie sich, ich musste nach Hause, weil sich meine Eltern scheiden ließen, und Sie haben mich die Prüfung nachschreiben lassen. Also, ich …«

Sie redete wie ein Wasserfall, und dann kam Zimmergenossin Amber angehopst wie ein junger Hund. Troy wirkte zerstreut, als fände er nur mühsam von ihrem intimen Gespräch zurück in die Realität.

Elise nahm ihren Mantel und den Rucksack, schob ihren Stuhl unter den Tisch und hob die Hand zum Abschied. Als Troy ihr zunickte, lag Verzweiflung in seinem Blick, als würde ihm ein lang ersehntes Geschenk aus den Händen gleiten und in einen Abgrund stürzen.

Elise hielt sich ein imaginäres Handy ans Ohr und signalisierte ihm, sie anzurufen, dann bewegte sie sich in Richtung Ausgang. Der alte Mann, der nachts an der Bücherausgabe saß, beugte sich über den Computer, als würde er sich gerade ausloggen, sein blauer Parka und seine Mütze lagen bereits auf dem Tisch neben der Thermoskanne, die vermutlich leer war.

»Gute Nacht«, verabschiedete sie sich an der Glastür.

Er grunzte. Mehr gab er nie von sich.

Draußen schlug ihr ein steifer kalter Wind ins Gesicht, und sie hängte sich den Rucksack über die Schulter, um den Reißverschluss an ihrem Mantel zuzuziehen. Laternen beleuchteten den Weg, und tatsächlich wirbelten zarte Schneeflocken in die Lichtkreise hinein und wieder hinaus, als wollten sie miteinander tanzen, wären aber zu schüchtern dazu.

Einen Moment lang sah sich Elise um und dachte, dass Allishon nie mehr Freude an einer stillen Nacht würde haben können, nie mehr durch wirbelnde Schneeflocken laufen würde, die Wärme in ihrem Mantel fühlen und die Kälte an den Wangen. Jetzt bereute Elise, dass sie nicht mehr Zeit mit ihr verbracht hatte. Sie waren sehr unterschiedlich gewesen, fast gegensätzlich, der Bücherwurm und die Unbezähmbare, aber vielleicht hätte es eine Möglichkeit gegeben, das Schicksal abzuwenden. Den Ausgang zu ändern. Den Schalter zurückzulegen, der Allishon aus der Sicherheit katapultiert hatte.

Doch das würde nicht geschehen.

Elise trat auf das braune Gras und entfernte sich vom Schein der Laternen, vom Parkplatz, dem Universitätsgebäude auf der anderen Seite.

Als sie ganz in den Schatten eingetaucht war, dematerialisierte sie sich und bewegte sich in einer Wolke aus Molekülen zum großen georgianischen Anwesen ihres Vaters, das meilenweit vom Campus entfernt lag. Ihre Gedanken wanderten zu Troy, vielleicht, um sich abzulenken, vielleicht aus Neugierde. Doch die Reise dauerte nicht länger als eine Willensanstrengung und einen Wimpernschlag.

Als sie auf dem Rasen vor dem väterlichen Haus Gestalt annahm, vermischte sich in ihrem Kopf der Tod von Allishon mit der Erinnerung daran, wie Troy sie über den Tisch in der Bibliothek hinweg angesehen hatte. Mit diesem lodernden Blick, während er den Geruch körperlicher Erregung verströmte. Das Schicksal konnte jeden Moment zuschlagen, und bedeutete das nicht, dass man die Nächte und Tage auskosten sollte, die einem vergönnt waren?

Die Zeit war nicht relativ, sie war eine Illusion. Hätte sie vom bevorstehenden Tod ihrer Cousine gewusst, hätte sie vieles anders gemacht. Auch sie selbst konnte in einer Woche oder einem Monat tot sein. Demgemäß erschien es ihr klug, die Möglichkeiten mit einem Mann auszukundschaften, und sei es nur ein Mensch.

Troy hatte ihre Nummer. Sie hatte seine. Wie funktionierte so etwas? Sie schickten sich gelegentlich Nachrichten, aber nur, um Termine zu vereinbaren.

Aber ein Date war auch nichts anderes als ein Termin, oder?

Sie ging durch das große Foyer und spielte gedanklich Gespräche in ihrem Kopf durch, Begrüßungen, Verabredungen …

»Wo kommst du her!«

Elise erstarrte. Sie blickte auf eine Standuhr und eine Treppe wie aus dem Buckingham Palast und erkannte, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte: Sie war durch die Haustür hereingekommen statt wie üblich durch den Hintereingang … und schnurstracks an der offenen Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters vorbeispaziert.

Im Mantel, Schneeflocken im Haar, ein Rucksack über der Schulter.

»Elise!«

Ihr Vater war von seinem reich verzierten Schreibtisch aufgesprungen und machte ein Gesicht, als wäre ein Geländewagen in sein Haus gekracht.

Das blasse Gesicht, die weit aufgerissenen Augen und das verrutschte Anzugjackett hätten belustigend wirken können. Unter anderen Umständen.

Fluchend schloss Elise die Augen und wappnete sich für den Angriff.

2

Im Anwesen der Bruderschaft der Black Dagger

»Was ist das?«, fragte Bitty.

Rhage, der sich gerade eine Pistole in das Holster unter dem Arm stecken wollte, erstarrte. Einen Moment lang überlegte er, ob er einfach so tun sollte, als hätte er sie nicht gehört – aber damit würde er nicht durchkommen. In den zwei Monaten, die Bitty nun schon bei ihnen war, hatten Mary und Rhage erfahren, dass sie so klug wie beharrlich war.

Im Grunde liebte Rhage ihre Charaktereigenschaften, doch wenn es darum ging, dass er dieser Dreizehnjährigen die technischen Details einer tödlichen Vierzig-Millimeter-Waffe erklären sollte, sah die Sache anders aus. Dann wünschte er, Bitty wäre hohl im Kopf und ein Fall von ADHS.

»Äh …«

Er blickte in den Spiegel über der Kommode und hoffte, sie könnte sich einem anderen Thema zugewandt haben. Doch er irrte. Bitty saß auf Marys und seinem neuen Bett in ihrer frisch bezogenen Suite im zweiten Stock, die Trez freundlicherweise für sie geräumt hatte, damit Bitty neben ihren Pflegeeltern wohnen konnte. Sie war klein und schmächtig, und wenn Rhage ihre dünnen Arme und Beine sah, wollte er am liebsten in die Tropen mit ihr ziehen, statt hier im eisigen Norden von New York zu wohnen. Unglaublich, selbst unter mehreren Schichten Fleece erschien sie ihm noch zerbrechlich.

Aber das war alles, was an diesem Wesen zart war. Ihre braunen Augen waren fest wie die eines Erwachsenen, alt wie ein Gebirge, scharf wie die eines Adlers. Ihr kräftiges glänzendes Haar fiel ihr über die Schultern und hatte fast die gleiche Farbe wie das von Mary. Und ihr Charisma, ihre … was auch immer, Lebenskraft, Ausstrahlung, Seele … bildete einen starken Kontrast zu ihrer zarten Erscheinung.

Es erfüllte ihn mit Stolz, dass sie mit jedem Tag bei ihnen weiter aufblühte. Aber nicht wie eine Blume.

Sondern wie eine verdammte Eiche.

Doch deshalb wollte er ihr noch lange nicht in allen Einzelheiten erklären, wie das mit dem Töten der Lesser funktionierte.

Genauso wenig, wie er sie über die Sache mit den Bienen und den Blumen aufklären wollte. Aber das wurde wenigstens erst in ungefähr zwölf Jahren aktuell.

»Vater?«, drängte sie.

Rhage schloss die Augen. Okay, jedes Mal, wenn sie ihn Vater nannte, drohte sein Herz vor Freude zu zerspringen, und er hatte das unwirkliche Gefühl, im Lotto gewonnen zu haben. Es versetzte ihn zurück zu dem Moment, wo er sich frisch mit Mary vereinigt hatte und sie zum ersten Mal Shellan nennen konnte.

Pure Glückseligkeit.

»Was ist das?«, fragte sie erneut.

Die rosa Blase zerplatzte. Er schob die Pistole in das Holster und verschloss den Riemen über dem Griff. »Eine Pistole.«

»Ich weiß. Aber was für eine?«

»Eine Vierziger Smith & Wesson.«

»Wie viele Patronen sind da drin?«

»Genügend.« Er nahm seine Lederjacke und lächelte. »Hey, hast du Lust auf Kino, wenn ich heimkomme?«

»Warum willst du mir nicht von deiner Pistole erzählen?«

Weil ich die technischen Daten nicht davon trennen kann, was ich damit anstelle, wenn ich dir davon erzähle. »Ist doch total uninteressant.«

»Aber sie beschützt dein Leben, oder?« Die Augen des kleinen Mädchens blieben an den schwarzen Dolchen haften, die er sich vor die Brust geschnallt hatte, mit den Griffen nach unten. »Genauso wie deine Messer.«

»Unter anderem.«

»Also ist es doch interessant. Zumindest für mich.«

»Sieh mal, wollen wir nicht darüber reden, wenn deine Mom dabei ist? Ein bisschen später heute.«

»Aber woher weiß ich, dass du auch sicher nach Hause kommst?«

Sein erster Gedanke war: MAAAARY! Hilf mir!

Denn seine Shellan war ausgebildete Therapeutin – sie hatte verdammt noch mal Z behandelt, mit all seinen Dämonen – und konnte viel besser mit solchen Situationen umgehen als ein grobklotziger Kämpfer wie er. Aber seine Shellan war im Frauenhaus, wo sie arbeitete, und er wollte nicht anrufen und sie bei irgendetwas stören, solange nicht jemand verblutete oder das Haus in Flammen stand. Oder die Zombie-Apokalypse über sie hereinbrach. Eine Wasserstoffbombe hinter dem Anwesen gefunden wurde.

Oder, okay, solange der Käsekuchen nicht ausging.

Das hieß, er musste seinen Mann stehen. Denn das hier war eine Vatersache, genau die Art von schwierigem Gespräch, zu der er sich bereit erklärt hatte, als er und Mary sich zur Adoption entschlossen hatten. So schnell wollte er nicht kapitulieren.

Okay, merken für später: Internetrecherche, Online-Tutorial, Vaterschaft. Es musste einen Kurs geben, der einen darauf vorbereitete.

»Ich habe eben einfach Angst, verstehst du?«

Gütige Jungfrau der Schrift, auch er hatte Angst. Seit Bitty in sein Leben getreten war, hatte er so viel mehr zu verlieren.

Rhage kniete sich vor sie. Bitty hatte die Arme um den Körper geschlungen, und ihr Blick war streng, als wollte sie sich nicht mit irgendwelchem Blödsinn abspeisen lassen.

Er machte den Mund auf und …

… schloss ihn wieder. Er fragte sich, was er tun musste, um sein Hirn in Gang zu setzen. Vielleicht den Kopf gegen die Wand rammen?

»Du kennst mein Auto«, hörte er sich sagen.

Bitty nickte, und Rhage musste an Puskar Nepal denken, der sich selbst gegen den Kopf trat: Fiel ihm allen Ernstes nichts Besseres ein als sein bescheuerter GTO? Mehr hatte sein Unterbewusstsein nicht auf Lager, oder wer auch immer den Laden schmiss?

»Weißt du noch, wie ich dir das Fahren beigebracht habe?«

Ja, Bitty, das war kurz bevor Mary von ein paar Kids angegriffen wurde und du herausgefunden hast, dass ich mich manchmal in einen Drachen verwandle. Ha, ha, das war lustig, oder?

Mann, es war wirklich zum Kotzen.

Als sie wieder nickte, sagte er: »Weißt du noch, wie du gelernt hast, mit Kupplung und Steuer umzugehen? Zu bremsen? Wie wir hin und her gefahren sind, bis du es raushattest?«

»Ja.«

»Weißt du, wie ich dieses Auto fahre?«

»Oh ja.« Jetzt lächelte sie. »Schnell. Sehr schnell und cool. Wie eine Rakete.«

»Also, eines Tages wirst du dieses Auto genauso gut fahren wie ich. Du wirst ein Gefühl dafür haben, wo die Gänge sind, und du wirst Kupplung und Gaspedal treten, ohne einen Gedanken daran zu verlieren. Und wenn vor dir jemand ausschert, wirst du so schnell und sicher reagieren, dass du noch nicht einmal merkst, wie du darüber nachdenkst. Wenn jemand auf die Bremse tritt, wirst du instinktiv die Spur wechseln. Du wirst spüren, wenn die Reifen auf regennasser Straße nicht mehr greifen, und du wirst wissen, dass du vom Gas gehen musst, aber nicht bremsen darfst. Und all das wird ganz automatisch geschehen, weil du mit einem fabelhaften Fahrzeug geübt hast, immer und immer wieder.«

»Ich werde üben. Deshalb werde ich besser fahren.«

»Genau. Selbst wenn die Leute um dich herum unvorsichtig sind, wirst du konzentriert sein und es merken und genau das Richtige tun, egal was kommt.« Er legte die Hand auf die Dolche, die über seinem Herzen festgeschnallt waren. »Ich kämpfe seit einem Jahrhundert da draußen, Bitty. Und alles, was ich mit in die Schlacht nehme – die Waffen, die Ausrüstung, die Unterstützung meiner Brüder –, all das ist darauf ausgerichtet, dass mir nichts passiert. Natürlich ist es keine Garantie, aber es ist das Beste, was möglich ist, das verspreche ich dir.«

Bittys Arme lösten sich von ihrem Körper, und sie sah zu Boden. Die rosafarbenen und grünen Perlen an ihrem Armband glitzerten wie Juwelen. Sie drehte es an ihrem Handgelenk und holte tief Luft.

»Bist du … gut? Im Kämpfen, meine ich.«

Beim Schleier, er wünschte, er wäre Buchhalter. Denn wäre er Zahlenakrobat, müsste er seiner unschuldigen Tochter nicht erklären, dass er ein echtes Talent fürs Töten hatte.

»Bist du?«, bohrte sie.

»Ich bin sehr gut darin, mich und meine Brüder zu beschützen. Sogar so gut, dass ich jetzt jüngeren Vampiren beibringe, wie man es macht.«

Sie nickte einmal mehr. »Davon habe ich gehört. Beim Letzten Mahl gestern. Da wurde darüber geredet, dass du und die anderen Brüder unterrichten.«

»Dahin bin ich gerade unterwegs. Während du hier bei Bella und Nalla bist, treffe ich die Trainingsschüler in der Stadt und zeige ihnen, worauf man achten muss.«

Bitty neigte den Kopf, und ihr braunes Haar fiel in Kaskaden über ihre Schultern. Rhage ließ sie schauen, solange sie wollte. Wen kümmerte es, wenn er deswegen ein bisschen zu spät zur Arbeit kam.

»Du musst wirklich gut darin sein, wenn du es anderen beibringst.«

»Das bin ich, ich schwöre es dir, Bitty. Ich bin effektiv und riskiere nur, was unbedingt nötig ist, um meine Arbeit zu erledigen.«

»Und die Bestie schützt dich, oder?«

Rhage nickte. »Und ob. Du hast ihn ja gesehen. Du weißt, wie er ist.«

Sie lächelte, und es war, als ginge die Sonne auf und vertriebe sämtliche Sorgen. »Er mag mich.«

»Er liebt dich. Aber er mag es gar nicht, wenn mir jemand blöd kommt.«

»Das beruhigt mich.«

»Gut.« Er hob die Hände, und als sie ihn abklatschte, sagte er: »Du wirst nie alleine sein, Bitty. Das verspreche ich dir.«

In diesem Moment hätte er ihr nur zu gern alle Angst genommen – und sich gleich mit – und ihr das eine verraten, was Bitty noch nicht von ihren Pflegeeltern wusste. Es stimmte, ihr neuer Daddy beherbergte einen Drachen unter seiner Haut, aber ihre neue Mom hütete ein noch viel cooleres Geheimnis.

Mary war auf einzigartige Weise unsterblich. Dank der Jungfrau der Schrift alterte sie nicht und konnte sich aussuchen, wann sie in den Schleier eintrat. An diesem Versprechen hatte sich nichts geändert, obwohl Vs Mahmen abgedankt hatte. Es war ein Geschenk von unermesslichem Wert, das diese Familie unter allen anderen hervorhob.

Doch Rhage schwieg. Bitty hätte dieses Wissen in diesem Moment sicher geholfen, doch er musste es Mary überlassen, ihr Geheimnis zu lüften.

»Du wirst nie alleine sein, Bitty«, wiederholte er. »Ich schwöre es dir.«

Mary setzte sich an ihren Schreibtisch im Refugium, stellte ihre Tasche ab und wand sich aus ihrem Parka. Dann zog sie die Ärmel ihres Rollkragenpullis zurecht und lächelte beim Anblick des rosa-grünen Armbands, das an ihrem Handgelenk glitzerte.

Vor ein paar Nächten hatte sie mit Bitty Armbänder im Partnerlook aufgefädelt, in der Küche von Fritz, ein Schmuckbastelset verteilt über den rustikalen Tisch, mit schillernden Perlen in allen Farben in kleinen durchsichtigen Plastikdöschen. Sie hatten über alles und nichts geredet und jeden begrüßt, der in die Küche gekommen war. Dazu hatten sie eine Tüte Pizzacracker geknabbert und Limonade getrunken. Außerdem hatten sie eine Kette für Rhage gemacht, ein Armband in anderen Farben für Lassiter und ein geflochtenes Perlenband für Nalla zum Spielen. Sogar Boo hatte sich zu ihnen gesellt, sich zusammengerollt und ihnen aus grünen Kateraugen zugesehen.

Und keine der Kostbarkeiten in diesem Haus war so wertvoll gewesen wie die gemeinsame Zeit.

Mary hob ein Foto von Bitty vom Tisch auf, ein Selfie, das sie vor zwei Wochen mit Rhages Handy aufgenommen hatte. Bitty schnitt darauf eine Grimasse, hatte das dunkle Haar zurückgekämmt und sah aus wie aus einer Glam-Metal-Band aus den Achtzigern. Und tatsächlich war auch Lassiter mit im Bild, er stand links und poste als Nikki Sixx.

Unvermittelt stiegen Mary Tränen in die Augen. Sie hatte nie erwartet, eines Tages Bilder ihrer Tochter auf dem Schreibtisch stehen zu haben. Nein, diese hypothetische gesegnete fremde Person, diese vom Glück verwöhnte Frau, die Mann und Kinder hatte, sich auf den nächsten Urlaub freute und selbstgebastelten Schmuck trug, war immer eine andere gewesen, eine, die man aus einer Fernsehserie oder aus Werbespots für Küchengeräte kannte, oder über die am Nachbartisch im Restaurant geredet wurde.

Während man selbst alleine aß.

Mary Luce dagegen war die Krankenschwester, die für ihre kranke Mutter sorgte, bis sie viel zu früh und auf schreckliche Weise starb. Mary Luce war die Frau, die den Krebs durch Chemotherapie besiegte, jedoch zum Preis ihrer Fruchtbarkeit. Mary Luce war ein Geist am Rande des Geschehens, der Schatten, der unbemerkt durch den Raum strich, die Zukurzgekommene, mit der niemand tauschen wollte.

Doch dann hatte ihr Leben eine Hundertachtziggradwendung nach der anderen genommen, und heute hatte sie all das, wovon sie früher nicht einmal zu träumen wagte.

Und ja, dieses unerwartete Glück war mit einer ordentlichen Portion posttraumatischer Belastungsstörung verbunden. Denn manchmal, wenn sie neben ihrem umwerfend gutaussehenden Vampirgatten aufwachte, und besonders jetzt, wenn sie abends auf Zehenspitzen ins Nebenzimmer schlich, um nach Bitty zu sehen, ergriff sie plötzlich Panik, sie könnte aufwachen und sich im Albtraum ihres echten Lebens wiederfinden.

Stopp, dachte sie und stellte das Foto wieder zurück. Sie war bereits wach. Das hier war ihr echtes Leben.

Und es war … einfach fantastisch. Angefüllt mit Liebe, Familie und Glück. Es war ein Gefühl, als würde die Sonne mitten in ihrer Brust erstrahlen.

Sie hatten alle ihren Leidensweg hinter sich, sie, Rhage und Bitty. Mary durch ihre Krankheit, Rhage durch den Fluch, mit dem er leben musste, Bitty durch einen unvorstellbar grausamen Vater, unter dem sie und ihre Mahmen jahrelang gelitten hatten. Hier im Refugium hatten sich die Fäden ihres Schicksals miteinander verwoben, als Bitty und ihre Mahmen Schutz gesucht hatten. Und dann war Bittys Mahmen gestorben und hatte das Mädchen als Waise zurückgelassen.

Die Gelegenheit, das Mädchen bei sich aufzunehmen, hatte zu schön gewirkt, um wahr zu sein. Und dieses Gefühl war Mary noch immer nicht ganz losgeworden.

Wenn sie die sechsmonatige Wartezeit als Pflegeeltern überstanden, war die Adoption endgültig, und Mary könnte tief durchatmen. Wenigstens hatten sich keine Verwandten gemeldet. Zu Beginn hatte Bitty zwar von einem Onkel gesprochen, doch ihre Mahmen hatte nie einen Bruder oder andere Verwandte erwähnt, weder bei der Aufnahme im Refugium noch bei den Therapiesitzungen. Und bisher hatte es keine Antworten auf Marys Aufrufe auf den Seiten der Vampire bei Facebook und Yahoo gegeben.

Hoffentlich blieb es dabei.

Apropos, Mary loggte sich in ihren Computer ein, und sofort begann ihr Herz zu klopfen, und ihr Magen zog sich zusammen. Sie war absolute Amateurin, was soziale Netzwerke betraf, eine Anti-Kardashian – und doch ging sie jede Nacht, wenn auch nur einmal, auf Facebook.

Und betete, dass sie nichts fand.

Es war eine geschlossene Facebook-Gruppe, in die sie sich einloggte, nur Vampiren zugänglich und ganz den Belangen der Spezies gewidmet. V hatte sie nach den Plünderungen ins Leben gerufen, und jetzt wurde sie von Fritz’ Belegschaft gepflegt. Sie war ein Forum für Vampire, auf dem sie sich über alles Mögliche austauschen konnten, von den Adressen sicherer Häuser – immer kodiert – bis hin zu Flohmärkten.

Sie überflog die Posts der letzten vierundzwanzig Stunden und atmete auf. Nichts.

Vor Erleichterung wurde ihr ganz schwindelig – bis sie die Yahoo-Gruppe prüfte. Ein Schmortopf-Rezept … Treffen der Strick-Gruppe … Schneefräse zu verkaufen … Suche nach Tipps, wo man einen Computer reparieren lassen kann …

Auch nichts.

»Lieber Gott, ich danke dir«, flüsterte sie und setzte ein neues kleines Häkchen in ihren Wandkalender.

Der Dezember war fast vorbei, das hieß, sie hatten bald schon zwei Monate überstanden. Ab Mai konnten sie dann endlich nach vorne schauen.

Langsam beruhigte sich ihr Herz wieder, doch sie fragte sich, wie sie diese IT-Zitterpartie noch weitere hundertdreißig Mal durchstehen sollte. Leider blieb ihnen keine Wahl. Wenigstens gelang es ihr, sich an ihre selbst aufgestellte Regel zu halten und nur einmal am Tag nachzusehen. Andernfalls würde sie im Viertelstundentakt ihr verdammtes Handy checken.

Doch sie musste fair gegenüber möglichen Angehörigen sein. Elternrechte von Blutsverwandten zu tilgen war eine schwerwiegende Angelegenheit, und nachdem es bei den Vampiren keine Präzedenzfälle aus jüngerer Zeit gab, an denen man sich orientieren hätte können, hatten sie, Marissa, als Leiterin des Refugiums, Wrath, der Blinde König, und Saxton, königlicher Rechtsberater, eine Prozedur festlegen müssen, die eine angemessene Frist bot.

Leider hielten sich Gefühle nicht an Wartefristen, und Mamas und Papas, die ihre Kinder liebten, konnten ihre Herzen nicht zügeln.

Als könnte Marissa Gedanken lesen, steckte sie den Kopf durch die offene Tür. »Und?«

Mary lächelte ihre Chefin und Freundin an. »Nichts. Ich schwöre, ich habe den Mai noch nie so herbeigesehnt wie jetzt.«

»Weißt du, ich hatte immer ein gutes Gefühl bei der Sache.«

»Ich will das Schicksal nicht herausfordern, deshalb sage ich lieber nichts.« Marys Blick wanderte erneut zum Kalender. »Ach ja, ich bin morgen Nacht nicht hier. Bitty muss zu ihrer Untersuchung.«

»Das ist in Ordnung. Viel Glück dabei. Wirklich schade, dass du deswegen den weiten Weg zu Havers fahren musst.«

»Doc Jane meint, ihr fehlen einfach die Wissensgrundlagen. Die Vampir-Pädiatrie scheint es in sich zu haben.«

Marissa lächelte freundlich. »Keine Sorge. Mein Verhältnis zu meinem Bruder mag nicht ganz einfach sein, aber an seinen Fähigkeiten als Arzt habe ich nie gezweifelt. Bei ihm ist Bitty in besten Händen.«

»Ich würde sie wirklich lieber in der Klinik im Trainingszentrum untersuchen lassen. Aber letztlich müssen wir tun, was das Beste für sie ist.«

»Das nennt sich ›gute Eltern sein‹.«

Mary betrachtete ihr Armband. »Wir wollen es hoffen.«

3

»Elise, erzähl mir nicht, dass du an der Universität warst!«

Ihr Vater stürmte aus dem Arbeitszimmer auf sie zu und ähnelte dabei so sehr einem wild gewordenen Stier, wie es einem schmallippigen, distinguierten Aristokraten möglich war – also tatsächlich weniger einem wilden Stier als einem zarten Prinzen, der versuchte, seinen Hofdiener herbeizuwinken. Doch das Gesicht von Felixe dem Jüngeren war auf äußerst untypische Weise rot angelaufen, und er vergaß, sein Sakko zuzuknöpfen.

Ein gewöhnlicher Mann hätte vermutlich mit Möbelstücken um sich geworfen und Flüche ausgestoßen.

Als sie ihm so gegenüberstand, musste sie plötzlich an Major Charles Emerson Winchester III aus M*A*S*H* denken, wie er sagte: »Ich bin ein Winchester, Winchesters schwitzen nicht.«

Oder irgendwie so. Man musste ihn einfach lieben.

»Erkläre dich!«

Es gab mehrere Möglichkeiten, mit dieser Situation umzugehen. Elise konnte versuchen, alles abzustreiten. Doch das würde schwierig werden, mit einem Rucksack auf der Schulter und diesen dummen Schneeflocken überall, nachdem sie angekündigt hatte, zu Hause zu bleiben und zu lesen. Außerdem hasste sie Lügen. Eine weitere Möglichkeit wäre es, einfach weiterzugehen, aber das war ausgeschlossen. Ihre gute Erziehung verbot es ihr, sich respektlos gegenüber ihren Eltern zu verhalten.

Also blieb nur die dritte Möglichkeit.

Die Wahrheit.

»IchbinwiederanderUni.« Als sich ihr Vater auf sie zubeugte, wiederholte sie ihren Satz etwas langsamer und lauter. »Ja, ich bin wieder an der Uni.«

Ihr Vater verfiel in Schockstarre, und sie musterte ihn, als wäre er ein Fremder. Er hatte ein aristokratisches Gesicht, dem man die lange erlesene Ahnenreihe ansah. Seine feinen Züge zeugten flüsternd von Maskulinität, anstatt sie herauszuschreien. Sein Haar war dunkel, während ihres blond gesträhnt war, seine Augen waren hellgrau, nicht blau. Aber ihr Ausdruck war identisch, genauso wie ihre aufrechte Haltung, ihre beherrschte Art … und ihre Wertvorstellungen.

Und deshalb hatte Elise durchaus das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben. Obwohl sie ihre Transition schon hinter sich hatte, also praktisch volljährig war, besonders an menschlichen Standards gemessen, und sie nichts Schlimmeres verbrochen hatte, als drei Stunden lang in einer ruhigen Bibliothek zu sitzen und Arbeiten zu korrigieren.

»Bist du … hast du … wie kannst du …« Es dauerte eine Weile, bis ihr Vater einen vollständigen Satz hervorbrachte. »Ich hatte es dir verboten! Nach den Plünderungen habe ich dir explizit erklärt, dass es zu gefährlich ist und dass dir nicht erlaubt ist zu gehen! Und das war noch bevor …«

Elise schloss die Augen. Der letzte Satz wurde nicht zu Ende geführt, denn er betraf das, was nicht ausgesprochen werden durfte.

Seit der Nachricht von Allishons Tod war ihr Name nicht mehr gefallen. Sie hatte nicht einmal eine Schleierzeremonie bekommen.

»Also«, sagte er herausfordernd. »Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«

»Es tut mir leid, Vater, aber ich …«

»Wie kannst du es wagen! Wäre deine Mahmen noch am Leben, sie würde rasen vor Wut! Wie lange geht das nun schon?«

»Seit einem Jahr.«

»Einem Jahr!«

In diesem Moment kam der Butler aus dem hinteren Teil des Hauses geeilt, als hätte er den Aufruhr bemerkt und wäre besorgt, ein Verrückter könnte in das Haus eingedrungen sein, das unter seiner Fürsorge stand. Doch als er ihren Vater sah, brachte er sich so schnell in Sicherheit wie eine Maus vor einer Katze.

»Seit einem Jahr gehst du wieder an die Uni?«, flüsterte ihr Vater mit bebender Stimme. »Wie bist du – du hast mich angelogen? All die Zeit!«

Elise ließ den Rucksack von der Schulter gleiten und stellte ihn zwischen die Füße. »Was hätte ich denn tun sollen, Vater?«

»Hierbleiben! Caldwell ist gefährlich!«

»Aber die Plünderungen sind vorbei. Außerdem haben die Jäger die Häuser der Vampire angegriffen, nicht die der Menschen. Es ist eine Menschenuni …«

»Menschen sind Barbaren! Du weißt genau, was sie einander antun! Du siehst die Nachrichten – die Waffen, die Gewalt! Selbst wenn sie dich nicht angreifen, weil du einer anderen Spezies angehörst, kannst du jederzeit ins Kreuzfeuer geraten!«

Elise blickte zur Decke hoch über ihr und suchte nach Worten, um dieser ganzen Situation zu entgehen.

»Wir regeln das nicht hier.« Ihr Vater senkte die Stimme. »In mein Arbeitszimmer. Sofort.«

Er deutete auf die offene Tür, und Elise nahm ihren Rucksack und ging darauf zu. Ihr Vater folgte ihr dicht auf den Fersen, und sie war nicht überrascht, als sich die reich verzierte Tür hinter ihnen schloss.

Es war ein schönes Zimmer. Im Kamin brannte ein fröhliches Feuer und warf seinen flackernden Schein auf Ledersessel, Regale aus Mahagoni, bestückt mit Erstausgaben, und Ölporträts der Jagdhunde, die ihr Vater im Alten Land besessen hatte.

»Setz dich«, blaffte er, wenn auch nicht laut.

Sie wusste genau, an welchem Platz er sie wollte, und ging zu dem antiken Sessel ihm gegenüber am Schreibtisch. Als sie sich auf dem Polster niederließ, achtete sie darauf, ihren Rucksack dicht bei sich zu behalten. Sie wollte auf keinen Fall, dass er ihn ihr wegnahm.

Er war Symbol für ihre Freiheit.

Felixe setzte sich und verschränkte die Finger, als hätte er Mühe, sich zu beherrschen. »Du weißt genau, was passiert, wenn eine Vampirin unbegleitet aus dem Haus geht.«

Elise blickte erneut zur Decke und achtete darauf, nicht zu laut zu reden. »Ich bin nicht wie Allishon.«

»Du treibst dich in der Menschenwelt herum. Genau wie sie.«

»Ich weiß, wo sie war. Nicht an der Universität, Vater.«

»Ich werde nicht über Einzelheiten streiten, genauso wenig wie du. Du wirst mir jetzt schwören, dass du mein Vertrauen nicht mehr missbrauchst. Dass du hierbleiben wirst und …«

Ohne es zu wollen, war Elise aus dem Sessel aufgesprungen. »Ich will mein Leben nicht vergeuden, indem ich hier Nacht für Nacht sitze, nirgends hingehe und nichts tue, als zu sticken. Ich möchte meinen Doktor machen und abschließen, was ich begonnen habe. Ich möchte leben!«

Ihr Vater wich zurück, offenkundig nicht minder überrascht von ihrem Ausbruch wie sie selbst. Um ihre Rebellion zu entschärfen, ließ sich Elise zurück in den Sessel sinken. »Es tut mir leid, Vater. Ich will nicht unbesonnen sein, es ist nur … warum kannst du nicht verstehen, dass ich die Freiheit haben will zu leben?«

»Es ist deinem Stand nicht angemessen, und das weißt du genau. Ich war mehr als nachsichtig dir gegenüber, aber das ist jetzt vorbei. Ich werde nach einem passenden Partner für dich Ausschau halten …«

Elise ließ den Kopf zurückfallen. »Ich will mehr als das, Vater.«

»Deine Cousine ist tot. Dabei hatte die Familie schon einen Sohn bei den Plünderungen verloren! In diesem Haus kannst du Nacht für Nacht sehen, wie ihre Eltern leiden! Willst du mir das etwa auch antun? Bedeute ich dir so wenig, dass es dir gleich ist, wenn ich um meine einzige Tochter trauern muss, obwohl ich bereits meine Shellan verloren habe?«

Elise unterdrückte ein Stöhnen und blickte über den Tisch. Die Gegenstände darauf – die silbergerahmten Bilder von ihr und ihrer Mahmen, die Stifte in ihren Behältern, der Aschenbecher, in dem eine seiner Pfeifen stand – waren ihr so vertraut wie die eigenen Handrücken, sie kannte sie, solange sie denken konnte. Sie gehörten zum Komfort des Hauses, waren Symbole für die Sicherheit, die sie schätzte und der sie sich doch gleichzeitig entziehen wollte.

»Also?«, sagte ihr Vater. »Willst du mir das antun?«

»Ich möchte vor allem über sie reden.« Elise beugte sich vor. »Niemand spricht über Allishon. Ich weiß noch nicht einmal, wie sie gestorben ist. Peyton kam hierher und hat hinter verschlossenen Türen mit euch geredet – und dann wurde ihr Zimmer verschlossen, Tante verlässt seitdem nicht mehr das Bett, und Onkel sieht aus wie ein Zombie. Niemand erzählt mir etwas. Es findet keine Schleierzeremonie statt, keine Trauer, es gibt nur diese ungreifbare Leere, unter der wir alle leiden. Warum können wir nicht einfach darüber reden und ehrlich sein …«

»Hier geht es nicht um deine Cousine …«

»Sie heißt Allishon. Warum kannst du ihren Namen nicht aussprechen?«

Die dünnen Lippen ihres Vaters wurden noch dünner. »Versuch nicht, mich vom eigentlichen Problem abzulenken. Nämlich dass du mich anlügst und dich in Gefahr bringst. Was deiner Cousine zugestoßen ist, liegt in der Vergangenheit. Es gibt keinen Grund, darüber zu reden.«

Elise schüttelte den Kopf. »Du irrst dich. Und wenn du mich anhand ihres tragischen Todes von etwas überzeugen willst, solltest du mir besser sagen, was eigentlich passiert ist.«

»Ich muss dir gar nichts erklären.« Ihr Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass eines der gerahmten Fotos hüpfte. »Du bist meine Tochter. Das allein reicht.«

»Warum hast du solche Angst, über sie zu reden?«

»Diese Unterhaltung ist beendet …«

»Liegt es daran, dass du denkst, sie hätte den Tod verdient?« Elise merkte, dass sie angefangen hatte zu zittern, als sie endlich aussprach, was ihr seit Wochen durch den Kopf spukte. »Wird in diesem Haus geschwiegen, weil ihr alle ihr Verhalten missbilligt habt und jetzt nicht traurig seid, dass es zu ihrem Tod geführt hat, sondern wütend? Wütend, weil es dem Ansehen unserer Familie schaden könnte?«

»Elise! Du wurdest nicht dazu erzogen …«

»Allishon ist ausgegangen. Sie hat sich mit Vampiren getroffen, die nicht der Glymera angehörten, und mit Menschen verkehrt …«

»Es reicht!«

»… und jetzt ist sie tot. Sag mir ehrlich, hast du wirklich Angst, dass mir etwas zustoßen könnte – oder geht es nicht vielmehr um deinen Ruf und den der Familie? Eine Tochter, die aus dem Ruder läuft und tragisch endet, wird irgendwann vergeben, aber niemals zwei. Ist es das, Vater? Denn wenn dem so ist, erscheint mir das viel schäbiger als mein Wunsch nach einer Ausbildung.«

Als Axe aus dem Keys kam, hing der Geruch dieser Menschenfrau an seiner Haut. Er trat aus dem weitläufigen Gebäudekomplex, atmete die kalte frische Luft ein und spürte, wie sein aufgeheizter Körper unter dem Umhang dampfte. Schnee fiel aus einer dichten Wolkendecke, und überall um ihn herum pulsierte das Leben der Stadt: Sirenen klangen in der Ferne, Musik drang wummernd aus dem Club, der Verkehr auf dem Northway rumpelte vorbei.

Er wollte nach Hause und duschen und sich von dem schmutzigen Sex mit ihr reinwaschen, aber dafür war nicht genug Zeit.

Er suchte sich einen schattigen Fleck, riss sich die neue Totenkopfmaske herunter, die er selbst gebastelt hatte, und stopfte sie in den Umhang. Dann nahm er das schwere Ding von den Schultern, zog ein schwarzes ärmelloses Shirt aus einer Innentasche und zog es an. Seine Waffen und Holster waren in weiteren Taschen versteckt, die mit Klett verschlossen waren. Er holte sie heraus, bewaffnete sich und faltete den voluminösen Umhang ein, sodass er von außen wie ein einfacher halblanger Mantel aussah.

Dann dematerialisierte er sich in eine Gasse elf Blocks weiter. Im übelsten Viertel von Caldwell.

Er war nicht der erste Trainingsschüler, der zum vereinbarten Treffpunkt kam. Peyton und Boone waren schon da und standen unter einer Feuerleiter. Auch sie trugen Schwarz und waren schwer bewaffnet, aber im Gegensatz zu Axe rochen sie nicht nach Sex.

Peyton roch noch nicht einmal nach Gras oder Alkohol, was ein verdammtes Wunder war.

Der Typ grinste. »Na, beschäftigt gewesen?«

»Ganz und gar nicht.« Axe schlug mit ihm ein und dann mit Boone. »Wo sind die anderen?«

Peyton lächelte und zeigte seine Fänge. Der Kerl war ein Adelssohn wie aus dem Bilderbuch – also genau die Sorte Arschloch, die Axe schon rein aus Prinzip hasste. Reich, blond, gepflegte Nägel und in seiner Freizeit gekleidet wie der Zoolander. Peyton war ein Wichser. Das einzig Positive an ihm war, dass er verdammt gut schoss und entweder zu eingebildet oder zu dumm war, um seine Grenzen zu kennen: Im Training kämpfte er genauso hart wie alle anderen, ging viel zu viele Risiken ein und steigerte sich so in Rage, dass er Axe an einen Lamborghini erinnerte, dem die Hälfte der Reifen fehlten, der größte Teil des Unterbaus und sämtliche Bremsen.

Mit Kurs auf eine Betonwand.

Damit war Peyton, erstgeborener Sohn von Peythone, die Ausnahme von der Regel, dass Aristokraten nichts im Krieg verloren hatten.

Trotzdem würde er nie ein guter Kumpel von Axe werden.

Was allerdings auch für den Rest der Welt galt.