Teufelsbraut - Sabineee Berger - E-Book
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Sabineee Berger

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Beschreibung

„Der schönste Tag meines Lebens war der, als ich starb … auch wenn danach die Hölle losbrach.“ Genauso beschreibt Cindy Wallenstein ihren Wandel, nachdem sie an einem scheinbar tödlichen Stromschlag als völlig neuer Mensch erwacht. Allerdings stellt sich sehr rasch heraus, dass sie dieses neue Leben mit dem perfekten Körper nur einem zu verdanken hat, nämlich keinem Geringeren als Azazel höchstpersönlich! Der Teufel wird demnach ihr neuer Arbeitgeber. Doch von ihrer wahren Aufgabe erfährt Cindy erst, als Azazel plötzlich spurlos verschwindet und sie gemeinsam mit dem (überraschend jungen) ältesten Wächter der Gilde nach ihm suchen muss. Dabei riskiert sie allerdings nicht nur ihre Seele und ihr Herz, sondern auch die Apokalypse, die seit Jahrtausenden in einer Prophezeiung angekündigt wurde.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1.Kapitel

2.Kapitel

3.Kapitel

4.Kapitel

5.Kapitel

6.Kapitel

7.Kapitel

8.Kapitel

9.Kapitel

10.Kapitel

Prolog

„Der schönste Tag meines Lebens

war der, als ich starb…

auch, wenn danach die Hölle losbrach.“

Die Wächter waren hinter ihm her.

Ein schneller Blick in den Rückspiegel zeigte ihm deutlich, dass sie immer mehr aufholten. Zwei, drei Autos trennten sie noch, doch er wusste, was für Teufel sich hinter dem Steuer befanden. Wer selbst kein Stuntman oder Rallyefahrer war, der hatte gegen diese Brut keine Chance.

„Verdammt!“, fluchte er laut und hieb auf das Lenkrad ein. „Ich bin der Falsche!“, brüllte er in die Richtung seines Beifahrersitzes, obwohl er in seinem lächerlich schwachen BMW alleine war. Das Auto war ein Witz. Sein ganzes Leben war es gewesen und dann DAS! Warum nur hatten sie es so schnell auf ihn abgesehen? Eigentlich hätte er doch noch das neuere Modell, das mit dem M6-Motor und den 1001 PS bekommen sollen.

Er zitterte und als er seinen Fokus im Rückspiegel von den Verfolgern hinter sich auf sein eigenes Spiegelbild richtete, sah er das blanke Entsetzen in seinen Augen. Heinrich war gerade einmal 45 Jahre alt und im besten Mannesalter, aber so wie es derzeit aussah, würde er die nächsten zehn Minuten nicht mehr überleben.

„Vermaledeite Teufelsbrut!“, fluchte er und fing an zu lachen. „Aber euch werde ich es zeigen! Ihr bekommt mich nicht! Ihr nicht!“, kreischte er und fuhr bewusst ungebremst bei Rot über die Kreuzung. Es war ein spontaner Entschluss und es gab kein Anhalten und Zögern, nur Rücksichtslosigkeit und … Vollgas. Sollte doch Gott entscheiden oder sonst wer, was zu passieren hatte! Mit ihm, versteht sich, denn andere Menschen waren ihm nicht wichtig. Letztendlich standen doch alle nur für sich und waren alleine.

Reifen quietschten, irgendwer hupte panisch. Heinrich hielt die Luft an und schloss für einen Moment seine Augen. Wenn er ehrlich war, konnte er das Gefühl sogar einen Moment genießen. Es war ein Kick und auch irgendwie erregend. Alles loszulassen, die Kontrolle aufzugeben, nichts mehr zu verlieren zu haben. Der kalte Schweiß war ein wenig unangenehm, aber für einen Moment … für einen winzig kleinen Moment rauschte das Adrenalin durch seine Venen und er konnte so etwas wie Freiheit fühlen.

Doch wie durch ein Wunder ging alles gut. Er flitzte mit seinem BMW geradewegs durch all das Chaos hindurch, das er anrichtete, streifte kein anderes Auto, erwischte keinen Fußgänger und kam am anderen Ende der Kreuzung heil an. Als hätte eine höhere Macht ihn oder alle anderen Verkehrsteilnehmer beschützt … oder speziell ihn boshaft am Leben gelassen, um sich an seinem bevorstehenden, qualvollen Ende durch die Teufelsbrut zu erfreuen.

„Das gibt’s doch nicht!“, schrie er verblüfft und lachte im ersten Moment sogar laut auf, weil er noch am Leben war. Er schlug auf das Lenkrad und warf einen Blick in den Rückspiegel, wo zwei Autos seltsam verdreht auf der Kreuzung standen. „Gibt’s doch nicht“, murmelte er erneut, denn solch ein Selbstmordkommando mit Vollgas und geschlossenen Augen überlebte man im Normalfall nicht. Zur Freude gab es jedoch keinen richtigen Grund, denn ein ordentlicher Verkehrsunfall wäre zumindest eine Möglichkeit für einen schnellen Tod gewesen. Rücksichtslos und ungerecht für andere, aber warum sollte ihn das scheren? Ihn scherte nur, dass er genau diese Möglichkeit nun nicht mehr hatte.

Sie waren hinter ihm her, also war seine Zeit abgelaufen. Diese Erkenntnis holte ihn schlagartig ein und ließ ihn erzittern. Das bevorstehende Ende und die mögliche Höllenqual schlugen förmlich über seinem Kopf zusammen und brachten ihn zum Heulen. Angst schnürte ihm die Kehle zu und er machte sich gerade in die Hose. Ausgiebig. Bis zum letzten Tropfen.

Doch letztendlich trat er so heftig auf die Bremse, dass er seinen BMW schleudernd am Straßenrand zum Stillstand brachte. Schönes Einparken war in seinen Augen überflüssig.

„Nichts macht mehr Sinn …“, murmelte er mit starrem Blick und schüttelte den Kopf. Im Wagen verbreitete sich bereits der Geruch von Angst, Schweiß und Urin. „Ich kann einfach nicht mehr“, krächzte er weiter und sein ganzer Leib zitterte, weil er unter Schock stand. „So schnell hätte das nicht passieren dürfen! Ich habe doch … ich habe doch noch keinen neuen BMW“, jammerte er und war sich sogar bewusst, dass er die letzten Wochen seines Lebens ausschließlich auf dieses ‚leblose‘ Ziel ausgerichtet gehabt hatte. Als wäre ein wenig Blech und ein M6-Motor tatsächlich das Wichtigste im Leben eines Mannes! Seine Hände waren knallrot, weil er immer wieder fest auf das Lenkrad geschlagen hatte und seine Augen brannten, waren unnatürlich groß und verquollen. Ob er sich am Ende doch geirrt hatte? Mit allem? Ein Auto hatte das andere abgelöst, nichts war wirklich lange von Dauer und genug gewesen, ständig hatte er mehr gewollt, sich getrieben gefühlt. Und das alles wegen ein bisschen Blech? In dem Moment überlegte er zum ersten Mal, ob er nicht kostbare Zeit mit einer Illusion verschwendet hatte. Mit etwas, das doch eigentlich nicht wichtig war.

„Auch schon egal“, keuchte er angewidert, denn er war längst am Ende. Vollkommen und ganz am Ende.

Als jemand heftig an seine Fensterscheibe klopfte, meinte er sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Sie sind da … dachte er panisch und beobachtete mit völlig irrem Blick, wie seine Hand – ohne bewusstes, willentliches Zutun – den Fensterknopf betätigte, um die Scheibe herunterzufahren. Es war eine automatische Handlung, denn er hatte tatsächlich längst mit allem abgeschlossen. Noch während das Fenster abwärts in die Türverkleidung des Wagens glitt, brüllte ein Mann von außen aufgebracht in das Innere.

„Sie wissen schon, dass Sie bei Rot über die Kreuzung gerast sind?“, blaffte der Mann mit finsterem Gesicht und dunkler Uniform. Heinrich blinzelte verwirrt und kannte sich im ersten Moment gar nicht aus, … bis er den Mann nicht als Wächter des Teufels, sondern als Polizist erkannte. Was ihn dann spontan so amüsierte, dass er hysterisch zu lachen anfing.

Polizei? Ei, ei … lachte es irre in seinem Kopf, weil er nicht mehr klar denken konnte, sondern nur noch aus Angst, Lebensabschluss und Höllenschlund bestand.

Der Beamte bemerkte recht rasch den seltsamen Zustand des Mannes, sah den irren Blick, roch den beißenden Gestank, der aus dem Wagen kam und schaltete automatisch einen Gang höher. Unauffällig ließ er seine Hand zu seiner Waffe gleiten und stellte klare Forderungen.

„So … und jetzt die Hände auf das Lenkrad, damit ich sie sehen kann! Dann steigen Sie langsam … ganz langsam … aus, verstanden?“ Der Mann hatte eine befehlsgewohnte Stimme und seine Haltung war eine einzige Bedrohung, doch Heinrich achtete nicht darauf, befolgte auch keinen einzigen Befehl. Er lachte nur und steigerte sich in seine Hysterie, verschluckte sich und … erbrach sich im nächsten Moment auf den Beifahrersitz.

Der Polizist war in höchster Alarmbereitschaft und sehr achtsam, ging aber dann doch ein wenig auf Distanz und sah dem Häufchen Elend im Wagen angewidert zu. Als normalen Schock verbuchte er die Reaktion des Mannes nicht. In seinen Augen war er vermutlich bis oben hin zu mit Drogen oder krank, denn die Kotzerei im Wageninneren wollte kein Ende mehr nehmen. Niemand konnte sich derart verstellen oder so abartig lange und heftig erbrechen. Der Polizist verließ sich diesbezüglich auf seinen Instinkt. Vielleicht behielt er den Abstand zum Fenster aber auch bei, weil er gestern einen von diesen gruseligen Endzeitfilmen gesehen hatte, wo ein Virus die halbe Menschheit zu Zombies gemacht hatte. Das mulmige Gefühl zum Film saß ihm noch in den Knochen und wer wusste schon, ob die Krankheit des Mannes nicht ansteckend war?

Als der kranke Typ sich dann aufs Neue erbrach und sich dabei so heftig krümmte, als würde ihm jeden Moment der Bauch platzen, schrillten die Alarmglocken des Beamten bereits so deutlich, dass er seinen Abstand zum Wagen noch vergrößerte und zum Funkgerät griff. Irgendwo dachte er schon an Erste Hilfe, hatte aber vor allem seine eigene Gesundheit im Sinn. Der Mann in dem schicken BMW war ihm nicht geheuer, aber er alarmierte die Zentrale und forderte einen Krankenwagen. Immerhin. Ganz im Stich lassen, konnte er den Mann schließlich nicht, aber die Tür zum Wagen wollte er um nichts in der Welt öffnen. Auch wenn noch nie jemand wegen Brechdurchfall auf offener Straße gestorben war, so kam ihm die Situation dennoch so extrem vor, dass er damit rechnete. Schweiß stand ihm auf der Stirn und er hatte mit einem Mal unerklärliche, furchtbare Angst.

Zwölf Minuten später traf der Rettungswagen ein. Der Zentrale hatte der Polizist seinen dringenden Verdacht auf infektiöse Erkrankung mitgeteilt, woraufhin die Rettungskräfte sich entsprechend vorbereitet hatten. Die drei jungen Männer, die aus dem Wagen stiegen, hatten sich eine spezielle Schutzausrüstung übergezogen, die an ein weißes Ganzkörperkondom erinnerte, aber sicher nicht hundertprozentig dicht war. Sparmaßnahmen … dachte der Polizist und schüttelte den Kopf. Junge Menschen, die sich jeden Tag in Gefahr begeben, um andere zu retten. Insgeheim betete er für die Gesundheit dieser Männer, weil er so stark der Meinung war, dass der Idiot im Auto gleich zum Zombie werden und alle anstecken würde. Die Rettungssanitäter hatten ja noch nicht einmal so etwas wie Gasmasken umgeschnallt. Also nicht so, wie etwa in dem Film gestern. Sie trugen nur einfache OP-Gesichtsmasken. Dennoch waren sie eindeutig mehr geschützt, als er mit seiner einfachen Polizeiuniform. Pestilenz, dachte er die ganze Zeit, auch wenn der Begriff veraltet war und an Pest erinnerte, so hatte er speziell gerade an einen der vier apokalyptischen Reiter vor Augen. Warum auch immer und so verrückt das auch sein mochte.

„Ich muss aufhören solche Filme zu sehen!“, murmelte er leise, während er der Rettungsmannschaft aus sicherer Entfernung zusah. Seine Nackenhaare stellten sich dennoch vor Grauen auf, als der Notarzt nach fünf Minuten seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte und nur noch den Tod des Mannes feststellen konnte.

1.Kapitel

Es war einmal …

Vielleicht sollte sie aufhören daran zu glauben! In ihrem Leben hatte noch nie etwas mit „Es war einmal…“ begonnen oder mit einem Happy End geendet und ein Traumprinz war sowieso weit entfernt. Sie war keine schöne Frau. Sie war fett und hatte ihre besten Jahre hinter sich. Keine andere Beschreibung traf es besser und keine war schonungsloser. Doch es war ihr egal. Sie war des Lebens müde und eigentlich hatte sie nie wirklich Freude daran gehabt. Keine Stunde in den letzten 42 Jahren war es in ihren Augen wert gewesen zu leben. Es war nur ein Dahinsiechen und ein ‚Über-die-Runden-kommen‘, ein schlichter Ablauf von Körperfunktionen und wie das Wandeln in einer leblosen Hülle. Wer brauchte schon Horrorfilme über lebende Untote, wenn man selbst ein wandelnder Zombie war? Jahrelang hatte sie über derartige Splatterfilme gelacht und doch irgendwann begriffen, dass es solche Wesen tatsächlich gab und das … im alltäglichen Leben, also in der Wirklichkeit.

In jungen Jahren hatten ihre Schulkameradinnen Freunde gehabt. SIE NICHT.

Später waren sie dann alle verheiratet gewesen. SIE NICHT.

Mittlerweile war die Hälfte dieser Frauen wieder geschieden. SIE NICHT.

Wobei ihr schon auffiel, dass der letzte Punkt eigentlich einen positiven Aspekt hatte. Sie zuckte dennoch frustriert mit den Schultern, weil sie ihr Leben hasste und schon immer gehasst hatte. Sie war über 40 und noch Jungfrau. Halleluja, was für eine Niederlage! Kein Mann hatte sich je für sie interessiert. Nicht mal zum Spaß oder zum Schein. Und sie war auch schon einmal an einen Punkt angekommen, wo ihr das egal gewesen wäre. Doch wer behauptete, dass es immer Gelegenheiten gab und Frauen sowieso alle mal flachgelegt wurden, irrte sich. SIE war der lebende Beweis dafür. Der untote, lebende Beweis, weil sie sich ja für einen Zombie hielt. Denn, zu ihrem Unglück war sie nicht nur unschön, sondern auch schüchtern und schaffte es daher nicht sich anzubieten, aufzudrängen oder in ein besseres Licht zu rücken. Zum Glück aber hatte sie wenigstens eine Wohnung, ein Handy und einen Job, auch wenn damit ihr Lebensinhalt auch schon wieder aufhörte. Mehr an Leistung hatte sie nicht zu verbuchen, mehr an Kontakt auch nicht. Da gab es nur ein paar virtuelle Seiten und wenige Arbeitskollegen, mehr nicht. Haustiere konnte sie sich nicht leisten und allergisch war sie obendrein auf alles was Fell hatte. Katze und Hund kamen also nicht in Frage und auf Reptil oder Fisch stand sie nicht, außer wenn das Zeug schön knusprig auf dem Teller lag, mit einem Hauch von Chili.

Sie seufzte und dachte noch einmal an den Spruch mit dem alle Märchen anfingen. Nein! Sie wollte kein neues „Es war einmal …“ denken. Märchen gab es nicht und sie … sie sollte vielleicht einfach nur aufhören zu atmen! Jetzt und hier. Auf ihrer zerschlissenen, verschissenen Couch, dem scheiß flimmernden Fernseher und dem miefigen Geruch ihres kackbraunen Teppichs! Wie passend … dachte sie und konnte die Flut der Schimpfwörter und ihre Selbstgeißelung nicht stoppen. Einen kurzen Moment dachte sie an ein Messer in der Küche … groß genug, um ein Schwein abzustechen und auch groß genug, um sich selbst zu erledigen. Doch dann knirschte sie nur mit den Zähnen und rief sich in Erinnerung, dass sie kein Blut sehen konnte und zudem feige war. In Gedanken hatte sie sich schon oft umgebracht, doch in Wahrheit war es wohl dieser verrückte Anfang, mit dem alle guten Märchen anfingen, der sie allmählich in den Irrsinn trieb. Denn Märchen gaukelten einem vor, dass alles anders sein konnte. Fantastisch irgendwie, außergewöhnlich und schön. So voller Freude halt. Moderne Märchen oder Kunstmärchen hatten es ihr besonders angetan und sie hatte eine richtige Sucht danach entwickelt. Eine Sucht auf Flucht. Aus der Realität, hinein in die Möglichkeiten der Fantasie. Dabei handelten die meisten Kunstmärchen doch viel zu oft von attraktiven Frauen und noch schöneren Männern und alle hatten sie dann irgendwann den ultimativen Sex und die unglaublich intensive Seelenverwandtschaft.

Zum Kotzen war das, denn ihr persönliches IRGENDWANN würde wohl in diesem Leben nicht mehr in Erfüllung gehen. Und was bedeutete schon Attraktivität? Geschmäcker waren bekanntlich verschieden. Was der eine als schön empfand, war für den anderen ausschließlich ekelhaft. Und diese Bewertungsbandbreite konnte man wohl auf alle Bereiche des Lebens umlegen.

Ihre Arbeitskollegin zum Beispiel hatte stets von ihrem Vetter geschwärmt. Wie toll der nicht wäre und wie interessant. Blabla, äffte Cindy in Gedanken nach, weil sie den Mann einmal zufällig gesehen hatte und entsetzt gewesen war, wie wenig ansehnlich der dann im realen Leben gewesen war. Weiß der Teufel was ihre Kollegin in ihm gesehen hatte! Vielleicht einen Traumprinzen aus einem Vorleben?

Sie kicherte kurz. Allerdings wirklich nur kurz, denn Lachen passte nicht zu ihrem Leben und in einem waren sich sowieso alle einig: Dicke, mittelalterliche Frauen waren nie attraktiv. Nie, nie, nie! Cindy knirschte mit den Zähnen, als wollte sie dieses verhasste Wort damit zermalmen.

Wieder eine Inkarnation verschissen … dröhnte es in ihrem Kopf und sie begann schlagartig zu heulen. Wie sie eben immer heulte, wenn sie diese Gedanken in ihrem geistigen Hamsterrad wälzte. Sie fühlte sich erbärmlich und genauso klang auch ihr Schluchzen. Natürlich wusste sie, dass ihr Grübeln nur alles schlimmer machte, aber sie war in diesem Muster schon so lange gefangen, dass sie nicht mehr herauskam. Schließlich hieß es nicht umsonst Hamsterrad der Gedanken. Die kleinen, realen Scheißerchen in ihren Käfigen meinten ja auch durch die Gegend zu rennen in dem Rad, obwohl sie stets am Stand blieben.

„Und es ist mir egal“, blaffte sie die kahle Wand ihres Wohnzimmers an. Was sonst hätte sie auch tun können? Etwa Gott beschimpfen?

„Hol mich endlich, verdammt! Beschere mir einen anständigen Abgang, du Feigling!“, schrie sie dann doch noch und heulte dabei was das Zeug hielt. Klar war sie verzweifelt und voller Zorn, denn sie war eine der vielen unscheinbaren und unbedeutenden Menschen dieser Erde. Alle sprachen immer nur von den Tollen und Schönen oder den total Verrückten. Nie sprach jemand von den Unschönen, den Versagern, den Unsichtbaren. Und „unsichtbar“ traf es durchaus, außer wenn die Menschen sie doch einmal entdeckten und sie ins Visier ihres Spottes nahmen. Denn dazu neigten diese grausamen Geschöpfe nun einmal! Ja, ein Großteil der Menschen war grausam und genau die Grausamen waren es, die in regelmäßigen Abständen auf sie aufmerksam wurden, sie aus ihrer Blase der Unsichtbarkeit herauszerrten und sich mit geiferndem Maul und spitzer Zunge auf sie stürzten. Mal ganz deutlich, mal weniger offensichtlich. Aber selbst wenn die Spotter subtiler vorgingen, meinte sie ihren energetischen Sabber grässlich dunkel übers Maul tropfen zu sehen.

Zur Hölle mit ihnen allen! Denn Cindy konnte immer nur zwischen zwei Optionen wählen … unsichtbar zu sein oder verspottet zu werden. Früher hatte sie alle dafür gehasst, doch mittlerweile hasste sie sich ausschließlich selbst. Alte Frau, an die hundert Kilo. Was brauchte es auch schon mehr an Erklärung? Wenigstens würde von ihrer Existenz nichts bleiben, keine Erinnerung und auch keine materielle Verlassenschaft. Nichts war eben außergewöhnlich an ihr, außer ihr Gewicht. Selbst ihre Augenfarbe war, seit sie denken konnte, mit einem faden Grau langweilig und unscheinbar. Wie ihr braunes, halblanges Haar.

Dann noch ihr Name! Cindy! Um Himmels Willen! Am liebsten hätte sie deswegen gekotzt. Gleich hier auf den kackbraunen Teppich. Vor allem, weil sie nichts mit Aschenputtel gemein hatte. Cinderella. Ach, Gott! Mit diesem amerikanischen Namen in einem europäischen Land hatten sich ihre Eltern wahrlich ein Glanzstück geleistet und sie schon als Kind bei den anderen ausgegrenzt. Und je älter sie wurde – und das ließ sich ohne Selbstmord nun mal nicht stoppen – desto dämlicher klang der Name in ihren Ohren. Cindy Wallenstein. In Gedanken sah sie den Namen in rot blinkender, penetranter Leuchtschrift vor sich. Das rollt aber auch gut über die Zunge!

Ihr Fernseher flackerte.

„Ja, genau! Krepier du noch vor mir!“, kreischte sie, weil sie einfach keinen Gang herunterschalten wollte. Hätten Blicke töten können, wäre das alte Teil noch in der Sekunde in Flammen aufgegangen. Doch den Gefallen tat ihr der Apparat nicht, forderte sie stattdessen mit seinem Geflimmer auf, dass sie in die Höhe kam, sich bewegen musste. Mühsam stemmte sie sich mit ihren 92 Kilos hoch, schnaufte und schwitzte dabei. Zuerst verzog sie die Nase, weil sie sich selbst riechen konnte, dann stieß sie mit dem Knöchel auch noch an den Couchtisch.

„Au!“, fluchte sie laut und schwor sich das hässlich massive Ding doch endlich einmal zu entsorgen. Aber wo sollte sie dann ihre Beine ablegen, wenn sie wieder einmal auf der Couch lümmelte? Beine, die dazu neigten sich mit Wasser zu füllen, wenn sie in einem ungünstigen Winkel gelagert wurden. Bei dem Wort ‚gelagert‘ musste sie automatisch an einen großen Kühlraum mit grässlich anzusehenden Schweinebäuchen auf diversen Haken denken. Diese Gedankengeißelung war wohl die schlimmste Folter, die sie sich selbst antun konnte, doch sie lief automatisch ab, war eigentlich nie rechtzeitig zu bremsen. Manchmal hatte sie das Gefühl gar nichts ändern zu können und oft waren es eben die Kleinigkeiten, die Zeit und Substanz kosteten. Neben Traurigkeit, Enttäuschung und Frust.

Grimmig sah sie den Couchtisch an und wischte dann doch irgendwann das Bild vom Kühlhaus beiseite, ehe sie mit festen Schritten auf ihren alten Bildröhrenfernseher zustapfte. Von LED oder Plasma war der so weit entfernt wie sie von einem Miss-Universum-Titel. Bei dem Gedanken lachte sie zwar kurz auf, aber ohne jeden Funken Humor. Eine Frau wie sie konnte schließlich alles verhässlichen … selbst ein Lachen.

Ihre Faust krachte auf den oberen Rand des klobigen Fernsehapparats und das Bild wurde tatsächlich wieder stabil. Der Trick mit dem Schlag hatte bisher immer funktioniert. Allerdings ärgerte sie sich, dass sie überhaupt aufstehen hatte müssen.

„Das ist für dich!“, ätzte sie und knallte ihre Faust erneut auf den oberen Rand des Geräts. Irgendwer oder irgendwas musste endlich auch mal bezahlen! „Weil du mich so ärgerst und zum Aufstehen gebracht hast!“ Das Bild flimmerte kurz, stabilisierte sich dann aber wieder. Allerdings schien sich dadurch der Kanal verstellt zu haben.

„Da machst du dir aber etwas vor! Das ist für dich!“, dröhnte es nämlich plötzlich dumpf aus dem alten Teil und Cindy meinte sich im ersten Moment verhört zu haben, weil der Spruch so passend klang. Gleich darauf kapierte sie aber, dass sich offenbar der Sender verstellt hatte.

„Blöder Zufall“, murmelte sie noch, ehe der Bildschirm plötzlich ein komisches Zischen von sich gab und vollkommen schwarz wurde.

„DAS-IST-JETZT-NICHT-WAHR!“, heulte sie hysterisch auf und war in ihrer Wut versucht das alte Ding einfach vom Kasten zu fegen. Kraft genug hatte sie ja. „Da hege und pflege ich dich und dann gibst du tatsächlich vor mir den Geist auf?“ Sie war fassungslos, wütend und empfand es wie einen Vertrauensbruch, sodass sie gar nicht bemerkte, wie sich ihre Fingernägel in den Handrücken der jeweils anderen Hand krallten. Manchmal passierten solch unkontrollierten Dinge und dann tat sie sich selbst weh, aber zum Glück hatte sie verlernt das wirklich zu spüren. Zum Glück? Alleine das Wort war ja schon ein Witz, denn sie hatte kein Glück. NIE.

Der schwarze Bildschirm zischte erneut, veränderte das Bild und zeigte plötzlich eine weiße Schrift am rechten, äußeren Rand, die wie aus dem schwarzen Nichts aufgetaucht war. Cindy starrte überrascht auf den Schirm, als diese Schrift sich langsam, wie zähe Masse, von rechts nach links zu schieben begann und sich dabei leicht ausdehnte, als wäre sie aus Gummi. Falsche Richtung … dachte sie komischer Weise, bevor sie überhaupt zu lesen begann. Das Lesen selbst passierte dann eigentlich automatisch, denn wozu sonst war Text am Fernseher da? Bilder mussten geguckt werden, Texte gelesen. Das Prinzip war recht einfach, das MUSS für schwache Gemüter eine Folge.

„Vielleicht ein Sendeausfall“, murmelt sie kurz, dann versuchte sie wieder die ersten Buchstaben der weißen Linie zu erhaschen und fing konzentriert und laut zu lesen an. „Es war einmal …“, murmelte sie und zuckte innerlich zusammen, weil die Worte ein sehr komisches Gefühl in ihr auslösten. Ihr Hals wurde trocken, ihre Stimme heiser. Dennoch starrte sie gebannt weiter auf die bewegte Schrift, weil dieses „Es war einmal …“ sich mit etwas schwarzem Abstand zu wiederholen begann. Und dann noch einmal. Wie, um ihre Aufmerksamkeit vollständig einzufordern.

„Das gibt’s doch nicht. Was ist hier los?“, keuchte sie und sah kurz mit einem Rundumblick durch ihre Wohnung. Gerade eben noch hatte sie sich über den Beginn von Märchen lustig gemacht und dann erschien genau dieser Text am Bildschirm?

„Versteckte Kamera, oder was?“, rief sie aufgebracht und versuchte vermeintliche Einbrecher oder versteckte Webcams zu entdecken. Was schlicht lächerlich war und auch zu nichts führte. Denn, natürlich waren da keine Cams versteckt! Warum auch? Schließlich interessierte sich niemand für sie!

Trotzdem war das TV-Gerät gerade komisch und der Spruch ebenfalls. Cindy überlegte, aber sie wusste, sie war nicht eingenickt und träumte auch nicht. Nein, nein. Sie war munter, halbwegs bei Verstand und mit ihrem Fernsehapparat völlig alleine in ihrer Wohnung. DAS war die Tatsache und die Situation. Allerdings verstärkte diese Erkenntnis das flattrige Gefühl in ihrem Bauch nur umso mehr.

Aber es war auch noch nicht vorbei! Die Schrift veränderte sich weiter, wurde ein wenig krakeliger. Dafür blieb der Satz nun in der Mitte des Geräts stehen und bewegte sich nicht mehr … was schon ziemlich unheimlich war und Cindy Gänsehaut bescherte. Besonders die krakelige Verzerrung wurde immer schauriger. Fehlte noch ein wenig Horrormusik und der Gruseleffekt wäre perfekt gewesen. Cindy überlegte kurz das Gerät auszuschalten, bemerkte aber zeitgleich ein leichtes Kribbeln, das von dort auszugehen schien. Wie ein Sog oder eine magnetische Anziehung, die sie zu spüren bekam. Und das machte sie natürlich neugierig. Also ließ sie den Apparat eingeschaltet und blieb noch etwas stehen, um die Metamorphose jedes einzelnen Buchstaben zu betrachten. Wobei die Situation schon sehr ungewöhnlich und verrückt war.

„Merkwürdig“, murmelt sie noch und hatte dennoch dieses kribbelige Gefühl, das ihr irgendwie suggerierte, gleich einen großen Gewinn einsacken zu können. Die Buchstaben verzerrten sich indes weiter, waren immer grässlicher anzusehen und veränderten selbst ihre Bedeutung. Drei neue Worte wurden geformt, allerdings wie es schien, nur aus den bestehenden Buchstaben. Dann veränderten sie sich weiter und bildeten wieder neue. Zuerst langsam und dann immer schneller. Cindy starrte wie in Trance, hatte ihren Mund offen und betrachtete die neuen Worte, bis sich ganze Sätze herauskristallisierten.

Dann setzte sie sich irgendwann auf den Boden und ließ sich nur noch berieseln, starrte weiter auf den schwarzen Fernseher, wo weiße Buchstaben sich ständig schneller veränderten und bereits wie Zahlencodes über den Bildschirm rasselten. Ihre Augen tränten, ihr Mund war halb geöffnet und sonderte Speichel ab. Cindy bemerkte es nicht, saß nur da und starrte auf die ehemaligen Worte „Es war einmal…“, die sich binnen Sekunden zu anderen Worten und Sätzen bildeten. Die Flut an Information dahinter oder das, worum es eigentlich ging, bekam sie nicht mit, denn schon mit den einleitenden Worten war sie längst in einen anderen Bewusstseinszustand geschleudert worden.

Phasenweise meinte sie eine Stimme zu hören, dann wiederum nichts als Rauschen. Ihr Hintern schmerzte vom harten Untergrund und ihre Beine füllten sich gerade mit Wasser, weil sie zu abgewinkelt saß. Doch Cindy hatte die Kontrolle über ihren Körper verloren, ließ sich mental füttern und bearbeiten und … tauchte tief ein in eine Welt aus Schwarz und Weiß.

Nach zwei Stunden meinte sie zum ersten Mal zu blinzeln, auch wenn das rein körperlich nicht möglich war. Ihr Körper fühlte sich kalt und starr an, ihre Augen tränten. Sie ächzte leise, konnte sich aber noch nicht wirklich bewegen. Auf ihrem Fernsehgerät blinkte indes ein kleines Feld und schien mit der Heftigkeit dieses Blinkens etwas von ihr einzufordern. Es war ein viereckiges Kästchen mit einer Linie aus Punkten darin. So wie bei einem Formular, wo man eine Nummer eintragen musste oder einen Namen. Vermutlich war es so eine Art Bestätigung für „Text gelesen“ oder so. Doch Cindy wusste eigentlich nichts mehr von den letzten zwei Stunden, fühlte nur Kälte in ihrem Körper und blinzelte ständig, um das Brennen ihrer Augen unter Kontrolle zu bringen.

Dann allerdings spürte sie sich wieder etwas mehr und die wahren Schmerzen setzten ein! Ihre Beine brannten wie die Hölle und waren mittlerweile doppelt so dick. Ihr Hintern schmerzte, als hätte sie drei Tage hier am Boden gesessen und allem Anschein nach hatte sie sich irgendwann in die Zunge gebissen, denn sie schmeckte Blut. Dazu schlug ihr Herz viel zu wild und schnell.

„Heilige Scheiße! Wie soll ich hier je wieder ohne Herzinfarkt hochkommen?“, ächzte sie, als das blinkende Ding am Bildschirm noch eindringlicher wurde. Dabei wurde es gar nicht größer oder blinkte schneller, es wurde nur irgendwie … intensiver.

„Jetzt mach schon!“, forderte eine dumpfe Stimme aus dem Fernsehapparat, die in Cindys Kopf laut und penetrant wirkte.

„Was?“, krächzte sie überfordert und fragte damit allen Ernstes nach. Als könnte sie mit dem Fernsehapparat sprechen! Wie verrückt war das denn? Eigentlich war klar, dass das Ding kaputt sein musste oder falsch funktionierte. Oder, dass hinter diesem schwarzen Bild mit dem blinkenden weißen Feld eine Sendung mit Ton lief. Warum sonst sollte sie plötzlich eine Stimme hören?

„Jetzt lege schon deine Hand darauf! Vertraue mir!“, flüsterte die Stimme und Cindy fühlte ein Flattern im Magen, das schon an Schmerzen grenzte. So etwas derart Unheimliches gab es doch im normalen Leben nicht! Und das hier hatte gerade etwas ziemlich Krasses von ‚Big brother is watching you‘. Cindy hatte Angst, wenn auch nicht mehr vor einem drohenden Herzinfarkt oder der Möglichkeit, hier nie wieder in die Höhe zu kommen. Sie hatte schlicht und ergreifend Angst vor ihrem verdammten Fernsehgerät.

„Ich weiß nicht …“, murmelte sie verdattert.

„Papperlapapp! Du hast ein Handy. Du weißt wie das funktioniert! Finger aufs Display und los geht‘s!“

„Das ist doch …“, ächzte sie überfordert und versuchte eine Erklärung zu finden. „… ein alter Bildröhren…“. Zu mehr kam sie jedoch nicht, denn die fremde Stimme hinter all der Dunkelheit unterbrach sie knallhart und kippte erstmals in ihre wahre Lautstärke. Sie schwoll an zu einem lauten Orkan, schien aus mehreren Stimmen gleichzeitig zu bestehen und war so furchteinflößend, dass Cindy gar nichts mehr sagen oder denken konnte.

„Tu gefälligst, was ich dir sage!“, brüllte es da ungeduldig aus ihrem Fernsehapparat und auch wenn der Grund fragwürdig war, so war es doch die Befehlsgewalt dieser Stimme, die auch noch das letzte Fünkchen logischer Überlegung bei Cindy eliminierte. Ein Teil von ihr sträubte sich zwar und ihre Angst war größer denn je, aber ein anderer Teil handelte vollkommen automatisch und machte genau das, was die Stimme sagte. Es war ein Reflex, antrainiert aus ihrer Kindheit, wo sie gelernt hatte das zu tun, was größere, mächtigere Personen von ihr verlangten. Im Gegensatz zum Automatismus war dieser Reflex eben eine Reaktion auf einen Reiz. Und in ihrem Fall war dieser Reiz die Macht des Stärkeren. Selbst, wenn es – im jetzigen Fall – ein dämlicher Fernsehapparat war.

Cindy legte also ihre Handfläche auf das blinkende Kästchen am Bildschirm, spürte kurz ein Knistern und bekam dann einen derart heftigen Stromschlag, dass sie augenblicklich das Bewusstsein verlor.

Drei Tage später erwachte sie, weil es an ihrer Tür klingelte.

„Einschreiben für Frau Wallenstein“, tönte es da ungeduldig, während noch einmal die Türklingel betätigt wurde. Cindy sprang verschlafen vom Boden auf, hielt sich kurz den Kopf und sprintete dann zur Tür. Einen Moment wunderte sie sich warum sie im Wohnzimmer am Boden eingeschlafen war, aber da klingelte der Wicht doch tatsächlich noch einmal. Unverschämtheit, dachte sie und öffnete just in dem Moment die Tür, als der Mann gerade gehen wollte.

„Halt, halt! Ich bin ja schon da! Wo muss ich unterschreiben?“, fragte sie und der Postbeamte drehte auf dem Absatz um.

„Oh“, meinte er nur kurz, sah sie komisch an und hielt ihr ein Schreiben vor die Nase. „Hier, bitte!“, meinte er und räusperte sich kurz. „Sind Sie neu hier eingezogen?“, fragte er dann mit einem Blick, den Cindy nicht deuten konnte. Den Postboten hatte sie auch noch nie gesehen. Außerdem hatte sie gelernt nicht auf solche persönlichen Fragen einzugehen. Schnell senkte sie daher den Blick und sah wieder auf das Schreiben und das elektronische Ding, auf dem sie unterschreiben sollte. Cindy Wallenstein … der Name war wirklich einen Lacher wert. Also lächelte sie dem Mann sogar kurz zu, schnappte sich das Kuvert und verabschiedete sich.

Ein wenig blieb der junge Postbeamte noch stehen und starrte von der Unterschrift zu ihr und wieder zurück. Doch für Gaffer hatte Cindy noch nie viel übergehabt. Sie lächelte ihm daher kurz verkrampft entgegen und knallte dann schnell die Tür zu, ehe er irgendeine blöde Bemerkung über ihre Fettleibigkeit machen konnte. Ebenso schnell drehte sie auch den Schlüssel ein paar Mal um und versperrte so demonstrativ den Weg zu ihrem Reich. Einen kurzen Blick durch den Türspion riskierte sie dennoch, weil der Mann gar so belämmert geguckt hatte. Sie sah ihn auch noch kurz mit großen Augen vor ihrer Tür stehen, ehe er den Kopf schüttelte und dann seines Weges ging.

Cindy hatte gelernt so abweisend zu reagieren und scheinbar harmlosen Fragen auszuweichen. Allzu oft hatte sie schon erlebt, dass sie letztendlich doch nur geschickte Tarnung waren, um Spott über sie zu ergießen … über die fette, alte Jungfrau.

Sie seufzte tief und schloss für einen Moment die Augen. Doch das, was sie gerade empfand, war nicht wie immer. Der drohende Spott fühlte sich nicht mehr so gefährlich an und die unschönen Bezeichnungen, die sie selbst immer für sich fand, schienen irgendwie falsch zu sein. Wenn sie ehrlich war, empfand sie gerade ALLES irgendwie anders. Eigenartig und unwahr, einfach nicht stimmig. Cindy öffnete ihre Augen und stellte noch etwas anderes fest: Sie fühlte sich klarer und mit einer ungewohnten Portion Kampfgeist gesegnet. Als hätte sie irgendwo Kraft getankt oder einen kleinen Zaubertrunk konsumiert. Auf versteckte Gehässigkeiten hatte sie jedenfalls keine Lust mehr. Und zwar nie wieder! Den gaffenden Postbeamten hatte sie zwar ignoriert, aber so cool und freundlich behandelt wie nie zuvor. Das wurde ihr mit einem Mal sonnenklar und sie war ganz aufgeregt, wie gut sie die Situation gemeistert hatte. Cindy hatte ihm sogar ein verkrampftes Lächeln geschenkt und das, obwohl sie mit einer Lacheinlage seinerseits gerechnet hatte. Ja, auf ihr neues Verhalten war sie stolz, denn im Normalfall wäre sie beim ersten längeren Blickkontakt wie ein geprügelter Hund davongelaufen. Man konnte die Fragen und Blicke der anderen auf viele Arten ignorieren, doch so, wie sie es eben geschafft hatte – souverän und cool – war es richtig. Und das mit der Verkrampfung würde sie auch noch hinbekommen und irgendwann locker und leicht lächeln. Ja, das spürte sich gut an.

Es spürt sich etwas gut an? Einen Moment blinzelte sie verwirrt, denn das Gefühl war neu, oder zumindest schon wirklich lange her, dass sie es bewusst wahrgenommen hatte. Überhaupt schien sich ihre ganze Energie verändert zu haben, war deutlich leichter und zugleich kraftvoller. Als hätte sie gut geschlafen und eine Überdosis Vitamin D oder andere Glückshormone zu sich genommen. Sie hatte ja noch nicht mal das Bedürfnis nach Selbstzerfleischung! Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich sogar großartig und konnte die letzten Tage ihres furchtbar grüblerischen Zustands gar nicht verstehen. Warum war sie eigentlich immer so niedergedrückt gewesen? Nur weil sie übergewichtig war und alleine? Na und? Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag erbaut … lachte sie in sich hinein. Und sie lachte gleich darauf wirklich laut. Der träge, emotionale Sumpf aus Frust und Traurigkeit war nicht länger zu fühlen, aber auch ihre Wut war irgendwie verschwunden.

„Sowas!“, stellte sie überrascht fest und labte sich an einer Frische in ihrem Herzen, wie sie es schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gespürt hatte. Sie fühlte sich jung, schön und frei. Außerdem rief sie sich gerade in Erinnerung, wie schnell sie doch eigentlich in die Höhe gekommen war und ohne Schnaufen zur Tür gesprintet war. Das Interessante an all dem war jedoch, dass sie alles zuerst spürte, ehe sie auch nur auf die Idee kam, sich einmal genauer zu betrachten. Doch dann irgendwann … sah sie endlich bewusst an sich herunter.

Und staunte. Ehe der Schock einsetzte und sie zu keuchen begann. Gleich darauf wurde ihr schwindelig und sie hielt sich an ihrer Garderobe fest, um nicht zu fallen. Sie atmete hektisch und musste sich bewegen. Aufgeregt taumelte sie dann durch ihr Vorzimmer in Richtung Bad, sah weder rechts noch links, wollte nur schnell vorwärtskommen. Als könnte sie vor dieser krassen Veränderung davonlaufen!

„Das ist … unmöglich …“, krächzte sie und handelte sich an der Mauer vorwärts, bis sie im Bad vor dem großen Spiegel zu stehen kam. Dort dröhnte ihr Herzschlag in den Ohren und sie zitterte am ganzen Leib, aber das, was den Schock letztendlich wirklich vergrößerte, war der erste Blick in den Spiegel und … ihr eigener Anblick. Das Blut pumpte plötzlich rasend schnell durch ihren Körper und in ihren Ohren hörte sie ein singendes Geräusch, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen oder einen Tinnitus bekommen. Dann begann sie noch viel mehr am ganzen Körper zu zittern. Als würde Energie von oben nach unten und dann wieder von unten nach oben wandern. Wellenförmig und stark. Einzig ihre Augen waren nicht in Bewegung, blieben starr und weit aufgerissen, waren fassungslos und fixierten doch das zitternde Etwas im Spiegel. Wie in einem Horrorfilm.

Denn … alles war anders als sonst.

ALLES.

Cindy war fassungslos, ungläubig und doch voller Staunen. Sie sah in diesem Spiegel etwas, das nicht sein konnte und fühlte doch zugleich diesen herrlich Funken Hoffnung. Hoffnung auf … ein Wunder, ein Geschenk oder schlicht auf Echtheit.

Cindy fuhr sich über die Arme und übers Gesicht, machte Grimassen und begann zu lachen und zu weinen. Dann schluchzte sie und fiel auf die Knie, heulte und gab noch andere komische Geräusche von sich, vor Freude und Unverständnis, womöglich auch vor Verzückung. Hysterie und Staunen lieferten sich einen Schlagabtausch nach dem anderen und dazwischen starrte sie immer wieder wie gebannt auf ihr Spiegelbild und damit auf ihr NEUES ICH.

Es dauerte dennoch eine Weile, bis sie kapierte, dass sie nicht träumte oder gar den Verstand verloren hatte. Sie erinnerte sich sogar an die seltsame Fehlfunktion ihres alten Fernsehapparats und an diesen wirklich elend schmerzhaften Stromstoß, der ihr bis in die Eingeweide gefahren war und ihren Körper förmlich von innen heraus gegrillt hatte. Einen Moment war sie sicher gewesen zu sterben, alles hinter sich lassen zu können und nie wieder erwachen zu müssen, … bevor sie bewusstlos geworden war und nichts mehr gespürt oder gefühlt hatte.

Eine Stimme war ihr noch in Erinnerung. Zuerst war sie flüsternd und subtil gewesen, dann eindringlich, machtvoll und wirklich laut. Und dann hatte sie irgendetwas unterschrieben. Mit ihrem Handabdruck. Auf dem Bildschirm? Wie verrückt ist das denn? Sie hätte sich selbst wohl für bescheuert erklärt, wenn die anderen Fakten nicht so eindeutig für eine ungewöhnliche Situation gesprochen hätten. Für eine sehr, sehr ungewöhnliche Situation. Es war nämlich so: Cindy hatte sich körperlich vollkommen verändert und das nicht gerade im herkömmlichen Sinn. Gewandelt traf es wohl eher, denn sie hatte gut vierzig Kilo abgenommen, keine Falten davon und ein schönes Gesicht.

Es war vollkommen unerklärlich. Nein, eigentlich UNMÖGLICH und doch wusste sie nach einer gewissen Zeit, dass sie nicht träumte und auch nicht gestorben war. Das Erscheinen des Postbeamten alleine war ja schon ein Beweis von relativer Normalität … zumindest in ihrem Umfeld. Ebenso wie der Brief, den sie entgegengenommen und nun auf das Waschbecken gelegt hatte, weil sie sich so besser im Spiegel betrachten konnte. Auch ihre Wohnung hatte sich nicht verändert, war in ihrer dumpfen, abgewohnten Hässlichkeit so geblieben, wie sie immer gewesen war. Es lag auch noch jedes Ding dort, wo es hingehörte oder wo es – wegen Cindys Hang zur Unordnung – eben nicht hingehörte. Das ganze Rundherum wirkte wie immer, aber was sie und ihren Körper betraf, war einfach alles nur noch … fantastisch.

Immer wieder musste sie ihren Körper berühren, über ihr Gesicht streichen, die Zähne begutachten, das braune, halblange Haar durchwuscheln. Sie grinste, machte weiterhin Grimassen, zwickte sich in den Oberarm und hob immer wieder vorsichtig ihr schlabbriges T-Shirt, weil sie DEN Teil noch am wenigsten glauben konnte.

Tatsächlich alles echt … dachte sie, ehe sie geistesgegenwärtig ihr Handy holte und sogar ein paar Fotos machte. Nur, um später sicher zu gehen, dass sie nicht doch verrückt geworden war und DAS HIER wirklich passierte. Aber sie zog sich nicht aus. Noch nicht … dachte sie, weil sie Angst hatte etwas zu entdecken, das wie ein Reset-Knopf oder ein Return-Schalter aussehen könnte. Irgendetwas halt, das alles wieder rückgängig machen würde. Wenigstens hob sie immer wieder ihr schlabbriges Shirt und machte Fotos von ihrem flachen Bauch.

Langsam … dachte sie ständig. Nur nichts überstürzen, nichts verlieren oder verbocken. Als könnte eine einzige falsche Bewegung oder ein Blick wieder alles zunichtemachen. Denn, auch wenn es unlogisch und unmöglich war, … sie wollte, dass das ‚Unmögliche‘ blieb. Bleib! Sei echt! Lass es wahr sein! All das dachte sie in einem fort und fotografierte dabei immer wieder ihr Gesicht und ihre dünnen Ärmchen. Es war einfach herrlich, unbeschreiblich, ekstatisch und dennoch auch mit dieser Angst verbunden und dem Mangel an Vertrauen. Noch getraute sie sich nicht ihr viel zu groß gewordenes Gewand abzulegen. Das T-Shirt hing rechts und links von ihr herab, als wären die Ärmel nun zu riesigen Flügeln geworden. Die einst enge Stretch-Jean war mehr als locker und mit dem Gürtel so festgezogen, dass es komisch aussah. Wenigstens war ihr dadurch die Hose beim Sprint zur Tür nicht gleich heruntergerutscht. Sonst hätte der Postbeamte nicht nur komisch geguckt, sondern wäre wohl gleich aus seinen Schuhen gekippt.

„Hallo, hier ist die neue Cindy und ich trage meine Hose nur noch bei den Knöcheln“, veräppelte sie sich und kicherte von Herzen, weil die Vorstellung zur Szene so fantastisch war. Alleine solch ein Kichern war ja schon eine Ewigkeit her! Jetzt verstand sie auch, warum der Mann sie so seltsam angesehen und irgendetwas gefragt hatte. Er hatte sie gar nicht provozieren wollen, sondern sie wirklich noch nie zuvor gesehen. Wie auch? Eine Cindy in halber und dazu perfekter Portion hatte es bisher noch nie gegeben.

Wird der Postbeamte deswegen Alarm schlagen? Sie überlegte kurz und horchte in sich hinein. Doch auch nach ein paar Sekunden wollte sich kein wirklich mulmiges Gefühl einstellen. Aber nein … beruhigte sie sich. Sie lebte in einer Großstadt und verschwand in der Anonymität der riesigen Wohnanlage. Als Unsichtbare noch viel mehr. Natürlich war das auch ein Widerspruch, weil sie zugleich als fetteste Frau des Wohnblocks verschrien war, aber sie hatte über die Jahre gelernt Hauptwege und Ballungszentren zu meiden und die richtigen Zeiten für ihre Wege zu wählen. Manchmal war sie sich dabei sogar wie eine (recht runde) Ninja Kriegerin vorgekommen, die tatsächlich unsichtbar wurde, weil sie eben nicht gesehen werden wollte. Als hätte sie eine unsichtbare Schutzhülle errichtet, um mögliche Gefahren schon im Vorfeld abzulenken. So war sie im Laufe der Zeit wohl mehr eine Legende geworden, als ein lebendiger Beweis für ihre Existenz. Die Angst vor Demütigung war ihr täglicher Begleiter gewesen und so war sie, trotz ihrer Auffälligkeit, geschickt ausgewichen, hatte stets woanders eingekauft und sich in ihrer Wohnung verkrochen. Selbst ihren Nachbarn im gleichen Stock war sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr begegnet, weil sie immer rechtzeitig auf kleinste Geräusche reagiert hatte. Schlüsselgeräusche oder Stimmen in Türnähe hatten sie immer dazu veranlasst in Deckung zu gehen, zuzuwarten oder schlicht wieder umzudrehen. Selbst diesen Nachbarn würde es daher nicht auffallen, wenn die dicke Frau irgendwann gar nicht mehr da war. Egal, ob die schlanke Version nun ein neuer Mensch und frisch eingezogen oder gar dieselbe Person war.

Dieselbe Person … kicherte sie leise und hielt sich kurz vor Vergnügen den Mund. Mit einer Turbodiät, oder wie? Immer noch lächelnd schüttelte sie den Kopf. Wenn die Leute wüssten! Dann würde sich niemand mehr je einen schicken Flat-TV kaufen, sondern nur noch alte Flimmerdinger. Schließlich können die Wunder bewirken! Doch sie würde sich hüten irgendjemandem etwas davon zu erzählen! Den Leuten war sie doch sowieso egal und warum sollte sie solch ein Ereignis an die große Glocke hängen? In ihren Augen hatte niemand ihr Wohlwollen verdient und die Wahrheit in diesem speziellen Fall auch nicht.

Was ihren Arbeitsplatz anging, sah es freilich anders aus, denn DORT kannte man sie. Hier als ‚neue Cindy‘ aufzutauchen war ohne Erklärung schlicht unmöglich. Aber was sollte sie erzählen? Die Verzweiflung, die bei diesem Gedanken hochkam, brachte ihren Atemrhythmus ganz schön durcheinander und dämmte ihr euphorisches Gefühl. Was nur zur Folge hatte, dass sie jeden weiteren Gedanken an ihr bisheriges Leben und ihre Arbeit sofort wieder abwürgte. Sie wollte sich jetzt nicht damit auseinandersetzen oder gar Probleme wälzen, sondern sich ausschließlich dem neuen Geschenk – also ihrem Körper – widmen. Probleme hatte sie schließlich schon über vierzig Jahre lang gehabt, aber nun war endlich mal das Richtige für sie passiert und die Zeit zu leben angebrochen! Endlich, endlich, endlich, kreischte es regelrecht durch ihren Kopf. Jetzt konnte das wahre Leben starten und der Genuss beginnen, überhaupt am Leben zu sein.

Wie auch immer die Wandlung also passiert sein mochte – sicherheitshalber sah sie noch einmal begierig in den Spiegel – sie sah ihren Zustand als richtig große Chance, die sie auskosten wollte.

Für immer.

Sie musste sich nur erst einmal beruhigen und viel, viel ausführlich betrachten. Allmählich hielt sie es auch nicht mehr aus mit dem grässlichen Gewand vor dem Spiegel zu stehen und ihren perfekten Körper durch diesen Schlabberlook zu betrachten. Es waren ja auch schon einige Minuten vergangen und der Zauber hatte gehalten, sodass sie davon ausging, auch noch länger schlank verwandelt zu bleiben. Ich riskiere es!

Zuerst fiel das T-Shirt, dann die Hose, dann die lächerlich grausige Unterwäsche. Der übergroße Slip war ihr einfach heruntergerutscht und der BH hatte sich auch verselbständigt. Alleine die Wäsche war ja schon Zeugnis dafür, dass sie bisher in einem völlig anderen Körper festgesteckt hatte. Nein … ich träume das nicht und NEIN, ich bin nicht verrückt oder tot. Zu dieser Erkenntnis kam sie mit jeder weiteren Minute und mit jedem Zentimeter nackter Haut. Wie paralysiert betrachtete sie sich nun noch einmal ‚ohne allem‘ im Spiegel, war voller Ehrfurcht und Bewunderung. DAS bin ich … lachte sie glücklich, drehte sich und wackelte mit ihrem perfekten Herzpopo. Dabei fühlte sie eine Richtigkeit, als wäre ihr Leben davor sowieso nur eine einzige Lüge gewesen. Es gab auch keinen Reset-Knopf oder eine Return-Taste. Nichts verschob sich da, verformte sich wie Kaugummi oder ploppte plötzlich wieder fett auf. Nein! Alles war straff und stabil … und eine Wucht.

Cindy war wie gebannt und zugleich völlig aus dem Häuschen. Sie erkannte auch ein paar typische Merkmale, die eine starke Ähnlichkeit zu ihrem „alten“ Körper hatten. Muttermale, Zehenformen, Augen. So etwas in der Art eben. Allerdings waren ihre Zähne jetzt perfekt, der Busen ebenso und Bauch, Bein, Po zu einem wahren Traum mutiert. Sie wusste nicht was passiert war und sie wusste auch nicht, ob sie für den Rest ihres Lebens so weiterleben durfte, aber sie hatte jetzt verschiedenste Stadien von Emotionen im Schnelldurchlauf durchlebt. Vom ersten Schock über Ungläubigkeit, hin zu Freude, Misstrauen, dann wieder Euphorie und letztendlich auch Akzeptanz. All das hatte wie ein Feuerwerk in ihrem Inneren getobt, war ein wahrer Dauerbeschuss von Emotionen gewesen und hatte sie erschöpft, aber letztendlich auch zu Dankbarkeit und Frieden geführt. Selbst wenn dieser Zustand nur eine paar weitere Minuten oder Stunden andauern sollte, war es das Glücksgefühl allemal wert, das sie gerade empfand.

Sie beschloss daher diesen Körper anzunehmen, egal welche Konsequenzen es mit sich bringen sollte. Falls es überhaupt Konsequenzen geben sollte, denn sie glaubte an eine zweite Chance und wollte ausschließlich positiv denken. Jetzt endlich würde das wahre Leben beginnen! Mit einem Traumkörper, wie diesen … lachte sie still in sich hinein und brüllte gleich darauf ein lautes „JA, JA, JA, JA!!!!“ wie eine Gewehrsalve durch ihr Badezimmer.

Nach einer Weile hatte sie sich mit dieser unglaublichen Veränderung arrangiert, hörte auf sich zu drehen, zu wenden und alles bis ins Detail zu begutachten. Jemand oder etwas hatte ihre gesamte Gestalt verändert und scheinbar auch gleich ihr Wesen von einigem Ballast befreit. Die dumpfe Depression, das Niedergedrücktsein, die Verzweiflung … all das war wie weggeblasen und hatte einer Leichtigkeit Platz gemacht, die sie ans Fliegen denken ließ. Und an Freiheit.

„40 Kilo weniger!“, lachte sie laut und hüpfte durch ihre ganze Wohnung. Sie bedankte sich sogar für die Umsicht, ihre Hose am Anfang enger geschnallt bekommen zu haben und sah genau diesen Umstand auch als Bestätigung, dass die Energie, die der Wandlung zugrunde lag, gut sein musste. Sie war ja auch durch und durch glücklich und um ihren Arbeitsplatz würde sie sich irgendwann später Gedanken machen. Schließlich hatte sie noch nie in ihrem Leben so intensiv empfunden oder ihren Körper derart toll und gesund gespürt. Sie hüpfte noch einmal zurück zum Badezimmerspiegel, drehte sich ein letztes Mal herum und nickte zufrieden, weil da immer noch keine Dellen, Falten oder Speckröllchen waren. Ich bin tatsächlich schön, dachte sie ehrfürchtig und explodierte fast vor Freude, weil sie das einfach nur noch fantastisch, wunderbar und großartig fand. Im Prinzip war sie zu einem völlig neuen Menschen umgeformt worden, obwohl sie sich immer noch ganz tief drinnen wie Cindy Wallenstein fühlte. Nur eben glücklich und schön.

Gestorben und wieder neu geboren … ging es ihr durch den Kopf, obwohl ihr das beinahe wie Blasphemie vorkam. Doch es war eigentlich der beste Vergleich. Hätte sie selbst in ihrem Alter so viel abgenommen, würde ihr die Haut nun bis zu den Oberschenkeln hängen und diverse Operationen notwendig werden. Abgesehen davon, dass die Reduktion nie so schnell gegangen wäre, hätte sie sich die unzähligen Operationen danach einfach nicht leisten können.

Schnell umfasste sie noch einmal ihre neuen, perfekt straffen Brüste und schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Es saß eben alles an der richtigen Stelle, wirkte gesund und deutlich jünger. Eine Tatsache, die nur mit starker Magie zu erklären war, oder doch mit einem Traum oder einem Schuss Wahnsinn. Sie lachte laut, weil sie an die Negativversionen nicht glaubte. DAS hier war einfach wie es war … ein neues Leben und super. So etwas konnte ausschließlich göttlicher oder dämonischer Natur sein.

Was? Sie überlegte kurz, weil ihr dieser Gedanke wie selbstverständlich gekommen war und ihr ein unangenehmes Gefühl bescherte. Dämonisch? Nein, nein! Für eine böse Sache spürte sich hier alles viel zu gut an. Viel zu GUT! Und das war ja bekanntlich das Gegenteil von BÖSE. In ihren Augen konnte doch bitte nichts Negatives solch ein geniales Wunder und Gefühl erzeugen, keine Art von Teufel sich etwas derart Schönes ausdenken oder gar leisten. Nein, nein, wiederholte sie in Gedanken und schob das mit den Dämonen gleich wieder zur Seite. Sie war glücklich und das war sie davor noch nie wirklich gewesen. Es war ein Geschenk. Ein wunderbar göttliches Geschenk. Anders konnte es nun einmal nicht sein. Bewusst zerdrückte sie den letzten Rest Zweifel, der sich wie ein dunkler Fleck in ihrer Seele angefühlt hatte und schnippte ihn aus ihrem Lichtfeld hinaus. Danach tanzte sie euphorisch aus dem Bad und war so voller Hoffnung und Freude, dass sie meinte vor Glück platzen zu müssen.

Ein Neubeginn … ging es ihr durch den Kopf und schob auch noch die letzten Bedenken zur Seite. Sie wollte nicht nachdenken, nicht das WARUM überlegen oder an der Veränderung zweifeln. Sie war dankbar und durch und durch erfüllt von einer Zuversicht, die sie ihr ganzes Leben lang nie gehabt hatte. Mit einem derart neuen Zustand war alles möglich. Sie würde die Welt aus den Angeln heben oder das Leben erst einmal ganz still und schlicht für sich neu entdecken.

Es war einmal … so hatte dieser neue Abschnitt begonnen. Sie lächelte glücklich und versuchte sich keinen Kopf zu machen, denn wie es enden würde, wussten sowieso nur die Sterne.

Die Nachwirkphase dauerte dann doch etwas länger als erwartet. Heulend vor Glück war sie wieder in ihr viel zu weites Gewand gestiegen, allerdings ohne Unterwäsche, und hatte sich den eingeschriebenen Brief geschnappt. Die erste Euphorie war ein wenig abgekühlt und der Endorphinrausch hatte sie erschöpft, obwohl sie natürlich immer noch sehr, sehr glücklich war. Dennoch war die Phase nach einem Rauschzustand wohl nie so toll wie der Rausch selbst. Also stellte sie sich nun innerlich auf mehr Ruhe ein und nahm auf ihrer Couch Platz, obgleich ihr vor dem durchgewetzten, farblosen Ding mittlerweile grauste. Die gewohnte Sitzgelegenheit bot eben keinen richtigen Anreiz mehr zur Entspannung oder gar zur Förderung ihres neuen Lebensgefühls.

---ENDE DER LESEPROBE---