Wer glaubt schon an Vampire? - Sabineee Berger - E-Book
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Wer glaubt schon an Vampire? E-Book

Sabineee Berger

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Beschreibung

Emmeline fliegt im Auftrag ihres Großvaters nach Portugal und soll für ein sagenumwobenes Artefakt aus dem fünften Jahrhundert recherchieren. Bereits im Flugzeug begegnet ihr der düstere Aron Jäger, der sie total nervt und der zu allem Unglück in ihrem Hotel absteigt. Ständig begegnet sie dem unheimlichen Mann und liefert sich einen Schlagabtausch nach dem anderen. Dabei ist das noch das geringste Übel, denn seit ihrer Ankunft in Lissabon steht ihr Leben Kopf. Sie träumt in Sequenzen von einem früheren Leben, sieht am helllichten Tag blutäugige Monster und wird sogar mit einem schockierenden Mord konfrontiert. Doch plötzlich entpuppt sich ausgerechnet der arrogante Aron Jäger als möglicher Verbündeter.

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Sabineee Berger

Wer glaubt schon an Vampire?

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

Impressum

Impressum

Vorwort

Vampire ... ich meine,

wir wissen alle, dass es sie nicht gibt.

Und doch sind wir fasziniert von der Möglichkeit einer düsteren Existenz

und einer Interpretation, die sie auch

zur Liebe befähigt.

1. Kapitel

Der Flieger war das Letzte! Nie mehr wollte sie sich zu solch einem Billigstflug überreden lassen. Budgetwahnsinn hin oder her, das konnte er kein zweites Mal von ihr verlangen!

Seit fast zwei Stunden war sie nun gefangen in dieser miesen Klapperkiste und ausgerechnet knapp vor dem ersehnten Landeanflug kamen noch verfluchte Luftturbulenzen dazu! Am liebsten hätte sie geschrien oder einen Verantwortlichen (den lieben Gott?) fest an den Haaren (oder am Bart?) gezogen. Stattdessen zerrte sie hektisch an ihrem zerfransten Gurt und fluchte laut, während bereits eine freundliche Stewardess zu ihr trippelte und mit ein paar gezielten Handgriffen die Schnalle sicherte.

„Keine Angst! Der Gurt hält und die Turbulenzen sind nur von kurzer Dauer. Bitte beruhigen Sie sich!“, meinte sie lächelnd und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, wieder nach hinten zu ihrem pipifeinen, sicheren Sitzplatz.

Miststück! dachte Emmi, weil sie in ihrer Panik ALLE anderen Sitze sicherer einstufte als ihren eigenen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst ausgestanden und das zu Recht! Der alte Flieger pfiff ja auch aus dem letzten Loch und die gute Frau meinte, sie solle sich beruhigen! Dabei war die Ausstattung ein Witz, der Sitz zu eng, der Gurt zerfranst und der Pilot vermutlich ein alter Greis, kurz vorm Herzstillstand.

Hilfe! wollte sie schreien und Scheiße! ... laut und derb. Mit den Fäusten wollte sie gegen irgendetwas trommeln, aber für beides war sie nicht so recht der Typ. Überhaupt war sie kein Typ für irgendwas, außer vielleicht für Flugangst. Ihre Finger krallten sich nervös ineinander, wollten Halt finden.

Wo war noch schnell die verfluchte Tüte? ... überlegte sie krampfhaft, weil ihr übel geworden war und der Würgereflex kaum zu stoppen schien. Hektisch durchsuchte sie das Zeitschriftenfach vor ihr und hantierte dabei so wüst herum, dass ihr Vordermann verärgert grunzte.

Idiot! Schaff das mal mit Flugangst! ... zischte sie in Gedanken und blickte überrascht auf, als der Kerl sich abrupt zu ihr umwandte. Der gelbliche Stich seiner Augen war nicht zu übersehen und automatisch spulte sie sämtliche Krankheitsbilder ab, die ihr zu gelben Augen in den Sinn kamen.

Leberleiden! ... lautete ihre Enddiagnose und ein arroganter Blick war ihre offensichtliche Reaktion. Ein Blick, der bisher noch jeden in die Flucht geschlagen hatte ... außer diesen Kerl! Der schien von ihrer nonverbalen Kampfansage wenig bis gar nichts zu halten. Beeindruckt war er jedenfalls nicht.

„Würden Sie das bitte lassen?“, meinte er trocken, mit einer arrogant hochgezogenen Augenbraue, die jedes Weibchen erröten und jede Emanze zur Waffe hätte greifen lassen.

„Was denn?“

„Dieses idiotische Rütteln an meinem Sitz!“

„Wie bitte? Idiotisch?“

„Hmhm.“

„Das ist ja wohl die Höhe! Wir befinden uns in höchster Lebensgefahr und Sie fahren mich wegen ein bisschen Sitzrütteln an? Haben Sie eigentlich schon bemerkt, dass der ganze Flieger bebt?“ ... Sie Depp? wollte sie noch hinzufügen, ließ es bei seinem strengen Blick aber doch lieber sein. Der Kerl hatte etwas Finsteres an sich und auch wenn sie gerade die Hölle durchlebte, musste sie ja nicht noch unbedingt den Teufel heraufbeschwören.

„Seien Sie nicht albern! Sie haben nur Flugangst.“

„Pah! Was wissen Sie schon von meiner Angst!“, zischte sie und vergaß, aus unerfindlichen Gründen, weiter nach der Tüte zu suchen. Der Kerl hatte aber auch Nerven, sie hier blöd anzumotzen, wo doch der Flieger kurz vor dem Abschmieren stand ... oder flog ... oder was auch immer.

„Sie sollten mal zum Arzt, Beste. Und Ihre Ängste sind offensichtlich.“

„Beste?“

„Hmhm.“

„Offensichtlich?“

„Hmhm.“

„Sie sind ja wohl der arroganteste, frechste ... ach, was verplempere ich meine Zeit mit Ihnen? Wenn Sie mir nicht gleich Ihre Kotztüte reichen, wird ihnen Hören und Riechen vergehen!“

„Hören undRiechen?“

„Hmhm.“ Das tat vielleicht gut, dass sie mal mit diesem dämlichen „Hmhm.“ dran war, und dass der grantige Kerl sich wieder nach vorne drehte. Und wie schnell auch noch! Selbst er hatte endlich geschnallt, dass es ihr verdammt ernst war mit ihrer Übelkeit.

Was für grässliche Augen und was für ein leberkranker Kotzbrocken! ... dachte sie, wobei ihr bei dem letzten Wort gleich noch eine Spur schlechter wurde.

„Hier, bitte!“, ertönte es schroff von vorne. Emmi blickte hoch, denn sie hatte sich weit vorgebeugt, um ihren verkrampften Bauch zu halten. So schwach und schlecht hatte sie sich noch nie gefühlt. Womöglich hatte sie ja gar keine Flugangst, sondern nur einen Darmvirus erwischt. Oder aber sie reagierte allergisch auf idiotische Vordermänner.

Trotz ihres Elends würdigte der gelbe Typ sie keines Blickes, warf aber wenigstens die gewünschte Kotztüte nach hinten. Das Ding traf sie genau am Kopf.

„Hey ...“, rief sie empört und fischte die wohl kleinste Tüte der Welt aus ihren roten Haaren.

„Danke genügt auch!“, konterte der Mann mit heiserem Lachen, worüber Emmi sich so ärgerte, dass sie mit einem lauten „Hmpf!“ protestierte und knapp davor war, die Zunge herauszustrecken.

„Was? Geht es etwa schon los?“, ätzte er und drehte sich doch glatt noch einmal zu ihr, um zu prüfen, ob ihr Protestgeräusch nicht doch ein Würgegeräusch war.

„Ach, Sie! Lassen Sie mich in Ruhe! Gucken Sie nach vorne und spielen Sie mit Ihren Zehen!“, zischte sie und richtete sich mehr auf. Dann presste sie die Tüte vor den Mund, inhalierte kurz und wartete darauf ihr Leben auszuhauchen. Ihre Antwort war kindisch, doch ihr war so übel, dass ihr das egal war. Dem Mann aber wurde das Geplänkel offensichtlich zu albern und Emmis leidende Miene zu viel. Genervt rollte er mit den Augen und wandte sich ab.

Idiot! ... feixte Emmi gerade in Gedanken, weil der Typ sie so aufregte, als plötzlich ein Ruck durch den vorderen Sitz ging. Der Fremde schien regelrecht zu explodieren und wandte mit einem Mal nicht nur seinen Kopf zu ihr, sondern fast seinen ganzen Oberkörper. Wie er diese Drehung so schnell in dem miesen, engen Sitz bewerkstelligte, war ihr ein Rätsel, aber er wirkte dadurch plötzlich wie ein dunkler Riese, unheimlich und aggressiv und ... er war genau vor ihr.

Außerdem mussten die Augen des Mannes unter ziemlichen Druck gestanden haben, denn sie waren plötzlich nicht nur gelbstichig, sondern auch noch rötlich. Wahrscheinlich waren ihm ein paar Sicherungen durchgebrannt und deswegen auch noch Äderchen geplatzt.

Herr im Himmel, rotgelbe Augen! So etwas sollte verboten werden! Die düstere Eindringlichkeit die dieser Mann nun ausstrahlte, machte ihr ehrlich Angst.

„Huch!“, entschlüpfte es ihr und sie versuchte automatisch mehr Abstand zu dem Spinner zu bekommen. So fest sie konnte, presste sie sich gegen ihre Rückenlehne und ließ sogar die Tüte fallen. Selbst ihre Übelkeit war verschwunden.

Der Mann aber machte mehr und mehr den Eindruck als wäre er nicht ganz bei Sinnen und durchaus bereit Gewalt anzuwenden. Dabei hatte Emmi dieses „Idiot“ doch nur gedacht! Und Gedanken waren frei, oder etwa nicht?

Verwirrt blickte sie zu ihm auf, denn mit solch offener Aggression hatte sie nicht gerechnet. Gut, sie hatte Flugangst und war womöglich ein klitzekleines bisschen hysterisch. Aber solch eine Reaktion? Der Mann musste ja eine Macke haben! Zwar sagte er kein Wort, nicht mal leise, aber seine Mimik sprach dafür Bände. Fest zusammengepresste Lippen und Pupillen, die nur noch stecknadelgroß und eindringlich waren.

Sorry! ... dachte sie automatisch und duckte sich noch etwas mehr in ihren Sitz hinein. Zum Sprechen kam sie irgendwie nicht, weil sie permanent schlucken musste und sowieso kein verständliches Wort herausgebracht hätte. Dabei sah es ihr gar nicht ähnlich, so schnell die Fassung zu verlieren oder klein beizugeben. Aber genau in dem Moment, wo sie mit ihrem gedachten „Sorry“ fertig war, verschwand auch der extrem beängstigende Ausdruck in seinen Augen. Als hätte er sich gerade noch in den Griff bekommen und seine rotgelbe Aggression hinter eine halbwegs normale Fassade gezwängt. Selbst ein Lächeln schaffte er plötzlich, wenn auch nicht wirklich freundlich und ohne jeden Humor.

Emmi blinzelte und fasste sich unbewusst ans Herz. Dieser Mann war total unheimlich, oder aber schlicht verrückt, denn für einen kurzen Moment hatte sie die blanke Mordlust in seinen Augen gesehen.

Irre.

„Falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Die Turbulenzen sind längst vorüber. Also hören Sie auf so hysterisch zu sein! Im Übrigen können Sie sich wieder abschnallen!“

„Wie, was, ... hä?“, stotterte Emmi benommen, weil sie noch durcheinander war und nicht aufhören konnte in seine seltsamen Augen zu starren. Rot und gelb. Was für eine Krankheit war das bloß?

„Abschnallen ... Sie!“, befahl er und Emmi tippte automatisch auf die Schnalle ihres Gurtes. Das „Yes, Sir!“, konnte sie gerade noch unterlassen, obwohl sie auch für automatisiertes Reden nicht der Typ war.

„Ja ... äh ... na so was“, brabbelte sie dann verlegen, während der Gurt zur Seite schnalzte und ein überlautes Geräusch erzeugte. Die Fahrgäste aus den umliegenden Reihen starrten sie daraufhin an, als wäre sie meschugge. SIE! Beschämt senkte Emmi den Blick und entdeckte am Boden die kleine Tüte, die sie vor Schreck fallengelassen hatte. Brummig kickte sie das Ding ein Stückchen weiter nach vorne. Schließlich war ihre Übelkeit verschwunden.

Kein Wunder nach solch einem Schock! ... dachte sie und wollte es alleine auf den seltsamen Kerl vor ihr schieben. Ein kurzer Rundumblick zeigte ihr jedoch, dass der Flug tatsächlich ruhiger geworden und das Anschnallzeichen längst erloschen war.

Seltsam! Emmi konnte gar nicht begreifen, dass ihr solch ein wesentliches Detail entgangen war, hatte aber plötzlich das Gefühl, dass mehr Zeit vergangen sein musste, als sie geglaubt hatte. Ratlos nestelte sie an ihrer Armbanduhr herum, konnte sich aber nicht erinnern, zu welchem Zeitpunkt die Konfrontation mit dem Typen überhaupt begonnen hatte. Also ließ sie das Grübeln sein, lehnte sich erschöpft zurück und begann sich – gegen jede Erwartung – zu entspannen.

Wenigstens blickte der böse Vordermann nun endlich nach vorne und das Klapperflugzeug hatte aufgehört zu klappern. Trotzdem fühlte Emmi sich so benommen, als hätte jemand ein paar Elektroden in ihren Kopf geschossen und Bereiche ihres Gehirns mit hoher Energie geschockt. Ein Brzzzzl hier, ein Brzzzzl dort. Entspannung war ja gut, aber woher das ganze Valium plötzlich in ihrem Blut kam, konnte sie nicht verstehen.

Gott, bin ich erledigt! Kein gesunder Mensch konnte nachvollziehen, was für ein Kampf es war, sich seiner Flugangst zu stellen ... oder einem gelbsüchtigen, hepatitiskranken Macho.

Der verhielt sich inzwischen gar so, als hätte es nie Streit gegeben, oder als würde es SIE überhaupt nicht geben. Was dann ja wohl auch wieder eine Frechheit war, wenn man bedachte, dass er sie mindestens eine halbe Stunde dumm angepflaumt ... und nebenbei von ihrer Flugangst kuriert hatte. Ups, das wollte sie ihm dann doch nicht zugestehen. Schließlich war er ein Aggressor und kein Samariter.

Spontan streckte sie ihm die Zunge heraus, weil er sich so danebenbenommen hatte, und weil sein dunkler Hinterkopf nicht ganz so bedrohlich wirkte wie seine Vorderseite. Da war also sicher kein lautes Bäh oder Schmatzen zu hören, kein Rütteln am Vordersitz oder sonst eine Auffälligkeit ... und doch schaffte dieser seltsame Mann es, genau in dem Moment laut zu seufzen. Gerade so, als hätte er ihr Verhalten mitbekommen.

Schnell zog sie ihre kleine, rosa Zunge wieder ein und ertappte sich dabei, wie sie den dunklen Haarwuschel ihres Vordermanns auf Anzeichen von Wimpern und Pupillen untersuchte. Wie sonst hätte er etwas von ihrer Zunge bemerken können?

2. Kapitel

In Portugal erwartete sie herrlichstes Wetter. Kein Wölkchen trübte den Himmel und es hatte über 28 Grad.

Schon im Flieger hatte Emmi ihren Langarmpulli gegen ein gelbes T-Shirt getauscht, ihre Haare zu einem Pferdeschweif zusammengebunden und sich auf den ersehnten Hitzeschwall eingestellt. Sie liebte den Sommer und sogar die Gluthitze, obwohl sie als Rothaarige in der Sonne ein wenig aufpassen musste.

Nach der beißenden Kühle im klimatisierten Flugzeug war der Schritt ins Freie jedenfalls wie eine Erlösung. ALLES war nach solch einer plumpen Landung eine Erlösung. Der Pilot hatte wahrlich keine Glanzleistung hingelegt und sich nahtlos in ihre Bewertung des miesesten Billigstfluges aller Zeiten eingereiht. Das Klatschen der Passagiere schob sie auf geistige Umnachtung, zu viele Drinks oder auf hysterische Freude, überlebt zu haben. Sie selbst hätte sich nach der Landung am liebsten aufs Flugfeld geschmissen und den sicheren Erdboden geküsst. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie daher, warum der Papst so etwas tat. Vermutlich hatte der ebenfalls Flugangst. Doch zur Theatralik neigte sie nur in ihrer Fantasie. Im wirklichen Leben verhielt sie sich meist nüchtern und unauffällig – außer vielleicht, wenn sie gerade in ihrer Flugangst gefangen war.

Emmeline war keine schrille Schönheit, trug weder Make-up noch aufreizende Kleidung. Auf den ersten Blick wirkte sie daher unscheinbar, obwohl sie mit ihrer schlanken, aufrechten Statur, den grünen Augen und ihrem ovalen Gesicht durchaus attraktiv war. Dazu hatte sie ein sehr angenehmes, feinfühliges Wesen mit nur wenigen Tendenzen zur weibischen Zänkerei. Sie war also eine Frau, deren Attraktivität natürlich war und in der Regel erst entdeckt werden musste. Die meisten Menschen aber hatten wenig Zeit und noch viel weniger Interesse für längere Entdeckungstouren und genau das war in ihrem Interesse. Zu viel Aufmerksamkeit konnte sie nämlich auf den Tod nicht leiden. Selbst die lässig lächelnde Stewardess oder der finstere Kerl von vorhin hatten sie mit Sicherheit längst vergessen.

Aber genau damit lag sie falsch!

„Entschuldigung, aber das ist meines!“, rief jemand hinter ihr beim Taxistand und klopfte ihr penetrant auf die Schulter. Emmi drehte sich verärgert um.

„Sie schon wieder?“, empörte sie sich, als sie den finsteren Mann aus dem Flieger erkannte. In ganzer Lebensgröße wirkte er noch einmal so unheimlich und einschüchternd, aber auch sie war mit schottischen Vorfahren gesegnet und nicht gerade klein gewachsen. Außerdem war weit und breit kein anderes Taxi zu sehen und sie nicht gewillt, es ihm einfach so zu überlassen.

Sicher nicht! ... dachte sie keck, machte blitzschnell einen Schritt auf das Auto zu, riss die hintere Türe auf und machte so ihren alleinigen Besitzanspruch klar. Nur ein Idiot hätte das nicht verstanden ... oder eben dieser Kerl, der ihr offenbar um jeden Preis eins auswischen wollte. Seine Augen wurden sofort schmal.

„M E I N E S!“, brüllte er so laut, dass sie zusammenzuckte und jeden Moment mit einem Übergriff rechnete. Lediglich die vielen Menschen rundum gaben ihr ein wenig Zuversicht. In aller Öffentlichkeit würde er es nicht wagen Hand an sie zu legen! Aber auch so war er einschüchternd genug, denn er blaffte nicht nur laut, er machte sich auch noch so groß wie ein Bär. Gerade das Brummen fehlte noch. Ein riesiges Tier, mit viel zu dunklen Haaren und gelb leuchtenden Augen.

Schwarze Teufelshaare ... schoss es ihr durch den Kopf. Vermutlich am ganzen Körper. Igitt. Außerdem waren die Augen ein Witz und sie reimte sich endgültig zusammen, dass er aus einer Intensivstation entkommen sein musste, obwohl er kurz vor einer Lebertransplantation stand. Was ihr natürlich herzlich egal war, solange er nicht mit ihrem Taxi ins Krankenhaus oder gar zum Friedhof wollte.

Diese idiotischen Bewertungen halfen ihr, um sich nicht gleich wieder einschüchtern zu lassen. Nach außen hin zeigte sie sich daher kein bisschen beeindruckt von seinem gewaltbereiten Auftreten.

„Na, sicher nicht, Mister! Träumen Sie weiter!“, erwiderte sie bissig, besann sich auf ihre kämpferischen, schottischen Gene und stellte sich zur Sicherheit noch auf die Zehen, um etwas mehr an Höhe zu gewinnen. Von dem Typen wollte sie sich gar nichts sagen lassen. Doch der Blick des Mannes verfinsterte sich so schlagartig, dass Emmi automatisch wieder auf ihre Fersen heruntersackte. Wie schaffte der Kerl das bloß, so einschüchternd zu wirken?

„Sie sind wirklich die lästigste Person, die mir je unter die ...“, setzte er an und wollte gerade lauter und lauter werden, als Emmi sich einfach von ihm abwandte und mit ihrer Reisetasche ins Taxi plumpsen ließ. Wozu reden, wenn sie doch gleich handeln konnte? So schnell konnte der Mann nicht mal blinzeln, hatte sie das Gefährt schon für sich okkupiert.

Ha! Welch genialer Schachzug ... dachte sie gerade, als sich der widerliche Kerl mit seinem kleinen Koffer auch schon zwischen die Tür klemmte.

„So nicht, Lady! Also, entweder fahren wir gemeinsam, oder sie erfahren gleich was es heißt einen Flug ohne Flugzeug zu bekommen!“

„Das wagen Sie nicht! Wenn sie mich auch nur anfassen, dann Gnade Ihnen ...“ Emmi konnte nicht mal mehr Luft holen, als sie ein lauter Schwall portugiesischer Schimpfworte unterbrach. Der Taxifahrer war offenbar nicht länger gewillt sich den Streit der beiden anzuhören. Mit der sonst so üblichen, südländischen Gemütlichkeit war der gute Mann jedenfalls nicht gesegnet. Zu allem Überfluss ließ er auch noch den Motor im Leerlauf so laut aufheulen, dass Emmi ganz nervös wurde.

„Verflucht, lassen Sie das!“, zischte sie nach vorne, als der aufdringliche Riese die Ablenkung nutzte und sich ins Wageninnere drängte. Rücksichtslos schubste er Emmi zur Seite und ließ sich sogleich neben ihr in den Sitz fallen ... mit seinem breiten Arsch, dachte Emmi, weil er sie einfach mit allen Mitteln zur Seite drängte.

„Hey! Humpf ...“, schrie sie aufgebracht, weil sie mit solch einer Unverfrorenheit nicht gerechnet hatte. Von Gentleman-Manieren war der Typ ja ganze Galaxien entfernt!

„Mund zu und ab ins Hotel!“, forderte der Mann grimmig und knallte die Autotür mit solcher Wucht zu, dass Emmi die Ohren schlackerten. Leicht geschockt und sprachlos, starrte sie den Eindringling an. „Mund zu!“, hatte er gesagt und es wie einen Befehl ausgesprochen. Seltsamer Weise konnte Emmi ihren Mund tatsächlich nicht mehr öffnen. Oder aber ihre Zunge war plötzlich gelähmt. Sie war so durcheinander, dass sie das nicht erfassen konnte. Emmi wusste nur, dass sie weder sprechen, noch schreien konnte. Ihre Augen wurden weit vor Entsetzen, weil sie eine weitere Panikattacke vermutete. Wie konnte der Kerl mit nur zwei Worten und einem kräftigen Türknallen so etwas bei ihr erreichen?

„Willkommen in Lissabon! Wohin darf’s denn gehen?“, tönte der Taxifahrer plötzlich so freundlich und unpassend, dass Emmi und der schwarzhaarige Mistkerl sich gleichzeitig zu ihm nach vorne wandten. Der Fahrer verblüffte aber nicht nur mit guten Deutschkenntnissen, sondern auch mit einem charmanten Lächeln. Jetzt, wo er gleich zwei Passagiere im Auto hatte und mit einer teureren Fahrt rechnete, hatte er offenbar doch noch auf Touristenmodus umgeschaltet.

Für Emmi aber wurde dieser Irrsinn zu viel. Zuerst der furchtbare Flug, dann dieser rücksichtslose, brutale Kerl neben ihr und nun auch noch ein Taxifahrer im Touristenmodus. Ihr Kreislauf drohte verrückt zu spielen, obwohl sie sich kaum bewegte. Sie hatte sogar das Gefühl in ein enges Korsett geschnallt und zur Erstarrung verdammt worden zu sein. Emmi verstand es selber nicht, aber sie hatte keine Kontrolle mehr über ihren Körper. Zuerst überlegte sie noch um Hilfe zu schreien, dann wieder auszusteigen und schließlich sogar auf den Mann neben sich einzuschlagen. Doch aus irgendeinem Grund konnte sie nichts von alledem in die Tat umsetzen. Entweder erlag sie wirklich gerade einer handfesten Panikattacke oder aber sie war schlicht gelähmt vor Angst.

„Sie verstehen? Halloooo, da hinten?“, fragte der Taxifahrer nun doch wieder etwas ungeduldig geworden. Das Schnalzen in seiner Stimme erinnerte an das Antreiben von Pferden.

„Wohin-Sie-wollen?“, fragte er deutlich lauter und holpriger. Für ihn waren die beiden nicht mehr als ein übermüdetes Touristenpaar, das gerade Streit hatte.

„Sana Capitol Hotel in der Rua Eça de Queiróz”, befahl der finstere Mann mit fließender Zunge und zischenden Lauten, die sich in Emmis Ohren perfekt portugiesisch anhörten. Also nicht, dass an diesem Mann irgendetwas perfekt sein konnte, aber die Sprache schien er ganz gut zu beherrschen. Zu allem Überfluss deutete er dem Fahrer auch noch endlich loszufahren, obwohl Emmeline noch nicht einmal „Muh!“ gesagt hatte. Etwas Schweres schien weiterhin ihre Zunge zu lähmen und in der Mundhöhle festzukleben. Vielleicht hatte ihr der aufdringliche Mann im Gerangel ja einen kräftigen Stoß auf den Kopf verpasst oder gar etwas Giftiges in die Vene gespritzt. Im Tumult ließ sich ein dezenter Picks recht gut kaschieren. Sie hatte zwar nichts Derartiges mitbekommen, wusste aber, dass so etwas prinzipiell möglich war.

Mit aller Macht wollte sie Luft holen und endlich etwas erwidern, doch gegen ihren fast schon katatonischen Zustand konnte sie einfach nichts ausrichten. Lediglich ihre weit aufgerissenen Augen ließen darauf schließen, dass sie in Panik war. Nur, wer sollte schon darauf achten? Ein Taxifahrer, der in Gedanken bereits die Euroscheine zählte oder ein finsterer Kerl, der nichts anderes wollte, als sein ganz persönliches Ziel erreichen?

Die Steigerung von alledem aber war, als der Taxifahrer das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat und Emmi wie eine Puppe zurückgeschleudert wurde. Ihr Kopf knallte hart gegen eine Kante und das rüttelte Emmi allmählich wach. Zuerst spürte sie natürlich vor allem den Schmerz, doch dann begann ihre Hand plötzlich zu kribbeln und sogar zu zucken. Als sie sich endlich wieder bewegen ließ, beglückte sie nicht etwa den rüpelhaften Entführer an ihrer Seite mit einer Ohrfeige, sondern schnappte sich automatisch den Sicherheitsgurt, um die wilde Fahrt in einem Stück zu überleben.

Ein Schlagloch ließ Emmis Zähne hart aufeinanderschlagen und ein lautes, klackerndes Geräusch erzeugen. Der widerliche Mann neben ihr schmunzelte und brachte Emmi damit erneut auf die Palme. Wenigstens löste sich durch das Klackern auch endlich ihre Sprechblockade.

„Was ... was fällt Ihnen ein?“, stotterte sie heiser und noch immer mit viel zu schwerer Zunge. „Sie ... Sie...“

„Na, einer musste ja schließlich einmal eine Adresse sagen. Sie haben ja überhaupt nichts von sich gegeben. Gott sei Dank, wie ich bemerken darf, denn eine weitere Kotztüte hätte ich nicht anbieten können“, ätzte er und zeigte ein böses Lächeln mit weißen Zähnen. „Sie waren so gut wie nicht vorhanden und ziemlich sprachlos, Gnädigste. Ich vermute, dass sie während dem Flug einen kleinen Kurzschluss mit Brandfolgen hatten und die Leitfähigkeit einiger Synapsen eingebüßt haben. Also war ich so frei und habe dem Taxifahrer mein Hotel genannt.“

„Sie ... Sie ... Unhold! Nicht vorhanden, sagen Sie? Ich glaube ich spinne! Wohl eher vergraben ... unter ihrem fetten Hintern, Sie ... Sie...! Das ist Entführung! Zumindest Körperverletzung ...“

„Mund zu!“

„Was?“

„Still sein! Bitte!“, seufzte er und Emmi fielen fast die Augen aus den Höhlen.

„Aber Sie ... Sie haben ...!“

„Pssssst!“, deutete er mit seinem Finger vor dem Mund und zog den Ton in solch ungewöhnliche Länge, dass sie sich seltsamer Weise zu entspannen begann. Dabei wurde sein Blick schon wieder total eindringlich und Emmi reagierte mit Gänsehaut darauf. Wer hatte aber auch so derart winzig kleine Pupillen? Damit konnte ja noch nicht mal ein Hamster etwas anfangen.

Der Taxifahrer begann inzwischen fröhlich zu singen und machte die Situation nur noch skurriler. Für Emmi war es das reinste Narrenhaus und sie innerlich total aufgewühlt. Zumindest so lange, bis ihre Gedanken allmählich leichter wurden. Der Fremde stierte ihr immer noch in die Augen, drang in sie ein, bezwang ihren Geist. Nicht ein einziges Mal zwinkerte er und Emmi bemerkte es mit Staunen, ehe ihr Blick endgültig ins Leere driftete und dort wie selbstverständlich verharren wollte.

Als das Taxi hielt, war sie immer noch käseweiß. Sie hatte sich nicht übergeben, aber nur, weil sie sich so weit als möglich von dem Mann entfernt und an ihrer Reisetasche festgehalten hatte. Wer wusste schon, ob seine Krankheit nicht ansteckend war?

Erst nach einer Weile bemerkte sie, dass sie alleine im Taxi saß und offenbar die ganze Zeit ins Nichts gestiert hatte. Heftig blinzelnd guckte sie nun aus dem Fenster und erkannte Schilder eines Hotels. Ihre Augen tränten und die Zunge glich einem Reibeisen. Sämtliche Geschmackspapillen auf ihrem guten Stück waren getrocknet, als hätte sie einen Schnupfen und keine Luft bekommen. Aber vielleicht war das sogar die Lösung! Ein Schnupfen, eine Grippe oder ein schlichter Jetlag.

Emmi riss sich zusammen, sammelte ihre ganze Kraft und öffnete die Türe des Taxis. Wie eine Traumwandlerin stolperte sie ins Freie und atmete die Luft mit tiefen Zügen ein. Sie war noch am Leben! Immerhin! Ein Beinahe-Flugzeugabsturz war die reinste Lappalie gegen eine Entführung in einem tief fliegenden Taxi. Tapfer setzte sie einen Fuß vor den anderen und blickte sich um. Der finstere Typ schien endgültig verschwunden zu sein.

„Geschlafen, hm? Ja, ja ... lange Flug“, mischte sich der Taxifahrer in ihre Gedanken, während er mit ein paar schnellen Schritten zu ihr kam, um – wie sie annahm – das Geld für die Fahrt zu kassieren.

„Geschlafen?“, fragte Emmi verwirrt, weil sie sich noch nie so unausgeschlafen gefühlt hatte. Zugleich funktionierte ihr Körper wie auf Knopfdruck, denn ihre Hand begann in ihrer Tasche nach der Börse zu suchen.

„Alles schon bezahlt, Miss“, rief der Fahrer, weil er bemerkte, dass die Dame nicht wirklich fit, womöglich sogar betrunken war. „Ihr Mann schon vorgegangen ... wegen Zimmer“, kicherte er und stellte sich vermutlich gerade irgendetwas Schweinisches mit den beiden vor. Emmi schnaubte entrüstet, kramte aber weiter in der Tasche wegen der Börse. Doch der Taxifahrer schüttelte nur den Kopf, drehte sich um und stieg in sein Taxi. Erst als er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, nahm sie die Hand aus der Tasche.

Ehemann! So ein Idiot! ... ärgerte sie sich und versuchte auch die letzte Erinnerung an die schreckliche Fahrt abzuschütteln. Sicherheitshalber flüsterte sie noch ein leises „Ooooooohhhhhhhmmmmmmmm“, um die Kraft des heilenden Urlautes in sich aufzunehmen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte inzwischen ein groß gewachsener Mann in der Uniform eines Hotelportiers.

„Ja, danke! Welches Hotel ist das hier?“

„Sie befinden sich vor dem Sana Capitol Hotel.“

„Oh! Das ist ... das ist ja meines!“, erwiderte sie verblüfft, weil sie nicht mitbekommen hatte, dass der Entführer genau ihr Hotel genannt hatte.

Was für ein Zufall! Und was für ein Gott verdammtes Pech! Schließlich konnte das nur bedeuten, dass der Mistkerl im gleichen Hotel abgestiegen war.

„Danke – äh – dann bin ich ja richtig“, erklärte sie dem Portier und fügte in Gedanken hinzu, dass das auf ihren Kopf nicht mehr ganz so zutraf. Der Mann aber lächelte freundlich und ließ sie mit einer eleganten Handbewegung in die Aula des Hotels ein. Emmeline nickte ihm zu und ging mit ihrem spärlichen Gepäck weiter zur Rezeption.

Die Vorhalle war riesengroß und voller Menschen. Emmi liebte es, wenn die unterschiedlichsten Sprachen durcheinander wirbelten, ineinander überflossen und eine interessante Mischung aus Tönen und Lauten produzierten. Selbst beherrschte sie nur drei Sprachen, aber jede hatte so ihren Reiz. Auch die Unterschiedlichkeit der Menschen faszinierte sie und brachte sie oft zum Schmunzeln. Bei Japanern spähte sie automatisch nach einer Menge von Fotoapparaten, bei Franzosen nach gut duftenden Croissants, und bei Amerikanern nach riesigen Cowboyhüten. Emmi liebte diese Klischees und dachte gar nicht daran, sie zu bestreiten, sondern eher Bestätigungen dafür zu finden.

Und tatsächlich! Da war er schon, der emsig wuselnde Japaner, der alles knipste, was er vor die Linse bekam und dabei so glücklich und zufrieden lächelte, dass Emmi endlich den finsteren Mann aus Flugzeug und Taxi vergessen konnte.

3. Kapitel

Sie hatte geschlafen wie ein Murmeltier. Das Bett war sauber, wunderbar weich und duftete nach Lavendel. Der Rest vom Zimmer war keine Sensation, aber in Ordnung. Ihr Großvater hatte ein gutes Hotel gebucht, aber bei der Größe und Lage des Zimmers offensichtlich erneut gespart. Die Ausrede von irgendeinem Kongress in der Stadt und den vielen, ausgebuchten Hotels hatte sie nie geglaubt.

Das Fenster ihres Zimmers ließ sich öffnen, zeigte aber nur hässliche Wände eines gemauerten Luftschachts. Zum Glück war ihr Opa nicht allzu empfindlich, denn sie hatte vor, ihm nach ihrer Rückreise ordentlich die Meinung zu sagen. Zuerst der klapprige Flug und dann ein Zimmer mit null Aussicht! Immerhin war sie wegen seiner Recherchearbeiten hier und wurde nicht annähernd so gut dafür bezahlt, wie eine richtige Angestellte. Für Emmi war es mehr ein Verwandtschaftsdienst, der zufällig auch ihrer Liebe zu mystischen Artefakten entgegenkam. Nicht einmal einen freien Tag in diesem schönen Land wollte er ihr gönnen. Dabei befand sich der berühmte Wallfahrtsort Fátima gerade mal zwei Autostunden von Lissabon entfernt.

Emmi ballte unwillkürlich die Hände und brummte leise. Für die privaten Interessen seiner Enkelin hatte ihr Großvater noch nie sehr viel übriggehabt und für Wunder oder heilige Orte noch weniger. Er mochte ja mystische Artefakte lieben, aber ‚Orte der Kraft‘ fürchtete er ganz gehörig. Entweder war ihm einmal etwas Schlimmes widerfahren oder aber er witterte dort den Hauch der Göttlichkeit und damit den seiner eigenen Vergänglichkeit. Gesprochen hatten sie darüber noch nie, denn mit Grundsatzdiskussionen brauchte sie ihrem alten Herrn erst gar nicht kommen. Dafür war er viel zu stur und engstirnig. In Diskussionen neigte er stets zu Monologen und redete sich darauf aus, schwerer zu hören, obwohl er in Wirklichkeit wie ein Luchs hörte. Doch egal wie streng, exzentrisch oder geizig er auch sein mochte: Emmi liebte ihren Großvater über alles. Mit seinen 78 Jahren war er noch erstaunlich fit, aber nicht mehr gewillt längere Reisen zu unternehmen oder in öffentliche Verkehrsmittel zu steigen. Also würde Emmi wohl auch in Zukunft bei anstehenden Auslandsreisen für ihn einspringen.

Speziell in Portugal sollte sie nun in den Bibliotheken Lissabons und weiter nördlich in der Region von Tomar nach einer begehrten Nephrit-Maske mit dem Namen Felim forschen. Als typisches Seefahrervolk hatten die Portugiesen eine Menge Schätze in ihren Museen und Büchereien verwahrt. In den legendären Bibliotheken Lissabons gab es für Emmeline also sicherlich historisches Material in unschätzbarer Vielfalt.

Eine Recherche zu dieser Maske war, ohne entsprechendes Wissen und Kontakte, vermutlich ein Unterfangen von Wochen, wenn nicht sogar von Monaten. Emmeline hatte daher schon im Vorfeld viel recherchiert und von ihrem Großvater zusätzlich eine Liste von wichtigen Büchern und Bibliotheken bekommen. Tomar hatte er wegen der geheimen Bibliothek des Convento de Cristo besonders hervorgehoben. Von dieser ehemaligen Klosteranlage wusste Emmi nur, dass sie 1162 von den Tempelrittern zu einer Festung umgebaut und 1983 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt worden war. Aber alleine durch das historische Mitspielen der Templer erwartete Emmi sich von dieser Burg und ihrer Geheimbibliothek viel. Dennoch machte es keinen Sinn ihre Arbeit in Tomar zu beginnen, ohne vorab ein paar Basics in Lissabon zu erarbeiten.

Alles schön der Reihe nach ... pflegte ihr Großvater stets zu sagen, denn erst wenn Emmi die Grundlagen in Lissabon studiert hatte, würde sie die Werke in Tomar richtig lesen können.

Aufzeichnungen über Felim gab es nur wenige, weil die Maske seit dem zwölften Jahrhundert als verschwunden galt. Aus diesem Grund hatte ihr plötzliches Auftauchen auf der Berliner Fachmesse vor ein paar Wochen für gehörigen Wirbel gesorgt. Das außergewöhnliche Stück hatte kaum einer der Besucher zu Gesicht bekommen, aber die detaillierte Beschreibung dazu auf einer der Bestandslisten nachlesen können.

Seit Jahrhunderten rankten sich um diese Maske die schrägsten Legenden und Spekulationen, aber die glaubwürdigste war die von einer muslimischen Prinzessin, die mit der Maske ihren Geliebten aus dem Reich der Toten hatte erwecken wollen. Ob dieser Zauber damals funktioniert hatte oder wie, konnte natürlich nie geklärt werden. Geschichtliche Fakten, aber vor allem Mystisches war aus dieser Zeit kaum nachweisbar. Es gab nur immer vereinzelte Hinweise in alten Schriftrollen, die Kunsthistoriker schließlich zu der Überzeugung gebrachte hatten, dass die Maske ihren Ursprung im Marokko des fünften Jahrhunderts haben musste und im Laufe der Zeit nach Portugal gelangt war. Dort verschwand sie dann im zwölften Jahrhundert endgültig von der Bildfläche ... und tauchte schließlich jetzt wieder in Berlin auf.

Das Ungewöhnliche an der Maske aber war nicht nur die Legende dazu oder ihr Alter, sondern das Gestein aus dem sie gefertigt worden war. Nephrit gilt auch heute noch als eine Art Jade, obgleich die International Mineralogical Association Nephrit nie als eigenständiges Mineral akzeptiert hatte. Die Farben des Gesteins reichen in der Regel von grau- und dunkelgrün bis hin zu schwarz und werden durch Chrom und Eisen verursacht. Der Legende nach hatte die Felim-Maske eine besonders unvergleichliche Farbe, weil ihr Material auch Magnetit-Einschlüsse besaß, die eine Kategorisierung als Magnetit-Jade zuließ. Genau diese Nephrit-Beschreibung auf der Liste der Messe hatte Fachleute schließlich auch davon überzeugt, es mit der richtigen Maske zu tun zu haben.

Dem Volksglauben nach besaß der Stein heilende und stark kräftigende Wirkung – wenn auch hauptsächlich auf Niere, Blase und Harnwege. Von Totenkult und Erweckungen war in der Vorgeschichte daher bisher nie die Rede gewesen. Dabei war es gar nicht so abwegig die Niere und damit die Wirkung des Gesteins mit dem Leben und dem Tod in Verbindung zu bringen. Schließlich galt und gilt die Niere in den verschiedensten Kulturen seit jeher als DAS Lebensorgan schlechthin. Einen Beweis für Heilkräfte des Steins hatte es dennoch nie gegeben, ebenso wenig wie für die magische Kraft, Tote zum Leben erwecken zu können.

Vieles zur Maske war also ein Rätsel und lag im Verborgenen. Selbst jene, die der Legende Glauben schenkten, konnten sich nicht erklären, warum eine muslimische Prinzessin ausgerechnet Nephrit für eine magische Maske gewählt hatte, wenn dieses Gestein noch nicht einmal in ihrem eigenen Land zu finden gewesen war. So mancher vermutete daher einen Fehler in den spärlichen Aufzeichnungen oder gar gefälschte Pergamente, andere wiederum glaubten an ein sehr ursprüngliches Wissen und Grenzen überschreitende Magie. Und wer wusste schon, ob diese schöne Prinzessin nicht eine Zauberin mit ungeahnten Kräften gewesen war?

Nach dem mysteriösen Auftauchen der Maske in Berlin, verschwand sie kurz darauf erneut. Der Besitzer hatte über Raub geklagt, andere wiederum über einen lukrativen Verkauf getuschelt. Letztendlich aber konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, was genau passiert war oder wo sich die Maske im Moment befand.

Genau solche Vorkommnisse aber waren es, die das Interesse von Emmis Großvater weckten. Er war ein Forscher wie er im Buche stand und weit davon entfernt verwirrt zu sein. Der Hang zur Exzentrik machte ihn nicht unbedingt beliebt, aber damit konnte Emmi und er leben.

Johannes Myrthe war immer noch ein hoch gewachsener Mann mit deutlich schottischer Abstammung. Sein rotes Haar war mit der Zeit weiß geworden und seine Haut faltig, aber seine stolze Haltung machte aus ihm noch heute eine beeindruckende Erscheinung. Was nichts daran änderte, dass die Leute ihn für einen komischen Kauz hielten. Er war ein Querdenker auf allen Linien, vernachlässigte absichtlich seinen Garten, um das Unkraut wuchern zu sehen, aß zu viel Junkfood und trank reichlich schottischen Whiskey, um den Ärzten eins auszuwischen. Die Menschen mieden ihn und er die Menschen, aber niemand wusste etwas über seine überdurchschnittlich hohe Intelligenz und über seinen Reichtum. Denn, allem Anschein und jedem Geiz zum Trotz, hatte er Geld, Geld und nochmals Geld.

Emmeline machte sich sehr zeitig auf den Weg zum Frühstücksraum. Sie wollte keinen Trubel am Morgen und genoss es, eine der Ersten zu sein. Auf gesalzene Butter und labbriges Weißbrot hatte sie sich schon eingestellt, aber mit Eierspeise und leckeren Würstchen hatte sie nicht gerechnet. Der Duft alleine war schon eine Bereicherung und versetzte sie in Hochstimmung. Schon immer hatte sie Salziges vor Süßem bevorzugt – auch beim Frühstück. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen schubberte sie sich eine ordentliche Portion Eierspeise mit Würstchen auf ihren Teller und roch genussvoll daran. In Gedanken war sie bereits beim ersten Bissen, als ein dunkler Schatten hinter ihr auftauchte.

„Na? Essen Sie neuerdings mit der Nase?“, höhnte der Mann mit tiefer Stimme und Emmi fuhr herum. Er, schon wieder!

„Allmählich glaube ich, dass Sie mich verfolgen, Werteste. Und überhaupt ... was machen Sie eigentlich in Lissabon?“, fragte der unverschämte Kerl aus dem Flugzeug, der offenbar eine teuflische Freude daran hatte sie zu erschrecken und anzupöbeln. Doch auf einen Quickie der streitbaren Art hatte Emmi keine Lust. So tat sie das einzig Richtige und ... ignorierte ihn. Nicht einmal einen zweiten Blick gönnte sie ihm, da gab es kein Zittern der Lippen oder gar eine geballte Faust. Sie bewunderte sich für ihre Selbstbeherrschung und genoss es, ohne Antwort an ihm vorbeizugehen und in scheinbarer Gelassenheit zurück zu ihrem Tisch zu gehen. Worüber sollte sie sich auch mit einem brutalen Entführer und Spinner unterhalten? Etwa über die mangelnde Vielfalt am Buffet und den Vorschlag für gelbstichige Bestien rohe Steaks zu servieren? Ein dezentes Schnauben bestätigte ihr, dass ihre Taktik aufging.

Punkt für mich! ... dachte sie zufrieden, denn der Mann war ziemlich frustriert zurückgeblieben. Wobei ihr ‚zurückgeblieben‘ in diesem Zusammenhang mehr als treffend erschien. Lächelnd setzte sie sich an ihren Tisch und widmete sich endlich ihrem Frühstück. Mit der Zeit vergaß sie den finsteren Typen und begann ihr Essen richtig zu genießen, ebenso wie den schwärzesten Kaffee, den sie je gesehen hatte. Irgendwann blickte sie freilich schon durch den Raum, um den Störenfried zu suchen. Schließlich konnte man nur gezielt ignorieren, wenn man überhaupt wusste, wo sich der Gegner befand. Doch entweder war er der schnellste Esser der Welt oder er hatte sich beleidigt zurückgezogen und erst gar nicht gefrühstückt.

Aber das soll mir nur recht sein! ... dachte sie und stocherte wüst in ihrer Eierspeise herum. Je weniger sie mit dem düsteren Kerl zu tun hatte, desto eher und konzentrierter konnte sie sich ihrer Arbeit widmen.

Schon eine Stunde nach ihrem herrlichen Frühstück saß sie in einer der 27 städtischen Straßenbahnlinien von Lissabon. Die Linie 28 war legendär für ihre Fahrt durch schmalstes Gassenwerk und stellenweise mussten selbst Fußgänger in Hauseingänge flüchten, um den Schienenfahrzeugen auszuweichen. Für Emmi war es zwar ein kleiner Umweg, aber die Fahrt mit dieser Linie gönnte sie sich.

Eine halbe Stunde später stieg sie bei einer der drei Seilbahnen Lissabons aus und fuhr Richtung Gloria, um zum Bairro Alto zu gelangen, dem ältesten Stadtteil Lissabons. Dieser Teil war früher der Stadtteil der Reichen gewesen, hatte sich aber im Laufe der Zeit allmählich zum Stadtviertel der Kreativen und Künstler gewandelt. Genau dort gab es auch ein paar interessante Bibliotheken, die bis zum Abend geöffnet hatten.

Der kleine, weißgelb gestrichene Waggon der Seilbahn brachte sie zum Aussichtspunkt San Pedro de Alcántara, wo sich Emmeline wie im siebenten Himmel wähnte. Der Ausblick war herrlich, das Flair ein Traum. Sie fühlte sich wie eine Touristin und musste sich regelrecht zwingen, die geplante Tour durch die Bibliotheken zu starten. Viel lieber wäre sie durch die Straßen flaniert, hätte die Menschen beobachtet und in einem der süßen Literatur-Cafés einen kleinen Happen gegessen.

Aber das Leben war nun einmal voller Verpflichtungen und abgerungener Leistungen! Mit Freiheit oder etwas Urlaubsanspruch konnte sie bei ihrem exzentrischen Herrn nicht rechnen.

„Vergnügen ist Gift für die Disziplin!“, pflegte er stets zu sagen, wenn er seine Enkelin zur Ordnung mahnte und sie seine Appelle an Disziplin, Verantwortung und Aufrichtigkeit hinnehmen musste. Schon in jungen Jahren hatte sie erkannt, dass Rebellion nur schlecht für ihre eigenen Nerven war. Außerdem fühlte sie sich ihm verpflichtet, weil er sie aufgenommen und großgezogen hatte. Und zu allem Übel kam noch hinzu, dass sie ihn wirklich mochte – nein, liebte – Ihn ... den sturen, alten Bock, der so schwer Herzlichkeit zeigen konnte und doch mehr Liebe bewiesen hatte als ihre Eltern, die an einem grauen, kalten Novembertag einfach aus ihrem Leben verschwunden waren.

Verärgert wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel und stapfte in die erste Bibliothek, die auf ihrer Liste stand. Die Erinnerung an ihre Eltern erfüllte sie selbst nach Jahren noch mit Zorn und dem Gefühl im Stich gelassen worden zu sein. Dabei hatten sie keine Schuld an dem Autounfall gehabt. Niemand hatte das. Blitzeis war der Grund gewesen, warum Emmeline die zwei wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren hatte. Aber die Wut, die sie seitdem auf ihre Eltern empfand, war allemal besser, als der furchtbare Schmerz dahinter.

Die Luft in der Bibliothek war abgestanden und erinnerte an altes Gestein und Moder. Die dunkle Inneneinrichtung schien über hundert Jahre alt zu sein und die Beleuchtung war schlecht. Emmi begann zu zweifeln, ob sie hier auch nur einen einzigen Satz lesen würde können. Personal war auch keines zu sehen.

„May I help you?“, rief jemand plötzlich in perfekt britischem Englisch aus dem Hintergrund und Emmi wirbelte herum. Zuerst konnte sie in der Düsternis der dunkelroten Vorhänge niemanden erkennen, doch dann entdeckte sie zwischen den Falten des Stoffs einen kleinen alten Mann mit überdimensional großem Schädel und durchscheinender Haut. Sein spärliches Haar hatte er sorgsam in ein paar Strähnen über den Kopf gekämmt, seine Brille auf den untersten Rand seiner Nasenspitze gehängt. Mit strengen Augen betrachtete er die junge Besucherin. Durch seine Kopfform und den vielen Äderchen auf der Haut wirkte der Mann wie von einem anderen Stern. Lediglich die Brille schien real ... und mindestens so alt wie er.

Überrascht, aber auch seltsam betreten, stand Emmi da und wusste nichts zu sagen. Das Aussehen des Mannes überrumpelte sie total und beschwor in ihr ein beklemmendes Gefühl, wie zuletzt bei der Taxifahrt mit Mr. Finster. Weil Emmi aber keinen Ton herausbrachte und nur dumm glotzte, zogen sich die Augenbrauen des Mannes unwirsch zusammen.

„Hmmmm?“, brummte er ungeduldig und Emmi erwachte aus ihrer Erstarrung. Dornröschen wurde ja angeblich stets von einem schönen Prinzen wachgeküsst, aber bei Emmeline funktionierte das auch mit dem grantigen Brummen eines alten Schreckschrauberichs.

„Oh, ... äh, ... sorry! Hello and so. Do you speak German?”, fragte Emmi, weil sie zwar Englisch sprechen konnte, in ihrer Muttersprache aber doch versierter war – zumindest dann, wenn keine seltsamen Sprechblockaden ihre Zunge lähmten oder seltsame Formulierungen wie „Hallo und so“ auf Englisch rauspolterten.

„Oh, Sie sind Deutsche! Na, dann ist ja alles klar“, grinste der alte Wicht und machte dabei eine Miene, als würde er eher etwas Anzügliches denken, als die Sprache beherrschen.

„Nein. Ich komme aus Österreich, nicht aus Deutschland ... das ist aber so ähnlich.“

„So ähnlich? Werte Dame, dann wissen Sie aber nicht allzu viel über Ihr Land, oder?“, belehrte der Alte sie unverschämt und machte Emmi erneut sprachlos. Was für eine Frechheit war das nun wieder? Seit sie in dieses Land gekommen war, schien es nur noch Idioten der Gattung Mann zu geben. Sie aber wollte keinen Ärger, sondern die richtige Information. Also schluckte sie die bissige Bemerkung herunter, die ihr auf den Lippen lag, und versuchte ein Lächeln.

„Ich brauche bitte Zugang zu diesen Büchern hier auf der Liste!“, sagte sie freundlich und deutete auf das Blatt von ihrem Großvater. Der Mann horchte auf und schob sich die Brille weiter hinauf.

„Hm, zeigen Sie mal her!“, forderte er knapp und riss ihr das Blatt unfreundlich aus der Hand. Zuerst wirkte er noch weiter arrogant, doch dann schossen seine Augenbrauen überrascht in die Höhe und zogen sich sogleich wieder konzentriert zusammen.

„Warum haben Sie nicht gleich gesagt, dass Sie im Auftrag von Johannes Myrthe kommen?“, fuhr er sie an. „Mädchen, dann wäre ich sicher nicht so abweisend gewesen. Sie müssen verstehen ... die Touristen heutzutage wissen eine gute Bibliothek nicht zu schätzen, haben keinen Sinn für das Besondere und zerstören aus purer Langeweile wertvolle Werke mit ihren unwissenden, schmutzigen Händen!“

„Unwissende Hände?“

„Ach, papperlapapp! Sie wissen schon was ich meine! Und nun ... kommen Sie! Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“

4. Kapitel

Es war nicht gerade das berauschendste Erlebnis und auch nicht das effizienteste, aber im Laufe des Tages hatte sie ein paar wertvolle Informationen zusammengetragen und nebenbei den besten vinho tinto aller Zeiten getrunken. Der Bibliothekar hatte ihr um die Mittagszeit ein kleines Restaurant empfohlen, wo sie eben diesen köstlichen Rotwein und die Nationalspeise, den „bacalhau“, probiert hatte, der sich jedoch als wenig erquicklicher Stockfisch herausgestellt hatte. Die kleine Portion „sardhinas assadas“, also die gebratenen Sardinen, hatten sich hingegen zu einer wahren Gaumenfreude entwickelt. Dazu waren die Kellner nett und sichtlich erfreut über Emmis beherzten Versuch, alles in Landessprache zu bestellen. In Frankreich wäre sie für diesen Versuch eher mit Arroganz und Ignoranz bestraft worden, doch hier schenkte man ihr sogar einen netten Flirt. Und der entschädigte sie für all die Unannehmlichkeiten, die sie in letzter Zeit mit der Spezies Mann erlebt hatte.

In Gedanken noch bei dem guten Essen und dem hübschen Kellner ging Emmeline zurück in ihr Hotel und stieß prompt ... ja klar ... mit Nervensäge Nummer Eins zusammen. Nein, eigentlich rannte sie plump in seine Seite hinein, weil sie von einer Gruppe kichernder und knipsender Japaner abgelenkt worden war.

„Oh, Gott! Das ist mir aber jetzt toootal peinlich“, scherzte sie, weil sie ein wenig beschwipst war und nicht verstehen konnte, einen Betonpfeiler wie ihn übersehen zu haben. Er reagierte zwar mit einem unterdrückten Fluch, schien sich aber nicht einmal mehr an sie erinnern zu können. Mr. Finster erinnert sich nicht an mich? Aber hallo! Was war das nun wieder für eine Frechheit? Das machte sie ja fast noch wütender, als wenn er sie gleich dumm angemotzt hätte.

„Ach so! SIE sind das!“, scherzte er dann doch auf seine üblich herablassende Art, während er sie mit einem schiefen Grinsen von oben bis unten taxierte.

„Wissen Sie, so betrunken habe ich Sie nicht gleich erkannt“, lachte er hart und verstörend unangenehm. Emmi blieb vor Empörung der Mund offen.

Betrunken? Das bisschen Rotwein konnte er unmöglich bemerkt haben und überhaupt: Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Sengende Wut bahnte sich den Weg durch ihren Körper und verlieh ihrer Zunge Flügel, wenn auch auf recht primitive Art.

„SIE brauchen mir über Alkohol gar nichts zu erzählen, Sie leberkranker Idiot!“, keifte sie und hätte sich danach am liebsten auf die Zunge gebissen, weil sie es nicht ganz so schlimm hatte formulieren wollen. Aber dieser Typ schaffte es einfach stets ihre unterste Schublade zu öffnen. Seine Antwort wollte sie jedenfalls lieber nicht abwarten, denn seine Augen blitzten sofort böse auf. Mit einer raschen Schrittfolge versuchte sie an ihm vorbei zu huschen und einer aggressiven Revanche zu entkommen. Doch das war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit bei einem Holzklotz von Mann. Mit nur einem gezielten Schritt verstellte er ihr gleich wieder den Weg.

„Leberkrank? ... Idiot?“, zischte er mühsam beherrscht, während seine Augen gefährlich blitzten und sein massiger Körper eine einzige Bedrohung darstellte. Emmi hatte Angst vor ihm, das spürte sie deutlich an ihrem flattrigen Gefühl, doch aus irgendeinem Grund konnte sie nicht aufhören, schnippisch zu sein. Der Alkohol nahm ihr die Hemmung und im Schoß der Empfangshalle, unter all den Leuten, fühlte sie sich sicher. Zumindest sicherer als in einem engen Taxi.

„Hmhm!“, brummte sie daher mit keck hochgezogener Augenbraue, weil sie ihm das gestern schon so genussvoll an den Kopf geworfen hatte. Und das funktionierte auch heute bestens, denn seine letzten, noch verbliebenen Tassen im Schrank schienen augenblicklich zu bersten. Die Explosion im Oberstübchen ließ seine Pupillen wieder auf Stecknadelgröße schrumpfen und den Augapfel ungewöhnlich groß und hervorquellend aussehen. Es wirkte so, als würde der schwarze Teil seiner Augen in sich hineingezogen werden und dieser Vorgang war so erschreckend und unheimlich, dass Emmi laut zu keuchen begann.

„Sie!“, brüllte er und zeigte mit seinem großen Finger auf Emmis Kopf. „Sind wirklich die absolut größte, unmöglichste ...“ Er stockte und wurde etwas leiser. „... und dürrste Nervensäge, der ich je begegnet bin!“ Was Emmi dann wieder total überraschte, weil sie mit einem Frontalangriff gerechnet hatte und nicht etwa mit einem kleinen Seitenhieb. Für ihr Verständnis hatte er nur gezeigt, dass er selber durcheinander war, denn er hatte nichts Schlimmes gesagt, sondern lediglich ihren schlanken Körper bemerkt. Trotzdem konnte sie das natürlich nicht auf sich sitzen lassen.

„Dürr? Sie spinnen ja wohl! Ich esse genug ...“

„... und trinken zu viel!“, unterbrach er sie gekonnt und Emmi holte tief Luft, um nicht an ihren verschluckten Worten zu ersticken. Außerdem musste sie an sich halten, ihm nicht eine Grimasse zu schneiden. Die zwei Gläschen Rotwein waren doch ein Scherz für einen Alkoholiker wie ihn! Wieso also sprach er immerzu davon? Sie roch vielleicht nach etwas Wein, aber er dafür wie nach einem ganzen Fass voll penetrantem Aftershave. Die längste Zeit schon verstellte er ihr den Weg und verbreitete mit seinem Geruch Übelkeit.

„Jetzt gehen Sie mir endlich aus dem Weg, Sie ... Sie Intensivler!“, rief sie aufgebracht, fuchtelte mit den Händen herum und machte einen demonstrativen Schritt zur Seite. Ursprünglich hatte sie „Intensivstationsflüchtiger“ sagen wollen, doch dieses lange Wort hätte sie, bei all dem Ärger und dem vielen vinho tinto, nicht fehlerfrei herausgebracht. Durch ihren Sidestep musste also selbst ein Bekloppter merken, dass jetzt Schluss war mit lustig. Doch der Kerl war einfach ein Meister der Ignoranz. Schon wieder verstellte er ihr den Weg, nur dieses Mal mit einem deutlich hörbaren Knurren.

„Verzeihen Sie schon, Missi!“, ätzte er und rückte etwas näher. Emmi ging einen Schritt zurück. „Was meinen Sie wohl genau mit dem Wort Intensivler?“, fragte er mit gefährlicher Präzision und setzte ihr nach. Sein Atem war viel zu nahe, sein Geruch zu stark. Wie unsichtbare Nebelschwaden schien etwas Giftiges aus diesem Mann zu strömen und in ihre Richtung zu wabern. Emmi spürte den Alkohol in ihrem Blut und wankte etwas, aber sie gab nicht auf und ging weiter zurück. Der Mann aber folgte ihr, als würde er an ihrer Aura kleben, parierte jeden Schritt mit einem Gegenschritt und tat so, als würde er mit ihr tanzen. Es war ein befremdender Gleichklang zweier Körper, die sich auf Distanz hielten und doch eigentlich verbunden schienen.

Zu Emmis Erstaunen waren seine Augen heute kein bisschen mehr gelbstichig. Vielmehr leuchteten sie jetzt in einem kalten Weiß, das an hart gekochte und geschälte Eier erinnerte. Mit jeweils einem winzigen Zeck in der Mitte, der ihr zuwinkte und nur darauf lauerte seine vergifteten Zähne in ihre Haut zu bohren. Von Dekorationsmaterial für Halloween waren diese Dinger jedenfalls nicht weit entfernt.

Schnell schüttelte sie diese absurden Gedanken ab, blieb stehen und straffte ihre Schultern. Einschüchtern wollte sie sich nicht lassen. Nicht von ihm oder sonst wem.

„Was ich damit meine? Nun, gestern haben Sie ausgesehen, als wären Sie geradewegs aus einem Krankenhaus abgehauen, kurz vor Ihrer Lebertransplantation. Derart gelbstichige Augen sind ja wohl das Letzte! Ich vermute daher, dass Ihnen der Arsch auf Grundeis gegangen ist und Sie aus der Intensivstation abgehauen sind. Daher die Bezeichnung Intensivler. Comprendre?“ Emmi war zwar stolz, wie flüssig sie diesen Schwachsinn von sich gegeben hatte, dachte aber eigentlich nur noch daran, dass sie diese Konfrontation nicht länger wollte. Auf der einen Seite war der Typ nicht normal und sie eingeschüchtert von seinem seltsamen Auftreten, auf der anderen Seite aber reizte sie etwas an ihm, ständig weiterzumachen und das kostete allmählich Kraft. Außerdem war sie müde und nur noch darauf aus in ihr Zimmer zu kommen, um das Informationsmaterial aus der Bibliothek zu sortieren. Hunger hatte sie auch schon wieder, also wollte sie hier nicht länger stehen und streiten.

Mit seiner Reaktion auf ihre Worte hatte sie jedoch nicht gerechnet. Denn er wurde nicht laut oder noch wütender, sondern begann zu lachen. So herzhaft und ungezwungen, dass Emmi vollkommen baff dastand und sich gar nicht mehr auskannte.

„Ich spreche zwar kein Französisch, Lady, aber das habe ich verstanden“, lachte er in Bezug auf ihr Comprendre und schien weiterhin in plötzlicher Heiterkeit zu verharren. Der Typ war aber schon etwas sonderbar, wenn er so einfach von „Ich töte dich, ich töte dich!“ auf „Okay, ich lach jetzt!“ umschwenken konnte. Wirklich spaßig fand Emmi das nicht.

„DAS war es also!“, lachte der Kerl inzwischen weiter und zwinkerte Emmi fröhlich zu. Die brauchte aber noch etwas, um die veränderte Atmosphäre für echt zu halten. Auf Heiterkeit war sie bei dem finsteren Freak irgendwie nicht programmiert.

„Deswegen haben Sie mich im Flugzeug so angeekelt angesehen! Wegen trüber Augen nach einer durchzechten Nacht! Jetzt verstehe ich alles“, erklärte er gespielt empört und lachte weiter.

„Ich habe Sie nicht angeekelt angesehen“, konterte Emmi automatisch, obwohl sie bereits begriffen hatte, dass es ihm mit der Fröhlichkeit ernst war.

„Ach, Lady!“, grinste er immer noch und guckte dabei so verwirrend freundlich, dass Emmi endlich ein erstes Lächeln versuchte.

„Nun gut, vielleicht ein bisschen. Sie waren aber auch ein Ekel ... äh ... sind ein Ekel. Oh verflucht, ich wollte nicht schon wieder anfangen. Entschuldigung!“, meinte sie erschrocken und hielt sich den Mund zu, obwohl sie nun ebenfalls kichern musste. So ungeschickt hatte sie sich ja noch nie beim Streitschlichten angestellt! Sie probierte einen neuerlichen Ausfallschritt zur Seite, denn die Konfrontation war ja offenbar vorbei.

---ENDE DER LESEPROBE---