Zeitreise ins Leben - Sabineee Berger - E-Book
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Zeitreise ins Leben E-Book

Sabineee Berger

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Beschreibung

Eine magische Reise ermöglicht einer jungen Frau die Flucht aus dem eintönigen Leben des 21ten Jahrhunderts. Sie landet im Jahr 1212, zur Zeit Friedrichs des Zweiten, und wird schon bald mit den Gefahren und Wirrungen des Mittelalters, aber auch mit der Liebe ihres Lebens konfrontiert. Ritter Raimund von Rabenhof ist jedoch alles andere als der erwartet edle Ritter, verstrickt sie in eine mörderische Intrige gegen den König und lässt sie dennoch zwischen Leidenschaft und Gewalt ihr wahres Ich, sowie ihre ureigenste Bestimmung, entdecken.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

1.Kapitel

2.Kapitel

3.Kapitel

4.Kapitel

5.Kapitel

6.Kapitel

7.Kapitel

8.Kapitel

9.Kapitel

10.Kapitel

11.Kapitel

12.Kapitel

13.Kapitel

14.Kapitel

15.Kapitel

16.Kapitel

17.Kapitel

18.Kapitel

19.Kapitel

20.Kapitel

21.Kapitel

22.Kapitel

23.Kapitel

24.Kapitel

25.Kapitel

26.Kapitel

27.Kapitel

28.Kapitel

29.Kapitel

30.Kapitel

31.Kapitel

32.Kapitel

33.Kapitel

34.Kapitel

35.Kapitel

36.Kapitel

37.Kapitel

38.Kapitel

39.Kapitel

Danksagung

Buchquellen

Impressum

Vorwort

Ich schreibe intuitiv. Natürlich gibt es bewusst oder unbewusst Impulse und Ideen, aber der Rest verwebt sich wie von selbst und wird ergänzt durch Recherche.

Zeitreisen an sich haben mich immer fasziniert und etwas in mir glaubt, dass dies mehr oder weniger möglich ist. Zumindest bin ich mir sicher, dass es zeitlose Momente gibt. Momente, wo nur das Jetzt zählt und das Erleben so einprägsam und intensiv ist, dass sie für die Ewigkeit bleiben. Ewigkeit ist für mich sowieso keine Aneinanderreihung endlos langer Zeit, sondern gänzlich frei von Zeit. Und es gibt sie diese Momente, auch wenn sie manchmal schlichter Natur scheinen, sind es genau diese Momente die bleiben.

Dieser Roman hat mich über viele Jahre beschäftigt und war für mich stets wie ein Aufblitzen von Zukunft und Vergangenheit zur gleichen Zeit. Selbst mit aktuellen Ereignissen lässt sich die eine oder andere Passage in Verbindung bringen, aber natürlich soll der Roman in erster Linie unterhalten, emotional bewegen und das Erleben einer völlig anderen Zeit möglich machen.

Viel Vergnügen!

Prolog

Es war einer dieser schönen Herbsttage, warm, sinnlich und angereichert mit bunter Vielfalt. Die Bäume vor meinem Fenster schillerten in den prächtigsten Rotorangetönen und bildeten einen herrlichen Kontrast zum strahlenden Blau des Himmels. Die Luft war klar und durchzogen vom satten Duft vergorenen Obstes. Die Zartheit des Frühjahrs und die Kraft des Sommers vereinten sich auf natürliche Weise in diesem Aroma und umspielten meine Nase in herrlicher Reife. Momente wie diese waren ein Fest für alle Sinne und für einen Genussmenschen, wie mich, so wichtig wie das tägliche Essen oder der monatliche Gehaltsscheck. Es waren wertvolle Augenblicke, Möglichkeiten zur Besinnung zu kommen oder schlicht die Gelegenheit inne zu halten.

So stand ich mit einem Glas Rotwein in der Hand beim Fenster und genoss die letzten, warmen Sonnenstrahlen des Tages. Die Klatschzeitung hatte ich schon lange beiseitegelegt, die Ablenkung nur kurz genossen. Jetzt galt es Energie zu tanken und nachzudenken, denn schließlich hatte ich vor mein Leben gehörig umzukrempeln. Im Prinzip gab es dazu keinen konkreten Anlass, denn an der Oberfläche schien alles in Ordnung und eitle Wonne, Sonnenschein. Doch die nagende Unzufriedenheit in meinem Inneren war nicht länger zu verleugnen, brodelte regelrecht im Untergrund und forderte eine Veränderung. Ich hatte keinen Partner, doch das war offenbar nicht das Hauptproblem. Es war mehr so eine schleichende Gleichgültigkeit, die ich witterte und das Gefühl von Wertlosigkeit, das mich regelmäßig zu Boden drückte. Ich wusste, ich war an der Grenze zur Depression, versuchte tapfer den Kopf über Wasser zu halten und mich auf die schönen Momente des Lebens zu konzentrieren. Vor allem aber wollte ich keine Tabletten schlucken, nur um unauffällig weiter zu funktionieren, in einer Gesellschaft, die an Gleichmut nicht zu überbieten war. Es musste etwas geschehen, etwas Essentielles und Verbesserndes! Das Wie und Wann war mir noch nicht klar, dafür aber die Wichtigkeit und auch das Bedürfnis, nicht nur Symptome behandeln zu wollen, sondern gleich die Wurzel allen Übels zu packen. Ein Valium hier, ein One-Night-Stand dort ... das hatte doch alles keinen Bestand und schon gar keinen Sinn! Ein herrlicher Herbsttag, wie dieser, bot hingegen die Gelegenheit den normalen Alltagsfluss zu unterbrechen, einen Schritt aus dem täglichen Geschehen heraus zu machen und die Sinne zu öffnen für die Welt und ihre wunderschönen Bilder, für ihren Duft und für ihren exzellenten Geschmack. Es war der richtige Weg für positive, befruchtende Gedanken, anstatt in dumme Grübelei zu verfallen.

Wenn ich mein Leben also Revue passieren ließ, kam ich zu dem Schluss, dass es mir im Prinzip an nichts fehlte. Ich hatte einen guten Job, eine nette Wohnung und sogar ein Auto, obwohl die öffentlichen Verkehrsmittel diesen Luxus nicht notwendig machten. Ich war unabhängig und hatte so gut wie alles. Es ging mir gut und ich vermisste dennoch den essentiellen Kick. Mit 28 Jahren war es für eine Midlifecrisis viel zu früh und so schob ich meinen Zustand hauptsächlich auf die Anforderungen meiner Zeit, auf das Zuviel an Nichtigkeiten, die erstickende Fülle und natürlich ... auf die fehlende Liebe.

Frau Fontner hier, Frau Fontner dort ... liebe Elisabeth dies, liebe Elisabeth das ... so etwas gab es oft genug, doch nie hatte ich das Gefühl wirklich gebraucht oder geliebt zu werden. Zusätzlich vermisste ich etwas, das ich nicht in Worte fassen konnte, aber jeden Tag zu spüren verhoffte. Es war nicht einfach nur das Fehlen einer Partnerschaft oder einer eigenen Familie, es war bedeutend umfangreicher und subtiler. So als wäre mir der Sinn des Lebens entglitten oder gar ein Teil meines Selbst verloren gegangen. Vielleicht hatte ich irgendwann den rechten Weg verlassen, ohne es zu merken und war nun nicht mehr in der Lage umzudrehen oder die nächste Abzweigung zu nehmen. Nachdenklich schwenkte ich das Glas in meiner Hand und bewunderte das Funkeln des herrlich roten Weins. Was für ein Geschenk der Natur... rubinrot und vollmundig, mit einem Duft aus Beeren und Eichenholz! Die Sonnenstrahlen tanzten fröhlich darin und verstärkten den Eindruck von Kraft und Lebendigkeit.

Ja! Momente wie diese waren kostbar! Man musste nur genau hinsehen und die Schönheit und das Gefühl dazu ins Leben holen, um die Seele zu bereichern und zu nähren. Solch eine Besinnung war wichtig, wenn auch meist einsamer Natur. Melancholie lag in der Luft, doch ich bemerkte vor allem auch ein vages Gefühl der Hoffnung. Zart und kaum wahrnehmbar. Es war neu und nicht rational zu erklären, aber es war der Grund, warum ich letztendlich ganze zwei Stunden an diesem Fenster stehen blieb.

Das Glas war ziemlich geleert, die Sonne untergegangen und die Bäume in diffuse Farblosigkeit getaucht, aber ich stand beharrlich an meinem Platz und stierte weiter hoffnungsvoll in die Dämmerung. Als würde eine fremde Macht mich auffordern zu warten, um den Mut nicht zu verlieren. Gut, ganz verrückt war ich noch nicht, denn immerhin schaffte ich es im Wohnzimmer Licht zu machen und mir zwischendurch einen Sessel zu organisieren, aber ich wartete weiter, ohne zu wissen worauf.

Und schließlich passierte etwas Seltsames! In der Dunkelheit des Hofes bemerkte ich eine ungewöhnliche Bewegung. Sie wirkte irgendwie verschwommen oder zu schnell. Vielleicht war es auch eine kurze Erscheinung, ein Aufblitzen eines Bildes oder einfach etwas, das ich nicht zuordnen konnte. Wie elektrisiert starrte ich zu der Stelle, um etwas zu erkennen, doch wegen meiner leichten Kurzsichtigkeit konnte ich bei dem Licht nicht ganz scharf stellen. Ich blinzelte wie verrückt und kniff die Augen zusammen, doch ich sah nur undeutlich, wie durch einen Schleier. Dafür spürte ich umso klarer einen eisigen Schauer auf meiner Haut.

Dort war etwas!OderJemand! Mein Herz hämmerte und ich klebte bereits an der Scheibe, wie eines dieser Fensterbilder, die keiner mochte. Ja, die Bewegung schien sich zu wiederholen, wurde dadurch aber kein bisschen klarer oder zuordenbarer. Also löste ich mich mit aller Kraft vom Glas und sprintete zum Kasten, um meine Brille für diverse Notfälle herauszuholen. Notfälle, wie Autofahren bei Nacht oder spätes Laternengucken, wie eben jetzt. Rasch stülpte ich mir das Ding auf die Nase und drückte mein Gesicht erneut an die Scheibe. Das leise Klirren der Brillengläser am Fenster hielt mich nicht davon ab, weiterhin kleine Dunstflecken auf der glatten Fläche zu produzieren.

Nichts, verdammt! Dieses dubiose Etwas war fort! Dort draußen war nichts als kühle, herbstliche Dunkelheit. Meine Beine zitterten dennoch und die Gänsehaut auf meinen Unterarmen zeigte, dass ich mir das nicht nur eingebildet hatte. Jemand hatte dort unten gestanden und mich beobachtet, zu mir heraufgesehen und intensives Interesse gezeigt. Hastig griff ich nach dem Rotweinglas, das ich fast zur Gänze schon geleert und auf dem Couchtisch abgestellt hatte. Das mulmige Gefühl wurde ich aber selbst nach dem letzten Tröpfchen nicht mehr los. Ein wenig ratlos stand ich noch herum, dann ließ ich kurzerhand die Jalousien herunter und ging sogar zur Eingangstür, um das Schloss zu überprüfen. Alles gut verriegelt, dachte ich mir und atmete erleichtert aus. Es gab keinen Grund hier gleich durchzudrehen.

Ein wenig später kauerte ich mich auf meine Couch und kam zu der Erkenntnis, einer Täuschung erlegen zu sein. Dieses Etwas im Hof hatte aber auch zu seltsam ausgesehen und eine noch viel seltsamere Reaktion bei mir ausgelöst. Gut, ich hatte nur Umrisse und ein vages Aufflackern erkannt, aber wie sollte ich eine durchscheinende Gestalt auf einem ebenso durchscheinenden Pferd erklären? Kurzsichtig oder nicht ... unter der Straßenlaterne hatte ich mehr gesehen, als ich je gewollt hatte. Dabei glaubte ich noch nicht mal an Gespenster! Egal, wie sehr mir selbst jetzt noch die Härchen zu Berge standen.

In dieser Nacht wälzte ich mich unruhig im Bett und träumte die verrücktesten Sachen. Von einer Geisterwelt, die mich aufnahm oder eigentlich mehr verschlang. Von bösen, widerlichen Gestalten mit roten leuchtenden Augen, die mich betatschten und mir Schmerzen zufügten. Ich träumte von einer Welt in Grau, verpackt in Zellophan mit nichts als fauliger, nasser Erde darin. Seltsame Geräusche, widerliche Düfte und ein unheilvolles Gefühl von Angst und Panik, waren der ganze Inhalt dieses Horrors, der mich schließlich hysterisch in die Höhe schrecken ließ.

Abgehetzt und nach Luft ringend, saß ich da und konnte nur langsam Orientierung finden. Etwas Derartiges hatte ich bisher noch nie geträumt, schon gar nicht in solch lebendigen, grausamen Bildern. Als hätte ich ein Tor zu einer anderen Welt geöffnet und ein wenig davon in mein eigentliches Leben gelassen. Selbst der Gestank von Moder schien weiter in der Luft zu hängen. Ich war ziemlich durcheinander, schaltete das Licht auf meinem Nachttisch ein und nahm mir Zeit meine Atmung zu beruhigen. Was für ein Schwachsinn! In Gedanken fächelte ich die Reste des Traums und den ekelhaften Geruch aus meinem Kopf. Erst danach stand ich langsam auf, um mir ein Glas Wasser aus der Küche zu holen. Auf dem Weg dorthin, konnte ich es natürlich nicht lassen, die Jalousien ein wenig anzuheben und einen Blick in den Hof zu werfen. Das Herz schlug mir dabei bis zum Hals, weil ich aufgeregt war, aber wie erwartet, hockte dort unten natürlich kein Geist auf seinem ebenso geisterhaften Pferd. Nein, nein! Es existierte keine Bedrohung der besonderen Art. Im Gegenteil! Alles und jeder in dieser Siedlung schien friedlich zu schlafen, gut zu träumen und mit seinen Lieben zu kuscheln. Alles und jeder … außer mir, versteht sich. Der Albtraum hatte mich richtig geschockt und die grässlich knorpeligen Finger waren noch nicht so verblasst, wie ich es mir wünschte. Auf eigentümliche Art blieben sie weiterhin auf meiner Haut spürbar. Schleimige kleine Fingerchen, die zugedrückt hatten, um mich in die Tiefe zu ziehen und spitze kleine Nadeldinger unter meine Haut zu treiben.

„Verrücktes Huhn!“, schalt ich mich absichtlich laut, um mir zu verdeutlichen, dass dieser Schwachsinn aus den Untiefen meines Unterbewusstseins kommen musste. Außerdem wollte ich mich selbst reden hören, Lärm machen, Geister vertreiben. Das mulmige Gefühl blieb dennoch und entsprechend brummig stellte ich das leere Wasserglas zurück in die Spüle. Wenigstens schaffte ich es auf dem Retourweg nicht noch einmal die Jalousien zu heben und nach einem Gespenst Ausschau zu halten.

Die nächsten beiden Tage zeigten leider keine Spur mehr von schönem, spätsommerlichem Wetter. Im Büro war wahnsinnig viel zu tun und jeder irgendwie mies gelaunt. Endlich aus der Arbeit zu kommen war das einzige Ziel, obgleich es draußen dann bereist meist finster und kalt war. Der absolute Nullpunkt meines Gemütszustandes wurde jedoch erreicht, als auch noch ein frühzeitiger Nieselregen einsetzte.

Shit, shit, shit … brummte ich und verwünschte die Zeichen des grauen Herbstwetters, weil es sich schon im Oktober so unverschämt breit machte. Verdrossen ging ich an diesem Tag zur U-Bahn und fuhr mies gelaunt und überaus zickig mit hundert anderen Zicken und Zickern Richtung Heimat. Wirklich eilig hatte ich es nicht, denn Zuhause gab es niemanden, der auf mich wartete. Meine hoch gelobte Freiheit war natürlich wunderbar, an Tagen wie diesen jedoch einfach nur einsam und erdrückend. So hatte alles wohl eine Kehrseite oder ich auch nur gerade die berühmte Arschkarte gezogen, denn bei Nieselregen war es schon verdammt schwer nicht in Trübsinn zu versinken. Da war das Leben plötzlich nicht mehr ganz so durchzogen von schönen Momenten oder bereichert von herbstlicher Vielfalt. Es schien vielmehr nur noch aus Aufstehen, U-Bahn, Büro, U-Bahn, Fernsehen und Schlafen zu bestehen. Meine miese Laune hing also offenbar wirklich vom Wetter ab, was mich – in Hinblick auf den bevorstehenden Winter – nicht gerade zuversichtlich stimmte.

Zuhause machte ich es mir dann vor meinem ultradünnen LED-Fernseher gemütlich und blieb während dem Durchschalten gleich einmal an einer Dokumentation über Hexen und Hexenkult hängen. Schnell holte ich mir noch eine Schüssel Popcorn und verdrückte die Hälfte davon gleich auf dem Weg zur Couch. Voller Erwartung warf ich mich dann in die Kissen und erreichte schließlich bald meine heiß ersehnte Gemütlichkeit. Der Bericht über Hexenwesen war zwar nicht gerade neu, aber in seiner Oberflächlichkeit ganz unterhaltsam. Vor allem aber die Infohotline am Ende des Beitrages weckte mein Interesse.

„Sie suchen Hilfe und Beratung oder wollen Ihre Zukunft ändern? Dann rufen Sie an!“ So einfach stand es dort in leuchtenden Buchstaben und brachte etwas in meinem Unterbewusstsein zum Klingen. Richtig erklären konnte ich es nicht, doch ich gab dem spontanen Impuls nach und notierte mir die Nummer. Erst danach entdeckte ich auf einem anderen Sender einen alten Piratenschinken und ärgerte mich, dass ich nicht gleich zu den braungebrannten und muskelbepackten Männern in Rüschenhemden umgeschaltet hatte.

In dieser Nacht träumte ich wieder von diesen knorpeligen Fingern, die mich hemmungslos drückten und peinigten. Es war genauso intensiv wie in der ersten Nacht, nur noch fauliger und schleimiger. Der Morast kam unaufhaltsam näher, presste sich an meine Kinnkante und drohte mich zu ersticken. Die Situation war so grauenhaft, dass ich nur noch fliehen wollte. Fort ... einfach nur fort. Und dann geschah etwas sehr Unerwartetes: Eine schimmernde Hand tauchte wie aus dem Nichts auf, bot sich hilfreich an und legte sich wunderschön und warm über meine Seele. Diese Hand zog mich aus dem Morast und vertrieb die grässlichen Gestalten. Sie war wie ein Geschenk und so vertraut, als wäre sie meine eigene. Mit ihrer sanften Berührung zog sie mich in den Bann und erfüllte mich mit Kraft, absoluter Liebe und einer Intensität, in der ich vollkommen aufging und schwelgte. Es war das ultimative Glücksgefühl, zumindest so lange, bis das Unvorhergesehene, das Entsetzliche schlechthin, passierte, denn die wunderbare Hand wurde heftig attackiert und schließlich sogar abgetrennt. ABGETRENNT! Ich schrie entsetzt auf. Die Fontäne Blut war entsetzlich und der Schock über den plötzlichen Verlust von Wärme und Liebe unbeschreiblich. Und ich konnte einfach nur noch schreien, schreien, schreien. Es war der Horror schlechthin und … einfach nur mehr absurd.

Am nächsten Morgen schon griff ich zum Hörer, um Hilfe bei dieser Hotline zu finden. Der Albtraum war der letzte, berühmte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Ich wollte meine Zukunft ändern, den Traum deuten lassen und dafür einen Termin bei Frau Rosa, Wahrsagerin und Hellseherin, festlegen. Die Anmeldung bei ihrer Assistentin stimmte mich dann beinahe wieder um, doch letztendlich wollte ich keinen Rückzieher machen oder gar feige wirken. Die Assistentin hatte einen harten, kaum verständlichen Akzent und wirkte wohl alleine dadurch schon etwas unfreundlich. Dazu war der Preis von € 200,- so hoch, dass es mir förmlich die Schuhe auszog.

„Dafürrr ist Frau Rrrrosa so lange fürrrr Sie da, wie Sie wollen und Sie brauchen“, hatte die Assistentin pflichtbewusst ergänzt und mich damit dann doch noch rumgekriegt.

Vor dem Hauseingang der Hagengasse 24 trällerte ich bereits ein fröhliches Lied und war voller positiver Erwartungen. Mit dem Finger suchte ich die Namensliste der Hausparteien durch, bis ich bei „Rosa Weberknecht – Lebensberatung“ hängen blieb.

Weberknecht! Was für ein Name! Der Gedanke an eine Hexe mit Namen Weberknecht produzierte automatisch Bilder von Spinnen, Buckel, Warze und schiefer Nase. Ich zauderte kurz, drückte dann aber den Knopf der Sprechanlage. Wenn ich schon so weit fuhr, wollte ich nicht gleich wieder kehrt machen. Und was sollte schon passieren?

Statt einer Antwort auf mein Klingeln, ertönte nur der Summer, der die Tür öffnete. Kein „Hallo!“ oder eine Orientierungshilfe wie „Kommen Sie bitte in den ersten Stock!“. Diese unpersönliche Vorgehensweise enttäuschte mich ein wenig, aber ich wollte nicht im Vorfeld allzu kleinlich sein. Vor der Tür Nummer acht (der Zahl der Kraft) wurde ich dann doch etwas nervös. Immerhin hätte mir ja Spinne Thekla persönlich die Tür öffnen oder eine Verrückte zum Vorschein kommen können.

Als die Tür dann aber geöffnet wurde, erkannte ich, wie falsch ich in Bezug auf Warze, Buckel oder Spinne lag und wie unsicher ich offenbar einfach nur war. Rosas reale Attraktivität war nämlich unumstritten und eine echte Erleichterung. Sie war vermutlich um die 40 Jahre alt, wirkte sehr modern, intelligent und aufgeschlossen.

„Grüß Gott!“, sprudelte ich übertrieben schnell hervor und fragte mich, ob ein göttlicher Gruß bei einer Hexe überhaupt angebracht war. Doch Rosa zeigte keine Spur von Ärger oder Befangenheit, lächelte mich freundlich an und deutete mir einzutreten.

„Servus, Elisabeth!“, erwiderte sie und zerstreute mit ihrer Natürlichkeit gleich alle meine Bedenken. Sie sah wirklich toll aus in ihrem weißen, fließenden Kleid. Dazu hatte sie ihr blondes Haar hochgesteckt und ein paar einzelne Strähnen ins Gesicht gezupft. Ihre Lippen waren extrem rot geschminkt und bildeten einen starken Kontrast zu ihren grünen, katzenhaften Augen. Die Aura, die sie umgab, war mystisch und geheimnisvoll. Ja, selbst ihre Wohnung war etwas Besonderes. Hell und freundlich, wie meine, aber viel leidenschaftlicher und lebendiger eingerichtet. Die Intensität der Räume war beeindruckend und erschlagend zugleich und ich sofort so aufgedreht durch den Anblick, dass ich von einem Zimmer ins anderen huschte, um mir alles anzusehen. Masken aus Holz blickten mir kampflustig oder ekstatisch entgegen und verzauberten mich mit ihrer schönen, oft simplen Machart. Die Bilder an den Wänden waren alles andere als einfach und in ihrer Farbenpracht eine Sensation. Windspiele, Räucherstäbchen und skurriles Mobiliar ... alles zusammen lieferte sich einen regelrechten Schlagabtausch, betäubte meine Sinne und wühlte mein Innerstes auf. Hier gab es Schnickschnack aus aller Welt und das so harmonisch platziert, dass nichts davon kitschig wirkte. Die Wohnung hatte leidenschaftliche Tiefe und berührte eine tiefe, ungekannte Sehnsucht in mir.

„Es freut mich, dass es dir gefällt“, meinte Rosa mit verhaltenem Schmunzeln und einem Glimmen in den Augen, das mir zeigte, wie gut sie mich verstand.

„Jaaa, sehr schön!“, erwiderte ich euphorisch und wusste mit plötzlicher Sicherheit, dass ich genau diese Kraft und Leidenschaft in meine Wohnung und damit auch in mein Leben holen musste.

„Lass uns anfangen, Elisabeth!“, meinte Rosa und deutete auf eine Tür, die am anderen Ende des Ganges lag. Ich nickte aufgewühlt und bemerkte wie nervös ich im Grunde war. Hier erfuhr ich womöglich sehr viel über mich und meine Zukunft und vielleicht war nicht nur Schönes und Gutes dabei. Ich seufzte schwer und fühlte die brodelnde Angst, aber dann mahnte ich mich ab, nicht in dem Gefühl zu verharren und konzentrierte mich auf die Vorstellung, hier auf dem richtigen Weg zu sein.

Wesentliche Veränderungen sind nicht einfach und gehen eben auch ans Eingemachte. Aber da muss ich jetzt durch … dachte ich im Stillen, und trat entschlossen in das Beratungszimmer von Rosa ein. Der Raum unterschied sich vom Rest der Wohnung durch klare, nüchterne Leere. Verblüfft von diesem Gegensatz blickte ich auf den weißen Tisch, die ebenso weißen, kahlen Wände und die zwei hohen Ledersessel. Der Widerspruch zum Rest der Wohnung hätte wahrlich nicht größer sein können! Die Sessel aus hellbraunem Leder bildeten den einzigen, erdigen Farbtupfer im Raum und wirkten wie ein Halt in weißer Unendlichkeit.

Vorsichtig nahm ich auf einem der Sessel Platz, versuchte meine Hände ruhig zu halten und wartete ab, was passieren würde. Rosa setzte sich mir gegenüber und lächelte freundlich. Sie bemerkte wohl, wie nervös ich in Wirklichkeit war und versuchte mich mit diesem Lächeln zu beruhigen. Dennoch wirkte der weiße Tisch mit seiner glatten Oberfläche plötzlich wie eine Grenze zwischen uns. Als würden wir in zwei verschiedenen Ländern sitzen und uns durch einen imaginären Grenzzaun anblicken. Ihr Lächeln verschwand und ihr Blick wurde eindringlich.

„Ich bin mir nicht ganz sicher ...“, meinte sie nach einiger Zeit und erwischte mich damit vollkommen auf dem falschen Fuß. Eine Beraterin die Zugab, keine Ahnung zu haben, war irgendwie ungeschickt. Es passte auch nicht zu ihrem selbstsicheren Auftreten.

„Deine Hände, Elisabeth, ich brauche sie! Deine Handlinien helfen mir eine Situation besser verstehen zu können. Sie werden mir vermutlich bestätigen, was ich bereits glaube.“

Sie braucht Hilfe, sie vermutet, sie glaubt ... all das waren für mich Botschaften zwischen den Zeilen und keine sehr guten Vorzeichen. Dennoch war ihre Stimme hypnotisch und schaffte es, meine rationalen Gedanken irgendwie auszublenden. Ich öffnete automatisch meine Hände und reichte sie ihr über den Tisch. Die imaginäre Grenze, die ich in meinem Kopf gebildet hatte, wurde durchstoßen und ich tauchte in das Land auf ihrer Seite. Ein Teil von mir war selbst überrascht, warum ich das tat, weil ich doch im Grunde misstrauisch war, doch es spürte sich irgendwie richtig an.

Rosa konnte also nun ungehindert meine Handlinien und somit angeblich in mein Innerstes sehen. Und sie nahm sich Zeit dafür, studierte alles ausführlich und gab ein paar kurze Erklärungen. Die linke Hand zeigte demnach den vorgegebenen Weg und die rechte den gelebten. Als Laie konnte ich das nicht beurteilen, doch ihr intensiver Blick hatte schon etwas sehr Gespenstisches. Dann schnitt sie auch noch eine seltsame Grimasse, als würde sie in meiner Handinnenfläche etwas Unschönes sehen und das schürte gleich wieder mein Misstrauen. Ich wollte nichts Schlechtes über mich und meine Zukunft hören, schon gar nicht von einer Fremden, die ich nicht wirklich einschätzen konnte. Man musste wahrlich nicht alles glauben, was einem gesagt wurde, doch die Macht des gesprochenen Wortes war nicht zu unterschätzten und ich daher besonders auf der Hut.

„Da ist etwas in dir – etwas Wunderbares“, erklärte sie dann mit einem Lächeln und ich begann mich endlich zu entspannen. Wunderbar konnte ja wohl kaum etwas Schlimmes bedeuten.

„Damit ist dein Weg klar, Elisabeth! Was ich vermutet habe, stimmt tatsächlich. Dabei hätte ich das ganz zu Beginn gar nicht erwartet“, meinte sie und lächelte mir mit einem Wissen zu, das mich beeindruckt hätte, wenn da nicht dieses eigentümliche Flackern in ihren Augen gewesen wäre. Wie sie es anstellte, wusste ich nicht, doch mit einem Mal glaubte ich seltsame Veränderungen ihrer Pupillen wahrnehmen zu können. Das Schwarz ihrer Augen hatte sich von seiner normalen, runden Form zu ovalen, amphibischen Schlitzen gewandelt. Hektisch blinzelte ich die Täuschung fort und mahnte mich zu mehr Konzentration, um nicht hysterisch zu werden.

„Da schläft etwas in dir! Eine Kraft, die an der Zeit ist, geweckt zu werden“, meinte sie in beschwörendem Ton und mit einem filmreifen Augenaufschlag. Vielleicht war ich noch nicht ganz eingestimmt für tragende, bedeutungsschwangere Worte, denn ich konnte an ihrer Aussage nichts Besonderes erkennen. So, als hätten alle Wahrsagerinnen der Welt nur diesen einen Satz auf Lager und einen regelrechten Notstand in Bezug auf Neues, wahrhaft Erhebendes.

„Ich muss allerdings prüfen, ob du bereit bist dieses Potential anzunehmen.“

„Potential, welches Potential?“, fragte ich mürrisch, weil mich das Wechselbad meiner Gefühle nervte und mein Misstrauen immer wieder Oberhand gewann.

„Psst“, zischte sie ungehalten und brachte mich tatsächlich mit nur einem Laut dazu still zu sein. Und nicht nur das! Ich machte sogar weiterhin gute Miene zum theatralischen Spiel. Was auf alles Mögliche zurückzuführen sein konnte, vielleicht sogar auf Hypnose. Als sie dann allerdings zu singen begann, kringelten sich mir förmlich die Zehennägel auf. Rosa hatte zwar eine volle und schöne Stimme, aber die hohen Töne klangen ganz erbärmlich falsch. Oder es war hier Katzenmusik gefragt und dies die krasseste, mystische Melodie auf Gottes Erden. Die Disharmonie der Klänge schien jedoch nur zu bestätigen, dass ich hier gerade ganze 200 Euros zum Fenster hinauswarf.

200 Euros ... sagte ich mir gerade vor, als ich bemerkte, dass meine Gedanken bereits (wie Verräter im eigenen Oberstübchen) zu summen begannen. So elend die Melodie auch klang, ich summte doch tatsächlich mit ... und das fand ich dann doch wieder recht unheimlich. Mir war jedenfalls nicht mehr wohl in meiner Haut. Die Atmosphäre im Raum hatte sich gewandelt und meine Nackenhaare hatten sich wie elektrisiert aufgestellt. Je länger Rosa also summte, desto mulmiger fühlte ich mich. Die Melodie durchdrang den nüchternen Raum und erzeugte eine angespannte Atmosphäre, die mich mehr und mehr frösteln ließ. Meine Unterarme hatten eine satte Gänsehaut und ich begann richtig zu frieren. Als dann der Singsang abrupt abbrach und in einen gurgelnden Laut überging, hatte ich erstmals das Bedürfnis aufzuspringen und von hier zu verschwinden. Ich steigerte mich in meine Angst und hatte nur noch Lust zu rennen und nie wieder stehen zu bleiben. Doch da öffnete Rosa ihre Augen und richtete ihre ganze, beeindruckende Aufmerksamkeit auf mich.

„Liebe Elisabeth! Ich hätte wirklich nicht geglaubt, so etwas in diesem Jahr noch erleben zu dürfen. Wunderbar, wirklich wunderbar“, meinte sie euphorisch und so offensichtlich glücklich, dass ich mich nur wundern konnte, wieso es ihr – im Gegensatz zu mir – so gut ging. Außerdem fragte ich mich, warum sie so viel über sich sprach, wo es doch angeblich um mich ging.

„Ja, natürlich! Du hast schon recht“, lächelte sie und ergriff liebevoll meine Hand „Hier geht es sicher nicht um mich, sondern ganz alleine um dich!“ Und – hallo – damit hatte sie auf etwas geantwortet, das ich nicht einmal ausgesprochen hatte!

„Ich sehe in dir eine große Chance zur Veränderung! Eine Veränderung, die nur ganz wenigen Menschen beschieden ist. Es ist zwar nicht unbedingt ein leichter Weg, doch deine ungewöhnliche Stärke wird dir helfen.“ Das beklemmende Gefühl blieb, obwohl ich nicht sagen konnte, durch welche Aussage genau es entstanden war. Bis jetzt hatte Rosa nur gesungen und nichts Böses gesagt. Warum also fühlte ich mich so kribbelig?

„Ich werde dir am Ende unserer Sitzung einen Weg zeigen, der sehr ungewöhnlich ist“, flüsterte sie und wackelte dabei mit ihren Fingern, während sie sich leicht über die Nase strich. Genau die veränderte darauf ihre Form, wurde länger und länger und schien der fantastische Beweis für ihre Unwahrheit zu sein. Mein Herz klopfte wild, doch ich versuchte diese Täuschung wegzublinzeln und nicht hysterisch zu werden.

Die Lügennase von Pinocchio ... dröhnte es dumpf in meinem Kopf, während ich wie verrückt weiter blinzelte. Irgendwann war ihre Nase wieder vollkommen normal und nichts mehr zu sehen von seltsamen Auswüchsen. Trotzdem fegte deutlich mehr Adrenalin durch meinen Körper und bei allen guten Vorsätzen, Ausdauer oder Haltung zu zeigen ... inzwischen hatte ich wirklich Angst und war so verspannt, dass mit ersten Muskelkrämpfen zu rechnen war. So freundlich und attraktiv diese Frau zuerst gewesen sein mochte, nun war sie mir einfach nicht geheuer. Das Ungeheuer ist mir heuer wohl nicht ganz geheuer … lallte es dämlich durch meinen Kopf und ich fragte mich ernsthaft, ob mein Hirn bereits gelitten hatte. Rosa schien von meinem kleinen Wahnsinn nichts zu bemerken oder stand einfach über den Dingen, denn sie war mit ganzer Intensität in ein Problem versenkt, das ich nicht einmal sehen konnte.

„Vorerst ...“, meinte sie schließlich leise und blickte mir in die Augen „… schlage ich vor, die Karten zu befragen.“ Und damit stellte sie ein violettes, mittelgroßes Bündel in die Mitte des Tisches, knöpfte es auf und machte dazu eine so gut gelaunte Miene, als hätte sie ein teures, wunderschönes Geschenk für mich. Aus dem Bündel nahm sie Karten, die ich nicht kannte, die aber eindeutig nichts mit Crowley-Tarot oder Rider-Wate zu tun hatten. Rosa steigerte sich in eine Trance, hatte die Augen fest geschlossen und führte ihre Handlungen bedächtiger und viel ruhiger aus. Mein Puls hatte sich in der Zwischenzeit auch ein wenig beruhigt. Zudem fühlte ich mich halbwegs klar und hatte keine unheimlichen Fantasien mehr von verschobenen Körperteilen oder Reptilienaugen.

„Nun, Elisabeth, sage mir in deinen Worten, worum es dir eigentlich geht!“

„Ich ... äh, komisch ... weiß jetzt gar nicht mehr ...“, stotterte ich und ärgerte mich, dass ich den Faden verloren hatte. Grund dafür war sicher meine Aufregung, aber auch die Direktheit und Bestimmtheit Rosas. Alleine mit ihrer klaren Frage hatte sie all meine Überlegungen von Jobwechsel, Internetpartnersuche, Ausbildung, what ever ... als nichtig geoutet oder als Hamsterrad identifiziert. Eine wirkliche Änderung war durch diese Überlegungen nicht möglich. Außerdem hatte ich sowieso das Gefühl, dass Rosa bereits mehr über mich wusste, als ich.

„Elisabeth, keine Angst! Diese Konfusion ist ganz normal und sogar notwendig, um einen Stopp deiner bisherigen Gedanken zu erreichen. Dieses Innehalten ermöglicht erst eine gute, geordnete Neuausrichtung. Ich denke, du warst einfach mit vielen Gedanken zu sehr im gleichen Problem verstrickt. Und, Elisabeth, ganz ehrlich ... egal worauf oder wohin du deine Aufmerksamkeit richtest, Job, Partnerschaft oder sonst wohin, letztendlich geht es um die Unzufriedenheit an sich und die gilt es loszuwerden!“ Ihre Worte klangen logisch und natürlich wünschte ich mir so etwas wie eine Vogelperspektive, um endlich die Wurzel packen zu können.

„Wichtig ist es, sich nicht in Details zu verlieren, sondern die eigentliche Ursache herauszufinden. Was mich dann schon zu den vielen verschiedenen Möglichkeiten bringt, die ich dir anbieten kann, um auf den richtigen Weg zu kommen. Meine Aufgabe wird nun sein, dir die beste Chance vorzuschlagen! Und glaube mir Schätzchen, das ist alles andere als einfach. Bei Dir und Deinem Wesen erweitern sich die Möglichkeiten um ein Vielfaches. Durch deine Kraft – ich nenne sie einmal die verborgene Kraft der Magie, hast du Möglichkeiten, die andere nicht einmal in ihren Träumen haben.“ Ich schluckte hart an ihren Worten, weil ich von dieser Kraft bisher nicht viel bemerkt hatte. Dabei wäre ein Quäntchen davon gerade jetzt nicht schlecht gewesen, um das Misstrauen und die Angst zu bekämpfen.

„Meistens entwickeln sich diese Kräfte erst so richtig zwischen dem 28ten und 35ten Lebensjahr einer Frau und bei Männern verschiebt sich dieses Alter sogar noch weiter nach hinten. Wobei es schon eine gewisse Kunst ist, sich dieser Veranlagung so geschickt zu entziehen, wie du es bisher getan hast.“ Dabei blinzelte sie mir keck entgegen und ich konnte gar nicht anders, als ihr in stiller Betroffenheit zuzustimmen. Wie oft hatte ich das Gefühl gehabt, mein eigentliches Leben zu verschlafen oder nicht ganz bewusst zu leben? Doch Rosa reichte mir tröstend ihre Hand.

„Damit wir den Weg leichter finden, befrage ich nun die Karten.“ Damit mischte sie das magische Werkzeug und reichte mir den Stapel, damit ich selbst mischen konnte. Die Karten fühlten sich schwer an und sobald ich sie fest umschlossen hatte, färbte ein wenig von dem glitzernden Goldrand auf meine Finger ab. Ungeschickt hantierte ich mit dem großen Format und probierte so lange, bis ich eine akzeptable Mischtechnik für mich gefunden hatte. Danach reichte ich Rosa den Stapel und sie deckte langsam eine Karte nach der anderen auf. Es war im Prinzip keine große Sache und nur ein einfaches Umdrehen, aber genau das veränderte plötzlich alles. Mit jeder aufgedeckten Karte schien ein Quäntchen Magie und Farbe in den zuvor so nüchtern wirkenden Raum zu fließen. Anfangs glaubte ich noch an eine Sinnestäuschung, doch mit jeder Karte wurde es deutlicher. Die kräftigen Farben strahlten regelrecht aus den Karten heraus in den Raum und spiegelten sich immer stärker an den weißen Wänden und der glatten Tischfläche. Alles wirkte plötzlich lebendig und bewegt, schien eine Geschichte zu erzählen oder einen ganzen Film abzuspulen. Spätestens jetzt gab ich meinen Widerstand endgültig auf. Es musste nicht alles mit Verstand erfassbar oder logisch zu erklären sein. Manches fand einfach statt und überzeugte mit dem bloßen Sein. Sogar die Symbole der Karten schienen lebendig und zeichneten erste Konturen auf den mittlerweile schillernden Wänden ab. Fort waren der Zweifel und das Hinterfragen, fort auch der Wunsch zu flüchten. Es war ein inneres Staunen, der Ansatz des Begreifens und es war ganz klar Magie ... pure Magie.

Ständig blickte ich auf die Karten, die Wände und dann auf Rosa. Die Luft schien geladen von knisternder Energie und wie ein Bindemittel zwischen den einzeln herumschwirrenden Teilchen. Dieses Erlebnis war so haarsträubend und schön, dass ich mit offenem Mund staunte und vollkommen überfordert war. Nichts konnte ich mehr geordnet wahrnehmen oder begreifen. Lediglich eine Karte – im Zentrum der ganzen Kartenlandschaft – stach mir mit ihrer besonderen Strahlkraft ins Auge. Es war das As der Kelche und selbst bei diesen fremden Karten für mich als wunderschönes und starkes Glückssymbol tiefer Liebe zu erkennen.

„Elisabeth“, meinte Rosa mit bewegter Stimme und viel zu hellen Augen „Ich kann dir einen Weg anbieten, der dein Leben wirklich von Grund auf verändern wird. Die Karten sagen mir, dass du dafür bereit bist. Dieser Weg ist sehr ungewöhnlich und kann nur mit Hilfe einer magischen Maske gegangen werden, aber wenn du dich dafür entscheidest – und das wirst du – dann gibt es kein Zurück mehr. Alles was du besitzt und alle Werte, die du dir erarbeitet hast, musst du über Bord werfen. Nur so kann ein kompletter Neubeginn stattfinden.“ Ihre Worte waren eindringlich, machten mir Angst. Alles über Bord werfen? Das klang nach geistiger Umnachtung und bezog sich vermutlich vor allem auf mein Geld.

„Elisabeth! Dieses Angebot kann ich dir nur heute und jetzt machen“, unterbrach sie gezielt meine Gedankenflut. „Es drängt! Sehr!“ Ihre leichte Hektik machte mich wieder misstrauisch und befangen. So sehr die Magie mich gerade noch überzeugt hatte, so wenig konnte ich ihre plötzliche Eile verstehen und das mit dem Geld über Bord werfen nagte auch an mir.

„Die Entscheidung hierfür musst du nicht nur heute treffen, sondern JETZT. Hörst du mich?“ Ihre Augen blitzten mich an und forderten ein schrilles „Mach schon, schneller, zier dich nicht!“. Dann packte sie auch noch fest meine Hand und ich wollte nur noch weg von diesem Ort und von dieser Frau. Schon wieder. Doch ein einziger Blick von ihr mahnte mich zur Ruhe. Ihre Augen fixierten mich hypnotisch und zwangen mich in die Rolle einer kleinen Maus. Ihre Stimme schwoll an und ihr Griff wurde noch fester.

„Es ist das einzig Richtige! Du weißt es! Ich sehe doch, dass du es weißt!“ Doch ich wusste gar nichts und fragte mich, wie um Himmels Willen, ich nur so dumm gewesen sein konnte, mich ihrer Obhut anzuvertrauen.

„Der Weg durch das Gesicht steht dir bevor! Es ist das einzig Richtige. Komm, du hast keine Zeit zu verlieren!“, meinte sie mit festem Blick und einer inneren Zuwendung und Bedrängnis, die mir den Atem raubte.

Fort von hier ... war das Einzige, was ich auch jetzt noch denken konnte. Ich kam abrupt in die Höhe und riss vor lauter Hektik den Stuhl dabei um. Dumpf schlug er auf den Boden auf, doch ich bemerkte es kaum. Etwas zerrte hektisch an meinen Nerven, schnürte mir den Hals zu, füllte meine Beine mit Blei. Ich war hysterisch, keine Frage, aber Rosa reagierte auf mein Verhalten so gut wie gar nicht. Sie blieb einfach nur sitzen und murmelte mit gesenktem Haupt unverständliche Worte. Worte, deren Bedeutung ich nicht verstand, aber deren Sprachrhythmus ungeahnte Wellen in mein Innerstes schlug. Ich stand wie angewurzelt da, während der Rest des Raumes sich zu bewegen schien. Alles drehte sich, alles flirrte und schwirrte … und letztendlich flogen sogar Möbel durch die Luft.

Es war zu spät!

Tief in meinem Herzen wusste ich, dass ich die Chance auf Flucht vertan hatte. Ich war gefangen, hing im Netz der Spinne und spürte vollkommen panisch, dass ich mich keinen Millimeter mehr bewegen konnte. Eine Flut von Worten spülte mich hinfort, löste den Raum auf. Es war unbegreiflich und doch real. Mein Herz dröhnte in meinen Ohren, mein Atem ging hektisch. Rosas Kopf war gesenkt, doch ihre Augen konnte ich deutlich vor mir sehen. So, als ob sie durch ihre Schädeldecke rötlich hindurch leuchten würden. Mir wurde übel und heiß. Meine Augenlider flatterten unkontrolliert und mein Herz pumpte viel zu schnell Blut durch meinen Körper.

Letzte Bilder verschwammen vor meinen Augen, lösten sich im Strudel meiner Empfindungen auf. Dann waren da nur noch die leuchtenden Augen und ein schriller, hämmernder Ton, der mir auch noch den letzten Nerv raubte. Selbst die Augen schienen in dieser unnatürlichen Höhe des Tons zu pulsieren und wurden dabei größer und immer größer. Sie drohten mich aufzunehmen, mich zu verschlingen und den letzten Rest meines Selbst zu vernichten.

Ich schrie um Hilfe und brachte doch nur diesen schrillen Ton hervor, weil ich mit allem was ich noch war, vibrierte. Es war ein ähnlicher Horror wie in meinem Albtraum und durch den bloßen Gedanken an diesen Traum veränderte sich mein Empfinden. Der Traum war wie ein Ankerpunkt, denn ich spürte eine sanfte Berührung, einen warmen Hauch. Im nächsten Moment schon sah ich die vertraute, helfende Hand und es durchströmte mich augenblicklich Liebe und Zuversicht. Sie milderte die Eindringlichkeit der pulsierenden Augen, dämpfte den schrillen Ton, hüllte mich vollkommen ein und führte mich in eine Richtung, die ich nicht erfassen, geschweige denn verstehen konnte.

1.Kapitel

Eine vorsichtige Berührung an der Stirn weckte mich. Im Zimmer war es dunkel und ich konnte die Gestalt nur schemenhaft erkennen.

„Was ist denn passiert?“, krächzte ich, weil mein Mund ausgetrocknet war und diese Trockenheit bis tief in meiner Kehle brannte. Ich fühlte mich krank und mein Körper schmerzte, als wäre er durch einen riesigen Fleischwolf gedreht worden.

„Kindchen, du bist ohnmächtig geworden! Aber das ist nicht weiter verwunderlich“, antwortete eine Frauenstimme.

„Ohnmächtig? Aber wo ... wo bin ich denn?“, fragte ich und konnte nicht klar denken, hörte ein lautes Summen in meinem Kopf.

„Psst! Jetzt ruh dich erst einmal aus! Du brauchst noch Schlaf“, antwortete die Frau, deckte mich zu und strich mir sanft über die Stirn. Ihre Hände fühlten sich rau an und passten nicht zu meiner Erinnerung an eine Vierzigjährige. Erinnerung ... das war dann auch das Stichwort, das mich zum Nachdenken brachte, denn ich hatte offenbar einen Filmriss. Ich wusste nicht was passiert war oder wieso ich überhaupt ohnmächtig geworden war. Irgendwann am Nachmittag hatte ich das Büro verlassen, aber was war danach passiert?

„Rosa?“, krächzte ich leise, weil der Name wie ein Erinnerungsfetzen durch meinen Kopf waberte und die Frage sich mehr an mich, als an die Dame im Raum richtete. Dame? Ich blinzelte verwirrt und musste zu meiner Überraschung feststellen, dass sie bereits gegangen war.

Seltsam, dachte ich noch, weil ich nichts davon mitbekommen hatte und offenbar kurz eingenickt war. Kurz noch etwas schlafen ... murmelte ich erschöpft und die Augen fielen mir zu.

Nach Stunden erwachte ich durch das laute Gezänk zweier Vögel. Zuerst blinzelte ich recht viel wegen der ungewohnten Helligkeit im Zimmer und rieb mir verschlafen übers Gesicht, doch als der Lärm lauter wurde, zwang ich meine Augen offen zu halten und blickte zum Fenster.

Da ist ja nicht einmal Glas drinnen ... stellte ich verblüfft fest und starrte auf das hochgezogene Fenster, das wie ein längliches Loch in der Wand aussah und an einen gotischen Baustil erinnerte. Die Wände waren aus grob gehauenem Stein und wirkten gemeinsam mit der Form des Fensters altertümlich und rau. Ein Kloster vielleicht? Verwirrt sah ich mich im Raum um und betrachtete die Einrichtung, die mit einer Mischung aus Nüchternheit, Schwere und karger Einfachheit wirkte. Warum bin ich hier und wie lange schon? Rosa hatte von einer Ohnmacht gesprochen, doch daran konnte ich mich nicht erinnern. Nur an Nieselregen und Trübsal oder an einen öden Bürotag, der kaum noch auszuhalten gewesen war. Aber danach? Was war danach passiert? Und warum war ich jetzt in einem Spital, Kloster oder einer Anstalt „der anderen Art“, sprich einem Haus für Geisteskranke? Ich war doch wohl nicht gleich irre, nur, weil ich mich an die Ohnmacht nicht erinnerte! Vielleicht hatte ich ja auch nur einen Virus eingefangen und litt gerade unter partieller Amnesie oder wie auch immer man das nannte. Wenigstens waren die Schwäche und die Schmerzen von heute Nacht wie weggeblasen und das war ein gutes Zeichen. Ich fühlte mich sogar richtig wie ... neu geboren und kein bisschen krank oder zittrig mehr. Dementsprechend dumm kam mir die mögliche Version von einem Virus oder einer Krankheit auch vor.

Energisch warf ich die dicke Decke zur Seite und stand im nächsten Moment auch schon neben dem Bett, um mir einen genaueren Überblick über meine Situation zu verschaffen. Die Kälte im Raum war jedoch sofort ernüchternd und erfasste mich mit solch einer Wucht, dass ich nicht in der Lage war im Zimmer auf- und abzugehen. Scheiße, ist das kalt! Die Raumtemperatur war ja wirklich grenzwertig und die reinste Folter. Erste Vorstellungen von Eiszapfen auf Kinn und Nase stellten sich ein. Nein, wa-wa-wa … viel zu kalt! Meine Lippen erledigten dieses wa-wa-wa ganz von alleine, obwohl ich mir das NEIN ja eigentlich nur dachte. Aber mein Körper zitterte bereits vor Kälte und alles in mir sehnte sich nach Wärme und Geborgenheit. Alles was recht ist, aber das ist mir zu kalt! Mein Tatendrang war sogleich wieder vergessen und ich hüpfte flink zurück ins Bett, wickelte mich in meine Decke und betrachtete die Umgebung ab nun wie einen Feind. Böse Kälte! Gerade mal die Nase guckte hervor und natürlich die Augen, denn ich musste ja meine Lage sondieren. Und das tat ich dann auch. Zuerst nahm ich das Bett genauer in Augenschein. Dunkles, volles Holz traf auf aufwendig gearbeitete, helle Einlegearbeiten. Es wirkte total altmodisch und klobig, sah aber so aus, als wäre es gestern erst gezimmert worden. Über dem Bett hingen rote, schwere Samtvorhänge, die mich augenblicklich an meine Stauballergie erinnerten.

„Hatschiii!!!“ Na, toll! Mit einem säuerlichen Blick begutachtete ich die schweren, unhygienischen Dinger, konnte aber keine Spinnweben und auch keinen Staub entdecken. Wer auch immer hier Dienst hatte, machte seinen Job gut und putze ordentlich.

Nach einiger Zeit stillen Sondierens wurde mir jedoch ziemlich langweilig und ich suchte nach einem Schlafrock, den ich mir über mein Nachthemdchen streifen konnte. Ohne einen wärmenden Schutz wollte ich einfach nicht noch einmal – Hatschiii – einen Fuß aus diesem Bett strecken. Nachthemdchen? Wie kam ich überhaupt in so ein weißes Ding? Das Blackout musste ja wirklich heftig gewesen sein! So heftig, dass meine vor Schalk triefende, innere Stimme nicht aufhören konnte, ständig Kommentare abzugeben. Nun meinte sie gar einen alten Witz rezitieren zu müssen, wo ein verwirrter Burgschauspieler den geflüsterten Satz des Souffleurs nicht und nicht verstehen konnte und letztendlich losbrüllte, dass er keine Details bräuchte, sondern den TITEL des Stücks! Ha, ha! Sehr lustig. Innere Stimmen! Wer brauchte die schon? Obwohl, ... ich musste zugeben, dass ich mich mit einem Detail wie Nachthemd erst gar nicht aufhalten sollte. Und ein „Theater“ war das hier allemal, vor allem, weil ich das Gefühl nicht loswurde, das Versuchskaninchen hier zu sein. Visionen von Männern in weißen Kitteln, Kameras und grausamen Versuchssituationen schwebten mir vor und entsprechend gehetzt blickte ich wohl rundum.

Hier sind keine Kameras! Hier gibt es keine Irre! ... brüllte ich in Gedanken, weil ich eine Nervenheilanstalt einfach ausschließen wollte, egal wie sehr das seltsame Ambiente hier nach „Vorsicht Kamera“ schrie. Für einen Moment war ich versucht meinen Kopf unter dem dicken Wust der Decke zu verstecken und nie wieder aufzutauchen, aber letztendlich wusste ich, dass ich nicht ewig im Bett hocken konnte. Tatkraft war gefragt! Also wickelte ich mir die unförmige Decke um den Körper, schlüpfte in seltsame Pantoffel und wälzte mich – so beweglich wie eine Tonne – zum Fenster, um mir einen Überblick über die Gegend zu verschaffen. Die Fensteröffnung war recht schmal und hatte wegen der wuchtigen Mauern eine ungewöhnliche Tiefe. Dafür war der Ausblick überraschend schön.

Die ersten, morgendlichen Sonnenstrahlen tauchten den Himmel in sanftes Rosarot, beleuchteten die weit entfernte Hügelkette und kündigten den neuen, wolkenfreien Tag an. Die Wälder waren herrlich grün und dufteten intensiv nach gesunder, reichhaltiger Natur. Der Ausblick war ein Traum. Staunend betrachtete ich den Wald und den schönen Morgenhimmel. Ich wollte gar schon in wunderbaren Gefühlen schwelgen, als mir bewusst wurde, dass dieses Bild doch ziemlich falsch war. Meine letzten Erinnerungen betrafen den Oktober, wo ich nach einem Bürotag in der Innenstadt mit Kühle und Nieselregen konfrontiert worden war. Oktober! Ich starrte bewusst noch intensiver aus dem Fenster. Hier in diesem Mischwald gab es keine Spur von Herbst! Anzeichen für eine Stadt in der Nähe gab es noch viel weniger! Da waren keine Häuser und Hütten. Hier gab es nichts als saftiges Grün und das erinnerte maximal an Frühling.

Aber wie konnte das sein?

Eine Ohnmacht dauerte doch keine Monate! Was also war wirklich passiert? Der drastische Ortswechsel und die falsche Jahreszeit machten mir mit einem Mal doch gehörig zu schaffen. Beides legte eine schwere Krankheit oder gar ein Koma nahe. Von wegen nur eine Ohnmacht! Hier musste schon deutlich mehr passiert sein. Wobei ... nach einem lang andauernden Koma hätte ich mich kaum so frisch und lebendig gefühlt. Monatelangen Tiefschlaf konnte ich also schon aufgrund meiner guten Beweglichkeit ausschließen. Blieb also zu klären, wie ich hierhergekommen war, für wie lange das bereits der Fall war und was ich hier noch weiter tun sollte. Außerdem musste ich mich genauer an den letzten Tag im Oktober erinnern. Es konnte ja nicht sein, dass alles mit Nieselregen endete oder mit einer vagen Erinnerung an einen üblichen Bürotag. Ich konzentrierte mich also und versuchte mir das Gefühl von Regen auf der Haut in Erinnerung zu rufen, die Gerüche auf der Straße, die Häuser in unmittelbarer Umgebung. Und tatsächlich! Vor meinem geistigen Auge tauchte ein Bild auf, das ich festhalten und erweitern konnte. Ich sah mich durch den Nieselregen nicht wie üblich zur U-Bahn laufen, sondern zu einer Straßenbahn am unteren Ende der Ringstraße.

Das ist es! An diesem Tag war ich also nicht wie üblich nach Hause gefahren, sondern in den neunten Bezirk aufgebrochen. Aber warum in den neunten Bezirk? Die nächste Erinnerung wollte sich nicht gleich einstellen, doch allmählich sah ich Rosas Gesicht wie eine Vision vor mir. Zuvor hatte ich schon ein paar Mal unbewusst an diese Frau gedacht, doch nun stellte sich deutlich mehr Erinnerung dazu ein. Mit einem Mal wusste ich ihren ganzen Namen und ihren Beruf. Sie war Wahrsagerin, hieß Rosa Weberknecht und wollte mir die Karten legen. In Gedanken klopfte ich mir für diese Erinnerungsleistung auf die Schultern, doch damit endete besagte Leistung leider auch schon wieder. Sie brach nämlich abrupt in der Wohnung von Rosa Weberknecht und ihrer fantastischen Einrichtung ab. Als würde mein Unterbewusstsein etwas vehement abblocken und um jeden Preis weitere Erinnerungen verhindern. Mir brach sogar kalter Schweiß aus und alles was ich noch an Erinnerung zusammenkratzen konnte, waren unzusammenhängende Bruchstücke, intensive Farben und drehende Möbel. Mir wurde schwindelig und ich geriet in Atemnot. Sicherheitshalber stützte ich mich am kalten, groben Stein der Mauer ab und versuchte keine weiteren Bilder mehr heraufzubeschwören. Was für ein Unsinn! Fakt war nur, dass Rosa eine Schlüsselrolle bei all dem innehatte und ich vermutlich in ihrer Wohnung in Ohnmacht gefallen war. Das Danach blieb rätselhaft.

Ja, die Situation war ver-rückt und das einzig Positive daran meine überraschend gute, körperliche Verfassung, denn ich fühlte mich wie nach einer grandiosen Verjüngungskur. Der emotionale Stress blieb natürlich, denn ich wusste nicht wie viel Zeit ich insgesamt verloren hatte und, ob meine Eltern von meinem Aufenthalt hier wussten. Ich musste also eine Erklärung für all das finden und den Raum endlich verlassen! Ein Blick aus dem Fenster reichte eben bei weitem nicht, um alle Antworten zu bekommen. Die Bewegungsfreiheit mit der Decke um meinen Körper glich einem „Rollmops im Federkleid“ und war natürlich eingeschränkt, doch das hielt mich nun nicht länger auf! Ob Kloster, Spital oder Sanatorium ... ich wollte hier raus und das sofort. So schnell ich konnte schlurfte ich zur Tür und wunderte mich, dass sie nicht versperrt war. Die Tür knarrte laut und insgeheim rechnete ich mit ein paar netten Herren und einer Zwangsjacke. Doch selbst diese Vorstellung konnte mich jetzt nicht mehr aufhalten. Ich brauchte Antworten und die musste ich mir offenbar holen.

Was zum Teufel ... dachte ich und guckte fassungslos nach vorne. Der schmale Gang bot ein abstruses Bild aus Wänden mit grobem Stein und Fackeln in schmiedeeisernen Vorrichtungen. In weiten Abständen boten sie notdürftig etwas Licht und rußten dabei die düsteren Mauern schwarz. Notbeleuchtung nach Stromausfall sah in der Regel anders aus und war in dem Fall sogar undenkbar, denn von elektrischen Installationen war weit und breit nichts zu sehen. Keine Kabel, keine Steckdosen – nur Feuer und Ruß und eine Atmosphäre, die als gruselig zu bezeichnen war.

„Hallo! Ist da jemand?“, fragte ich vorsichtig, nachdem ich meine Unterlippe mit meinen Zähnen lange genug malträtiert und dem Knistern der Fackeln gelauscht hatte. Aber es blieb still. Verdammt still. Also drückte ich die Decke fester an meinen Körper, straffte die Schultern und nahm all meinen Mut zusammen. Dann machte ich mich auf den Weg. Sollen sie doch kommen mit ihren miesen Zwangsjacken. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und versuchte nirgendwo anzustreifen. Das war natürlich nicht so einfach und irgendwie sogar eine Metapher für mein Leben. Seit ich denken konnte, hatte ich mir einen Panzer zugelegt und versucht nirgendwo und bei keinem anzustreifen. So feige! So trist! Wieso mir das gerade jetzt klar wurde, wo ich doch andere Antworten suchte, verstand ich nicht. Aber es war eine kleine Erkenntnis und sie bewegte etwas in mir, veränderte meine Haltung und ließ mich mit der Decke bewusst die Mauer streifen. Dazu grinste ich dümmlich, als hätte ich eine neue Freiheit errungen und meine blütenreine Weste endlich ... ENDLICH ... einmal beschmutzt. Ha! Es war verrückt, keine Frage, aber ich fühlte mich großartig dabei. Grinste wie blöd und schlurfte beständig weiter, bis ich leises Klappern von Geschirr hörte. Dazu sang eine Frau eine schöne Melodie. Sehr leise, aber durchaus hörbar. Als ich die Tür schließlich entdeckte, hinter der ich die Geräusche vermutete, verdrängte ich jedes Bedürfnis umzudrehen, eine Toilette zu suchen oder noch einmal blöd „Hallo?“ zu rufen. Ich klopfte einfach an.

„Komm nur, Kindchen! Keine Scheu!“, ertönte eine rauchige Stimme, die mich an Rosa erinnerte, obwohl sie eine Spur tiefer klang. Mit etwas Anstrengung öffnete ich die schwere Tür und trat ein. Zu allererst bemerkte ich den herrlichen Duft nach Pfefferminze, dann die heimelige Atmosphäre des Raums. Er war etwas größer als mein Zimmer und hatte mehr Einrichtungsgegenstände, aber er war meinem sehr ähnlich. In einem großen Stuhl, nicht unweit vom Kamin, saß dann eine weißhaarige Dame, die aussah wie die ältere Ausgabe von Rosa.

Freundlich lächelte sie mir zu.

„Komm näher und lass dich anschauen!“, forderte sie mit herzlich lachenden Augen. Irgendwie nahm sie mir damit jede Scheu und noch während ich umständlich zu ihr hinüber wankte, bombardierte ich sie bereits mit all den Fragen, die mir schon die ganze Zeit auf den Lippen brannten.

„Guten Morgen! Können Sie mir bitte sagen wo ich bin und wo meine Sachen sind? Ich kann mir gar nicht erklären wie viel Zeit vergangen ist seit meiner Ohnmacht. Und wurden vielleicht meine Eltern verständigt? Außerdem würde ich gerne wissen, wie ich wieder nach Hause komme. Und ...“ Am liebsten hätte ich noch viel mehr gefragt und auch gefordert, doch an ihrem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass sie mein Redeschwall ziemlich überforderte.

„Aber, aber Kindchen, nur mit der Ruhe! Ich verstehe schon, dass du verwirrt bist. Aber lass dir etwas Zeit, oder besser … lass mir ein wenig Zeit! Ich werde dir alles bei einer Tasse Tee erklären. Komm, setz dich zu mir! Aber vorher gebe ich dir noch einen Umhang, damit du die dumme Decke ablegst. Du kannst dich ja kaum rühren in dem Ding.“ Überraschend flink stand sie von ihrem Sessel auf und holte einen roten Umhang. Sicher das gleiche Material wiebei den Samtvorhängen … dachte ich und witzelte in Gedanken, dass irgendein Schnösel hier seinen persönlichen Samt-Tick ausgelebt hätte. Vermutlich der Innenarchitekt, der das ganze Gebäude mit diesem Stoff versorgt hatte. Bettvorhänge, Tischdecken, Umhänge, Eierwärmer – weiß der Kuckuck was ihm noch alles eingefallen war. Natürlich fand ich die Vorstellung nur deshalb so lustig, weil dann wenigstens jemand anderer den Knaller hätte und nicht etwa ich.

„Nun, mein Name ist Hanna und ich heiße dich herzlich auf Tsor willkommen“, meinte die ältere Frau, nachdem sie mir die Decke abgenommen und den Umhang übergestreift hatte. Sie reichte mir die Hand.

„Elisabeth! Sehr erfreut“, antwortete ich, griff beherzt zu und schüttelte kräftig.

„Also, Elisabeth! Ich weiß nicht genau wie viel du von all dem hier weißt, denn meine liebe Tochter lässt eine gute Seele manchmal recht überstürzt aufbrechen.“ Ihr fragender Blick traf mich recht unvorbereitet, denn ich wusste ja nicht einmal wovon sie sprach. „Weißt du in deiner Zeit ist alles so hektisch und übertrieben schnell. Schnell dies und noch schneller das. Dabei macht das überhaupt keinen Sinn und läuft dem Leben und seinem Rhythmus zuwider. Je älter ein Mensch wird, desto langsamer sollte sein Tempo sein und nicht etwa schneller, schneller und noch schneller. Die Leute wissen ja gar nicht mehr richtig zu leben, haben ein Burnout nach dem anderen und sind sowieso nur noch unzufrieden“, feixte sie, obwohl mir gerade einfiel, wie schnell sie sich vorhin aus dem Sessel bewegt hatte. Zumindest für ihr Alter. Allem Anschein nach meinte sie also eine andere Art von Geschwindigkeit.

„Also, Kindchen, pass jetzt genau auf!“ Sie wirkte, als wäre sie durch meine simplen Gedanken gestört worden. „Meine Tochter lebt in deiner Zeit“, begann sie und machte eine Pause indem sie extra lange an ihrem herrlich duftenden Tee nippte. „Und daraus musst du jetzt richtigerweise schließen, dass ich in einer anderen Zeit lebe.“ Lächelnd setzte sie die Tasse ab und sah mich erwartungsvoll an. „Wie findest du das?“ Alles an ihrem Gehabe deutete darauf hin, dass sie gerade eine wahre Bombe platzen hatte lassen, aber ich war offenbar so durcheinander, dass ich nicht mal den Zünder sehen konnte.

„Nun wie kann das gehen?“, fragte sie ein wenig überrascht, weil ich keine entsprechende Reaktion zeigte. „Ich versuche es genauer zu sagen: In unserer Familie gibt es eine lange Tradition der Hexerei und auch mir war es vergönnt die Hohe Schule der Magie kennen und lieben zu lernen. Dieses schöpferische Wissen hat es mir ermöglicht im zarten Alter von 40 meine Chance in einer anderen Welt wahrzunehmen. So wie du, trat ich eine Reise durch das Gesicht an.“ Sie lächelte und tat wieder so, als hätte sie nun die alles enthüllende Erklärung abgegeben. Aber was soll ich sagen? Ich stand mit offenem Mund da und verstand nur Bahnhof ... tut, tut, nächster Zug bitte. Von einer Reise wusste ich nichts und „durch ein Gesicht“ klang so fantastisch, dass ich an ihrem gesunden Menschenverstand zu zweifeln begann. Ha! An IHREM nämlich!

„Durch ein Gesicht? So, so“, meinte ich betreten und wusste nicht recht wo ich hinsehen sollte. Es klang ja auch zu bescheuert. Verärgert schlug Hanna die Hände über dem Kopf zusammen.

„Ach herrjeh, du weißt ja nicht einmal das!“ Mit einem Mal schien sie sich wirklich zu ärgern. „Rosa ist manchmal so impulsiv und ich ... ach, egal! Höre mir einfach gut zu, dann wirst du es schon verstehen! Ich werde versuchen, dir das Wichtigste zu erklären. Das Gesicht, Elisabeth, steht für einen Zauber mit einer Maske. Er ist überaus mächtig und sein Geheimnis seit Anbeginn der Zeit im Besitz unserer Familie. Nur eine gute Hexe aus unserem Clan kann damit das Tor in eine andere Zeit öffnen. Verstehst du was das bedeutet? Es ermöglicht Zeitdimensionen zu bewegen und für den Bruchteil von Sekunden zugänglich zu machen. Natürlich nur für bestimmte Menschen. Dieses Gesicht ist wunderschön, mit leuchtenden Augen und stellt das Zeittor bildlich dar. Unsere Seele benötigt diese Bilder zur Orientierung, musst du wissen.“ Und damit machte es zum ersten Mal Klick in meinem Kopf, denn nun konnte ich endlich ein paar Erinnerungsfetzen aneinanderfügen.

Karten lesen, Wunsch nach Veränderung, glühende Augen, Wirbelsturm, Auflösung ... Ja, ich hatte so etwas in der Art erlebt oder zumindest geträumt. Ein Zauber klang zwar verrückt, konnte aber für Vieles eine Erklärung sein. Und die Erinnerung zeigte mir mit emotionaler Schonungslosigkeit die Möglichkeit dazu: Die brennenden Augen, die mich mit Haut und Haar verschlungen hatten, einen entsetzlichen Rausch von Körperlosigkeit, und eine wunderbare Hand, die mir gereicht worden war, ehe ich in dieser fremden Umgebung aufgewacht war. Oder war das nur der Albtraum gewesen, den ich zuletzt so oft erlebt hatte? Mein Atem ging schneller, mein Blick wurde gehetzt, wanderte unruhig zwischen meinen zitternden Händen und Hanna hin und her. Und doch! Es passte alles zu ihren Worten, auch wenn die Vorstellung an Zauberei total irrational war.

„Das Gesicht hat zwar die Macht, dich durch die Zeit zu schicken, aber nur zu einem Bezugspunkt den du selber wählst. Wobei ein paar Jährchen auf oder ab egal sind. Es gibt ein paar Vorgaben von Rosa, aber Du alleine warst es, die das Okay zu der Zeit und dem Ort gegeben hat – ob bewusst oder unbewusst tut dabei nichts zur Sache.“ Eindringlich sah sie mir in die Augen und erwartete endlich eine Reaktion des Verstehens. „Wie war es denn bei dir, Elisabeth? Überleg doch einmal! An was oder an wen hast du denn während deiner Reise gedacht?“

„Ich ... äh, das klingt jetzt ein wenig seltsam, aber ich dachte an keine Person, sondern nur an eine unbekannte ... Hand.“ Doch für Hanna schien das nicht besonders ungewöhnlich zu sein. Zumindest blickte sie mir wissend entgegen und lächelte noch mehr als zuvor.

„So ist das also! Hm, hm, du wurdest hierhergeholt, mein Kind! Sehr interessant. Vielleicht war es ja eine Liebe, die sich nach dir sehnt. Oder hattest du Angst vor dieser Hand?“, fragte sie und ich schüttelte den Kopf, wurde sogar rot, weil das Gefühl zu dieser Hand eindeutig mit Liebe zu bezeichnen war. Diese Hand hatte mich stets vor grässlich schleimigen Monstern gerettet und immer eine undefinierbare Sehnsucht in mir ausgelöst.

„Das Gesicht ist für die einen wunderbar, für die anderen jedoch das reinste Verderben. Es hat die Macht dich zu verschlingen und zu töten, wenn du seiner nicht würdig bist. Daher ist es nur wenigen Menschen überhaupt möglich diese Pforte zu durchschreiten. Aber jene, die der Liebe zugetan sind und entsprechend Stärke beweisen, überstehen es zumeist ganz gut.“

Zumeist?Ganz gut?Ja, super!Drei Meter weiter rechts, zwei Jährchen zu weit zurück und ich wäre womöglich verdampft, oder wie? Hanna erklärte etwas, das nicht logisch war und kaum in mein Denken passte und dann war es gerade mal einer glücklichen Fügung zu verdanken, dass ich überlebt hatte? Mein Ärger war ja wohl verständlich, vor allem, weil ich an Zauberei bisher nicht geglaubt hatte und deshalb sicher keiner Zeitreise zugestimmt hatte. Hexerei war absurd! Obwohl sich auch allmählich ein Gefühl von Richtigkeit in meinen Bauch schlich. Dieses Bauchgefühl dämpfte nicht nur meine Wut, sondern auch meine vehemente Rebellion gegen eine Realität, die ich früher nur als Fantasterei abgeschmettert hätte. Eine Zeitreise erschien mir sogar schlüssiger als eine Hirnkrankheit oder ein längeres Koma. Die Version von einer Irrenanstalt mit versteckten Kameras konnte ich dennoch nicht ganz aus meinem Kopf verdrängen. Irgendwann könnte immer noch ein Doktor aus einer versteckten Nische hervorhüpfen und „April, April!“ rufen. Was dann wenigstens zur Jahreszeit gepasst hätte.

„Hör zu, Elisabeth! Du träumst nicht und du bist nicht verrückt! Das alles klingt ungewohnt und ganz neu. Aber es ist auch ein Geschenk und eine Chance, die nur wenige Menschen in ihrem Leben bekommen. Du wirst schon noch merken, was es mit solch einer Zeitreise auf sich hat, denn du kannst hier eine Menge lernen und über dich erfahren. Deine Abreise mag nicht ganz glücklich verlaufen sein, aber das sollte das Ergebnis nicht schmälern. Auch ich hätte mir für dich eine bessere Einschulung in Sachen Lebensseminar gewünscht, aber dafür hatte Rosa offenbar keine Zeit.“

„Ja, aber ...! Ich verstehe es immer noch nicht! Für ein Lebensseminar