Unter dunklen Wolken - Hannes Nygaard - E-Book

Unter dunklen Wolken E-Book

Hannes Nygaard

0,0

Beschreibung

Scharfsinnige Analyse des aktuellen Zeitgeschehens. Ein Mitarbeiter des schleswig-holsteinischen Verfassungsschutzes wird am geografischen Mittelpunkt des Landes ermordet aufgefunden, zugedeckt mit der Reichskriegsflagge. Reichsbürger agitieren gegen die Republik. Ein Arzt will eine Bewegung gegen die Landesregierung initialisieren. Hat tatsächlich die Weltherrschaft einiger weniger begonnen? Das zumindest behaupten die Verschwörungstheoretiker. Und sie setzen Zeichen. Mit Worten. Mit Taten. Mit Gewalt. Schafft es Lüder Lüders vom LKA Kiel, in diesem Verwirrspiel den Überblick zu behalten?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 393

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.

www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Silas Manhood/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-808-5

Hinterm Deich Krimi

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog,

Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

Der Worte sind genug gewechselt.Lasst mich endlich Taten sehen.

Johann Wolfgang von Goethe

EINS

Ein makelloser Himmel wölbte sich über dem Land, dessen Küsten an Nord- und Ostsee zu den attraktivsten touristischen Zielen gehörten, das aber auch im Landesinneren vielen Menschen Ziele bot, die entdeckt und erkundet werden wollten. Golden leuchtende Rapsfelder, zartes Maigrün im Wechsel mit zahlreichen anderen Grünnuancen, vereinzelt auch Bäume und Sträucher, die sich noch im Aufbruch in die neue Vegetationsperiode befanden. So wie die Natur wieder erwachte, waren auch Mensch und Tier voll neuer Energie. Der lange und harte Winter war Vergangenheit. Die Menschen sehnten sich nach Sonne.

Einer von ihnen war Karl Diehm. Er genoss das Privileg, nicht mehr in den Arbeitsalltag eingebunden zu sein. Vor vier Jahren hatte er das Berufsleben am Fließband eines Automobilherstellers gegen das Rentnerdasein getauscht. Zwei Jahre später hatte sich seine Ehefrau Rita von der Arbeit an der Kasse im Supermarkt verabschiedet. Die Kinder waren lange aus dem Haus und führten ein eigenes Leben. So konnten sich die Diehms den Traum, nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben zu reisen, erfüllen. Ihr Wohnmobil trug sie zu den Zielen, die ihnen erstrebenswert schienen. Freunde berichteten von langen Reisen zum Nordkap, nach Dalmatien, Sizilien oder bis Gibraltar. Diehms Sehnsuchtsorte lagen näher. Deutschland mit seiner Unterschiedlichkeit war so vielfältig, dass es in allen Himmelsrichtungen unendlich viel zu entdecken galt, von romantischen Fachwerkstädtchen über idyllische Winkel zu beeindruckenden Naturschutzgebieten, von dunklen Wäldern und kuscheligen Mittelgebirgen hin zu den Stränden an Nord- und Ostsee, wo die frische Luft und der offene Blick die Illusion von unbegrenzter Weite nährten.

Ihr Wohnmobil KNAUS L!VE WAVE auf dem Chassis des Fiat Ducato war während der Sommermonate ihr mobiles Heim. Der Diesel tuckerte zuverlässig und trug sie an die schönsten Orte.

Wenn sie an einem lauschigen Plätzchen etwas länger verweilten, baute Karl Diehm das Vorzelt auf. Dort war Platz für die Stühle, aus denen sie das Leben um sich herum beobachteten. Der Grill verbürgte bei solchen Gelegenheiten ein Stück Lebensqualität. Ihr Mobilheim war groß genug, um die Annehmlichkeiten zu bieten, die das Ehepaar in diesem Lebensabschnitt zu schätzen wusste.

Diehm griff zum Schaltknüppel und schaltete vom sechsten in den fünften Gang.

»Mach uns noch eine«, sagte er zu Rita und warf einen kurzen Blick auf seine Frau auf dem Beifahrersitz. Das gertenschlanke Mädchen … das war Vergangenheit. Überall, wo die Natur es zuließ, hatten sich kleine Pölsterchen angesiedelt. Kleine? Diehm reckte sich im Sitz. Er selbst musste seine behaarten stämmigen Unterarme weit vorstrecken, um das Lenkrad zu umfassen. Den Zwischenraum nahm sein kugelrunder Bauch ein. Er nannte es »Leben«. Rita und er gönnten sich die kleinen Freuden des Lebens. Dazu gehörten gutes Essen, das Bierchen, ihr Wohnmobil und …

Rita hatte die Zigarettenpackung vom Armaturenbrett genommen, zwei Glimmstängel herausgefischt und sie angezündet. Einen hielt sie ihrem Mann hin. Der volle Aschenbecher würde bei der nächsten Rast entleert werden. Und den allgegenwärtigen Zigarettenrauch nahmen die beiden nicht mehr wahr.

Diehm beugte sich etwas vor. »Hier muss es doch bald sein.«

»Nur für ein Foto?«, fragte Rita zwischen zwei Lungenzügen.

»Ja.«

Diehm beäugte die Straße.

»Pass doch auf, Karlemann«, rief Rita, als das Wohnmobil auf die Gegenfahrbahn geriet.

»Was ’n los?«, gab er scharf zurück. »In dieser Einöde ist doch keiner unterwegs.«

»Und wenn doch so ’n Verrückter dahin will?«

»Was heißt Verrückter? Das macht den Unterschied zu meinen Bildern aus. Die sind nicht nur so … so …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »So was findest du in ganz Lebenstedt nicht noch mal.«

Sie seufzte. Es war gut, dass Karl noch ein Hobby hatte. Die Fotografie. Nach einer Reise sammelten sich unzählige Bilder an, die er zu Hause auf dem Computer ansah und dann zu Dateien bündelte. Er stellte Serien zusammen, die Freunde und Nachbarn anschließend vor dem heimischen Fernseher betrachten mussten. Das war die Nachfolge der gefürchteten Dia-Abende. Karl, so spottete sie, bekam dabei nicht mit, dass die eingeladenen Gäste sich bei solchen Gelegenheiten mehr den Getränken und dem Knabberkram zuwandten als den Bildern.

Karl trat auf die Bremse.

»Da«, sagte er knapp. Er hatte sich fest vorgenommen, seine Bilderserie mit Fotos vom geografischen Mittelpunkt Schleswig-Holsteins zu schmücken. Ein Hinweisschild »Weg zum Mittelpunkt« wies auf einen schmalen Pfad hin, der rechts abzweigte.

»Die sind gar nicht eingebildet«, meinte Diehm. »Behaupten, das ist das schönste Bundesland der Welt.«

»Na ja. Die Reppnersche Straße in Salzgitter ist auch kein Lichtpunkt.«

Diehm hatte die Geschwindigkeit reduziert und bog ab.

»Blinkst du nicht?«, fragte Rita giftig.

»Wozu? Hier ist doch keiner.«

»Das gehört sich aber so.«

»Ach, mein Dickerchen.«

»Du sollst mich nicht so nennen. Ich mag das nicht.«

Diehm steckte die rechte Hand aus und legte sie auf den Bauch seiner Frau. Dann wabbelte er mit der Rundung.

»Karl! Lass das.«

Er grinste. »Früher hast du das gemocht.«

»Früher! Da hattest du auch noch keine solche Wampe.«

Er lachte. »Andere Ehepaare sind zusammen alt geworden. Wir dick.« Plötzlich pendelte der Fiat hin und her. »Verdammt«, fluchte Diehm.

»Was hast du? Mensch! Pass doch auf.«

»Ist schon gut.« Diehm nahm mit der rechten Hand die Zigarette aus dem Mundwinkel. Zuvor waren beide Hände mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Ihm war der beißende Qualm in die Augen gestiegen.

Der schmale Zufahrtsweg führte unter Bäumen zu einem unscheinbaren Platz. Diehm fluchte, weil er aussteigen und ein paar Meter zu Fuß zurücklegen musste.

»Das ist alles?«, zeigte er sich enttäuscht. »Von wegen: der echte Norden. Gibt es auch noch einen falschen?«

»Nun mecker nicht rum. Du wolltest doch hierher.«

Diehm streckte die Hand aus. »Das lohnt nicht, zu fotografieren. Ein Feld. Ein Baum. Zwei Bänke.«

»Dahinten ist noch ein Platz mit Tisch und Bänken.«

»Aus Stein. Da kriegst du einen kalten Hintern.«

Zwei Steinsäulen zierten den Platz. Die linke trug das Landeswappen. Diehm zeigte auf die rechte Säule.

»Und was ist das da?«, fragte er. »Sieht aus wie ein Karnevalsorden.« In der Tat fehlte ein kleiner Hinweis, dass es sich um das Wappen der Stadt Nortorf handelte, in deren Grenzen dieser Ort lag. Diehm näherte sich dem Sandplatz. »Komisch«, meinte er. »Was soll die Fahne da? Ob das in Ordnung ist, dass die mittendrin liegt?« Er trat an die Flagge heran.

»Was ist das für ein Ding?«, wollte Rita wissen.

Diehm kratzte sich den Hinterkopf. »Gesehen hab ich die schon mal. Auf Bildern. Und in einem Kriegsfilm.«

»Du guckst ja immer so komisches Zeug an.«

»Na und? Ist immer noch besser als dein Schwachsinn.« Er verstellte die Stimme und legte beide Hände übereinander auf das Herz. Dazu verdrehte er die Augen. »Ach, ich liebe dich. Du bist mein Einziges. Mein Herzallerliebstes. Ich will nur dich und dein Erbe.«

»Hör auf, mich zu ärgern. Alle Frauen sehen Rosamunde Pilcher. Aber nun sag mal. Was ist das für eine Fahne?«

»Das siehst du doch selbst. Eine weiße mit dem schwarzen Kreuz. Und in der Mitte ist der Kreis mit dem deutschen Adler.« Diehm lachte meckernd. »Dieser sieht aber mager aus. Wären die halben Hähnchen im Brutzelstübchen genauso mager, würde ich da nicht mehr hingehen.«

Rita streckte den Arm aus. »Da oben links in dem Teil.«

»Feld heißt das«, belehrte Diehm seine Frau.

»Sieht fast so aus wie eine eigene Fahne. Das ist aber nicht die deutsche Fahne.«

»Flagge heißt das. Flagge!«

Rita Diehm lachte. »Ja, ja.« Sie rümpfte die Nase. »Eine Fahne ist das, was du mit nach Hause bringst, wenn du in der Kneipe warst.«

»Stänkerliesel. Das ist die deutsche Fahne –«

»Siehste. Jetzt sagst du selbst Fahne«, unterbrach sie ihren Mann.

»Du bringst mich ganz durcheinander. Das war früher die deutsche Fahn … Flagge. Beim Kaiser.«

»Die war nicht Schwarz-Rot-Gelb?«

»Gold! G-o-l-d.«

»Ist ja gut. Du musst dich nicht immer gleich so chauffieren.«

Diehm schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Echauffieren.« Neugierig trat er an die Flagge, die offenkundig etwas abdeckte. »Ich sag’s ja immer. Die Leute hier sind rückständiger als wir Salzgitteraner. Die haben noch die Kaiserflagge.« Mit einem Stöhnen bückte er sich nieder und zog an einem Zipfel der Flagge. Plötzlich ließ er den Stofffetzen wieder fallen, als wäre er glühend heiß. Gleichzeitig machte er einen Satz rückwärts. »Mein Gott«, rief er mit erstickter Stimme.

Rita Diehm warf einen ungläubigen Blick auf die Stelle. Dann wurde sie kreidebleich.

»Das … das …«, stammelte sie und stützte sich bei ihrem Mann ab. »Mein Gott, Karlemann. Ist der echt?« Sie sah sich um. »Oder ist das ›Verstehen Sie Spaß?‹? Ich … ich …« Sie brach ab.

Diehm näherte sich der Gestalt, die unter dem Tuch lag, und stieß ihr vorsichtig mit der Fußspitze in die Seite. »Da hast du uns einen schönen Schreck eingejagt. Mannomann. Kannst jetzt aber aufstehen.« Er wartete ein paar Atemzüge. Dann tippte er erneut mit der Fußspitze an den Körper. »Eh. Ist genug.«

Rita krallte sich in den Oberarm ihres Mannes. »Duuuu«, sagte sie atemlos. »Der ist nicht von der ›Versteckten Kamera‹.«

Diehm fasste sich ans Herz. »Ist der wirklich tot? Sieh mal, wie der aussieht. Das Gesicht. Der Kopf. Das ist eine richtige Horrorgestalt.«

Rita zerrte an ihm, bis sich das Ehepaar ein Stück entfernt hatte.

Mit zittrigen Fingern kramte er sein Handy hervor. Er benötigte mehrere Anläufe, bis er die Eins-Eins-Zwei gewählt hatte.

»Leitstelle Kiel«, meldete sich eine ruhige Stimme.

»Polizei?«

»Nein, Sie sind mit der Feuerwehr und dem Rettungsdienst verbunden.«

Diehm hörte nicht zu. Er schluckte heftig. »Hier – liegt – eine Leiche. Tot«, stammelte er.

»Wo ist Ihr Standort?«

»Na hier. Äh. In der Mitte.«

»Sie rufen vom Handy aus an«, stellte der Leitstellendisponent fest. »Moment. Ich orte Sie.« Es dauerte einen kurzen Augenblick. »Sie sind in Nortorf?«

»Nortorf? Nein. Mitten auf dem Feld. Genau in der Mitte.«

»Und was ist dort passiert?«

»Was weiß ich denn?«, brüllte Diehm. »Hier liegt eine Leiche. Eine grässliche Leiche. Wie bei Dracula.«

Der Disponent behielt die Ruhe. »Wie ist Ihr Name?«

»Karl.« Diehm bewegte den Kopf. »Karl Diehm. Rita und ich … Wir kommen von Salzgitter und wollen in Urlaub. Und dann liegt die … die … Na hier, unter der Flagge.«

»Bleiben Sie bitte vor Ort, Herr Diehm. Die Einsatzkräfte sind unterwegs.«

Diehm schüttelte heftig den Kopf. »Komm, mein Dickerchen. Wir gehen eine rauch…« Er räusperte sich. »Eine rauchen«, fuhr er fort. »Ich habe einen ganz trockenen Hals. Ich muss einen Schluck trinken.« Mit schweren Schritten stapften sie zum Wohnmobil zurück.

ZWEI

Der Fünfer-BMW rollte langsam die schmale Straße, die in diesem Abschnitt zugeparkt war, entlang und suchte eine Parkmöglichkeit. Ein uniformierter Polizist stand in der Zufahrt zum Mittelpunkt des Landes und riegelte sie ab. Er forderte mit einer lässigen Handbewegung zum Weiterfahren auf. Lüder Lüders hielt an, senkte das Beifahrerfenster und beugte sich hinüber.

»Lüders. Landeskriminalamt«, sagte er. »Ich möchte zum Tatort.«

»Aber nicht mit dem Auto«, erklärte der Beamte ungerührt und zeigte in Fahrtrichtung. »Suchen Sie sich einen Platz an der Straße. Aber so, dass Sie den fließenden Verkehr möglichst nicht behindern.« Bevor Lüder antworten konnte, hatte er sich wieder abgewandt. Lüder fuhr ein Stück in die angegebene Richtung, stellte sein Fahrzeug ab und kehrte zum Abzweig zurück. Der Beamte tat, als hätte er ihn noch nie gesehen. »Zutritt verboten.«

»Ich sagte schon, ich komme vom LKA.«

»Ausweis.« Immerhin fügte er noch ein »Bitte« an.

Lüder zeigte seinen Dienstausweis vor, den der Polizist sorgfältig studierte. Dann wies er mit dem Daumen über die Schulter.

»Da entlang.«

Lüder sah von Weitem die Ansammlung von Fahrzeugen. Streifenwagen. Rettungswagen. Die beiden Autos der Spurensicherung, ein ziviles Fahrzeug und ein Wohnmobil. Oberkommissar Horstmann vom K1 der Kieler Bezirkskriminalinspektion nickte ihm zu.

»Der Chef ist da drüben«, rief er.

Lüder fand den Leiter der Mordkommission auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Platzes und begrüßte Hauptkommissar Vollmers mit einem »Moin«.

Vollmers kam ihm entgegen und blieb mit einem Abstand zu ihm stehen.

»Ich habe Sie angerufen«, erklärte er. »Zwei Touristen, da drüben im Wohnmobil«, dabei zeigte er auf das Gefährt, »haben diesen Ort angesteuert, um den Mittelpunkt unseres Landes zu fotografieren. Dabei haben sie das da entdeckt.« Er wies auf eine Gruppe in Schutzanzügen gekleideter Spurensicherer, die um einen auf dem Mühlstein drapierten Leichnam herumwuselten. Direkt am Toten kniete Dr. Diether. Der Rechtsmediziner sah kurz auf.

»Ist das noch ein forensisches Problem oder schon ein juristisches?«, fragte er anstelle einer Begrüßung.

»Ich bin hier, um Sie vor den Rechtsfolgen Ihres Tuns zu schützen«, erwiderte Lüder und zeigte auf die Leiche. »War er schon tot, bevor Sie Hand angelegt haben?«

Dr. Diether grinste breit. »In diesem Punkt bin ich auf der sicheren Seite. Er hier«, dabei zeigte er auf den Toten, »kann nicht mehr antworten. Man hat ihm die Zunge herausgeschnitten, die Augen ausgestochen und die Ohren abgeschnitten.«

»Die drei Affen«, sagte Lüder. »Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Das hat Symbolcharakter.«

»Das ist mir auch sofort aufgefallen«, stimmte Vollmers zu. »Das ist aber nicht die einzige Symbolik. Sehen Sie – da drüben.«

»Die Flagge – eine Reichskriegsflagge«, stellte Lüder mit Erstaunen fest.

»Deshalb habe ich Sie hergebeten«, sagte Vollmers. »Die Auffindesituation lässt auf eine politisch motivierte Straftat schließen.«

Lüder nickte versonnen.

»Wie lange ist er schon tot?«, fragte er Dr. Diether.

»Mindestens eine halbe Stunde«, erwiderte der Arzt. »So lange bin ich schon hier. Und als ich kam, hatte er schon den Exitus totalis hinter sich.«

»Exitus …«, sagte Oberkommissar Horstmann. »Das ist doch total.«

Lüder winkte ab. »Das ist eine Eigenart des Leichenfledderers.« Er nickte in Richtung Dr. Diether. »Mit einem normalen Exitus begnügt er sich nicht.« Er wandte sich an Vollmers. »Gibt es irgendwelche Erkenntnisse?«

»Für einen – möglichen – politischen Mord spricht auch, dass das Opfer nicht beraubt wurde. Wir haben seine Brieftasche und sein Portemonnaie gefunden. Die Uhr und der Ehering waren auch vorhanden.«

»Sie wissen, wer er ist?«

»Sein Name ist Julian Wiesner.«

»Bitte?«, fragte Lüder überrascht.

»Kennen Sie ihn?«

Lüder sah zum verstümmelten Leichnam hinüber. »Erkannt habe ich ihn nicht. Mir ist ein Julian Wiesner bekannt. Er ist Regierungsamtmann.«

Jetzt fragte Vollmers: »Bitte?«

»Ich kenne ihn flüchtig. Wiesner arbeitet beim Verfassungsschutz.«

»Im Innenministerium?«

»Ja. Wenn ich mich nicht irre, ist Wiesner dort im Referat für die Auswertung des Rechtsextremismus tätig.«

Lüder zog die Stirn kraus. »Die symbolhafte Verstümmelung, die Abdeckung mit der Reichskriegsflagge und die Tätigkeit des Opfers lassen tatsächlich auf eine politisch motivierte Tat schließen.« Er sah Vollmers an. »Danke, dass Sie mich informiert haben. Gut kombiniert. Haben Sie bereits mit den Zeugen gesprochen, die das hier entdeckt haben?«

»Horstmann hat sie kurz befragt. Die laufen uns schon nicht weg.«

Lüder sah den Hauptkommissar fragend an.

Vollmers lächelte. »Sehen Sie selbst nach.«

Lüder ging zum Wohnmobil hinüber und klopfte an die verschlossene Tür. Er musste es mehrfach wiederholen, bis sie geöffnet wurde und ein Mann seinen Kopf herausstreckte.

Lüder wich augenblicklich zurück. Aus dem Wageninneren drang eine dichte blaue Wolke hervor. Er wedelte mit der Hand vor dem Gesicht herum.

»Einen Rauchmelder haben Sie nicht im Wagen?«

Der rundliche Mann mit dem Kugelbauch sah ihn aus glasigen Augen an.

»Wieso?«, fragte er mit belegter Stimme.

Es roch nach Zigarettenqualm und Alkohol.

»Kriminalpolizei. Ich hätte noch ein paar Fragen an Sie.«

»Kkk-ein Problem«, lallte der Mann und machte bereitwillig den Eingang frei. »Kkkkommen Sie rein.«

»Nein«, erwiderte Lüder. »Kommen Sie bitte heraus.«

»Auch gut.«

Der Mann verschwand noch einmal kurz ins Innere und kehrte mit einer Flasche Bier und einer brennenden Zigarette zurück. Lüder half ihm aus dem Fahrzeug heraus. Leicht schwankend blieb er vor ihm stehen und nahm einen Schluck aus der Flasche.

»Sie heißen wie?«, fragte Lüder.

»Ich?« Es entstand eine kurze Pause. »Ich bin Karl Diehm. Mein Dickerchen sagt immer Karlemann zu mir.«

»Ihre Frau?«

Diehm nickte. »Jawohl.« Er schwenkte die Bierflasche in Richtung des Wohnmobils. »Rita heißt sie. Die ist da drinnen. Der Schreck hat sich ihr auf den Magen geschlagen.«

»Hat der Arzt nach ihr gesehen? Etwas zur Beruhigung gegeben?«, fragte Lüder.

»Nicht nötig.« Er hielt Lüder die Bierflasche hin. »War ’n riesiger Schreck in der Morgenstunde. Du ahnst nichts Böses, und plötzlich liegt da so ein Dracula unter der Fahne. Ich hab da nachgeguckt.« Diehm hielt sich entschuldigend die Hand vor den Mund, nachdem er unvermittelt sauer aufgestoßen hatte. »Wir haben erst mal eine Zigarette geraucht. Zur Beruhigung. Und dann brauchten wir einen Schnaps. Auch zur Beruhigung.«

Einen?, überlegte Lüder, unterließ es aber, diesen Gedanken auszusprechen. Er fragte, ob das Ehepaar nennenswerte Beobachtungen gemacht hatte.

Diehm zog an der Zigarette und nahm noch einen Schluck Bier zu sich. Dabei setzte er die Flasche nicht richtig an. Ein Schwall Gerstensaft schoss aus der Flasche heraus, lief aus den Mundwinkeln über das Kinn den Hals hinab und verschwand im offenen Hemdkragen. Diehm schien es überhaupt nicht zu stören.

»Wir sind von Salzgitter«, erklärte er, »und sind wie jedes Jahr im Urlaub. Mein Dickerchen und ich lieb… hups … lieben das hier.«

Lüder sah auf die Bierflasche in Diehms Hand.

»Nee, das mein ich nicht. Wir lieben das Rumfahren. Und ich mach Filme. Na, nicht so richtige, sondern so ’ne Art Dias auf ’m Fernseher. Und da wollte ich mal so ’n Bild von der Mitte machen. Deshalb sind wir … hups, oh, Entschuldigung … hier. Sag’n Sie mal.« Er schwenkte die Hand mit der Zigarette zum Mühlstein, auf dem »Die Mitte Schleswig-Holsteins«, der Name der Stadt Nortorf und die geografischen Längen- und Breitengradangaben eingraviert waren. »Wann ist das da weg? Ich mein, wegen dem Foto.«

»Ist Ihnen auf dem Weg hierher jemand begegnet?«

»Sie meinen, dahinten auf der Straße?«

Lüder seufzte. »Auf der Zufahrt zu diesem Platz.«

»Nö. Und auf der Straße auch nur wenige. Man sagt ja immer, hier wohn’ nicht so viele. Nicht so wie bei uns in Lebenst… hups.«

»Sie haben also nichts bemerkt?«

»Doch«, behauptete Diehm. »Dracula. Ich hab ja sofort da angerufen, bei der … der … Na, Sie wissen schon.« Er verdrehte die Augen. »Bei der Polizei.«

Von diesem Zeugen würden sie keine weiteren Auskünfte erhalten.

»Wollen Sie noch weiterfahren?«

»Doch. Ja. Bestimmt. Unser Urlaub fängt ja erst an. An …«, wiederholte er. »Wir sind jetzt erst ’ne Woche unterwegs von Salzgitter bis hier nach … nach … Ist ja egal.«

Lüder zeigte auf die Bierflasche. »Sie dürfen heute aber nicht mehr fahren.«

Diehm betrachtete nachdenklich die Flasche in seiner Hand. »Heute nicht mehr? Macht nix. Ist auch nicht notwendig. Wir haben noch genug zu trinken an Bord.« Dann schwankte er zum Eingang des Wohnmobils. Er hatte den Zugang fast gemeistert, als er sich noch einmal umdrehte und Lüder aus zusammengekniffenen Augen musterte. »Polizei? Komisch, Herr Wachtmeister. Ich mein, Ihre Uniform.« Der Feststellung folgte ein kräftiger Rülpser, dann verschwand Diehm ins Fahrzeuginnere.

Die Beamten der Spurensicherung gingen professionell ihrer Arbeit nach. Dr. Diether hatte sich erhoben und kam Lüder entgegen.

»Die Verstümmelungen im Gesicht sehen furchterregend aus. Das ist aber nur Optik. Daran ist er nicht gestorben. Äußerlich ist nicht viel zu erkennen. Nicht hier vor Ort.«

»Keine Gewalteinwirkungen wie Schlag- oder Schussverletzungen?«, fragte Vollmers, der hinzugetreten war.

»Nichts zu sehen. Nicht offen.«

»Woran ist er gestorben?«, wollte der Hauptkommissar wissen.

Dr. Diether lachte. »Ich bin Rechtsmediziner, nicht Hellseher. Sie möchten wissen, was er gestern Abend gegessen hat und ob er seinen letzten Kaffee mit zwei oder drei Stück Zucker zu sich genommen hat?«

»Wie lange ist er tot?«, wich Vollmers aus.

»Das ist die berühmte Fernsehfrage«, erwiderte Dr. Diether. »Das kann ich seriöserweise nicht beantworten, bis ich ihn auf dem Seziertisch hatte.«

»Ungefähr«, drängte Vollmers.

Dr. Diether sah auf seine Armbanduhr. »Mit Sicherheit länger als zwei Stunden und weniger als drei Monate.«

»Mathematik lag Ihnen nicht in der Schule«, warf Lüder ein. »Das ist ein Fach, in dem Präzision gefordert ist.«

Dr. Diether knurrte etwas Unverständliches. »Sie haben nie Schularbeiten gemacht, es aber trotzdem bis zum Abitur geschafft«, sagte er zu Lüder.

Der sah ihn fragend an.

»Na ja, als Jurist ist Ihnen immer eine Ausrede eingefallen.« Dann wurde er ernst. »Ich melde mich, wenn ich die Autopsie abgeschlossen habe.«

Es gab keine unmittelbaren Zeugen. Die Polizei würde versuchen, in der Umgebung nach Leuten zu fahnden, die etwas gesehen haben könnten, verdächtige Bewegungen oder Personen. Dieser Platz war kein Wallfahrtsort, und die Zahl der Besucher hielt sich im überschaubaren Rahmen. Es gab auch keine unmittelbare Nachbarschaft. Wenn ein Einheimischer die Straße, von der die Zuwegung zur Mitte des Landes abzweigte, passierte, würde er sich andere Verkehrsteilnehmer nicht gemerkt haben. Die Schleswig-Holsteiner waren es gewohnt, dass Gäste ihr Land besuchten.

Lüder kehrte nach Kiel zurück und suchte den Abteilungsleiter auf.

Kriminaldirektor Dr. Jens Starke war schon über das Ereignis informiert und hörte sich Lüders Bericht und dessen Einschätzung an.

»Ich teile deine Meinung, dass wir es hier mit einem politisch motivierten Mord zu tun haben«, sagte er, griff zum Telefon und bat Kriminaloberrat Gärtner zu sich.

Der brachte Neuigkeiten mit, als er kurz darauf in das Büro des Abteilungsleiters trat.

»Es gibt ein Bekenntnis im Internet«, berichtete Gärtner. »Ein ›Kommando von Schlieffen‹ bekennt sich zum Mord an einem ›Knecht der Deutschland GmbH‹.«

»›Kommando von Schlieffen‹?«, wiederholte Lüder und zuckte mit den Schultern. »Davon habe ich noch nichts gehört.«

»Ich auch nicht«, bekannte Gärtner. »Diese Organisation, wenn es eine ist, ist uns bisher unbekannt.«

»Wer war von Schlieffen?«, überlegte Lüder laut. »Wenn ich mich richtig erinnere, war er ein preußischer General, der noch dem Kaiser gedient hat.«

»Das erklärt den Zusammenhang mit der Reichskriegsflagge«, sagte Dr. Starke.

Lüder hatte sein Mobilfon hervorgeholt und suchte nach Informationen.

»Ah«, sagte er. »Hier haben wir es. Alfred Graf von Schlieffen. Der hat sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in die ewigen Jagdgründe verabschiedet.«

»Auf dem Feld der Ehre?«, wollte Jens Starke wissen.

Lüder schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist altes pommersches Adelsgeschlecht. Schon der Vater war ein hoher Militär, vor 1800 geboren. Damals drehte sich die Welt um die Preußen. Schlieffen wurde achtzig Jahre alt. Das war damals biblisch. Er war übrigens nicht nur General, sondern Generalfeldmarschall.« Er klopfte sich an die Brust. »Ich armer Tropf bin nur ein einfacher Kriminalrat.«

»Na ja«, meinte Gärtner. »Das entspricht dem Rang eines Majors.«

»Solche Vergleiche wollen wir aber nicht anstellen. Wir sind zwar der Polizeiliche Staatsschutz, aber bei uns gibt es keine Hauptleute oder Majore wie bei der Stasi«, sagte Dr. Starke.

»Schlieffen war Generalsstabschef. Außerdem hat er den Schlieffen-Plan verfasst«, las Lüder weiter vor. »Der beinhaltete Strategien, wie man Frankreich in einem Blitzkrieg besiegt, indem man völkerrechtswidrig in die neutralen Länder Belgien und Luxemburg einfällt und Richtung Paris vorstößt. Gleichzeitig sollte nur eine Armee Ostpreußen gegen die Russen verteidigen. Die wollte man sich vornehmen, nachdem die Franzosen vernichtend geschlagen waren. Na ja. So genial war die Strategie offenbar doch nicht. Sie mündete in den blutigen Stellungs- und Grabenkrieg an der Marne. Das war aber, nachdem Schlieffen in Berlin gestorben war. Sonst hätte ihm Willi –«

»Wer?«, unterbrach ihn Gärtner.

»Wilhelm II.«, erklärte Lüder. »Der hat ihm bei der Beerdigung einen Kranz hinterhergeworfen.«

»Ich sehe nur einen Zusammenhang mit der Reichskriegsflagge«, warf Dr. Starke ein. »Was macht die Person von Schlieffen so interessant? Er war ein hoher Militär. Gut. Aber nach ihm ein Mordkommando zu benennen?«

»Wir können dankbar sein für die lange Zeit des Friedens in unserem Teil der Welt«, sagte Lüder. »Eine so lange Friedensphase hat es nie zuvor gegeben. Von Schlieffen war Berufsmilitär. Entsprechend war sein Werdegang durch Teilnahme an mehreren Kriegen bestimmt. Was man ihm aus heutiger Sicht ankreiden kann, war, dass er dank seines Zugangs zum Kaiser Befürworter des Völkermords an den Herero und Nama in Deutsch-Südwest, dem heutigen Namibia, war.«

»In dieser Sache hat sich die Bundesrepublik erst in jüngster Zeit bewegt«, merkte Dr. Starke an. »Ich sehe aber immer noch keinen Zusammenhang. Wir sind hier auch nicht das richtige Forum, um historische Geschehnisse zu bewerten.«

»Auf den ersten Blick fällt es schwer, Schlieffens Wirken im Kontext des aktuellen Mordes an Julian Wiesner zu sehen, wenn da nicht der überlieferte Kommentar Schlieffens zum Völkermord unter Infanteriegeneral von Trotha in Namibia wäre, der als Kommandeur der Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika gewütet hat.« Lüder legte eine längere Pause ein und sah in die angespannten Gesichter der beiden anderen. »Schlieffen hat gesagt: ›Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen.‹«

Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen.

»Das wäre schlimm, wenn solche Ideologien bei uns aufkeimen würden«, stellte Dr. Starke fest. »Hoffentlich geht unsere Vermutung ins Leere.«

Lüder legte den Zeigefinger an die Nasenspitze. »Wiesner war im Referat zur Bekämpfung des Rechtsextremismus tätig. Ob er dort auf eine Spur gestoßen ist? Und was ist, wenn dieses Zitat analog gemeint ist und der ›Rassenkampf‹ nicht ethnisch zu verstehen ist, sondern damit die sogenannte herrschende Klasse gemeint ist?«

»Du glaubst, da ist eine Konstellation im Entstehen, die unseren Staat, unsere Demokratie aus den Angeln hebeln will?«, fragte Dr. Starke.

»Eine solche Gruppierung wäre keine Novität. Da sind die Reichsbürger, die sich immer noch als Bürger des Kaiserreichs sehen. Und andere verbreiten obskure Theorien über die Machenschaften der Regierungen, die Menschen zu unterdrücken und zu knechten. Uns wird allen ein Chip eingepflanzt, um uns zu Sklaven von Bill Gates zu machen. Andere behaupten, die Seuche wurde nur erfunden, damit die Menschheit sich impfen lässt. Das Serum mache aber alle unfruchtbar. Vergessen wir nicht das Judentum, das die Weltherrschaft antreten will. Ich habe es nicht glauben wollen, als ich hörte, dass zwanzig Prozent der Studierenden die Evolutionstheorie leugnen. Ich stamme lieber vom Affen ab, als zur gleichen Art wie diese Trottel zu gehören.«

»Das war jetzt aber ein Rundumschlag«, stellte Jens Starke fest.

Lüder nickte. »Es lohnt doch gar nicht, in diesem Fall zu ermitteln. Leute, die mit solchem Gedankengut behaftet sind, werden doch nicht bestraft. Die sind doch nicht zurechnungsfähig.«

»Können wir wieder sachlich reden?«, mahnte der Kriminaldirektor.

»Ist gut. Wir gehen also von einer Aktion einer Gruppierung aus, die sich gegen unseren Staat und dessen Strukturen wendet.«

Jens Starke sah Gärtner an. »Haben Sie etwas in der Pipeline?«

»Die bisherigen Erkenntnisse sind sehr vage. Natürlich gibt es Leute, die solche Ideen kultivieren. Wir wissen um Reichsbürger, die sich gegen alles stemmen, was unsere Rechtsordnung ausmacht. Die Bandbreite ist da sehr weit. Manche zetteln einen administrativen Kleinkrieg gegen die Behörden an, indem sie Ausweise, Amtssiegel und Ähnliches nicht anerkennen. Andere wehren sich gegen jede staatliche Maßnahme …«

»… sofern sie nicht vom Kaiser selbst angeordnet wurde …«, schob Lüder dazwischen.

»Haben Sie Namen?«, wollte Dr. Starke wissen.

»Ja. Es gibt eine Liste. Mit fallen die Wölfe ein«, erklärte Gärtner.

»Die Sonderlinge, die in der Holsteinischen Schweiz leben?«, fragte Lüder.

Gärtner bestätigte es. »Die haben sich zusammengefunden, um ein alternatives Leben zu führen. Dagegen ist per se nichts einzuwenden. Vegetarier. Veganer. Religiöse Gemeinschaften der vielfältigsten Art. Unterschiedliche politische Ansichten. Menschen mit ausländischen Wurzeln. All das prägt die Buntheit unserer pluralistischen Gesellschaft. Und jeder hat seinen Platz darin. Das funktioniert aber nur, wenn man sich an die Spielregeln hält.«

»Und das machen die Wölfe nicht?«, warf Lüder ein.

»Sie folgen ihren eigenen Regeln. Sie picken sich das heraus, was ihnen Vorteile bringt. Die Behörden sind machtlos, wenn sich eine Reihe der Mitglieder durch Transferleistungen wie Sozialhilfe vom verhassten Staat alimentieren lassen. Andererseits weigert sich die Gemeinschaft, ihren Beitrag zu leisten. Sie zahlen weder Steuern noch Gebühren.«

»Und wie versorgen sie sich?«

»Zum Teil durch eigenen Anbau. Wasser beziehen sie aus einem illegalen Brunnen. Die Abwässer und den Müll entsorgen sie ebenfalls illegitim.«

»Und Strom und andere Energie?«

»Die selbst ernannten Umweltschützer verbrennen Holz, das sie in eigenen Wäldern schlagen. Beim Strom allerdings haben sie gemerkt, dass es ohne nicht geht. Hier zeigt sich ihre Scheinheiligkeit. Sie weigern sich, den Lieferanten zu bezahlen. Nachdem der Strom abgestellt wurde, erfolgt die Begleichung der Rechnung durch eine Anwaltskanzlei aus Lübeck. Angeblich sind das Spenden, die von den zahlreichen Anhängern und Freunden der Bewegung aufgebracht werden. Gegen deren Willen. Aber der Strom wird bereitwillig verbraucht.«

»Welche Kanzlei?«, fragte Lüder.

»Hilgenroth Oberthür Neddernfeld«, erwiderte Gärtner.

»Das ist eine große Sozietät aus Lübeck«, stellte Lüder fest. »Die haben einen guten Ruf. Sie vertreten oft Mandanten in publicityträchtigen Fällen. Wie kommen die dazu, für die Wölfe tätig zu werden?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Gärtner. »Die Kanzlei steht nicht im Verdacht, politische Außenseiter zu vertreten. Sie sind gut im Geschäft mit lukrativen Mandaten aus dem Wirtschaftsleben.«

»Das klingt sonderbar. Ob es da eine Verbindung gibt?«

Dr. Starke klopfte mit der Spitze seines Kugelschreibers auf die Tischplatte. »Wir sollten uns nicht ins Reich der Spekulationen begeben.«

»Gibt es noch andere, die für eine solche Tat in Frage kommen?«, fragte Lüder.

»Ja«, bestätigte Gärtner. »Einige, die wir den sogenannten Reichsbürgern zuordnen können. Manche hängen nur der Ideologie nach, ohne polizeilich aufzufallen.«

»Es ist nicht verboten, einem Irrglauben anzuhängen«, fuhr Lüder dazwischen.

»Wir haben aber auch jene, die strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. Da gibt es Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung, Landfriedensbruch, Amtsmissbrauch, Urkundenfälschung, Steuerhinterziehung und vieles mehr. Das geht munter das Strafgesetzbuch rauf und runter.«

»Im schlimmsten Fall kommt jetzt auch Mord hinzu«, sagte Lüder.

»Gut«, schloss Dr. Starke die Besprechung und erteilte Gärtner den Auftrag, die möglichen Verdächtigen im Hinblick auf die vorliegende Tat einzuordnen und Zusammenhänge zwischen dem bisherigen Auftreten in der Öffentlichkeit und der Tat sowie dem Bekenntnis dazu herzustellen.

»Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass es oft auch Trittbrettfahrer gibt. Wenn irgendwo ein Senior mit seinem Pkw infolge eines Schwächeanfalls in eine Passantengruppe gerät, reklamiert der IS dieses als Terrorakt für sich«, gab Lüder zu bedenken.

»Sicher gibt es Unterschiede bei den Akteuren auf diesem Feld, die mitunter auch konkurrieren. Die Reichskriegsflagge, die Bezeichnung ›Kommando von Schlieffen‹, das Tätigkeitfeld des Opfers und dessen Bezeichnung als ›Knecht der Deutschland GmbH‹ weisen aber auf ein begrenztes Täterumfeld hin«, sagte Jens Starke.

»Leider gibt es immer noch genug Blöde im Land«, erwiderte Lüder und ergänzte, bevor der Abteilungsleiter ihm eine Aufgabe zuweisen konnte, dass er die Wölfe besuchen wolle.

»Allein?«, wollte Gärtner wissen.

Lüder lächelte. »Wollen Sie mitkommen?«

Oberrat Gärtner musste nicht antworten. Vor seinem geistigen Auge sah Lüder den umgänglichen und kompetenten Kollegen mit Ärmelschonern vor sich sitzen. Der entsetzte Blick, den Gärtner ihm zuwarf, unterstrich die unausgesprochene Antwort.

Lüder kehrte in sein Büro zurück und verschaffte sich Informationen über die Wölfe. Was mochte die Leute leiten? Welches Motiv trieb sie an, mit ihrem Denken in der Zeit des Kaiserreichs stehen zu bleiben? Was war damals besser als in der Gegenwart? Schwärmer sprachen verklärt von der guten alten Zeit. Lüder fiel nichts ein, was damals besser war als heute. Vielleicht gab es Privilegierte, die in einer Gesellschaft, die deutlich die Klassenunterschiede betonte und auch lebte, von diesem Kastendenken profitierten. »Einigkeit und Recht und Freiheit« hatte Hoffmann von Fallersleben im Text der Nationalhymne geschrieben. Von Gleichheit war dort nicht die Rede.

Lüders Gedanken schweiften kurz ab. Das Lied der Deutschen war bei einem Aufenthalt auf Helgoland entstanden, als die Insel noch englischer Besitz war. Und wer wusste schon, dass der Verfasser der Nationalhymne auch so bedeutsame Texte wie »Alle Vögel sind schon da«, »Ein Männlein steht im Walde«, »Morgen kommt der Weihnachtsmann« oder »Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald« geschrieben hatte. Welchen Spott mochten Leute wie die Reichsbürger daraus ableiten und damit die Hymne verunglimpfen?

Also: Was war besser an den alten Zeiten? Der Mehrheit der Menschen ging es schlechter. Die sozialen Verhältnisse waren übel, die Leute lebten in Armut, die medizinische Versorgung war unvollkommen, es gab nicht die Freiheiten, die jeder heute für sich in Anspruch nahm. Lüder fand immer noch für sich selbst keinen einzigen Punkt, der für eine Rückkehr zum Damals sprach. Er nahm sich die Informationen über die Wölfe vor.

Den Namen hatte die Gruppe sich selbst gegeben. Sie präsentierte sich mit einem professionell aufgemachten Internetauftritt. Er war bestimmt von Bildern, auf denen stets fröhlich auftretende Menschen zu sehen waren. Alles sah leicht und locker aus. Die Leute machten einen zufriedenen Eindruck. Sie lachten, verrichteten ihre Arbeit oder saßen in munterer Runde zusammen. Alles sah wie heile Welt aus. Die Örtlichkeiten schienen eine Oase der Ruhe zu sein. Sauber herausgeputzte Häuser und Gärten, dazwischen pickten frei laufende Hühner. Schweine, Schafe und Ziegen tollten herum. Und die Kinderschar strotzte vor Lebensfreude. Ein Idyll. Eine komplett intakte Welt, die nichts mit dem Geschehen »da draußen« gemein hatte. Wer sich hierhin zurückzog, fand Geborgenheit und Frieden.

Lüder nickte versonnen. Das war perfektes Marketing. Handelte es sich um einen Urlaubsprospekt, sprächen sicher viele geschundene Großstädter darauf an. Dem Alltag mit seinen Problemen, der Hektik, den großen und kleinen Sorgen entfliehen und in eine andere Welt eintauchen. Tatsächlich gab es diesbezügliche Angebote. Im Verborgenen hieß es, dass viele Begeisterung für diese Lebensform entwickelten und sich ihr angeschlossen hatten. Die Sorgen und Ängste blieben draußen. Man wurde aufgefangen und getragen von der Gemeinschaft Gleichgesinnter. Und alles war – so las Lüder – weltanschaulich und religiös neutral.

Wer diesen Text las, musste geradezu davon eingenommen sein. Hinzu kam, dass man sich auch autark hinsichtlich der Versorgung gab. Man baute eigenes Gemüse und Getreide nach strengen ökologischen Grundsätzen an, versorgte sich mit den alltäglichen Dingen und Dienstleistungen selbst und war unabhängig von der Diktatur der Ausbeuter. Es war anders formuliert. Eleganter. »Diktatur« und »Ausbeuter« waren Lüders Interpretation. Karl Marx hätte seine große Freude an dieser perfekten Art des Kommunismus in seiner reinsten Form gehabt. Seine Nachfolger im »realen Sozialismus«, die Spitzenfunktionäre der DDR, hatten sich allerdings mit der Waldsiedlung Wandlitz ein eigenes Luxusrefugium geschaffen, das nichts mit den tristen Plattenbauten oder verfallenen Häusern, in denen die arbeitende Bevölkerung darbte, gemein hatte. Ob das auch auf die Führung der Wölfe zutraf?

Oberhaupt der Vereinigung war Sören Michalski, neununddreißig Jahre alt. Auf einem Foto war er von einer bunten Schar von Kindern umgeben. Ein sympathisch aussehender Mann, braun gebrannt, Typ Womanizer, lässig in Sporthemd und Jeans gekleidet, wirkte wie der Traum aller Schwiegermütter. Er war groß und von sportlicher Statur. Lüder hätte sich den Mann mit dem sympathischen Äußeren auch als Model vorstellen können.

Michalski stammte aus Hagen und war der Sohn eines Sparkassenangestellten, der später eine Leitungsfunktion innehatte, und einer freiberuflichen Keramikerin. Das konnte man als bürgerliche Herkunft bezeichnen. Nach dem Abitur hatte er an der Universität Bremen Soziologie studiert und mit dem Master abgeschlossen. Danach verlor sich seine Spur, bis er vor zehn Jahren wiederauftauchte und mit dem Projekt »Wölfe« Furore machte. Michalski selbst war noch nicht straffällig geworden, obwohl er immer wieder bei Demonstrationen mit der Polizei aneinandergeriet. Durch sein Auftreten und seine Forderungen nach einer »anderen Lebensform« war Michalski auch ins Visier des Verfassungsschutzes geraten.

Lüder würde mit Geert Mennchen sprechen müssen.

DREI

Der Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein war eine Abteilung des Innenministeriums, kein eigenes Amt. Wie an einer Perlenkette aufgereiht war er wie viele andere Ministerien am Düsternbrooker Weg direkt an der Kieler Förde angesiedelt. In dem Rotklinkerbau, der zwischen Staatskanzlei und Landtag lag, empfing ihn Geert Mennchen. Der Regierungsamtmann war über einen Meter neunzig groß und von massiger Gestalt. Das runde Gesicht des Endfünfzigers hatte Pausbäckchen und wirkte sehr jungenhaft. Er hatte Ähnlichkeiten mit dem Jungen, der von der Verpackung eines bekannten Zwiebackherstellers lächelte.

Mennchen vermied es, Lüder anzusehen. »Das hat bei uns wie eine Bombe eingeschlagen. Natürlich sind wir mit unserer Arbeit nicht jedermanns Freund. Aber dass einer von uns ermordet wird, und das auf so grauenhafte Weise, trifft uns tief. Hier im Amt kennt jeder jeden.« Mennchen schüttelte sich. »Jule, wie Julian Wiesner hier genannt wurde, war ein langjähriger Kollege. Ruhig. Ausgeglichen. Er liebte den Fußball und seine Familie. Wir haben oft einen kleinen Schwatz zwischen Tür und Angel gehalten. Über das Wetter. Das Kantinenessen. Dieses und jenes. Und nun das …«

»Kennen Sie seine Familie?«

»Ich habe sie ein- oder zweimal gesehen, seine Frau und die beiden Töchter. Frau Wiesner stammt von einem Bauernhof in Pronstorf. Der wird heute von ihrem Bruder bewirtschaftet. Es gibt noch eine Schwester, die irgendwo in Westdeutschland lebt. Wiesner und seine Frau haben auf dem Areal der Schwiegereltern gebaut. Alles heile Welt. Wiesners Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben, aber der Vater lebt noch und wohnt in Kiel. Die beiden hatten guten Kontakt miteinander. Eine rundum intakte Familie. Und jetzt diese Wahnsinnstat.« Mennchen suchte Lüders Blick. »Hat er leiden müssen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Lüder. »Das Obduktionsergebnis liegt noch nicht vor.«

»Sie waren aber am Tatort.«

»Am Auffindeort«, berichtigte ihn Lüder und war froh, dass Mennchen keine weiteren Details erfragte.

Erneut schüttelte sich der Verfassungsschützer. »Unser Amtsleiter besucht gerade die Familie. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Und in der der Angehörigen auch nicht«, ergänzte er.

»Wir können das Geschehene nicht rückgängig machen«, sagte Lüder, »aber alle Energie darauf verwenden, die Täter zu fassen.«

»Ja«, erwiderte Mennchen leise.

»Hat es Drohungen gegen Wiesner gegeben?«

»Ach«, winkte Mennchen ab. »Der Verfassungsschutz, die Polizei, die Staatsanwaltschaften und Gerichte, aber auch die Medien … Wie oft werden wir beschimpft und bedroht. Vergessen wir auch die Politiker nicht. Wiesner war auch ein ›Knecht der Bourgeoisie‹. Würden wir auf solche Äußerungen hören, dürften wir unser Amt nicht mehr ausüben.«

»Knecht der Bourgeoisie – das kommt Ihnen sehr spontan über die Lippen.«

Mennchen ließ sich Zeit mit der Antwort. »Es gibt Gruppierungen, die wir als mehr als gefährlich einschätzen. Andere ziehen laut tönend durch die Lande. Sie wissen ja – bellende Hunde beißen nicht.«

»Aber sie können erschrecken. Von wem stammt der Ausspruch ›Knecht der Bourgeoisie‹?«

»Das ist eine linke Gruppierung aus Kiel, die sich in der Hausbesetzerszene breitgemacht hat.«

»Haben Sie einen Namen?«

Mennchen zögerte.

»Wir stehen auf derselben Seite.«

»Benedikt von Dortelweil«, sagte der Verfassungsschützer schließlich.

Lüder zog die Stirn kraus. »Ich kenne Wolfgang von Dortelweil. Der mischt bei der Defense Tech AG mit.«

»Das ist der Vater.«

»Bitte?« Lüder war überrascht. »Die Defense Tech ist nicht unumstritten. Man wirft ihr vor, Kriegsgeräte zu produzieren. Und ausgerechnet der Sohn mischt in der linken Szene mit?«

»Links und Antifa.«

»Großartig«, meinte Lüder. »Was ist mit den Wölfen aus Grebin?«

»Die geben sich sehr bürgerlich. Das macht sie besonders gefährlich. Ihr Anführer –«

»Sören Michalski«, warf Lüder ein.

Mennchen bestätigte es durch Nicken. »Das ist ein hochintelligenter Bursche. Der hätte es auf vielen Gebieten weit gebracht. Man könnte bösartig behaupten, Michalski hat das Falsche studiert. Als Soziologe sind die Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt. Das ist wie ein Millionärssohn, der Kunstgeschichte studiert.«

»Wir übertreffen uns bei Sticheleien«, stellte Lüder fest. »Michalski sucht sich seinen Platz also bei und durch die Wölfe.«

»Er ist der Leitwolf und führt das Rudel an«, sagte Mennchen. »Es gibt auch einen Stellvertreter. Valentin Untermenger. Der tritt aber wenig in Erscheinung. Die Lichtgestalt ist eindeutig Michalski.«

»Weshalb beobachten Sie die Wölfe?«

»Die sind gefährlicher als die Linksautonomen um Benedikt von Dortelweil, weil sie nicht mit offenem Visier kämpfen. Sie geben sich den Anschein, eine harmonische und erfolgreiche Gemeinschaft zu sein. Hinter den Kulissen braut sich aber etwas zusammen. Es scheint Michalski zu gelingen, seinen Anhängern und Gefolgsleuten zu suggerieren, dass dieser Staat am Ende ist. Es muss eine Erneuerung geben, wenn die Menschen fortbestehen wollen, so sein Credo. Und die Erneuerung kann am besten dadurch erfolgen, dass man wie bei einer Maschine die Steuerung austauscht.«

»Also keine Revolution, in der die Massen den Aufstand wagen?«

»Nein. Die Erneuerung muss von oben kommen. Haben Sie schon einmal etwas von den ›Vordenkern‹ gehört?«

Lüder lachte auf. »Ja. Die Kreuz- und Querdenker sind aber in der Öffentlichkeit weiter verbreitet. Kreuz und quer – hin und her. Es bringt nichts, wenn wir uns hier über diese Leute auslassen. Unsere von diesen Gruppen verhöhnten Medien, unsere Gerichte – die achten darauf, dass unsere Freiheitsrechte gewahrt bleiben.« Lüder tippte sich an die Stirn. »Es entbehrt jeder Logik, dass man lautstark protestiert – und das auch noch darf, um gegen die vermeintliche Meinungsdiktatur anzugehen. Wir brauchen eigentlich keine Bestätigung durch PISA-Studien, dass Deutschland auf dem absteigenden Ast ist. Man muss nur diesen Leuten zuhören. Einen besseren Beweis dafür, dass unser Bildungssystem versagt, gibt es doch nicht.«

»Sollten Sie als Polizeibeamter nicht politisch neutral sein?«, fragte Mennchen.

Lüder grinste breit. »Ja – natürlich. Aber ich bin auch Bürger. Vater. Wenn sich die Staatsverdrossenen auf unleugbar vorhandene Mängel konzentrieren würden, könnte man eine fruchtbare Diskussion wagen. Alle lachen uns aus, aber niemand hinterfragt, weshalb wir nicht in der Lage sind, einen Flughafen zu bauen, weshalb Projekte wie die Elbphilharmonie oder Stuttgart 21 aus dem Ruder laufen. Bleiben wir vor der Haustür. Seit zehn Jahren – zehn! – ist man damit beschäftigt, den Rendsburger Kanaltunnel zu renovieren. Wie lange ist die Schwebefähre jetzt außer Betrieb? Und für die Planung der Autobahnhochbrücke benötigt man mehr Zeit, als der Kaiser für das Buddeln des gesamten Nord-Ostsee-Kanals benötigt hat. Ehrlich. Da versteht man doch die Reichsbürger, dass die den ollen Wilhelm wiederhaben wollen. Aber wir haben ein Gewehr konstruiert, das um die Ecke schießen kann. Während die Welt früher auf uns als das Volk der Dichter und Denker geschaut hat, das Goethe, Schiller und Beethoven, Kant und Nietzsche hervorgebracht hat, das Auto erfand und bedeutende Innovationen in der Chemie, Medizin und auf vielen anderen Gebieten schuf, beschränken wir uns jetzt darauf, Schummelsoftware für Motoren zu konstruieren.«

Mennchen lehnte sich zurück. »Das klingt ja fast wie Frust.«

»Nein«, erwiderte Lüder. »Das ist die Saat, die bei manchem aufgeht, der sich darüber wundert, dass einiges schiefläuft. Leider übersehen diese Menschen aber die vielen positiven Dinge. Welchem Land geht es so gut wie uns? Freiheit. Wohlstand. Ein erstklassiges Gesundheitssystem, gemessen an dem, was anderswo geboten wird. Und ganz wichtig: Frieden.«

»Tja«, sagte Mennchen und atmete tief durch. »Aber diese Botschaft kommt nicht bei jedem an. Stattdessen verfangen solche Ideen wie die der Wölfe.«

»Die wie die Grauen Wölfe im Zweiten Weltkrieg agieren. Sie führten einen Kampf aus dem Untergrund. Tauchten kurz auf, um dann vernichtend zuzuschlagen. Ist das auch die Taktik des ›Kommandos von Schlieffen‹? Der war ja auch ein Militärstratege. Damals war es in vielen Familien Tradition, dass man dem Militär über Generationen verbunden blieb. Sein Schwiegersohn war Generalmajor, dessen Vater Generalfeldmarschall.«

»Hoffentlich sind die Verbrecher, die sich hinter dem ›Kommando von Schlieffen‹ verbergen, nicht genauso erfolgreich wie der Namensgeber.« Mennchen wiegte bedächtig den Kopf. »Der ist mit Orden und Auszeichnungen überhäuft worden.«

Lüder lachte kurz auf. »Wenn ich solche Leute sehe, erinnert es mich immer an Guido I.«

Mennchen zog eine Augenbraue in die Höhe. »Wer ist das?«

»Keine Ahnung. Ein Karnevalsprinz in der Provinz. Der trug auch viel Klimbim um den Hals. Aber von Schlieffen muss bei den ganzen Orden, die seine Brust schmückten, einen Wirbelsäulenschaden gehabt haben. Da drängt sich Großkreuz an Großkreuz. Ob man auf jede Auszeichnung stolz sein kann? Er war zum Beispiel Träger des Großkreuzes des Ordens der heiligen Mauritius und Lazarus.«

Mennchen knurrte etwas Unverständliches. »Das klingt nach Christentum. Lazarus – das war der, den Jesus wiederbelebt hat.«

»Es gibt auch den Lazarus-Effekt, der beschreibt die Wiederentdeckung ausgestorbener Dinge. Das trifft im übertragenen Sinn auch auf die Reichsbürger zu, die im Gestern verhaftet geblieben sind.«

»Und Mauritius?«

Lüder zuckte mit den Schultern. »Ich bekenne, dass mir dieser Name in Verbindung mit einer Briefmarke etwas sagt. Natürlich ist mir auch die Insel ein Begriff. Und ich gestehe: Ich habe einmal nachgesehen, was sich hinter diesem Orden verbirgt. In meinen Augen ist es kein Renommee, sich in einer Kategorie mit Mussolini, dem Schah von Persien oder Juan Carlos wiederzufinden, die auch mit diesem Blech ausgezeichnet wurden.«

»Juan Carlos? Der von Spanien?«

»Genau jener, der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate geflüchtet hat, um der Justiz seines Landes zu entgehen.«

»Und welche Conclusio ziehen wir daraus?«

»Die Frage ist noch nicht beantwortet«, sagte Lüder. »Hat irgendjemand in die Mottenkiste gegriffen? Oder steckt hinter dem Bezug auf von Schlieffen etwas Philosophisches? Es bleibt letztlich Schlieffens Zitat: ›Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen.‹ Und wenn wir Rassenkampf nicht ethnisch sehen?«

»Puuuh.« Mennchen spitzte die Lippen und stieß die Luft aus. »Das ist jetzt sehr um die Ecke gedacht.«

»Diese Leute denken nicht geradeaus. Sonst würden sie nicht solch kruden Ideen folgen. Wer bedroht und mordet Beamte und bekennt sich dazu im Internet?«

»Wir kennen es von den Todeslisten rechtsradikaler oder islamistischer Terrorvereinigungen. Darauf werden Politiker, Journalisten oder andere Menschen geführt. Das hat nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun, die bei uns eine Selbstverständlichkeit ist. Jeder darf den größten Blödsinn denken und es auch verkünden. Er muss dazu nicht einmal einen Aluhut tragen. Die Abgrenzung ist schwierig. Gibt es einen rechtsfreien Raum? Wo endet das Liberale? Denken Sie an die Hausbesetzerszene. Ist es Menschenrecht, sich in fremdes Eigentum einzunisten, weil jedermann ein Dach über dem Kopf braucht? In Hamburg hat die Polizei vor der afrikanischen Drogenszene an der Sternschanze kapituliert. In Berlin geht man noch weiter. Man spricht von einem pragmatischen Ansatz, wenn im Görlitzer Park, einem berüchtigten Drogenumschlagplatz, aufgemalte Linien den Dealern ihren Platz zuweisen sollen. Das ist eine Kapitulation des Rechtsstaats und empört jene, die aufgrund eines Strafmandats wegen falschen Parkens erbarmungslos verfolgt werden.« Mennchen atmete hörbar aus. »Das ist der Nährboden, auf dem manches Pflänzchen gedeiht. Und nun werden die, die das angeblich dulden, verfolgt und sogar ermordet.«

»Das ist absurd«, antwortete Lüder energisch. »Julian Wiesner war mit Sicherheit keiner, der Auswüchse wie die von Ihnen aufgezeichneten guthieß. Er war Verfassungsschützer. Und das darf man wörtlich nehmen. Ich gehe davon aus, dass der Mord nicht ihm als Person, sondern der Institution galt. Er starb, weil er ein Repräsentant unserer Demokratie war. Nein. Es hätte auch Sie, mich oder jeden anderen von uns treffen können.«

»Meinen Sie?«, fragte Mennchen nach einer längeren Pause mit belegter Stimme.

»Ich bin mir sicher. Wir sind die Aushängeschilder unserer Demokratie. Zumindest eine Art Zaun, der das Vordringen in das Zentrum unseres Gemeinwesens verhindern soll. Und aus diesem Zaun ist nun eine Latte herausgebrochen worden. Es liegt nun an uns, dass hier kein größeres Schlupfloch entsteht.«

Mennchen malte ein paar abstrakte Figuren auf einen Notizblock. »Und wenn wir falschliegen? Wenn tatsächlich mehr hinter dem Zitat von Schlieffens steckt, ich meine, dem mit dem Ausrotten einer bestimmten Rasse? Rassismus in der schrecklichsten und gewalttätigsten Form?«

»Wir stehen erst am Anfang. Gibt es außer den Wölfen noch weitere Kandidaten, die wir zuerst in den Fokus unserer Überlegungen rücken sollten?«

Mennchen nagte an der Unterlippe. »Sagt Ihnen der Name Dr. Jürgen Horst etwas?«

Lüder nickte. »Ja. Ein Arzt aus Plön. Der fällt durch manch merkwürdigen Gedanken auf. Er organisiert auch Demos und heizt dort die Menschen auf. Das ist aber alles durch das Demonstrationsrecht gedeckt. Selbst wenn man zwischen den Zeilen eine Aufforderung zur Gewalt heraushören könnte. Horst und seine Anwälte nennen es zivilen Ungehorsam, wenn sie die große Weltverschwörung am Horizont zu erkennen glauben.«

»Mir fallen noch die Osmanen Burners ein. Die wollen auch an den Grundfesten unseres Staates rütteln.«