Vergib uns unsere Schuld - Marie Louise Fischer - E-Book

Vergib uns unsere Schuld E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Wilhelm Holzboer, der Versandhauskönig, ist ein Tyrann, der bedingungslose Unterwerfung verlangt – von seiner Familie wie von der ganzen Stadt. Wenn es um seine Firma und um sein Vermögen geht, kennt er kein Pardon. Das hat ihn reich gemacht. Aber sichert das auch bleibenden Erfolg? Seine Frau zerbricht an seiner Unbeugsamkeit. Mit ihrer Beerdigung beginnt dieser große Familienroman. Seine Tochter Juliane opfert ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte, ihr Bruder flüchtet schon jung in eine Liebesbeziehung, die ihn überfordert. Und die schöne Christiane vergnügt sich im Nachtleben der Großstadt. Für all drei gilt die Frage, ob sie sich aus dem Widerstreit von Gehorsam und Liebe frei machen können. Oder zerbrechen sie an der Schuld, die sie auf sich genommen haben.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Vergib uns unsere Schuld

Roman

SAGA Egmont

Vergib uns unsere Schuld

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1984 by Heyne Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719244

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der Schnee war krank.

Dort, wo die Trauergemeinde stand – dicht aneinandergedrängt wie eine Herde Schafe bei Gewitter, dachte Eduard Lechner, Redakteur des ›Volksblattes‹ –, war der Schnee unter den schweren, trampelnden Füßen zerstampft und hatte sich in trüben, graugelben Matsch verwandelt.

Der Vergleich mit der Schafherde gefiel Lechner. Schade, daß er ihn in seinem Artikel über die Beerdigung von Luise Holzboer nicht gebrauchen konnte. Unauffällig streifte sein Blick die Gesichter der Begräbnisteilnehmer; sie alle zeigten den gleichen leeren Schafsausdruck.

Der Pfarrer schwieg. Plötzlich waren die hellen Stimmen, das Jubeln und Kreischen der Kinder sehr nahe, die auf dem Hügel hinter dem Friedhof rodelten oder ihre Skier ausprobierten.

Eduard Lechner bemerkte, wie Bürgermeister Rollmann unruhig wurde und seinen Kopf in Richtung des Geschreis drehte. Viele folgten seinem Blick. – Ein unverzeihlicher Organisationsfehler, dachte Lechner, typisch für unsere Stadt.

Vier schwarzgekleidete Männer hoben den Eichensarg an. Die Gemeinde begann zu beten.

Lechner blickte in den Sucher seiner Kamera und drückte auf den Auslöser. Einmal, noch einmal und noch einmal. Eines der Bilder würde wohl gelingen. Er formulierte im Geiste die Unterschrift: ›Der kostbare Eichensarg mit der sterblichen Hülle von Frau Luise Holzboer wird, über und über mit Kränzen und Blumen beladen, in die Tiefe gesenkt.‹

Die Gemeinde betete noch immer.

Der Mesner reichte Pfarrer Scheurer eine Schaufel voll Erde. Der Pfarrer warf mit feierlicher und segnender Gebärde drei kleine Sandgaben auf den Sarg, der in der Tiefe der Gruft verschwunden war.

Der Kapellmeister der Feuerwehrmusikkapelle hob die Hände, und nach einem Mißton der großen Trompete setzten alle Instrumente fast gleichzeitig mit einem dröhnenden Choral ein.

Pfarrer Scheurer war zurückgetreten. Einen Augenblick stand der Meßdiener allein am Kopfende des Grabes, dann trat Wilhelm Holzboer, der für Lechner bisher nicht sichtbar gewesen war, ins Bild. Der Journalist stellte fest, daß er, wie immer, seinen dunkelgrauen, mit Pelz gefütterten Wintermantel trug; er hatte es also nicht für nötig befunden, sich schwarz zu kleiden. Lechner ärgerte sich einen Moment, daß er sich darüber wunderte. Er hätte Holzboer doch zur Genüge kennen müssen, um zu wissen, daß die Anschaffung eines schwarzen Mantels für eine Beerdigung in seinen Augen hinausgeworfenes Geld war.

In der behandschuhten Linken hielt Wilhelm Holzboer seinen schwarzen Zylinder, mit der Rechten griff er jetzt in die Erde auf der Schaufel, warf mit einer Gebärde, die herausfordernd wirkte, seine drei Gaben in die Gruft und wandte sich ab. Er trat zurück neben den Pfarrer, zögerte einen Augenblick, dann stülpte er seinen Zylinder auf den runden, kahlen Schädel, der von grauen Locken umkränzt war.

Ohne es zu wollen, war Eduard Lechner fasziniert von der starken Ausstrahlung dieser Persönlichkeit. Wilhelm Holzboer hatte das feste, runde Kinn vorgeschoben, die vollen Lippen zusammengepreßt. Der Ausdruck seiner Augen, die starr geradeaus blickten, war nicht zu deuten. Die buschigen Augenbrauen, die an der Nasenwurzel zusammengewachsen waren, gaben seinem Gesicht etwas Herrisches.

Was mochte in diesem Augenblick in Wilhelm Holzboer vor sich gehen? Bereute er seine Härte einer Frau gegenüber, die ihm jeden Wunsch von den Lippen abgelesen hatte, die ihm Sklavin, ja willenloses Werkzeug gewesen war? Trauerte er um den Verlust seiner Lebensgefährtin, mit der er doch über dreißig Jahre lang Tag für Tag, im Haus und im Geschäft zusammengewesen war? Klagte er sich an, daß er schuld an ihrem Tode war?

Eduard Lechner wußte, daß es so war. Doktor Vogelsang hatte es ihm in einer geschwätzigen Minute, erschüttert vom Tod seiner Patientin, durch einige schnell hinuntergestürzte Schnäpse gelockert, erzählt. Luise Holzboer hätte nicht zu sterben brauchen. Die Lungenentzündung, die ihren durch ununterbrochene Arbeit geschwächten Körper überfallen hatte, hätte nicht tödlich enden müssen, wenn die Patientin nicht vorzeitig aufgestanden wäre. Sie befand sich schon auf dem Wege der Besserung, Doktor Vogelsang glaubte sie über dem Berg, als er sie bei seinem nächsten Besuch mit hohem Fieber, fast schon in Agonie vorfand. Er hatte getobt, als er erfahren hatte, daß sie aufgestanden war. Jedenfalls behauptete er, getobt zu haben. Lechner, der wußte, wie sehr Doktor Vogelsang vor Holzboer zitterte, bezweifelte es. Wilhelm Holzboer hatte zwar nicht von seiner Frau verlangt aufzustehen, aber sie wußte, daß er kranke Menschen haßte, und Luise Holzboer war es gewohnt, auch seinen unausgesprochenen Befehlen zu gehorchen, und das hatte sie umgebracht.

Eduard Lechner schrak aus seinen Gedanken auf. Er hatte es versäumt, ein Bild von Wilhelm Holzboer am Grabe seiner Frau zu knipsen, und gerade das war es, was seine Leser sehen wollten.

Er schaute in seine Kamera. Eine schmale, schwarzgekleidete Gestalt, tief verschleiert, tastete sich sehr vorsichtig, Schritt für Schritt, über die aufgebrochene Erde zum Kopfende des Grabes: Juliane Holzboer. Er hob den Blick, ihr Gesicht war unter dem engmaschigen Schleier nicht zu erkennen.

Jetzt warf sie ihre drei Gaben Erde auf den Sarg. Ihre Bewegungen wirkten sicher und gelassen. Dann trat sie vom Grab zurück, einen Augenblick sah es aus, als würde sie stolpern – Eduard Lechner war schon auf dem Sprung, ihr zu Hilfe zu eilen, obwohl das ganz unsinnig war, weil er viel zu weit vom Grab entfernt stand – dann aber hatte sie sich wieder gefangen, trat noch einen Schritt zurück und stand jetzt wieder an der Seite ihres Vaters.

Mit raschen, gewandten Schritten trat Christiane Holzboer an das Grab. Auch sie war tiefschwarz gekleidet, aber ihr Gesicht war nicht verschleiert. Ihr helles, blondes Haar leuchtete unter dem schwarzen Hut, ihre Lippen glühten, obwohl sie sie offensichtlich nicht geschminkt hatte. Ihre langen Wimpern waren schwarz getuscht und ließen ihre hellen, blauen Augen ausdrucksvoller erscheinen.

Es war ein hübsches Bild, wie sie da am Grabe ihrer Mutter stand, und einen Augenblick stieg in Lechner der Verdacht hoch, daß sie wußte, wie hübsch dieses Bild war. Rasch und anmutig warf sie ihre Gaben Erde ins Grab, und Lechner knipste, noch bevor sie zu ihrem Vater und ihrer Schwester zurücktrat. Sie holte ein blütenweißes Tüchlein aus ihrer Handtasche, betupfte sich sehr vorsichtig und graziös die Augenwinkel.

Dann kam Wilhelm Holzboer junior an die Reihe. Lechner hatte ihn lange Zeit nicht gesehen, und er staunte, wie ähnlich der Junge seinem Vater geworden war. Seine noch kindlichen Züge zeigten keine Trauer, eher schien er zornerfüllt, als er jetzt die drei Handvoll Erde in die Grube warf. Auf wen mochte er zornig sein? Auf seinen Vater? Auf die Tote? Auf Gott, der ihm die Mutter genommen hatte?

Er trat zurück und stellte sich zu seiner Familie.

Da standen sie, die vier Holzboers, die Dynastie der kleinen süddeutschen Stadt Leuchtenberg. Man hätte erkennen können, daß sie von einem Fleisch waren, auch ohne ihre Gesichter zu sehen – sie hatten alle die gleiche charakteristische, sehr aufrechte Haltung, den gleichen steifen Nacken. Nebeneinander standen sie am Grab, ungebeugt und ohne sichtbare Trauer. Keiner von ihnen zeigte das leiseste Anzeichen von Schwäche.

Lechner, der die ganze Zeit durch den heißen Atem seines Hintermannes im Nacken irritiert worden war, wandte sich um, murmelte ein Wort der Entschuldigung, drängte sich durch die dichte Menge etwas rückwärts und hielt dann seine Kamera hoch über dem Kopf, um sie alle vier auf das Bild zu bekommen.

Die Feuerwehrmusikanten hatten den Choral beendet. Der Kapellmeister gab ein Zeichen, worauf sie begannen, ihre Instrumente wieder einzupacken. Die Menge geriet in Bewegung. Die einen drängten zum Ausgang des Friedhofs, die anderen nach vorne zum Grab. Langsam gingen sie an den Holzboers vorbei, drückten einem nach dem anderen die Hand. Sie machten den Holzboers ihre Reverenz, sie beugten sich vor der Macht des Geldes.

Eduard Lechner schoß noch ein paar Aufnahmen, dann klappte er seinen Fotoapparat zusammen, verstaute ihn im Lederfutteral. Die Beerdigung war vorüber. Es gab nichts mehr aufzunehmen und nichts mehr zu beschreiben. Aber er hatte einen Artikel im Kopf. Wenn die Fotografien nicht gewesen wären, hätte er überhaupt nicht zur Beerdigung kommen brauchen, denn er hatte schon vorher gewußt, wie sich alles abspielen würde. Die Wahrheit durfte er ohnehin nicht schreiben, denn die wollte niemand lesen. Ganz abgesehen davon, daß er schon morgen entlassen worden wäre, wenn er es wagen würde, Wilhelm Holzboer, den größten Inserenten des ›Volksblattes‹, in einem Zeitungsartikel anzugreifen und herauszufordern.

Er würde die üblichen Phrasen dreschen müssen, von der sozialen Haltung der Verstorbenen, ihrer Güte und Großzügigkeit, würde mit rührseligen Worten die tiefe Trauer der Hinterbliebenen beschreiben und behaupten müssen, wie schmerzlich der unersetzliche Verlust dieser Frau sie alle getroffen habe.

Die Wahrheit durfte er nicht schreiben, und es hätte auch keinen Sinn gehabt, denn jeder kannte sie sowieso. Jeder wußte, daß Luise Holzboer nichts weiter˂ gewesen war als das Echo ihres Mannes, liebenswürdig zu denen, die ihren Mann schätzten, noch ablehnender als er selber denjenigen gegenüber, die es wagten, sich ihm in den Weg zu stellen.

Jeder wußte, daß Wilhelm Holzboer nicht der willkommene Wohltäter der Stadt war, sondern ein verhaßter Usurpator, daß er die Mittel, die er gebraucht hatte, um sein Warenversandhaus ›Jedermann‹ zu gründen, aus einer üblen Manipulation gewonnen hatte. Er hatte es verstanden, ungeheure Mengen von Kleidungsstücken, aus billigem Material und schlecht verarbeitet, bis zum Moment der Währungsreform zu horten, um sie dann mit einem Schlag auf den Markt zu bringen und das ganze Gebiet südlich von München zu überschwemmen. Harte D-Mark waren damals, vor drei Jahren, der Lohn seiner »kaufmännischen Weitsicht‹ gewesen.

Aber wer hätte es gewagt, ihm einen Vorwurf daraus zu machen? Das ›Versandhaus Jedermann‹ stellte eine Macht dar, die halbe Stadt lebte davon. Spielte es eine Rolle, mit welchen Mitteln es gegründet worden war?

Eduard Lechner war der letzte, der es gewagt hätte, in das Geschäftsgebaren Wilhelm Holzboers hineinzuleuchten. Es ging ihn nichts an, und er hatte sich schon längst zu der Überzeugung durchgerungen, sich niemals um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen.

Nach einem kurzen Zögern ordnete er sich in die Reihen seiner Mitbürger ein, die darauf warteten, dem mächtigen Wilhelm Holzboer ihr Beileid ausdrücken zu dürfen.

Die gleichtönenden Beileidsworte, die man ihm zumurmelte, drangen nicht bis zu Wilhelm Holzboers Bewußtsein. Mechanisch drückte er die Hände, die ihm gereicht wurden, seine Gedanken waren weit weg. Sie drehten sich, wie immer, um seine Geschäfte.

»Juliane, Kind – halt den Bürjermeister auf! Ich han noch mit ihm zu reden«, sagte er plötzlich. Seine Stimme klang laut und dröhnend. Er machte nicht den Versuch, seinen rheinischen Dialekt, der durch einen langen Aufenthalt in Berlin leicht verfärbt war, zu verleugnen, sondern übertrieb ihn noch, um den Einheimischen zu beweisen, wie wenig es ihn störte, daß sie ihn als ›Zuagroasten‹, als Fremden, anfangs bitter bekämpft hatten und ihn auch heute noch innerlich ablehnten.

»Ich, Vater?« fragte Juliane.

»Warum nich?« In Wilhelm Holzboers Stimme schwang gereizte Ungeduld.

Julianes Hände krampften sich zusammen, sie zitterte bei dem Gedanken, daß er es fertigbringen könnte, sich hier in aller Öffentlichkeit über ihr lahmes Bein lustig zu machen.

»Ich geh’ schon, Vater«, sagte ihr Bruder halblaut und löste sich aus der Gruppe.

»Wat hat er jesacht?« Wilhelm Holzboer dachte nicht daran, seine Stimme zu dämpfen.

»Helm wird’s ihm ausrichten, Vater«, erklärte Juliane.

»Dat is jut.«

Während Wilhelm Holzboer starr aufgerichtet dastand, Hände schüttelte und die Beileidsworte an seinem Ohr vorbeiklingen ließ, verfolgten seine Augen den Sohn, der sich entschlossen einen Weg durch die Trauergemeinde bahnte. Der junge Wilhelm ging, so rasch er konnte, aber die Menge, die teilweise immer noch zögernd zwischen den Gräbern herumstand, behinderte ihn.

Plötzlich verlor Wilhelm Holzboer die Geduld. »Kommt, Kinder … laßt uns jehen!« sagte er laut. Ohne sich um die Schlange der Leuchtenberger Bürger zu kümmern, die darauf warteten, ihm die Hand zu schütteln, bahnte er sich einen Weg zum Friedhofsausgang.

Unwillkürlich wich alles links und rechts zurück, so daß er ungehindert vorwärtsdrängen konnte. Seine Töchter folgten ihm, nach allen Seiten grüßend.

Wilhelm Holzboer erreichte den Bürgermeister erst außerhalb des Friedhofstores, wo er in Begleitung des Stadtbaurates vor seinem Dienstwagen stand und auf ihn wartete. Der junge Wilhelm hatte ihm die Botschaft seines Vaters schon ausgerichtet.

»Bürjermeister!« dröhnte Wilhelm Holzboers Stimme von weitem.

Die beiden Herren trennten sich, und Bürgermeister Rollmann kam Wilhelm Holzboer beflissen entgegen.

»Bitte, verzeihen Sie vielmals, Herr Holzboer«, begann der Bürgermeister sofort, »es ist mir sehr unangenehm …«

»Wat soll ich verzeihn?«

»Diesen Zwischenfall mit den Kindern. Ich weiß, der Lärm war außerordentlich störend, und ich werde …«

»Ah ba! Dat is doch janz ejal. Ich han ein janz anderes Hühnchen mit Ihnen zu rupfen, Bürjermeister …«

Bürgermeister Rollmann war irritiert. »Doch nicht hier, Herr Holzboer«, sagte er.

»Warum nich? Sie sind ’ne alter Fisimatentenmacher! Nu passen Se mal auf … ich han da ein Schreiben von der Friedhofsverwaltung jekriecht, wejen dem Grabmahl von der juten Luise. Diese Bunken wollen mir da doch wahrhaftig Vorschriften machen …«

»Wenn ich Ihnen das kurz erklären darf, Herr Holzboer«, unterbrach ihn der Bürgermeister, bemüht, das unangenehme Gespräch so schnell wie möglich zu beenden, »es ist nämlich so, daß es für unseren städtischen Friedhof eine Verordnung gibt, nach der einzelne Grabstätten, ich will nicht gerade sagen, genormt sein müssen, aber doch immerhin eine gewisse Höhe und eine gewisse Breite nicht überschreiten sollen. Diese Verordnung erstreckt sich auch auf die Ausstattung des Grabes, auf die Anpflanzung von Bäumen und dergleichen …«

»Und für wat soll dat jut sein?« unterbrach Wilhelm Holzboer ihn dröhnend.

»Man hofft, auf diese Weise dem Friedhof einen einheitlichen Charakter zu geben,es handelt sich dabei vor allem um ästhetische Gesichtspunkte, Herr Holzboer …«

»Dat is ’n dolles Ding. Man darf also in diesem Kuhkaff nich mal beerdigt werden, wie man will?«

»Soviel ich weiß, gibt es in allen Städten und auch in den Landgemeinden ähnliche oder gleichlautende Verordnungen über die Gestaltung der Friedhöfe.«

»Dann kann ich nur sajen – dat is ’ne schöne Demokratie, in der wir leben!«

»Es tut mir sehr leid, Herr Holzboer, wenn Sie das so auffassen …«

»Ja, so fasse ich dat auf, Herr Bürjermeister. Ich muß Sie doch dringend bitten, da einzuschreiten. Schließlich is et doch ’ne kleine Unterschied, ob da irgend ’ne Frau Piesepampel bejraben wird oder ’ne Frau Luise Holzboer!«

»Ganz gewiß, Herr Holzboer.«

»Und außerdem, dat soll ja auch ein Familienjrab werden, verstehen Se, so ’ne Art Jruft, und dann muß et doch auf jeden Fall wat Imposantes sein, dat werden Se doch verstehen, wat?«

»Ich verstehe Ihre Wünsche vollkommen.«

»Dat freut mich. Dann lassen Se sich jleich mal von meiner Sekretärin den janzen Vorjang jeben und jehen damit zum Friedhofsamt, und machen Se den Behörden’n bißchen Dampf unter den Hintern.«

»Ich werde tun, was in meiner Macht steht …«

»Dat möcht’ ich auch jehofft haben.«

Wilhelm Holzboer tippte grüßend mit der Hand an seinen Zylinder und nahm die tiefe Verbeugung des Bürgermeisters mit Genugtuung zur Kenntnis. Dann stapfte er durch den Schneematsch zu seinem Auto, in dem seine beiden Töchter inzwischen schon Platz genommen hatten.

»Wo steckt denn der Jung?« fragte er, als er sich ächzend in das Polster hatte fallen lassen.

»Er ist schon zu Fuß nach Hause gegangen, Vater«, erklärte Juliane.

»Dann fahren wir los. Ich han’ne Mordshunger.«

Das Haus, in dem die Familie Holzboer seit Jahren wohnte, war alt, düster und verbaut. Wenn man die Haustür öffnete, schlug einem ein modriger, unangenehmer Geruch entgegen, aber die Holzboers merkten es kaum noch.

AlEs war kurz nachs der junge Wilhelm in den dunklen Hausflur trat, mußte er daran denken, daß er als Kind fest davon überzeugt gewesen war, irgendwo in diesem Haus müßte eine Leiche versteckt sein. Er hatte oft das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden nach dieser Leiche durchsucht, von Hoffnung und Angst zugleich erfüllt, sie zu finden.

Manchmal, wenn er nachts aufwachte, hatte ihn der Gedanke an diese Leiche nicht wieder einschlafen lassen. Aber es gab keine Leiche in diesem Haus, heute wußte er es. Trotzdem konnte er über seine kindlichen Ängste nicht lächeln, denn der Geruch erinnerte ihn gegen alle Vernunft an Verwesung.

Wilhelm war froh, daß niemand ihm entgegenkam. Er hängte seinen Mantel rasch an den Garderobenständer, lief die Treppen hinauf in sein Zimmer, eine ausgebaute Dachmansarde. Dort warf er sich auf das weißlackierte Eisenbett, zündete sich eine Zigarette an und schloß die Augen.

Es war vorüber. Er versuchte, sich darüber zu freuen, daß alles vorüber war.

Mutter war tot, damit mußte er sich abfinden, und es hätte ihm auch nichts genützt, wenn sie noch lebte. Sie hätte ihn doch nicht begriffen. Vielleicht hatte sie ihn geliebt, ja, er war eigentlich sicher, daß sie ihn geliebt hatte, aber geholfen hatte sie ihm nie. Sie hatte es nicht gewagt. Sie hatte es nicht einmal verstanden, wenn er sich gegen irgendwelche Anordnungen des Vaters aufgelehnt hatte. Immer wenn er an die Mutter dachte, an die kleine, verarbeitete, ausgemergelte Gestalt mit dem farblosen, trockenen Haar, krampfte sich sein Herz vor Mitleid zusammen. Aber war sie wirklich zu bemitleiden? Jetzt, wo sie tot war, wo sie alles überstanden hatte, bestimmt nicht mehr.

Und früher? Vielleicht hatte sie es gerade so haben wollen, wie es war Vielleicht war sie sogar glücklich dabei gewesen. Sie hatte niemals geklagt, aber sie hatte auch selten gelacht. Nur manchmal, wenn der Vater plötzlich auf die Idee gekommen war, sie zu loben oder sich einen Spaß mit ihr zu machen, dann hatte ihr Gesicht gestrahlt. Vielleicht hatte sie ihn geliebt? Konnte man einen Mann wie den Vater lieben?

Wilhelm hörte das Knarren auf der Treppe. Unwillkürlich verbarg er seine Zigarette in der hohlen Hand.

Ohne vorher anzuklopfen, öffnete die Tante die Tür und steckte ihren Kopf in Wilhelms Zimmer. »Pappa is da, Jung’. Komm essen!« Mißbilligend schnüffelte sie den Zigarettenrauch.

»Schon?« fragte er zurück. Aber sie war bereits wieder verschwunden. Er hörte, wie sie die Treppe hinunterlief. Sie hatte Angst vor Vater wie alle in diesem Haus, außer ihm.

Er fürchtete seinen Vater nicht, er haßte ihn nur. Und das war viel besser so.

Das Eßzimmer war der größte Raum in dem alten Haus, der einzige, in dem sich die Familie vollzählig und regelmäßig zusammenzufinden pflegte. Das Zimmer war – wie alles im Haus, außer Christianes Stube – lieblos und ohne Geschmack eingerichtet. Die Holzboers schämten sich nicht, deutlich zu zeigen, daß sie nur hausten. Wilhelm Holzboer war es seit eh und je gleichgültig gewesen, wie der Schreibtisch aussah, an dem er arbeitete, oder das Bett, in dem er schlief, und alles andere interessierte ihn auch nicht. Die anderen aber hatten das Haus immer nur als Provisorium aufgefaßt. Es hatte keinen Zweck, sich darum zu bemühen, es wohnlich einzurichten, es war und blieb ein alter Rumpelkasten. Vor ein paar Jahren war eine Zentralheizung eingebaut worden, weil die Arbeit mit all den Öfen nicht mehr zu bewältigen war. Das war aber auch alles. Sobald das neue Firmengebäude stand, sollte ja sowieso ein neues Haus gebaut werden, ein Haus mit allen Schikanen, großen, gekachelten Badezimmern, einer Hausbar, einer Ölheizung, Perserteppichen und gotischen Madonnen. Die Frauen – Mutter, Christiane und die Tante,. ja sogar Juliane – hatten sich oft stundenlang über das neue Haus unterhalten, das alte interessierte sie nicht.

Als der junge Wilhelm eintrat, waren schon alle versammelt, und er bemerkte sofort, daß der Vater kurz vor einem seiner gefährlichen Jähzornausbrüche stand. Sein Kopf hatte sich gerötet, die Zornesader, die quer von der Stirn zur Nasenwurzel führte, war bedrohlich geschwollen.

Einen Augenblick glaubte Wilhelm, daß die Wut seines Vaters ihm galt. Er war bemüht, sich so geräuschlos wie möglich zu setzen, zwang sich, »Entschuldige, bitte« zu murmeln.

Niemand hörte es.

»Raus damit!« brüllte Wilhelm Holzboer. »Raus, sage ich euch!« Und er stieß mit einer wilden Bewegung die Schüssel mit dem Hühnerfleisch, die die Tante gerade auf seinen Platz gestellt hatte, von sich. »Ihr wollt mich wohl verjiften, ihr Bagage, ihr!«

»Bring das Fleisch hinaus, Tante«, sagte Juliane sehr ruhig. »Du hörst doch, daß Vater es nicht essen will.«

»Ja, aber …« Die Tante nahm hastig, als ob sie fürchtete, geschlagen zu werden, die Schüssel mit dem Hühnerfleisch fort und ging damit auf die Küchentür zu. »Ja, aber …« stammelte sie, »ja, aber… «

Wilhelm Holzboer leerte ein großes Glas Mineralwasser in einem Zug, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und goß sich gleich wieder ein.

Juliane hatte schon damit begonnen, aus der bauchigen Suppenschüssel Erbsensuppe in die Teller zu füllen, die vor ihr aufgestapelt standen. Sie reichte den ersten Wilhelm Holzboer hinüber.

Er wartete nicht, bis die anderen ihr Essen hatten, sondern begann sofort gierig zu löffeln. »Ätzesupp, dat is jut. Wer hat denn dat jekocht? Dat schmeckt ja jroßartich.«

»Frau Bärlein«, sagte Juliane und teilte weiter Suppe aus.

»Siehst du, Kindchen, dat is ’n Essen für ’nen Mann, der den janzen Tach schwer arbeitet. Kannste dat nich versteh’n? Mit so’nem jeschmacklosen Hühnerfleisch kannste doch keinen Hund hinterm Ofen vorlocken.«

»Das hatte ich auch nicht vor, Vater.«

»So, hattest du nich?« Er beobachtete sie lauernd über seinen Löffel hinweg.

»Nein, Vater.«

»Warum läßte mir dann so’n Zeuchs auf den Tisch stellen? Oder war et etwa die Tant’, die …«

»Nein, Vater, die Tante ist vollkommen unschuldig daran. Wenn du es für richtig hältst, dann kannst du mich ausschimpfen.«

»Dat han ich mir jedacht, Kind. Du kannst mich nich schnell jenuch im Jrab sehn, wat? Mach nich so’n Jesicht, sonst muß ich dir eine knallen! Denkt ihr, ich weiß nich, wat ihr euch wünscht? Ihr seht mich lieber dot als lebendich, alle miteinander!«

»Dann brauchte ich mir nicht soviel Mühe mit deiner Diät zu geben!«

»Diät! Wenn ich dat schon höre.«

»Doktor Vogelsang hat sie dir verordnet.«

»Dieser alte Idiot!«

Die Tante war zum Tisch zurückgekehrt und begann hastig, ihre Suppe zu löffeln. Niemand sagte ein Wort. Es war nichts zu hören als das Klappern der Löffel und das schlürfende Geräusch, mit dem Wilhelm Holzboer seine Suppe einsog.

»War et eine schöne Leich’?« versuchte die Tante ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Dat kann man wohl sajen«, erklärte Wilhelm Holzboer selbstgefällig.

»Ich wunderte mich, dat ihr alle so schnell zu Hause wart.«

»Vater ist einfach gegangen«, sagte Christiane.

»Wat, Willem du bist jejangen?«

»Ja, wat denn sonst? Meinst du, es hätt’ mir Spaß jemacht, mich vor diesem Volk zum Popanz machen zu lassen?«

»Aber, Vater! Die Leute haben es doch gut gemeint. Es ist nun mal Sitte, daß man bei einer Beerdigung kondoliert«, erklärte Juliane.

»Pah, jlaub dat nich, dat die et jut jemeint haben. Die wissen janz jut … ich han mehr Jeld als die alle zusammen.«

»Ich fürchte, Vater, du hast die Leute schrecklich beleidigt, weil du so schnell gegangen bist«, sagte Christiane.

»Die und beleidicht? Die kann man jar nicht beleidijen, Kind.«

»Meinst du wirklich?«

»Ja, dat mein ich. Die leben ja alle von unserem Jeld.«

»Sicher, Vater«, sagte Juliane, »aber ich glaube, sie tun es nicht gerne.«

»Wer zwingt sie denn dazu? Ich etwa?«

»Ich will dir keinen Vorwurf machen, Vater …«

»Dat hätt’ noch jrad jefehlt. Ich will dir mal wat sajen, Kind, dat janze Volk hier is eine Begage! Denen is et janz ejal, ob du se mit dem Stiebei in den Hintern trittst, wenn se man bloß mit der Nase ins Jeld fallen.«

»Dat is aber doch schad’, Willem«, sagte die Tante, »so ’ne schöne Leich’. Bei uns zu Hause …«

Der junge Wilhelm, der bis jetzt lustlos in seiner Suppe gestochert hatte, unterbrach sie. »Könnten wir nicht zur Abwechslung mal von was anderem sprechen?« sagte er heftig.

Wilhelm Holzboer wandte sich ihm zu. »Wat soll dat heißen? Paßt et dir etwa nich, von wat wir reden?«

»Ich finde …«, begann der junge Wilhelm, aber er stockte mitten im Satz, Christiane hatte ihn unter dem Tisch heftig gegen das Schienbein getreten.

»Ärgere dich nicht, Pappa.« Sie benutzte das Kosewort aus der Kinderzeit mit der Betonung auf der ersten Silbe und lächelte ihrem Vater herzlich zu. »Wilhelm ist ein bißchen durcheinander von der Beerdigung und dem allem. Er redet nur so daher.«

»Dat will ich hoffen.«

»Es war ja auch überwältigend, nicht wahr, Pappa?« fuhr Christiane mit ihrem schönsten Lächeln fort.

»Dat jehört sich auch so«, sagte Wilhelm Holzboer befriedigt.

»Es war ein richtiges Volksfest«, redete Christiane weiter, um den Vater in guter Laune zu halten.

»Dat kann man wohl sagen. Und der Philipp Wispert mittendrin. Der hat sich wohl auch jedacht, er kann sich von meinem Jeld’nen juten Tag machen, wie?«

»Er wird bestimmt heute nachmittag wieder im Büro sein«, sagte Juliane.

»Dat möcht’ ich auch jehofft haben!« Wilhelm Holzboer stieß seinen leeren Teller von sich. »Und wat jibt’s jetzt Jutes?«

»’ne Schokoladenspeis, Willem«, sagte die Tante und stand auf.

»Her mit dem Zeuchs.«

»Vater, du weißt ganz genau …« begann Juliane.

»Dat stimmt!« unterbrach Wilhelm Holzboer sie. »Ich weiß janz jenau, wat mir schmeckt, und wat mir schmeckt, bekommt mir auch.«

»Doktor Vogelsang hat gesagt, Süßigkeiten sind Gift für dich.«

»Bleib mir vom Leib mit dem! Oder willste mich bös’ machen, Hinkebein?«

»Nein, Vater.« Julianes Stimme klang tonlos. Sie verteilte die süße Nachspeise auf die kleinen Dessertteller und duldete es regungslos, daß ihr Vater einen zu sich zog. Wilhelm Holzboer aß schmatzend und mit bestem Appetit.

»Hör mal, Pappa«, wagte Christiane einen Vorstoß, »kann ich wohl am Samstag frei kriegen?«

»Wo du dich vor der Arbeit drücken kannst …«

»Nein, ich hol’s nach, ganz bestimmt! Ich müßte bloß dringend nach München!«

»Wat willste denn da, Kind?«

»Ich habe gar nichts anzuziehen, Vater, nichts Schwarzes, meine ich, und in diesem Kaff hier ist wirklich nichts zu kriegen.«

Wilhelm Holzboer hob abwehrend die Hand, er starrte einen Augenblick wie geistesabwesend über sie hinweg, dann strahlte sein Gesicht auf, und er sagte: »Menschenskind, dat is ’ne Idee!«

»Darf ich?« fragte Christiane erfreut.

»Nu paßt mal auf, Kinder. Wat passiert, wenn plötzlich jemand stirbt? Man braucht schwarze Kledasch, und zwar schnell. Woher kriejen? In der Stadt jeht man ins nächste beste Kaufhaus, dat is klar. Aber aufʼm Land, in den Dörfern, in den kleinen Käsekaffs? Wißt ihr wat, dat kann ein jroßet Jeschäft werden. Wie wär’ et, Juliane, denk mal nach … wie wäre et, wenn wir ’ne Expreßabteilung für Trauerfälle bei uns anjliedern würden? Zwei Seiten im Katalog für Trauerkleidung von Mann, Frau und Kind, auf telejrafische Bestellung hin wird das Zeuchs sofort frei Haus jeliefert?«

»Ich fürchte, Vater …« begann Juliane.

Der Junge erhob sich brüsk. »Das ist ja zum Kotzen!« Er schmetterte seinen Löffel in den Teller, den er kaum angerührt hatte. Die Schokoladenspeise spritzte hoch.

»Wat fällt dir denn ein, Jung’?«

»Helm!« rief Christiane. »Benimm dich!«

»Setz dich sofort wieder hin!« befahl Juliane.

»Ach, laßt mich doch in Ruhe, ihr!« Der junge Wilhelm rannte aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

»Nu möcht’ ich bloß mal wissen, wat in den jefahren is!« sagte Wilhelm Holzboer mehr verblüfft als verärgert. »Könnt ihr mir erklären, wat der hat?«

Es war kurz nach Mittag.

Der junge Wilhelm Holzboer hatte sich umgezogen. Er trabte in Skihosen, schweren Winterschuhen und Rollkragenpullover, die Schlittschuhe an einem Riemen über die Schulter gehängt, zum ›Großen Loch‹ hinaus, dem Weiher vor der Stadt, auf dem die Schuljugend von Leuchtenberg im Winter Schlittschuh lief.

»Kaum, daß die Mutter unter der Erde ist …« sagte Frau Willkommner, die gerade eine Kundin aus dem Geschäft begleitet hatte und dabei einen neugierigen Blick auf die Straße warf.

»Wer?« fragte Zenzi, das Lehrmädchen.

»Wer schon! Der junge Holzboer natürlich.«

Zenzi zuckte die Achseln und machte sich weiter daran, Konservendosen auf dem Bord einzuräumen. »Die sind halt so.«

Der junge Wilhelm hatte keine Ahnung von der Mißbilligung, mit der man sein Tun und Lassen in der kleinen Stadt beobachtete. Auch wenn er es gewußt hätte, wäre es ihm gleichgültig gewesen. Er war überzeugt, daß er schon genug Probleme hatte, ohne daß er sich um das Gerede der Leute kümmerte.

Auf dem ›Großen Loch‹ herrschte ein buntes Treiben. Das Eis war grau und weich, von flachen Pfützen bedeckt, die sich langsam, aber ständig vergrößerten. Jeder wollte diesen Tag, der vielleicht den letzten Eislauf des Jahres ermöglichte, bis zur Neige genießen. Die Oberprimaner, Wilhelms Klassenkameraden, die sich mit betontem Hochmut von den Jüngeren zurückhielten, johlten Wilhelm nicht wie gewöhnlich zu. Er war drei Tage nicht mehr in der Schule gewesen, und der Tod seiner Mutter machte sie befangen. Sie wußten nicht, ob sie angesichts dieser Tatsache einfach zur Tagesordnung übergehen konnten, oder ob Wilhelm von ihnen erwartete, daß sie ihm kondolierten.

Er half ihnen. »Der Wetterbericht meldet einen neuen Kälteeinbruch«, sagte er beiläufig, während er sich in der Nähe von Sepp und Toni, die am Rande des Weihers eine Zigarette rauchten, seine Schlittschuhe anschnallte.

»I glaub’ a, ’s wird heute nacht schneien«, stimmte Toni ihm sofort erleichtert zu.

»Du kannst meine Hefte einsehen, wannst willst«, erbot sich Sepp.

»Hast du sie bei dir?«

»Na, dahoam.«

»Ich komme heute abend vorbei.«

Sepp hielt Wilhelm seine Zigarette hin, er tat zwei Züge und reichte sie dann zurück.

»Bis nachher.«

Wilhelm stieß sich mit ein paar kleinen Stößen ab, dann sauste er in die Mitte des Eislaufplatzes, daß das Wasser unter seinen Schlittschuhen wegspritzte. Er hatte Erika Bogdan längst entdeckt, ihr brauner, lockiger Pferdeschwanz wehte aus ihrer knallroten Strickmütze heraus, während sie Hand in Hand mit ihrer Freundin Anni Kreise und Bogen auf dem grauen Eis zog. Er wußte, daß auch sie ihn längst bemerkt hatte, aber einem ungeschriebenen Gesetz der Jugend Leuchtenbergs folgend, wartete sie ab, daß er zu ihr kam. Ein Mädchen, das sich einem Jungen näherte, auch wenn die beiden noch so gut befreundet waren, galt als ›aufdringlich‹.

Er war den beiden Freundinnen bis auf wenige Schritte nahegekommen, als Anni plötzlich Erikas Hand losließ und ihr einen Stoß von hinten gab, so daß sie gegen Wilhelm prallte. Lachend stob Anni davon.

»Erika«, sagte er und hielt sie an der Schulter fest, »Erika.«

In ihren braunen, runden Augen blitzten nicht wie sonst die goldenen Fünkchen auf, wenn sie ihn ansah. Sie schlug die Wimpern nieder, ihre Lippen bebten.

»Was ist?« fragte er erstaunt.

»Ach, nichts …«

Er schob seinen Arm unter ihren, ihre Hände klammerten sich ineinander, und sie begannen, im gleichen Rhythmus über das Eis zu gleiten.

»Hat Doktor Werner dich gepiesackt?« fragte er.

»Nein.«

»Ach so, du bist mir böse, weil ich gestern und vorgestern nicht gekommen bin. Aber du weißt doch genau …«

»Ich habe jeden Tag auf dich gewartet.«

»Ich konnte nicht kommen, das hättest du wissen müssen«, sagte er verärgert.

»Ich … ich habe so auf dich gewartet.«

»Das war schön dumm von dir.«

»Ich weiß, daß ich dumm bin«, sagte sie leise.

»Ich kann wirklich nichts dafür, Erika«, verteidigte er sich.

»Das weiß ich doch.«

»Warum bist du dann so?«

»Ich … du verstehst mich nicht, ich wollte dir nur sagen, wie es war. Ich will dir doch keinen Vorwurf machen!«

»Du bist mir also nicht böse?«

»Nein.«

»Dann ist ja alles gut.«

Sie blieb mit einer so scharfen Wendung stehen, daß ihre Schlittschuhe eine tiefe Kerbe in dem weichen Eis hinterließen. »Nichts ist gut.«

Er starrte sie verständnislos an.

»Ich … hatte dir etwas sagen wollen. Aber es hat ja doch keinen Zweck. Wir wollen Schluß machen, ja? Das ist bestimmt das Vernünftigste.«

»Erika! Bist du verrückt geworden?«

»Nein, ich bin ganz vernünftig.«

»Wenn du mir nicht sofort sagst, was los ist …«

»Ich kann nicht!«

»Du mußt. Denk an unseren Schwur!«

»Das ist etwas ganz anderes. Ich muß allein damit fertig werden.«

»Na schön. Aufdrängen will ich mich nicht. Vielleicht hast du einen anderen gefunden, der dir besser gefällt. Dann viel Glück!« Er bohrte seinen Schlittschuh ins Eis und schwang sich herum.

»Helm!« rief sie, schoß hinter ihm her und klammerte sich an seinen Arm. »Helm, du kannst mich doch nicht einfach stehenlassen.«

»Wer hat denn wen stehenlassen?«

»Ich bin so verzweifelt!« Schon begannen Tränen neben ihrer Stubsnase herabzulaufen.

»Mach bloß kein Theater hier. Oder willst du, daß alle uns auslachen?«

»Ich glaube, ich bekomme ein Kind, Helm.«

Es war Wilhelm, als wenn das Eis unter seinen Füßen auseinanderbräche und er in einen dunklen, eisigen Abgrund geschleudert würde.

»Dann werden sie uns erst recht auslachen«, sagte sie.

»Nein!« brüllte er. »Nein!« Er achtete nicht darauf, daß neugierige Blicke sich auf sie richteten.

»Was soll ich nur tun, Helm?«

»Ist es wahr? Bist du sicher, daß es wahr ist?«

»Ich glaube …«

»Warst du beim Arzt?«

»Bei wem?«

»Ja, ich weiß … natürlich nicht … Erika, mein Gott, es ist … entschuldige, nur … es kommt so schrecklich überraschend.«

»Für mich auch, Helm!«

»Ich weiß, natürlich. Ich muß nachdenken. Wem hast du davon erzählt?«

»Niemandem.«

»Auch deiner Mutter nicht?«

»Mutter? Die würde … ich weiß nicht, was die tun würde.«

»Und Anni?«

»Natürlich nicht.«

»Sie ist doch deine Freundin, und ich dachte, Freundinnen erzählen sich alles.«

»So was nicht, Helm.«

In sein Gesicht, das vor Schreck kalkweiß geworden war, kehrte das Blut zurück. »Komm, wir müssen weg, irgendwohin, wo wir allein sind … wo wir über alles reden können.«

»Was soll das für einen Sinn haben?«

»Wir müssen nachdenken.«

»Ich habe schon so lange nachgedacht, Helm … Tag und Nacht!«

»Und?«

»Es gibt keinen Ausweg!«

»Unsinn. Es gibt immer einen Ausweg. Verflucht noch mal. Wenn wir bloß Geld in der Hand hätten.«

»Wir hätten das eben nicht tun dürfen …«

»Ich hätte es nicht tun dürfen, willst du wohl sagen.«

»Es ist meine Schuld … ich wollte dir doch nur zeigen, wie sehr ich dich liebe. Und jetzt …«

»Jetzt bekommen wir ein Kind. Vor allen Dingen mußt du jetzt sehr vorsichtig sein, Erika … nicht mehr Schlittschuh laufen und so etwas. Ich habe gelesen, das soll nicht gut sein in deinem Zustand.«

»Helm!«

»Was starrst du mich so an?«

»Du bist mir nicht böse?«

»Wir werden heiraten, Erika. Nicht jetzt gleich, das werden sie uns nicht erlauben. Aber wir werden eines Tages heiraten. Ich habe dich immer heiraten wollen. Ich habe es bloß nicht gesagt, weil es albern war. Aber ich werde dich heiraten … das schwöre ich dir.«

Wilhelm Holzboer und Juliane durchschritten nebeneinander, mit den gleichen zielbewußten Schritten, den Fabrikhof, in dem schmutzige, trübe Schneepfützen standen. Juliane hinkte fast unmerklich.

Das Versandhaus ›Jedermann‹ war in einer alten Holzbearbeitungsfabrik untergebracht, deren altmodische und weitläufige Gebäude als Konkursmasse an die Stadt gefallen waren.

Nur ein Eingeweihter fand sich noch darin zurecht. Die einzelnen Abteilungen waren ineinandergeschachtelt, die Büroräume waren nur durch die Packräume zu erreichen, die Werbeabteilung befand sich hoch unter dem Dach, wo es im Sommer glühend heiß war, im Winter durch alle Ritzen zog. Die Ware mußte mit Handkarren von einer Abteilung zur anderen gebracht werden, die breiten Treppen waren zur Hälfte auszementiert, so daß diese Karren hinauf- und heruntergeschoben werden konnten, eine mühselige Arbeit, unter der die Männer keuchten und die viel Zeit verschlang.

All diese Unzulänglichkeiten hätten Wilhelm Holzboer jedoch nicht gestört, wenn die Last und Unbequemlichkeit von seinen Arbeitnehmern hätte getragen werden müssen, tatsächlich verteuerten sich dadurch zwar nicht die Herstellungskosten – außer dem Ressort Bekleidung wurden alle Waren vom Großeinkauf fertig bezogen –, aber doch die Auslieferung. Was ihn am meisten störte, war die Unübersichtlichkeit des alten Gebäudes, in dem es Faulenzern leicht gelang, sich in Ecken, Winkeln oder Nischen eine Zigarettenpause oder die Gelegenheit zu einem ausgiebigen Tratsch zu verschaffen. Die Unruhe, daß die Leute sich für ›sein Geld‹ eine angenehme Zeit machten, trieb ihn oft zehnmal am Tag durch alle Abteilungen, und wehe dem, den er nicht an seinem Arbeitsplatz vorfand.

»Na, Bochdan«, sagte er zu dem Expedienten, der das Umladen der Waren überwachte, »alles in Ordnung?«

»Jawohl, Chef! Bloß …«

»Na, reden Se schon!«

»Ick weß ja nich, ob Se det jern hören, Chef … aber det neue Verpackungsmaterial is unter aller Kanone!«

Bogdan war seinerzeit mit Holzboers aus Berlin gekommen. Er hatte schon im alten Kaufhaus ›Jedermann‹ gearbeitet, und er war einer der wenigen, von denen Wilhelm Holzboer ein offenes Wort vertrug.

»Sie jeben sich keine Mühe, Bochdan!«

»Wir tun, wat wir können, Chef, aber wenn ick Ihnen saje, det jeht nich. Det Zeuchs reißt einem zwischen die Finger kaputt!«

»Ich habe dir ja gesagt, Vater …« mischte sich Juliane ein.

»Wat haste mir jesacht?«

»Es hat keinen Zweck, an Verpackungsmaterial zu sparen.«

»Is doch schön, Bochdan, wenn man ’ne Tochter hat, die alles besser weiß, wat?«

»In diesem Punkt, Chef, muß ick dem Frölln Juliane recht jeben!«

»Und wat würden Sie sajen, wenn Ihre Tochter so’n jroßes Maul hätte?«

»Det hat unsere Erika auch, Chef. Det is eben so bei die jungen Leute, da muß man sich dran jewӧhnen!«

»Na, Juliane, dann schreib mal an die Firma Tingelmann und sieh zu, wie du die Sach’ in Ordnung bringst! Is schon allet von dem neuen Verpackungsmaterial ausjeliefert?«

»Nein, Vater, bis gestern abend jedenfalls noch nicht. «

»Dann telejrafier am besten jleich und stopp den Auftrach, verstanden?«

»Ja, Vater.«

»Machen Se et jut, Bochdan«, rief er dem alten Expedienten nach.

»Immer, Chef.«

Wilhelm Holzboer hatte sich schon abgewandt und stapfte in die Büroräume hinauf. Juliane folgte ihm, so rasch sie konnte.

Gleich vom Friedhof aus war Philipp Wispert in sein Büro geeilt.

Das Zimmer, in dem er von morgens sieben Uhr bis nachmittags um fünf als Prokurist des Versandhauses ›Jedermann‹ tätig war, glich einem dreckigen, unfreundlichen Loch. Das Fenster, das aus vielen winzigen Scheiben zusammengesetzt war, bot genügend Licht, um den kleinen Raum zu erhellen, aber es war seit langem verklemmt und ließ sich nicht mehr öffnen, so daß Wispert die Tür aufmachen mußte, wenn er frische Luft hereinlassen wollte.

Jetzt war er sehr konzentriert dabei, die Posteingänge des heutigen Tages zu prüfen – er führte die verzweigte Korrespondenz mit den Lieferanten der Firma ›Jedermann‹ –, als sich die Tür öffnete und Christiane hereinschlüpfte.

»Philipp!« rief sie.

Noch ehe er sich erheben konnte, war sie bei ihm, schlang ihren Arm um seinen Nacken und bot ihm die Lippen.

Er küßte sie flüchtig, schob sie dann gleich wieder von sich. »Wie unvorsichtig, Christiane!«

»Ach, du bist langweilig!«

»Ich bin nicht langweilig, Christiane, ich bin nur vorsichtig!«

»Ein Feigling bist du!«

Er begann, sich nervös die Ärmelschoner abzuziehen, die er über seinen guten schwarzen Anzug gezogen hatte.

»Wenn du nur gekommen bist, um mich zu beschimpfen …«

»Aber, Philipp! Den ganzen Tag habe ich mich nach dir gesehnt, das kannst du dir doch denken! Den ganzen Vormittag und die ganze Nacht. Ich eile auf Flügeln der Liebe zu dir, um dich mit der freudigen Überraschung zu beglücken, daß wir am Wochenende zusammen nach München können … ich habe Vater weisgemacht, daß ich mir noch Trauerkleidung besorgen muß … ich freue mich wie ein Kind, und dann bist du so!«

»Ich bin nicht so, Liebling …«

Sie lachte. »Wenigstens dein Liebling bin ich noch! Das ist doch etwas.«

»Es tut mir leid, daß du mich für einen Feigling hältst, Christiane.«

»Nein, dafür halte ich dich doch gar nicht.«

»Du hast es aber selber eben gesagt!«

»Ach, sei doch nicht so schrecklich pedantisch! Wenn man sich ärgert, sagt man eine Menge Dinge, die man gar nicht so meint.«

»Du weißt genau, wie vorsichtig wir sein müssen, Liebling. Stell dir vor, wenn dein Vater jetzt plötzlich hereinkäme.«

»Er kommt aber nicht.«

»Weißt du das ganz genau?«

»Natürlich. Er klettert mal wieder mit Juliane in dem langweiligen alten Bau herum, und das arme Ding zittert natürlich die ganze Zeit, daß sie ins Stolpern gerät.«

»Das klingt ein bißchen herzlos.«

»So? Findest du? Dir tut Juliane wohl leid?«

»Ja. Dir etwa nicht?«

»Kein bißchen. Wie man sich bettet, so liegt man … das solltest du doch am besten wissen!«

»Was willst du damit sagen?«

»Oh, nichts, gar nichts!«

»Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Christiane, aber manchmal …«

Sie wandte sich ihm wieder zu, lächelte strahlend und verlockend zu ihm auf. »Liebst du mich wirklich?«

»Natürlich.«

»Natürlich ist keine Antwort. Sag ja oder nein!«

»Ja oder nein.«

»Du bist wirklich gräßlich.« Sie legte den kleinen blonden Kopf wie schutzsuchend an Philipps Schulter. »Sag, daß du mich liebst! Sag, daß du dich auf Samstag freust.«

»Du weißt doch genau, daß ich dich liebe, Christiane, nicht wahr? Aber gerade weil ich dich liebe, muß ich dir immer wieder sagen, du mußt vorsichtiger sein. Wenn dein Vater irgend etwas von unserer … nun ja, von unserer Liebe, merkt, dann …« Er stockte.

Sie blickte ihn an. »Was ist dann?«

»Das weißt du doch selber ganz genau.«

»Du meinst, er würde dich rauswerfen?«

»Wahrscheinlich.«

»Wäre das so schlimm? Du könntest doch irgendwo anders auch eine Stellung bekommen. Ich würde mit dir gehen, und wir würden heiraten.«

»Du redest wie ein Kind.«

»Ich rede wie eine Frau, Philipp!«

»Es ist ja auch gut möglich, daß er sich etwas anderes ausdenkt … er könnte zum Beispiel dich fortschicken, Christiane, daran hast du noch nie gedacht?«

»Mich?«

»Ja. Nach München … oder zu euren Verwandten ins Rheinland. Oder zu irgendeinem Geschäftsfreund!«

»Und du meinst, davor soll ich mich fürchten? Philipp, was bist du doch für ein Esel. Ich wäre ja heilfroh, wenn ich endlich von hier wegkäme!«

»Und ich?«

»Du gehörst nicht zu Wilhelm Holzboers Familie, du kannst sowieso tun und lassen, was du willst. Du kannst mit mir kommen, du kannst aber auch bleiben. Du bist ein freier Mensch, Philipp!«

»Ein freier Mensch … zunächst ohne Stellung, wenn dein Vater mich hinauswirft.«

»Aber das kann doch nicht so weitergehen mit unserer blödsinnigen Heimlichtuerei, Philipp! Ich bitte dich, wir können doch nicht bis ans Ende unserer Tage ein heimliches Liebespaar bleiben.«

»Nicht bis ans Ende unserer Tage, aber vorläufig. Was bleibt uns denn sonst übrig?«

»Das fragst du? Du könntest doch zum Beispiel zu Vater hingehen und ihm sagen, wie es um uns steht und daß du mich heiraten willst.«

»Christiane!«

»Was ist denn schon dabei? Millionen junger Männer haben Millionen Männer schon gefragt, ob sie ihre Tochter heiraten dürfen. Den Kopf wird es dich nicht kosten.«

»Ich bitte dich, Christiane. Du weißt genauso gut wie ich, daß das Wahnsinn wäre.«

»Das weiß ich nicht«, sagte sie verstockt.

»Du kennst doch deinen Vater. Du hast mir doch selber erzählt, wie es Juliane ergangen ist. Es hat Männer gegeben, die um ihre Hand angehalten haben, nicht wahr? Und was hat dein Vater dazu gesagt … was hat er getan?«

»Ich bin nicht Juliane.«

»Nein, aber genau wie sie bist du seine Tochter … eine Tochter Wilhelm Holzboers …«

»Aber du bist Philipp Wispert, das scheinst du zu vergessen. Du bist Prokurist unserer Firma. Vielleicht wird Vater sich sogar freuen, wenn du ihm sagst, daß wir heiraten wollen.«

»Glaubst du das wirklich?«

Sie schwieg einen Augenblick. Dann senkte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie leise.

Sie fuhren auseinander, als die Tür aufgerissen wurde. Wilhelm Holzboer stampfte herein, gefolgt von Juliane.

In seiner Verwirrung stieß Wispert gegen die schwere Unterschriftenmappe, die polternd zu Boden schlug.

»Wie oft han ich Ihnen gesacht, Wispert, dat Se nich aufspringen soll’n wie ’ne Hampelmann, wenn ich reinkomme?« dröhnte Wilhelm Holzboer.

»Bitte, entschuldigen Sie Herr Holzboer … ich war so in die Arbeit vertieft, daß ich …«

Juliane versuchte, die Tür hinter sich zuzumachen, aber der Raum war so klein, daß die vier Menschen darin keinen Platz fanden. Christiane wäre gerne hinausgeschlüpft, aber der Vater versperrte ihr den Durchgang.

»Worauf warten Se noch, Wispert? Heben Sie dat Buch schleunigst auf! Oder soll ich etwa …?«

»Entschuldigen Sie, Herr Holzboer … ich dachte nur …« Philipp Wispert, der sich gescheut hatte, sich zu bücken, um keine komische Figur zu machen, beugte sich rasch nieder und legte die Unterschriftenmappe wieder auf den Schreibtisch.

»Dat is et jerade, weshalb ich mit Ihnen sprechen wollt’, Wispert! Sie denken zuviel. Wat haben Se sich zum Beispiel dabei jedacht, dat Se heute morjen auf dem Friedhof erschienen sind?«

»Ich hielt es für meine selbstverständliche Pflicht …«

»Ihre Pflicht is et, hier zu arbeiten, Wispert, dat Se et nur wissen. Ich bezahl’ Se nich, damit Se Ihre Zeit aufʼm Friedhof vertrödeln!«

»Ich wollte, Herr Holzboer … die verstorbene Frau Holzboer …«

»Ich weiß, ich weiß, Se han se karessiert. Dat war jut und schön, soweit Se dabei jearbeitet haben. Aber Trödelei während der Arbeitszeit dulde ich in meinem Betrieb nicht, verstanden?«

»Jawohl, Herr Holzboer.«

»Dat Se heute abend Überstunden machen, dat is Ihnen doch klar? Oder woll’n Se, dat wir Ihnen wat vom Jehalt abschreiben?«

»Nein, nein, Herr Holzboer, natürlich hatte ich sowieso vor, die verlorene Zeit nachzuholen.«

»Dat freut mich. Dat nur keine Mißverständnisse entstehen … Sie sind zwar der Sohn meines juten Freundes Wispert, aber zu unserer Familie jehören Se nich, auch wenn Se mit die Mädchen schöntun.«

»Ich hätte nie gewagt …«

»Dann is et ja jut, Wispert.« Wilhelm Holzboer wandte sich ab und Christiane zu. »Und du? Wat hast du hier zu suchen, Kind?«

»Ich … ich wollte mit Wispert sprechen!« stotterte Christiane, dann fügte sie rasch hinzu: »Wegen der Expreßabteilung für Trauerfälle, Vater.«

»Wat du nich sagst. Nu paß mal auf, Kind, ein für allemal, wenn du schon selber nicht arbeiten willst …«

»Vater!« protestierte Christiane.

» … dann halte wenigstens die anderen nich auf. Schreib dir dat hinter die Ohren, sonst kannst mal wat von deinem alten Pappa erleben!«

»Ich habe bestimimt nicht, Vater …«

»Stehst du noch immer da rum? Du jlaubst wohl, du kannst für mein jutes Jeld die Zeit totschlajen, wat?« Die Zornesader auf Wilhelm Holzboers Stirn schwoll bedrohlich an.

»Komm schon, Christiane!« Juliane faßte ihre Scnwester bei der Hand und zog sie hinaus auf den Flur.

»Hierbleiben!« donnerte Wilhelm Holzboer.

Erschrocken blieben die beiden Mädchen stehen.

»Dich mein’ ich, Hinkebein! Du wolltest doch mit Wispert sprechen, oder …?«

Juliane errötete. »Ja, Vater«, sagte sie leise.

»Na also. Verstand wie ’n Huhn!« Und genauso abrupt, wie er gekommen war, stapfte Holzboer hinaus.

Die Morgensonne war verhangen, Schneewasser tropfte von den Dächern.

Frau Bärlein aß gedankenverloren ihr Butterbrot, während sie einen Brief las, der neben ihrem Teller auf dem Küchentisch lag. Sie hob nur kurz den Kopf, als die Tante das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr hereinbrachte. Dann las sie weiter.

»Ach je …« Sie setzte das Tablett neben dem Spülstein’ ab.

»Hat es wieder Ärger gegeben?«

»Dat kann man wohl sajen. Von all die leckren Sächelchen, die wir für ihn gemacht haben, hat er nich’nen Fitz anjerührt. Kuchen wollt’ er essen … Marmelade.«

Frau Bärlein lachte. »Das hätte ich Ihnen gleich sagen können.«

»Ich han et Juliane doch auch jesacht. Aber dat Kind will und will nich auf mich hören. Sie bildet sich glatt ein, sie weiß allet besser!«

»Sie meint eben, weil der Arzt Herrn Holzboer Diät verschrieben hat…«

»Ja, hat er. Aber Willem kümmert sich nich ’nen Deut darum.«

»Ich finde eigentlich auch nicht, daß er aussieht wie ein Mann, der Diät leben muß.«

»Doktor Vogelsang …«

»Ich will Ihnen mal was sagen, Tante« – wie alle hier im Haus gebrauchte auch Frau Bärlein für die Cousine der verstorbenen Frau Holzboer diese familiäre Anrede – »die Ärzte verschreiben vieles, besonders wenn es ein Patient ist, der Geld hat.«

»Ja, ja, dat is schon wahr.«

»An Ihrer Stelle würde ich mir bestimmt keine Sorgen um Herrn Holzboer machen. Der wird hundert Jahre alt, sage ich Ihnen, der überlebt uns alle.«

»Erzählen Se dat mal der Juliane. Dat Kind is ja rein verrückt mit seiner Diät für den Pappa. Als ob so’n bisken Zucker ’nen Mann wie Willem umkippen könnte.«

»Fräulein Juliane ist überhaupt reichlich nervös, nicht wahr? Ich würde mir von meinem Vater bestimmt nicht soviel gefallen lassen.«

»Dat kommt janz auf den Vater an, Frau Bärlein.«

»Kann schon sein.«

»Jedenfalls wird er et mit der Christiane nich so leicht haben. Die kommt janz auf seine selje Mutter. Dat war en As auf der Baßjeije.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nur so. Man darf doch wohl noch reden?«

»Vielleicht heiratet der Prokurist sie ja.«

»Wat, dat wissen Se auch?«

»Mein Gott, Tante, regen Sie sich doch nicht auf! In so einem kleinen Nest wie Leuchtenberg hört man natürlich allerhand munkeln.«

»Wenn dat der Willem erfährt. Jott sei uns allen jnädich!«

Frau Bärlein lachte. »Aber Tante, so schlimm wird’s doch nicht gleich werden. Es ist doch ganz normal, daß ein junges Mädchen …«

»Erzählen Se dat dem Willem. Wenn Se Mut haben! Erzählen Se dat dem Willem.«

Frau Bärlein zuckte mit den Achseln. »Mich geht es ja schließlich nichts an. Wenn ich in alles meine Nase stekken wollte, was in diesem Haus passiert …«

»Wat wollen Se damit sajen?«

»Sie wissen doch genauso gut Bescheid wie ich, oder?«

»Wollen Se damit auf die Pakete anspielen, die dat Christiane …?«

»Mich geht’s nichts an, ich sagte es ja schon. Aber ich sehe, was ich sehe, und ich weiß, was ich weiß.«

»Mein Jott, der arme Willem! Wenn der wüßte!« Die Tante schlug die Hände zusammen.

»Mir tut er nicht leid, daß Sie’s nur wissen. Wenn ich das Geld von Herrn Holzboer hätte, ich wüßte mir eine bessere Beschäftigung, als meine Familie zu tyrannisieren. Sie sehen ja, was er davon hat. Belogen und betrogen wird er von allen Seiten. Aber mich geht’s ja nichts an.«

Mit einem Klirren stellte Frau Bärlein ihren leeren Teller zu den anderen, sie wollte heißes Wasser in das Spülbekken gießen.

»Nee, lassen Se dat! Auf den Schreck muß ich mir erst ’ne Tasse Kaffee jenehmigen.«

»Wenn Sie wollen …« Frau Bärlein nahm die große Blechkanne, die ständig mit heißem Kaffee gefüllt war, vom Herd.

»Nich von dem Muckefuck! Nee, ich han mir jedacht, wir machen uns ’ne Tasse juten.«

Frau Bärlein zögerte. »Ich weiß nicht …«

»Et wäre ja noch schöner, wenn ich mir nich mal ’ne Tasse juten Kaffee gönnen könnt’. Und überhaupt, et sind ja alle fort.«

Frau Bärlein holte eine Blechdose aus dem Küchenschrank, schüttete eine Handvoll Kaffeebohnen in die elektrische Mühle und stellte sie an. Die Kaffeemühle surrte los, und die beiden Frauen schwiegen.

»Also … und wat schreibt er denn?«

»Er war wieder mal beim Wohnungsamt, und anscheinend hat er diesmal Erfolg gehabt. Man hat ihm ganz fest eine Dreizimmerwohnung für uns versprochen. Es soll ein ganzer Häuserblock für Flüchtlinge gebaut werden, die Wohnungen sollen im nächsten Herbst beziehbar sein.«

»Die vom Wohnungsamt versprechen viel!«, sagte die Tante. »Willem sagt immer: Wer sich auf die Ämter verläßt, is verlassen.«

»Diesmal aber scheint es doch zu klappen.«

»Sie sajen dat, als wenn Se nich früh jenuch von uns fortkommen könnten. Ihnen jeht et doch janz jut hier, wat? Und ’nen schönet Jeld verdienen Se auch.«

»Ich will gewiß nicht undankbar sein …«

»Dat scheint mir aber doch so.«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Aber verstehen Sie das denn nicht, daß ich auch mal wieder mit meinem Mann Zusammenleben möchte? Mit unserem Kind? Eine richtige Ehe führen?«

»Sie sind doch noch jung …«

»Ich bin seit acht Jahren verheiratet, und die Tage, an denen ich wirklich mit meinem Mann zusammengelebt habe, kann ich mir an den Fingern abzählen. Seit wir in den Westen gekommen sind, ist alles noch schlimmer.«

»Vielleicht wären Se besser drüben jeblieben.«

»Das weiß ich jetzt auch. Aber was nutzt mir das? Für uns gibt es kein Zurück mehr.«

Plötzlich zuckte die Tante zusammen. »Still!« sagte sie. »Janz still!«

Dié beiden Frauen lauschten angespannt. Schritte waren auf der Treppe zu hören, kamen näher – dann fiel die Haustür ins Schloß.

»Jott sei Dank«, sagte die Tante aufatmend, »et war nur der Jung’.«

» Ach so. Ich dachte, Wilhelm wäre schon längst in der Schule.«

Als der junge Wilhelm Holzboer atemlos das graue Schulgebäude betrat, läutete schon die Glocke zum Beginn des Unterrichts. Es gelang ihm gerade noch, hinter Oberstudienrat Dr. Elegius Werner in die Klasse zu schlüpfen, dann wurde die Tür geschlossen.

So rasch und unauffällig wie möglich nahm Wilhelm seinen Platz ein, verstaute seine Mappe unter der Bank und versuchte dann sofort einen Blick mit Erika Bogdan zu tauschen, die in der Reihe hinter ihm auf der anderen Seite des Ganges saß. Aber Erika blickte starr geradeaus, er sah nur das Profil ihres kleinen, stubsnäsigen Gesichtes.

»Guten Morgen, meine jungen Freunde!« Dr. Werner legte seine Aktentasche auf das Katheder, dann wandte er sich wieder der Klasse zu.

Der junge Wilhelm beeilte sich, dem Beispiel seiner Klassenkameraden zu folgen und Goethes ›Faust‹, erster Teil, vor sich auf das Pult zu legen.

»Wo sind wir?« fragte er flüsternd.

»Kerkerszene«, raunte Sepp, sein Banknachbar, zurück.

»Meine lieben jungen Freunde«, begann Dr. Werner händereibend, »zum Schluß der vorigen Stunde hat einer von Ihnen – ich glaube, es war Bergner – die Frage aufgeworfen, warum Gretchen sterben muß, das heißt, warum Goethe sie nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen läßt, mit ihrem Geliebten zu fliehen. Ich glaube, diese Frage ist interessant genug, daß wir uns ein wenig ausführlicher darüber unterhalten sollten. Wer hat etwas dazu zu sagen?«

Sofort meldete sich Anni Knott, Erikas Freundin.

»Ich freue mich, Knott«, sagte Dr. Werner – er hatte die Angewohnheit, seine Schüler, ob Jungen oder Mädchen, immer nur mit dem Nachnamen anzureden, als wollte er damit seine völlige Unvoreingenommenheit gegenüber der Mädcheninvasion in das ursprünglich als reine Jungenschule gedachte Gymnasium dokumentieren –, »ich freue mich, Knott, daß Sie über das Problem nachgedacht haben.«

»Natürlich muß Gretchen sterben«, sagte Anni überzeugt, »schließlich ist sie ja eine Mörderin. Sie hat ihre Mutter umgebracht und ihr Kind doch auch. Und außerdem … Valentin …«

»Das stimmt doch gar nicht!« rief Toni Bergner dazwischen.

»Immer erst ausreden lassen, Bergner!« rügte Dr. Werner. »Was wollten Sie noch sagen, Knott?«

»Das war alles.«

»Gretchen hat ihre Mutter gar nicht umbringen wollen«, sagte Toni, »sie hat ihr den Trank ja nur gegeben, weil sie ihn für ein harmloses Schlafmittel gehalten hat. Und ob sie ihr Kind wirklich getötet hat, steht ja gar nicht fest. Wir erfahren es bloß von Mephisto und …«

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, Bergner, aber daß Gretchen ihr Kind getötet hat, dürfen wir doch wohl als Tatsache hinnehmen. Es handelt sich ja bei Goethes ›Faust‹ um ein Drama, aber nicht um einen Kriminalreißer.«

Die Klasse lachte.

»Und wenn. Sie hat es ja bestimmt nur getan, weil sie völlig verzweifelt war und keinen anderen Ausweg sah.«

»Das ist sicher ein Milderungsgrund, aber keinesfalls eine Entschuldigung.«

»Für eine Kindestötung würde sie heutzutage höchstens ein paar Jahre Gefängnis kriegen, niemals aber sterben müssen.«

»Das Stück spielt im Mittelalter«, warf einer aus den hinteren Reihen dazwischen.

»Schön und gut. Aber Goethe ist doch ein humaner Mensch und selbst Jurist. Da sollte man doch annehmen, daß er sich für Gretchens Verbrechen eine andere Strafe hätte ausdenken können, die ihrer tatsächlichen Schuld entspricht«, ergriff eines der Mädchen für Toni’s Ansicht Partei.

»Wurden zu Goethes Zeiten Kindesmörderinnen nicht tatsächlich noch geköpft?« wollte einer der Jungen wissen.

»Meine lieben jungen Freunde«, sagte Dr. Werner, »ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie die Sache von einer falschen Seite her anpacken. Vom Juristischen her ist diesem Problem natürlich nicht beizukommen, sondern nur vom Moralischen her. Margarete hat schon in dem Augenblick Schuld auf sich geladen, als sie dem Werben Faustens und ihrer eigenen Leidenschaft nachgab. All die anderen fahrlässigen oder bewußten Verbrechen, die sie späterhin noch auf sich lädt, entspringen lediglich dieser ersten Schuld, die ich als eine Urschuld des Weibes bezeichnen möchte. Sie selber sagt: ›Doch – alles, was mich dazu trieb, Gott! war so gut! Ach war so lieb!‹ – Tatsächlich aber hat sie schon vom ersten Moment an das Vertrauen ihrer Mutter enttäuscht, hat sie gegen ihr eigenes besseres Wissen und Gewissen gehandelt … ja, Bogdan, was wollen Sie sagen?«