Vom Himmel hoch - Hannes Nygaard - E-Book

Vom Himmel hoch E-Book

Hannes Nygaard

4,6

Beschreibung

Ein Nachwuchsmanager liegt mitten auf dem Marktplatz des beschaulichen Städtchens Bredstedt im Herzen Nordfrieslands. Ist der Tote vom Himmel gefallen? Das Kripoteam aus Husum hat alle Hände voll zu tun: Gemeinsam mit seinen Kollegen, dem Schnüffelschwein Große Jäger und dem Frauenschwarm Mommsen, ermittelt Hauptkommissar Christoph Johannes in der scheinbar ganz normalen bürgerlichen Welt, hinter deren Fassade jedoch Hass und Mobbing regieren. Hannes Nygaard wirft einen Blick hinter die Kulissen und zeigt, wie Psychoterror das Leben der Menschen so zur Hölle macht, dass es schließlich zur Katastrophe kommt.

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Rainer Dissars-Nygaard, Jahrgang 1949, studierte Betriebswirtschaft und war als Unternehmensberater tätig. Er lebt als freier Autor auf der Insel Nordstrand. Im Emons Verlag erschienen unter dem Pseudonym Hannes Nygaard die Hinterm Deich Krimis »Tod in der Marsch«, »Vom Himmel hoch«, »Mordlicht«, »Tod an der Förde«, »Todeshaus am Deich«, »Küstenfilz«, »Todesküste«, »Tod am Kanal«, »Der Inselkönig«, »Der Tote vom Kliff«, »Sturmtief« sowie die Niedersachsen Krimis »Mord an der Leine« und »Niedersachsen Mafia«. In der Emons-TATORT-Reihe erschienen »Erntedank« und »Borowski und die einsamen Herzen«.

www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2005 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-049-0 Hinterm Deich Krimi 2 Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG,

FürBirthe

EINS

Die kleine Stadt schlief noch, als Elfriede Möhlmann am Morgen dieses herrlichen Frühsommertages auf Harald Banzer traf.

Wie an jedem Werktag war sie mit ihrem Fahrrad und den beiden schweren Gepäcktaschen unterwegs, um das »Nordfriesland Tageblatt« auszutragen. Fast jeder in Bredstedt kannte Elfriede, die seit vierzig Jahren bei Wind und Wetter den Menschen die Morgenlektüre ins Haus brachte.

Nur Harald Banzer hatte sie noch nicht kennen gelernt. Doch sollte er ihr nach der ersten und einzigen Begegnung für ewig in Erinnerung bleiben.

Er lag, merkwürdig verrenkt, mitten auf dem Marktplatz, gleich neben dem Schweinebrunnen, einem Kunstwerk, das vier hässliche Betonschweine zeigte, die ähnlich den Bremer Stadtmusikanten übereinander standen.

Zunächst nahm Elfriede ihn nur als regloses Bündel wahr. Als sie sich neugierig näherte, sah sie in Augen, die starr an ihr vorbei ins Leere blickten. Das Gesicht war zu einer eigentümlichen Fratze verzerrt, während angetrocknete Rinnsale aus Mund, Nase und Ohren auf innere Blutungen schließen ließen.

Elfriede erstarrte, öffnete vor Schreck ihren Mund und spürte, wie ihr eine Mischung aus Grauen und Angst in die Glieder fuhr. Sie warf einen Blick über den Marktplatz, der zu dieser frühen Stunde ihr allein gehörte. Niemand war zu sehen, zumindest kein lebendes Wesen.

Hastig schob sie ihr Fahrrad ein Stück weiter zum Unterstand der Bushaltestelle, lehnte es gegen die Sitzbank und kramte aus ihrer Jackentasche das Handy hervor. Mit zittrigen Fingern drückte sie die Kurzwahltaste und versuchte, die Verbindung zu Robert herzustellen, ihrem seit einigen Jahren pensionierten Mann, der sich daheim noch in den letzten Träumen der weichenden Nacht wiegte.

Es dauerte eine Weile, bis sich eine knarrende, verschlafene Stimme meldete.

»Robert«, keuchte Elfriede in das kleine Gerät an ihrer Wange, »da liegt ein Toter.«

Einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende, dann hörte sie, wie ihr Mann sich freihustete, eine Angewohnheit, die den langjährigen Raucher verriet.

»Was sagst du?«, kam es ungläubig zurück.

»Ich habe einen Toten gefunden. Der liegt direkt neben dem Schweinebrunnen.«

Dann hörte sie die Antwort, die in solchen Situationen immer gegeben wird. »Das kann nicht sein!«

»Doch«, erwiderte sie, nun mit Ärger in der Stimme. »Ich spinne doch nicht.«

Roberts Stimme klang jetzt besänftigend. »Der ist vielleicht nur betrunken und pennt dort seinen Rausch aus.«

»Nein!« In Elfriede keimte Zorn über ihren Gatten auf. Warum müssen Männer immer alles besser wissen, obwohl sie gar nicht vor Ort sind?

»Der ist nicht betrunken. Der ist tot.«

Robert räusperte sich erneut. »Woher willst du das denn wissen?«, fragte er.

»Da läuft Blut aus seinem Kopf. Außerdem guckt er so komisch.«

»Wenn er aus der Nase blutet, hat ihm vielleicht ein Zechkumpan eine verpasst«, versuchte der ferne Ehemann eine Erklärung. »Und was heißt hier, er guckt so komisch?«

»Na, eben so … Wie soll ich das beschreiben. Eben so … wie … na, wie ein Toter.«

Robert seufzte am anderen Ende der Leitung. Er war jetzt vollends wach.

»Weißt du was?«, knurrte er. »Ich rufe die Polizei an. Warte dort, bis sie eintrifft.«

»Ist gut, Robert«, flüsterte Elfriede und blickte dabei unbehaglich in Richtung des reglosen Menschenbündels. »Und … Robert … danke!«

Es knackte kurz im Handy als Zeichen dafür, dass ihr Mann die Verbindung unterbrochen hatte.

Elfriede setzte sich auf die Bank im gläsernen Unterstand der Haltestelle und starrte auf die gegenüberliegende Straßenseite, als könne sie damit den Toten ignorieren und das soeben Erlebte ungeschehen machen.

*

Als Christoph die Haustür öffnete und auf die Straße trat, schälte sich ein hoch gewachsener blonder Mann hinter dem Lenkrad des wartenden gelben Minis hervor, klappte den Fahrersitz nach vorn und wies einladend auf die hintere Sitzbank.

»Guten Morgen«, grüßte der junge Mann und strahlte trotz der frühen Stunde eine erstaunliche Vitalität aus, so als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, in aller Herrgottsfrühe vor dem roten Backsteinhaus auf seinen Chef zu warten.

»Guten Morgen«, erwiderte Hauptkommissar Christoph Johannes den Gruß seines Mitarbeiters Harm Mommsen und quälte sich auf die enge Rückbank des kultigen Wagens.

Mit einem weiteren kurzen Nicken begrüßte Christoph den dritten Mann im Wagen, der auf dem Beifahrersitz hockte, durch die Scheibe nach vorn stierte und Christophs Erscheinen nur mit einem Grunzlaut zur Kenntnis nahm.

Harm Mommsen wendete geschickt das Fahrzeug und fuhr aus der Berliner Straße auf die Bundesstraße. In der ruhigen Wohnstraße am Stadtrand von Husum bewohnte Christoph unter dem Dach eines der Siedlungshäuschen ein kleines Appartement.

»Welch bedeutender Anlass treibt uns noch vor sechs Uhr früh aus dem Bett?«, wollte Christoph wissen.

Mommsen hatte den Wagen beschleunigt, konzentrierte sich noch einmal kurzfristig auf das Hochschalten der Gänge und begann in das Aufheulen des Motors hinein seine Erklärung.

»Vor circa einer halben Stunde erreichte die Polizei-Zentralstation in Bredstedt telefonisch eine Meldung, dass mitten auf dem Marktplatz ein Toter liegen würde. Heute Nacht hatten allerdings die Kollegen aus Niebüll Bereitschaft, die zufällig mit ihrem Streifenwagen in der Nähe waren. Sie fanden auf dem Marktplatz einen anscheinend toten Mann.«

Christoph unterbrach seinen jungen Kollegen. »Was heißt anscheinend tot?«

»Nun ja, sofern ein Laie das beurteilen kann. Man sollte das Urteil eines Arztes abwarten.«

Erneut unterbrach Christoph. »Wieso wurde nicht zuerst der Rettungsdienst und dann die Polizei gerufen?«

Mommsen zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das wird noch zu klären sein. Also«, setzte er zum dritten Mal an, »die Kollegen von der Streife fanden dort einen Toten. Ferner waren eine Zeitungsausträgerin und ein Mann anwesend, der auf dem Weg zur Arbeit dort vorbeigekommen ist. Die Kollegen forderten sofort den Notarzt an und informierten die Leitstelle.«

»Und weiter?«, wollte Christoph wissen.

»Der wachhabende Kollege im Leitstand hat umgehend die Mordkommission in Flensburg informiert, gleichzeitig aber gemeint, es wäre sicher nicht verkehrt, auch uns zu verständigen, selbst wenn wir nicht für Tötungsdelikte zuständig sind.«

»Hmmh …«, brummte Christoph. »Wer spricht denn von einem Tötungsdelikt? Wenn ich dich richtig verstanden habe, liegt jemand in Bredstedt auf dem Marktplatz, von dem nicht einmal sicher ist, ob er tot ist. Wer sollte da voreilig ein Tötungsdelikt vermuten?«

Mommsen zuckte wieder die Schultern.

»Nun«, beantwortete Christoph die Frage selbst. »Wir sind in der Vergangenheit nicht schlecht damit gefahren, vorsichtshalber auch einmal nach Dingen zu sehen, die uns vordergründig nichts angehen.«

Dann gähnte er. Die vergangene Nacht war recht kurz gewesen. Er konnte noch nicht lange geschlafen haben, als ein dumpfes Grollen das Herannahen eines Unwetters angekündigt hatte. Begleitet von heftigen Windböen, die an den Dachziegeln über seiner kleinen Wohnung kräftig gerüttelt hatten, war ein starkes Gewitter über die Region hereingebrochen. Die Blitze zuckten grell in kurzen Abständen über das flache Land, begleitet von markdurchdringenden Donnerschlägen. Dazu hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet und Unmengen von Wasser über das Land ausgekippt. So hatte ihm das Unwetter einen großen Teil der Nachtruhe geraubt.

Ein aufbrausendes Rauschen sowie der Sog eines mit hoher Geschwindigkeit vorbeifahrenden Fahrzeugs holte Christoph aus seiner kurzen Meditation zurück. Ein schwarzes Mercedes-Coupé hatte sie überholt und entfernte sich auf der schnurgeraden Landstraße Richtung Norden.

»So ein Idiot«, ereiferte sich Christoph. »Hast du dir sein Kennzeichen gemerkt?«

»Ist nicht nötig. Ich kenne den Fahrer. Das war der Doc.«

Gemeint war Dr. Hinrichsen, praktizierender Mediziner in der Kreisstadt und als Polizeiarzt in dieser Region immer dann im Einsatz, wenn vor Ort erste und schnelle Analysen und Einschätzungen erforderlich waren. Er war zwar kein ausgebildeter Pathologe, hatte sich im Laufe der Zeit aber so gründliche Kenntnisse angeeignet, dass sein Urteil häufig eine wertvolle Hilfe darstellte.

»Wer auch immer in der Leitstelle Dienst tut, hat mit viel Umsicht gehandelt, wenn er sogar den Doktor bestellt«, sagte Christoph anerkennend.

Der Mann auf dem Beifahrersitz hatte während der gesamten Zeit geschwiegen. Sein mit grauen Strähnen durchzogenes Haar hing wirr über die Ohren. Es war ebenso ungewaschen wie der Rest des Mannes, unverkennbar an der von ihm ausgehenden Geruchsmischung aus Schweiß, Zigarettenqualm und abgestandenem Bier.

Die Weste, die den über den Gürtel hängenden Bierbauch nur teilweise bedeckte, und das fleckige Hemd trug er jetzt schon eine Reihe von Tagen. Das unrasierte Gesicht zog sich über das Doppelkinn bis zum offenen Hemdkragen hinunter.

Oberkommissar Große Jäger schien während des Gewitters nicht in seiner eigenen Wohnung gewesen zu sein. Er wirkte wie frisch aus einer Runde fröhlicher Zecher entführt.

»Wieso sind wir eigentlich mit deinem privaten Wagen unterwegs?«, wollte Christoph von Mommsen wissen.

»Unser Dienst-Kombi hat gestern den Geist aufgegeben. Und da das Land arm ist, steht kein Ersatzfahrzeug zur Verfügung. Wir müssen uns heute schnellstens um ein Auto bemühen, während unseres in Reparatur ist.«

»Was ist mit dem Wagen?«

Mommsen zuckte mit den Schultern, nickte dabei in Richtung seines Beifahrers.

»Wilderich war gestern damit unterwegs. Da hat der Wagen gestreikt.«

»Warum ist unser Dienstwagen nicht einsatzbereit?«, fragte Christoph den Oberkommissar.

»Ich bin Polizist und kein Techniker«, knurrte Große Jäger nur. Für ihn war das Erklärung genug.

Sie hatten Bredstedt, die kleine Stadt nördlich Husums, erreicht und bogen von der Durchgangsstraße nach links ins überschaubare Stadtzentrum ab.

Auf dem fast dreieckigen Marktplatz mit den kleinen zusammengedrängten Häusern blitzten die Blaulichter eines Rettungswagens sowie eines rot lackierten Notarztfahrzeugs. Daneben stand der Streifenwagen der uniformierten Kollegen.

Als sie ausstiegen und sich dem Fundort näherten, an dem zwei Männer mit den grellen Westen des Rettungsdienstes neben Dr. Hinrichsen knieten, kam ihnen einer der Streifenpolizisten entgegen und wollte gerade zu einer Zurechtweisung ansetzen, als er Große Jäger erkannte, sich flüchtig an die Mütze tippte und ein »Moin« hören ließ.

Christoph erwiderte den Gruß, stellte sich und seine beiden Kollegen vor.

»Die beiden anderen kenne ich«, erklärte der Uniformierte, wandte sich dann aber an Christoph.

»Jensen, Niebüll«, nannte der Polizist Name und Dienststelle. Die vier grünen Sterne auf der Schulterklappe zeigten an, dass er Hauptwachtmeister war. »Wir sind hier in der Nähe auf Streife gewesen, als uns die Meldung der Zentrale erreichte, sodass wir kurz darauf vor Ort waren. Dort, an der Bushaltestelle, sitzt eine Zeitungsfrau, die mit ihrem Fahrrad unterwegs war und die Morgenlektüre verteilte. Sie hat auf ihrer Tour jenes Bündel entdeckt«, dabei zeigte er mit dem Daumen über die Schulter, »das sich bei näherer Betrachtung als Leiche entpuppte. In ihrem ersten Schrecken hat sie dann ihren Mann per Handy angerufen, der daraufhin über Notruf die Polizei verständigte und Meldung machte. Der zweite Mann«, erneut zeigte er mit dem Daumen über die Schulter, »ist auf dem Weg zur Arbeit und kam zufällig hier vorbei.«

»Welcher?«, fragte Christoph, weil sich inzwischen eine Reihe Neugieriger eingestellt hatte.

Der uniformierte Beamte blickte in Richtung Wartehäuschen. »Der Ältere mit dem blauen Strickpullover.«

Christoph bedankte sich und ging zu der kleinen Ansammlung hinüber, die sich um den Toten auf dem Pflaster bückte.

»Moin!«, grüßte er.

Sein Gruß wurde ebenso knapp erwidert. Ein etwa dreißigjähriger Hüne mit Brille stemmte sich aus der Hocke empor. Die Aufschrift auf dem Rücken seiner Signaljacke wies ihn als Notarzt aus.

Nachdem Christoph sich mit »Hauptkommissar Johannes, Kripo Husum« vorgestellt hatte, schüttelte der Hüne den Kopf.

»Nichts zu machen, der war schon tot, als wir hier eintrafen. Damit ist unsere Mission erledigt.« Zu Dr. Hinrichsen gewandt, der ebenfalls neben dem Leichnam kniete und diesen interessiert betrachtete, bemüht, nichts zu verändern, fuhr er fort: »Wir rücken dann wieder ab. Sie kümmern sich um den Rest, Herr Kollege? Abtransport? Totenschein?«

Dann verabschiedete sich der Notarzt.

Der Tote lag halb auf dem Rücken. Sein Gesicht zeigte nach oben, die Augen blickten starr gen Himmel. Auffällig war die unnatürliche Haltung. Die Gliedmaßen waren wie bei einem sehr gut trainierten Artisten in eine widernatürliche Lage verdreht. Das galt auch für die Stellung des Kopfes. Es sah fast so aus, als würde der Tote versuchen, angestrengt über die Schulter zu blicken. Außer kleineren Rinnsalen von geronnenem Blut aus Mund, Nase und Ohren waren auf den ersten Blick keine Anzeichen äußerer Verletzungen zu erkennen.

Dr. Hinrichsen blickte auf, suchte Christoph in der Runde.

»Viel kann ich noch nicht sagen. Männlich, etwa dreißig Jahre. Aber das sehen Sie ja selbst. Er ist schätzungsweise fünf bis sechs Stunden tot. Offen ist noch, woran er gestorben ist.«

Der Arzt kratzte sich nachdenklich am Hals. »Es ist merkwürdig. Es hat den Anschein, als wäre er vom Himmel gefallen. Sehen Sie einmal hier, das ist ganz typisch für einen Sturz aus größerer Höhe.«

Mit einem Kugelschreiber als Zeigestock wies er auf spitze Ausbuchtungen unterhalb des Knies sowie an den Oberschenkeln.

»Hier sehen Sie die Spitzen der gebrochenen Ober- und Unterschenkel, die sich durch das Gewebe nach außen bohren. Dort«, er deutete auf das Gelenk, »sehen Sie, wie der Fuß nach hinten geknickt ist? Damit ist er vermutlich aufgekommen. Und dann noch dies«, Dr. Hinrichsen umfasste vorsichtig den Kopf des Toten und bewegte ihn leicht hin und her. »Hören Sie das leichte Knacken? Ein eindeutiger Genickbruch.«

»Also ein Engel«, kommentierte Große Jäger.

Christoph sah den Oberkommissar fragend an.

»Nun ja, wenn er aus dem Himmel fällt«, erklärte dieser. »Aber wie soll das funktionieren?« Er ließ seinen Blick über den Marktplatz schweifen. »Hier gibt es keine Hochhäuser, keine Gerüste oder Gestelle, nicht einmal Bäume, ganz zu schweigen von einem Laternenpfahl. Sind Sie sich da sicher, Doc?«

Ein unterkühlter Blick des Arztes streifte den Oberkommissar.

»Wenn ich eine solche Vermutung ausspreche, habe ich meine Gründe. Es mag ja sein, dass Sie es besser wissen. Ich kann Ihnen zuliebe doch nicht erklären, dass er hier auf dem Marktplatz in einer Bierlache ertrunken ist.«

»Schon gut«, lenkte Große Jäger ein, »ich wollte ja Ihre Diagnose nicht in Zweifel ziehen. Es klingt aber sehr unwahrscheinlich, dass der Tod durch einen Sturz ausgelöst wurde. Das lässt nur die Vermutung zu, dass Fundort und Tatort nicht identisch sind.«

Erneut schüttelte der Doktor den Kopf. »In diesem Punkt muss ich Sie enttäuschen. Hier«, noch einmal wies er mit seinem Kugelschreiber auf den Toten, »diese Symptome sind typisch für Verletzungen bei einem Sturz aus größerer Höhe. Wenn jemand die Leiche von einem anderen Ort hierher transportiert hat, dann muss er schon einiges von Anatomie verstehen, um die Stellung der Knochen exakt so auszurichten, wie es typisch für den Aufschlag ist.«

Der Doktor legte seine Hand auf den Leib des Toten und bewegte sie ein wenig hin und her. Es sah merkwürdig aus, fast so, als würden die Fettmassen einer sehr beleibten Person in Schwingung versetzt. Dabei handelte es sich um einen Mann mit einer durchaus sportlich anmutenden Figur.

»Wenn er aus großer Höhe abgestürzt sein sollte – nehmen wir das einmal an –, so müssten doch Verletzungen erkennbar sein«, wandte Christoph ein.

»Das ist eine typisch laienhafte Vermutung. Die Haut des Menschen ist überraschend elastisch«, erklärte der Doktor. Erneut bewegte er seine Hand auf dem Leib des Toten.

»Sieht ein wenig aus, als würde man die Liegefläche eines Wasserbettes in Bewegung bringen. Das liegt daran, dass alle inneren Organe zerstört wurden. Außerdem sind natürlich die Gefäße geplatzt, und die Körperflüssigkeiten haben sich im Rumpf angesammelt. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen gern einmal schildern, wie die Obduktion in solchen Fällen abläuft.« Er sah den Oberkommissar herausfordernd an.

Große Jäger wandte sich nach seinem Disput mit dem Arzt ab und brummte leise vor sich hin: »Wie will der so etwas beurteilen. Die höchste Erhebung in Nordfriesland ist die Deichkrone. Und wenn von dort jemand herabstürzt, verletzt er sich höchstens am Dung der Deichschafe.«

»Ich möchte Ihre Theorie nicht in Frage stellen«, mischte sich Christoph ein, »aber im ersten Moment wirkt es rätselhaft. Haben Sie eine Vermutung, aus welcher Höhe er abgestürzt ist?«

Dr. Hinrichsen zog die Stirn kraus. »Schwer zu sagen. Genaueres kann erst die Autopsie ergeben. Ich vermute aber – völlig außerhalb des Protokolls – dass es mindestens aus der Höhe einer vierten Etage gewesen sein muss.«

Christoph rümpfte ungläubig die Nase. »Das ist eine harte Nuss. Wie soll jemand hier, mitten auf dem Platz, aus dieser Höhe abstürzen? Der muss wirklich vom Himmel gefallen sein.«

Der Arzt zuckte die Schultern. »Das zu erklären, mein Lieber, wird Ihr Problem sein.«

»Oder auch nicht«, erwiderte Christoph, als eine kleine Wagenkolonne den Marktplatz erreichte.

Dem ersten Wagen entstieg eine mittelgroße schlanke Frau. Das rötlich gefärbte nackenlange Haar umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht, in dem nur die etwas zu spitz geratene Nase störte. Hinter den Brillengläsern funkelten zwei wache grüne Katzenaugen.

Sie kam auf die kleine Gruppe zu. Christoph streckte ihr die Hand zum Gruß entgegen, die sie aber übersah.

»Johannes«, stellte er sich vor.

Sie sah ihn mit einem fast strafenden Blick an. »Ich mag keine Vertraulichkeiten«, entgegnete sie, »auch wenn wir anscheinend Kollegen sind, muss man sich nicht gleich duzen.« Die Stimme passte nicht ganz zu ihrem aparten Äußeren, war eine Spur zu hart.

Christoph sah sie einen Moment verblüfft an, dann umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel.

»Christoph Johannes. Letzterer ist mein Familienname«, klärte er das Missverständnis auf.

Sie sah ihn prüfend an. Kein Muskel zuckte in ihrem Gesicht.

»Dobermann!«, nannte sie ihren Namen, um mit noch härterer Stimme hinzuzufügen: »Erste Hauptkommissarin. Ich leite das K1.«

»Aha«, erwiderte Christoph, »die Mordkommission.«

Ein abfälliger Blick streifte ihn. »Ich sagte es bereits. Was suchen Sie hier? Ich vermute, Sie kommen von der Kripo-Stelle Husum?«

Christoph nickte mehr zu sich selbst. Der äußerste Nordwesten Deutschlands, jene weitläufige und dünn besiedelte Region an der Nordseeküste mit den Inseln und Halligen, war der Einzugsbereich der Polizeiinspektion Husum. Dort war auch die kleine Dienststelle der Kriminalpolizei untergebracht, deren Leiter er war und die disziplinarisch der Bezirkskriminalinspektion in Flensburg unterstand.

»Wir kommen aus Husum«, bestätigte er und erklärte, dass die Leitstelle sie alarmiert hätte.

»Wir haben es nicht so gern, wenn Laien«, auch das kam besonders betont über ihre Lippen, »mögliche Spuren am Tatort verwischen. Das sollten Sie eigentlich wissen, Herr Kollege.«

Christoph ignorierte die Bemerkung und schilderte, was er bisher an Erkenntnissen zusammengetragen hatte.

Ohne ein Wort des Dankes schloss sie die kurze Unterhaltung ab.

»Gut! Wir übernehmen jetzt. Sie können dann fahren. Ich erwarte Ihren schriftlichen Bericht im Laufe des Vormittags.«

Sie sah sich um und gewahrte Harm Mommsen, der auf die Gruppe zukam.

»Wer ist das?«, wollte sie wissen.

»Das ist mein Kollege, Kriminalkommissar Mommsen.«

Sie maß den jungen Mann mit einem abschätzenden Blick vom Scheitel bis zur Sohle, wobei sie ihre Augen im Schritt ungeniert einen Augenblick zu lange verweilen ließ.

Dann streckte sie Harm Mommsen die Hand entgegen, schenkte ihm den Anflug eines Lächelns.

»Ich bin Frauke Dobermann, Leiterin der Mordkommission. Und wer sind Sie?«

Christoph bekam vor Staunen den Mund nicht geschlossen, während Große Jäger sein breites Grinsen nicht unterdrücken wollte.

Mommsen erklärte, dass er mit der Zeitungsfrau gesprochen habe, die den Toten gefunden hatte.

Die Frau war, wie jeden Morgen, auf ihrer eingefahrenen Tour unterwegs. Natürlich hatte er von ihr wissen wollen, warum sie nicht zuerst den Rettungsdienst oder die Polizei angerufen hatte.

Sie sei so schockiert gewesen, hatte sie geantwortet, dass sie im ersten Augenblick keinen klaren Gedanken fassen konnte. Und deshalb habe sie das aus ihrer Sicht einzig Richtige unternommen, was sich in über vierzig Jahren Ehe als beste Lösung erwiesen hatte: Sie hatte ihren Robert gefragt.

Auch die Befragung des anderen Mannes, der auf seinem Weg zur Arbeit etwas später dazugekommen war, hatte keine verwertbaren Ergebnisse gebracht.

»Wie heißt der Tote überhaupt?«, fragte Mommsen.

»Das wissen wir noch nicht«, klärte Christoph ihn auf und sagte mit einem Seitenblick auf Frauke Dobermann: »Um keine Spuren zu verwischen, haben wir den Toten noch nicht angefasst.«

»Darum wird sich die Spurensicherung kümmern.« Die Hauptkommissarin hatte das Zepter fest in der Hand.

In diesem Moment hörte Christoph ein vertrautes Niesen, dann ein Husten, dem ein Fluchen folgte.

Mit einem Metallkoffer in der Hand schleppte sich ein kleiner, fast glatzköpfiger Mann auf den Marktplatz. Hauptkommissar Jürgensen war der Leiter der Kriminaltechnik, die ebenfalls im fernen Flensburg beheimatet war.

Ohne Gruß blickte er in die Runde, blieb bei Christoph haften, schüttelte den Kopf und grunzte: »Ihr verdammten Schlickrutscher von der Westküste. Immer wenn wir uns begegnen, geschieht das unter unerfreulichen Bedingungen. Bei uns im missionierten Teil dieses Landes werden Leichen zu zivilisierten Tageszeiten entdeckt, nicht mitten in der Nacht. Außerdem bin ich es gewohnt, dass die Leichen in geheizten Räumen gefunden werden, nicht auf einem zugigen Marktplatz, auf dem man sich den Tod holt. Vielleicht bekommt ihr ja Mengenrabatt, wenn ich mich dazulege.«

Theatralisch hob er die Hand an den Mund und entließ einen kräftigen Nieser. Dann traf sein Blick Große Jäger, und er rümpfte die Nase.

»Du meine Güte, der Schrecken aller Techniker ist auch da. Kann es sein, dass bei euch an der Westküste die Duschen seit längerer Zeit ausgefallen sind? Was gibt es denn?«, wandte er sich dann an Christoph.

Der zeigte auf die Leiterin der Mordkommission. »Das ist nicht unser Fall, Klaus.«

Jürgensen stöhnte auf. »Ach du großer Schreck. Wieder einmal die Dobermann. Die trägt ihren Namen nicht von ungefähr. Es gibt in der gesamten Landespolizei in Schleswig-Holstein keine Kollegin, die so bissig ist wie die Dobermann.«

Der hatte es offenbar die Sprache verschlagen. Sie holte tief Luft, antwortete aber nicht auf Jürgensens Bemerkung, sondern wies mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Husum und mahnte Christoph barsch an:

»Sie können jetzt mit Ihren Leuten abziehen. Ich brauche Sie nicht mehr.« Dann schien sie sich eines Besseren zu besinnen. »Vielleicht werde ich vorübergehend Ihren jungen Kollegen als Unterstützung anfordern«, schob sie nach, um dann auf Jürgensen einzuwirken: »Wird Zeit, Klaus, dass du mit deiner Arbeit beginnst.«

ZWEI

Der morgendliche Berufsverkehr hatte eingesetzt, als sie zur Dienststelle nach Husum zurückfuhren. Es waren jetzt mehr Fahrzeuge auf der Bundesstraße unterwegs, Pkws mit Menschen auf dem Weg zur Arbeit, Lieferwagen und der gewerbliche Nahverkehr, dazwischen einige schwere Lastwagen mit dem gelben Kennzeichen des Nachbarlandes.

Zu dieser frühen Stunde sind wir Einheimischen noch unter uns, dachte Christoph. Später bevölkern die »Transit-Touristen« auf dem Weg zum Fähranleger in Schlüttsiel und Dagebüll, aber auch nach Niebüll zur Eisenbahnverladung Richtung Sylt, die Straßen.

Große Jäger winkte ab, als Christoph ihn vorsichtig fragte, ob er nicht doch lieber zuvor noch einmal daheim unter die Dusche springen und die Kleidung wechseln wolle. »Dazu hattest du heute früh keine Zeit«, hatte er ihm eine goldene Brücke gebaut.

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