Vor Schmetterlingen wird gewarnt - Susan Andersen - E-Book

Vor Schmetterlingen wird gewarnt E-Book

Susan Andersen

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Beschreibung

Das Leben, leicht wie ein Schmetterlingstraum? Ava Spencer hat alles erreicht, was sie sich vorgenommen hat: Sie besitzt eine eigene Cateringfirma, hat tolle Freundinnen, ist unabhängig - und die Männer? Vergöttern sie wegen ihrer kurvenreichen Figur! Nur eine alte Wunde ist nie verheilt: Noch immer erinnert sich Ada an jenen Tag, als Highschoolschwarm Cade verkündete, er hätte mit der Dicken geschlafen. Denn diese Dicke war niemand anders als Ada! Und nun ist Cade zurück. Ada, nicht länger die Raupe, sondern ein wunderschöner Schmetterling, schwört süße Rache. Die Gelegenheit kommt schneller als gedacht. Denn Cade braucht ihr altes Herrenhaus, in dem er einen Film drehen will. Und es scheint, dass er auch Ada braucht...

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Seitenzahl: 429

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der

gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Susan Andersen

Vor Schmetterlingen wird gewarnt

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christian Trautmann

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Playing Dirty

Copyright © 2011 by Susan Andersen

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-418-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

PROLOG

Liebes Tagebuch,

ich habe nicht gewusst, dass man solche Schmerzen empfinden und überleben kann.

Country Day School, Oberschulgebäude, vor 13 Jahren

Ava Spencer lief mit schwingenden Hüften auf die Cafeteria zu. Ihre fülligen Schultern bewegten sich zum Takt von „Iris“ in der Goo-Goo-Dolls-Version, die sie im Ohr hatte. Sie hätte sich wohl auch etwas schnellere Musik aussuchen können, aber hey, sie war ganz im Augenblick gefangen und fühlte sich gut.

Richtig, richtig gut.

„Ava! Warte!“

Sie drehte sich um und entdeckte ihre beiden besten Freundinnen, die sich an einer Gruppe Nachzügler vorbeidrängelten, die genau wie Ava zu spät zur zweiten großen Pause kamen. Als sie stehen blieb, um auf die beiden zu warten, hörte sie den Ohrwurm nicht mehr, sondern die alltäglichen Pausengeräusche – quietschende Schuhsohlen auf Linoleum, das gelegentliche Zuschlagen einer Spindtür, das Kinderlachen auf dem Schulhof der unteren Jahrgänge, das mit dem gedämpften Gebrüll der Teenager hinter der Cafeteriatür am Ende des Flurs konkurrierte.

„Was geht ab, Mädel?“, wollte Poppy wissen, die mit großen Schritten auf sie zumarschierte. Ihre Armreifen klimperten, als sie die Hand hob, um sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht zu streichen. „Du siehst ja ausnahmsweise mal richtig glücklich aus.“

„Im Ernst“, stimmte Jane ihr zu. „Wir sehen dich nicht jeden Tag auf dem Flur tanzen.“

„Ich fühle mich so gut.“ Noch ein bisschen besser, und sie würde glatt abheben wie ein Strauß mit Helium gefüllter Luftballons. Sie strahlte ihre Freundinnen an. „Ich würde sogar behaupten, dass ich mich wunderschön fühle.“ Und das war wirklich erstaunlich. An den meisten Tagen fühlte sie sich einigermaßen attraktiv, manchmal auch hübsch. Aber wunderschön? Das kam fast nie vor. Wegen ihres ständigen Kampfes mit ihrem Gewicht benutzte bei ihr zu Hause auch niemand dieses Adjektiv, wenn es um sie ging. Ihre Eltern warfen ihr eher vor, nicht genug zu tun, um den „Babyspeck“ loszuwerden.

„He, aber du bist doch auch schön“, wandte Jane loyal ein. „Ja, ‚sie hat ein hübsches Gesicht‘“, zitierte Ava trocken. „‚Wie schade, dass sie so pummelig / dick / kräftig gebaut ist.‘“ Solche Sachen hatte sie oft genug gehört.

„Du weißt ganz genau, dass Janie das garantiert nicht andeuten wollte“, meinte Poppy. „Sie hat gesagt, du bist schön – und das bist du.“

„Ich liebe euch beide dafür, dass ihr das sagt. Aber die Schöne von uns bist du, Poppy, nicht ich.“ Mit ihren nordisch blonden Haaren und ihrer frisch-fröhlichen Art war Poppy eine Klasse für sich. Sie hätte zur Clique der beliebten Kids gehören können, wenn ihr so etwas wichtig gewesen wäre. Poppy könnte sogar die Anführerin dieser Clique sein, dachte Ava stolz. Sie und Jane hingegen hätten das nie geschafft.

Nicht, dass Jane nicht attraktiv genug gewesen wäre. Aber sie hatte eine schlichte Attraktivität, die man nicht gleich auf den ersten Blick wahrnahm. Sie hatte glänzendes braunes Haar und tolle Beine. Aber im Vergleich zu ihren Klamotten war jede Gothic-Mode bunt. Außerdem war sie sehr intelligent, was die meisten der angesagten Leute sowieso nicht zu schätzen wussten.

Was soll’s, dachte Ava. Weder sie noch Jane oder Poppy kümmerte das weiter. Die Kids aus dieser Clique waren größtenteils Arschlöcher, und sie drei hatten etwas viel, viel Besseres als den Gewinn eines Highschool-Beliebtheitswettbewerbs – sie hatten einander. Ihre enge Freundschaft. Sie waren BFF – best friends forever, die allerbesten Freundinnen für immer. In der vierten Klasse hatten sie sich auf dieser Schule kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich.

Natürlich wünschte Ava sich, sie hätte die gleiche Kleidergröße wie ihre beiden Freundinnen. Sie war sogar wahnsinnig neidisch darauf, dass Jane und Poppy in ihren Kaufhausklamotten aussahen wie Laufstegmodels, während sie immer herumlief wie Wurst in Pelle.

Heute jedoch spielte das keine Rolle. Denn gestern Abend hatte Cade Gallari sie geküsst, sie gestreichelt und mit ihr geschlafen. Und seit sie heute Morgen die Augen aufgemacht hatte, fühlte sie sich beinah dünn, absolut begehrenswert und, ja, schön.

Dabei war ihr erstes sexuelles Erlebnis nicht allzu prickelnd gewesen. Das Vorspiel schon, aber der eigentliche Akt, das Eindringen … nun, das war unangenehm und so schnell vorbei gewesen, dass sie nicht einmal die Chance aufs Erreichen der Ziellinie gehabt hatte. Aber hey, es war ihr erstes Mal gewesen, daher hatte sie auch nicht erwartet, gleich die Engel singen zu hören.

Immerhin hatte Cade ihr das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Zwischen den Küssen hatte er geflüstert, wie sinnlich ihre Lippen seien, wie wunderschön ihr Haar, wie weich ihre Haut, wie aufregend ihre Brüste. Und hinterher hatte er sie in den Armen gehalten wie etwas außergewöhnlich Kostbares.

Was Ava darin bestärkte, völlig aus dem Häuschen zu sein, weil sie es ausgerechnet mit ihm getan hatte. Das war nicht abzusehen gewesen, denn noch bis vor sechs Wochen war Cade für sie eine echte Nervensäge gewesen. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, irgendwann nicht von ihm genervt gewesen zu sein. Sie kannten sich praktisch seit der Geburt, ohne je viel voneinander zu wissen. Und das wenige, was Ava über ihn wusste, hatte ihr nicht gefallen. Er gehörte zu einer Clique, die sich über alle anderen lustig machte, die nicht ihrem Niveau entsprachen. Und dazu zählten, Hand aufs Herz, neun Zehntel aller Schüler. Als Ava und Cade von Mr Burton für ein Wissenschaftsprojekt eingeteilt worden waren, hatte sie deshalb schwarzgesehen. Sie und Gallari? Bei einem Projekt, das sich über ein Vierteljahr der Abschlussklasse hinzog?

Als sie acht gewesen waren, hatte er sie an den Haaren gezogen und ihr in der Tanzstunde auf die Zehen getreten. In der zehnten Klasse hatte er ihr unter der Zuschauertribüne unter den Rock geguckt und allen erzählt, dass sie pinkfarbene Slips trug. Trotzdem war es für Ava bis gestern eine grausige Vorstellung gewesen, er könnte ihre dicken Oberschenkel sehen und sich mit seinen dämlichen Freunden darüber kaputtlachen.

In den vergangenen anderthalb Monaten hatte sie Cade jedoch von einer anderen Seite kennengelernt. Als liebenswert, witzig und nachdenklich, was sie nicht einmal im Traum für möglich gehalten hätte. Und wenn sie sich in der Bibliothek oder im Coffeeshop gegenübersaßen, um an ihrem Projekt zu arbeiten, war eine erotische Anziehung zwischen ihnen spürbar. Es hatte nicht lange gedauert, da hatten sie im Dunkeln in seinem Wagen gesessen und geredet und geredet, ohne ein Ende zu finden.

Bis er sie eines Abends geküsst hatte. Und nachdem diese Grenze überschritten war, hatte es kein Zurück gegeben. Jedes Mal, wenn er sie in den vergangenen Wochen geküsst hatte, wenn seine Hände sich kühner auf unbekanntes Terrain vorgewagt hatten, war sie einfach dahingeschmolzen. Während er das Level ihrer Intimität nach und nach erhöht hatte, war es ihr immer schwerer gefallen, ihn zu bremsen.

Und gestern Abend hatte sie es nicht mehr geschafft, ihm zu sagen, dass sie aufhören mussten. Ein Lächeln stahl sich auf Avas Gesicht.

„Okay, das reicht!“ Poppy blieb direkt vor der Tür zur Cafeteria stehen und packte Ava am Arm. „Was ist los mit dir?“

Ava lachte.

Sie versuchte, die Neuigkeit für sich zu behalten.

Aber dann gab sie nach, denn ihren zwei besten Freunden erzählte sie einfach alles.

„Ich hab’s getan, Poppy. Ehrlich, ich dachte, ich würde als Jungfrau die Highschool verlassen oder sogar als Jungfrau sterben. Aber letzte Nacht …“ Sie wurde plötzlich rot und verlegen bei der Vorstellung, die Worte laut auszusprechen.

Jane klappte der Unterkiefer herunter. „Ach … du … Schande“, sagte sie langsam. „Du hast es getan?“

Ava nickte.

Poppy sah perplex aus. „Mit wem?“ Dann kniff sie die Augen zusammen. „Oh, Mist. Bitte sag, dass es nicht das Arschgesicht Gallari war!“

„Nenn ihn nicht so!“ Na schön, sie selbst hatte ihm damals diesen Namen gegeben. Trotzdem …

„Tu’s einfach nicht, ja?“, bat sie in sanfterem Ton und schüttelte den Kopf. „Ich werde euch alles erzählen, aber nach der Schule, wenn uns nicht jeder zuhören kann.“

„Klar, einverstanden“, meinte Poppy. „Aber verlass dich drauf – sobald wir hier raus sind, habe ich ein paar Fragen an dich, Schwester.“ Sie ließ Ava los und stieß die Tür zur Cafeteria auf. Gemeinsam begaben sie sich in das Chaos der zweiten großen Pause.

Tabletts und Geschirr klapperten, Stimmen hallten von den Wänden wider, und die Schüler schienen in ständiger Bewegung zu sein. Sie liefen zwischen den langen Tischen herum oder balgten sich um einen Platz. Auf der Suche nach Cade spähte Ava an zwei Jungs vorbei, die sich gegenseitig einen Baseball zuwarfen. Damit es nicht zu offensichtlich wurde, folgte sie ihren Freundinnen zur Essenausgabe, als sie ihn nicht gleich entdeckte.

Sie nahm sich ein Tablett und bemerkte, dass es unerklärlicherweise auf einmal ruhiger wurde. Hier drin war es nie ruhig. Doch bis auf ein paar Unterhaltungen an den hinteren Tischen war es mittlerweile fast still geworden. Und als Ava einen Blick über die Schulter warf, stellte sie fest, dass alle sie ansahen.

Irgendwer kicherte.

Ava lächelte unsicher und war selbst da noch zu blöd, um zu merken, dass sie die Zielscheibe des Spotts war. Erst als Dylan Vanderkamp, der dämlichste Kerl in Cades Clique, aufstand, sie angrinste und mit einer dicken Rolle Geldscheine wedelte, schwante ihr Böses.

„Hier, Gallari“, sagte Dylan, „zweihundert Scheine.“ Er reichte das Geld über den Tisch. „Wettschulden sind Ehrenschulden. Du hast behauptet, du könntest das dicke Mädchen flachlegen, und wow, du hast es getan.“ Dylan musterte Ava langsam von Kopf bis Fuß und grinste erneut. „Ich würde sagen, das hast du dir verdient.“

Es war eine Wette? schrie eine Stimme in ihrem Kopf. Ich bin das dicke Mädchen, mit dem Cade wegen einer Wette geschlafen hat? Ihre Finger fühlten sich taub an, ihre Beine verloren jede Kraft, und Übelkeit stieg sauer in ihr hoch.

Dylan ging zur Seite, und da erst sah sie Cade, der in lässiger Haltung und mit gelangweilter Miene am Tisch saß. Er sah sie an, und für einen verrückten, hoffnungsvollen Moment glaubte sie, er würde Vanderkamp das Geld aus der Hand schlagen. Doch er hob nur träge die Hand und pflückte die Scheine aus den Fingern des anderen Jungen.

„Danke“, sagte er und stopfte sich das Geld in die vordere Hosentasche seiner Jeans.

Alles in Ava schien zu Eis zu werden. Gleichzeitig spürte sie die Blicke der anderen, die auf ihre Reaktion warteten, wie Nadelstiche überall auf der Haut.

Aber sie konnte das nicht einfach hinnehmen, durfte sich das von Cades Clique aus Neandertalern nicht bieten lassen. Ihre Brust mochte sich anfühlen, als lägen zwei Tonnen Gewicht darauf, und am liebsten wäre sie unsichtbar gewesen. Aber sie und ihre Freundinnen hatten sich schon immer, so gut es ging, gegen diese Idioten behauptet. Ava war Gallaris süßen Worten auf den Leim gegangen und hatte dadurch für eine Weile vollkommen vergessen, mit wem sie es zu tun hatte.

Jetzt wusste sie es wieder. Und verdammt, sie würde sich im Griff haben, selbst wenn es sie umbrachte.

Fast hätte sie bitter gelacht. Denn dieser verräterische, verlogene, falsche Mistkerl war hier eindeutig im Vorteil. Trotzdem, wenn sie untergehen würde, wollte sie wenigstens vorher noch austeilen.

„Ich finde, ein Teil davon steht mir zu“, brachte sie heraus, obwohl sie einen dicken Kloß im Hals hatte. „Eine Nummer mit Quickie-Cade hat mir wahrscheinlich für den Rest meines Lebens die Lust auf Sex genommen. Wenn mir dafür nicht ein Anteil am Wettgeld zusteht, dann weiß ich es auch nicht.“

Es war Balsam für ihr verwundetes Herz, dass ein paar Leute diesmal über Cade lachten und nicht über sie. Allerdings reichte das längst nicht. Lieber wäre ihr gewesen, ihm wäre der Schwanz zusammengeschrumpft und abgefallen. Aber es musste an Genugtuung vorerst reichen. Der Kloß in ihrem Hals wurde dicker, weshalb sie kein weiteres Wort mehr herausbrachte.

Als hätte sie es bemerkt, legte Poppy ihr ermutigend die Hand auf den Rücken und sagte: „Ja, genau. Was hat sie uns noch mal erzählt, Jane?“

Jane zuckte die Schultern. „Dass sie, sollte sie das durch Gallaris hilfloses Gefummel ausgelöste Trauma jemals überwinden, es beim nächsten Mal mit jemandem probieren wird, der etwas davon versteht.“

Cade saß weiterhin in lässiger Haltung da und machte ein gelangweiltes Gesicht. Doch Ava registrierte zufrieden, dass eine leichte Röte seine markanten Wangenknochen hinaufkroch.

Es hätte sie natürlich mehr gefreut, wenn er auch nur einen Bruchteil ihrer Demütigung empfunden hätte. Sie fühlte sich so elend, als hätte man ihr die Eingeweide herausgerissen und falsch wieder eingesetzt. Niemals würde sie Cade verzeihen, dass er sie hereingelegt hatte. Dass er bei ihr erst für nie gekannte Empfindungen gesorgt hatte, nur um sie anschließend auf grausame Weise abzuservieren.

Sie schluckte ihren Schmerz hinunter, kehrte ihm den Rücken zu und knallte eine Portion Wackelpudding auf ihr Tablett. Unter keinen Umständen würde sie auch nur einen Bissen herunterbekommen.

Aber weglaufen würde sie vor diesem Mistkerl Gallari nicht, auch wenn ein Teil von ihr gerade gestorben war.

1. KAPITEL

Ich bin mir nicht sicher, ob ich klug gehandelt habe – oder die größte Dummheit meines Lebens begangen habe.

Heute, 9. November

Der Mistkerl kam zu spät. Ava Spencer verfluchte den Mann, auf den sie wartete. Sie lief im Foyer der Wolcott-Villa auf und ab und schlang immer wieder die Arme um sich, weil sie trotz ihres Mantels fror. Das Haus stand seit Wochen leer. Der Wind, der durch die Stabkreuzfenster pfiff, und die feuchte Kälte nach dem Gewitter, das vorhin durchgezogen war, ließen sie bibbern.

Sie hätte ja die Heizung aufgedreht, nur wäre das zwecklos gewesen. Falls der Kerl sich jemals bequemte, hier aufzukreuzen, würde sie ihm die Villa vom Dachboden bis zum Weinkeller zeigen. Zwar sorgte Jane dafür, dass das obere Wohnzimmer beheizt war, wegen der Gemälde, die noch nicht verkauft oder an Museen ausgeliehen worden waren. Doch es würde bis morgen Mittag dauern, den Rest des Gebäudes warm zu bekommen. Obwohl Ava sämtliche Lampen im Haus eingeschaltet hatte, konnte ihr warmer gelber Schein echte Wärme nicht ersetzen.

Sie musste beinah hysterisch lachen. Als wäre das das Problem. Denn … Es ist nicht irgendein Mann, Ava. Es handelt sich um Cade Calderwood Gallari.

Heiliger Strohsack. Sie konnte nicht fassen, dass sie sich dazu bereit erklärt hatte. Und deshalb konzentrierte sie sich auf jedes Detail, um nicht daran denken zu müssen, was ihr bevorstand. Denn jetzt war es für einen Rückzieher zu spät.

Oder?

Sie hielt inne. Nein, war es nicht! Erleichtert schnappte sie sich ihre Handtasche und ging den Flur entlang zur Küche, vor deren Außentür sie ihren BMW geparkt hatte. Cade kam zu spät? Nun, dann war sie eben weg.

Scheinwerferlicht streifte die östliche Wand gegenüber dem Rundbogen zur Küche. Ava blieb unvermittelt stehen. „Mist.“

Es war also doch zu spät.

Sie tänzelte ein wenig auf der Stelle, um die Anspannung loszuwerden. Vorsichtshalber machte sie noch ein paar Yoga-Atemübungen. Dann stieß sie ein letztes Mal die Luft aus und nickte. „Okay, packen wir’s.“

Sie unterdrückte ihren Ärger über Cades Zuspätkommen und die Tatsache, dass er überhaupt existierte. Es ist dreizehn Jahre her, sagte sie sich. Er ist bloß noch eine Fußnote, jemand, der längst keine Bedeutung mehr hat. Und zwar schon lange nicht mehr. Also brauchte sie ihm auch nicht gleich den Kopf abzureißen.

Aber, oh, was für eine Versuchung.

Sie beobachtete ihn durch das Fenster in der Hintertür, als er die Stufen hinaufkam und unter der Verandalampe stehen blieb. Avas Zorn kehrte mit voller Wucht zurück, und sie musste sich erneut zusammenreißen. Noch einmal atmete sie aus, dann schloss sie die Tür auf.

Der Türknopf drehte sich, ehe sie aufmachen konnte, und Cade wehte herein, schüttelte sich wie ein nasser Hund, dass die Regentropfen von seinen durch die Sonne gebleichten braunen Haaren in alle Richtungen flogen. Ava schaute an ihm vorbei und stellte fest, dass es wieder angefangen hatte zu schütten.

„Mann, ist das nass da draußen!“ Er schenkte ihr sein typisches Gallari-Lächeln, das seine strahlend weißen Zähne zeigte und tiefe Grübchen um seinen Mund entstehen ließ. Nur fiel Ava diesmal noch etwas anderes in seinen blauen, blauen Augen zwischen den dichten dunklen Wimpern auf … Wachsamkeit? Berechnung? Sein Blick war kühler und unsteter als sein Lächeln, das sie jahrelang in ihren Träumen verfolgt hatte.

Es wurmte Ava, dass er noch immer diese Wirkung auf sie hatte. Warum schlug ihr Herz jedes Mal schneller, sobald sie ihn nur sah? Es war die gleiche Reaktion wie damals auf den jungen Cade. Trotz allem, was sie über ihn wusste und was er getan hatte, machte sein Anblick sie benommen.

Aber eher würde die Hölle zufrieren, als dass Ava in Versuchung geriet, dieser Anziehung nachzugeben. Sie musterte ihn skeptisch. „Und du behauptest, in Seattle geboren zu sein?“

„Ich hatte vergessen, wie schnell der Regen einen hier durchweichen kann.“

Sie blieb trotz ihres inneren Aufruhrs höflich. „Das passiert wohl, wenn man in Südkalifornien lebt.“ Ava sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr. „Verrate mir doch bitte mal, warum ich mich mit dir abgeben sollte – ganz zu schweigen davon, dir die Villa für einen Dokumentarfilm zu vermieten.“

„Na gut, also kein Small Talk.“ Ein harter Zug entstand um seine Mundwinkel, der sich dort eigenartigerweise wohler zu fühlen schien als sein altes Lächeln. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Es gab einen Unfall auf der I-5, und es dauerte eine Weile, bis der Verkehr wieder floss.“

Sie nahm seine Entschuldigung mit einem Kopfnicken zur Kenntnis und beobachtete ihn, während er sich in der Küche umsah.

Eine kleine Falte der Bestürzung bildete sich zwischen seinen dunklen Brauen. „Es ist modernisiert worden.“

Diesmal fand Ava es nicht mehr so beunruhigend, ihm ins Gesicht zu schauen. „Du kannst doch nicht erwartet haben, dass alles noch genauso ist wie in den Achtzigern.“

„Wahrscheinlich habe ich es gehofft.“

„Nachdem Poppy, Jane und ich es geerbt hatten, ließen wir den schrecklichen Wintergarten abreißen. Wir wollten es eigentlich verkaufen, nicht vermieten. Und glaub ja nicht, dass die Sache schon klar ist.“ Sie hob die Augenbrauen. „Wie lautet also dein Vorschlag?“

„Wie meine Produktionsassistentin dir bereits am Telefon erklärt hat, will ich eine Dokumentation über das Geheimnis der Wolcott-Suite drehen. Aber vor allem möchte ich Agnes Wolcotts Geschichte erzählen.“

Ava musste zugeben, dass genau dies der Grund war, weshalb sie hier mit ihm stand. Aber … „Warum? Ich meine, klar, die Wolcott-Diamanten sind hier inzwischen eine Legende. Ich bezweifle jedoch, dass die Geschichte außerhalb unserer Stadtgrenzen allzu bekannt ist.“

„Mag sein, aber ich bin in dieser Stadt aufgewachsen, und das Geheimnis fasziniert mich seit meiner Kindheit.“ Seine Augen leuchteten vor Begeisterung. „Diese Geschichte hat alle Zutaten – ein unheimliches altes Anwesen, ein Vermögen in Diamanten, die nie entdeckt wurden, einen Mord … und mittendrin eine Frau, die ich immer erstaunlicher finde, je tiefer ich grabe.“

Das gefiel ihr. Was ihr nicht gefiel, war er. „Und warum sollte mich interessieren, was dir gefällt?“

„Weil ich mit meinem Film eine Frau würdigen kann, die dir etwas bedeutet hat. Und weil ich dir und deinen Freundinnen dreißig Riesen für sechs Wochen biete, plus sämtlicher Nebenkosten für die Zeit, in der Scorched Earth Productions hier ist, um das Grundstück wieder so herzurichten, wie es in den Achtzigern ausgesehen hat.“

Wow. Die Villa war in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten ein echter Klotz am Bein geworden, und das wusste Cade zweifellos. Am liebsten hätte sie ihm ins Auge gespuckt. Doch sie dachte an ihre Freundinnen. Poppy und Jane hatten sich nie beklagt, aber Ava wusste, dass dieses Haus auch für die beiden eine Belastung darstellte. Also schluckte sie weiter ihren Zorn herunter und fragte sich, ob sie gerade die schlechteste Entscheidung ihres Lebens traf. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte sie: „Na schön.“

„Du machst es?“

„Ja.“ Was soll’s, dachte sie. Sie würde ihn ja nicht sehen müssen. „Deine Assistentin soll mich wegen der Nummer meines Anwalts anrufen. Du kannst ihm den Vertrag schicken, und wenn er ihn akzeptabel findet, sind wir im Geschäft. Soll ich dich herumführen, bevor du wieder aufbrichst? Da du besorgt zu sein scheinst wegen unserer Umbauarbeiten, werde ich dir gern alles zeigen. Ich bin sicher, dass du hinterher die gute Arbeit unserer Handwerker loben wirst. Sie haben es geschafft, die ursprüngliche Atmosphäre des Hauses zu erhalten.“ Sie wollte gehen.

„Eines noch“, sagte er. „Ich möchte dich als Concierge für die Produktionsfirma einstellen.“

Sie lachte ihm ins Gesicht. „Meine Antwort lautet nein. Soll ich dich jetzt herumführen oder nicht?“

„Vergiss die Tour …“

„Passt mir gut. Schick deine Unterlagen an meinen Anwalt.“ Erneut wandte sie sich ab.

„Ich zahle dir zwei Riesen pro Woche plus einen Fünfzigtausend-Dollar-Bonus, wenn die Dokumentation rechtzeitig fertig wird und im Rahmen des Budgets bleibt.“

„Was aus irgendeinem Grund nicht passieren wird, stimmt’s?“

„Der Bonus ist ein legitimes Angebot, Ava. Ich werde meine Verträge per E-Mail schicken, damit dein Anwalt sie sich gleichzeitig mit dem Mietvertrag ansehen kann. Dabei wirst du feststellen, dass ich weitaus mehr zu verlieren habe als du.“

Verdammter Kerl! Nicht nur, dass die Wirtschaftskrise ihrem Treuhandfonds übel zugesetzt hatte. Auch die Finanzen vieler ihrer Kunden, die die Basis ihres Concierge-Unternehmens bildeten, bröckelten. Und als einer der unzähligen Hypothekenschuldner, den die Subprime-Darlehenskatastrophe voll erwischt hatte, musste sie eine enorme Ballonrate für ihre Eigentumswohnung bezahlen. Diese Rate wurde in nicht allzu ferner Zukunft fällig. Tja, Pech für sie. Aber sie verlor lieber ihr Dach über dem Kopf, als sechs Wochen in der Gesellschaft dieses Mistkerls zu verbringen.

Im Ernst? fragte ihr praktischer Verstand. Na gut, sie musste sich eingestehen, dass eine solche Entscheidung ziemlich dämlich wäre. Außerdem brauchte sie schließlich keine Angst zu haben, seinem Bann zu erliegen. Das hatte sie alles schon hinter sich.

„Du wärst vor Ort und könntest darauf achten, dass ich deiner Miss Wolcott auch wirklich gerecht werde“, gab er zu bedenken.

Sie seufzte resigniert. „Also schön. Vorausgesetzt, mein Anwalt gibt grünes Licht, werde ich es machen – damit du Miss Agnes’ Geschichte richtig wiedergibst.“ Dass sie es außerdem des Geldes wegen tat, brauchte er nicht zu erfahren. „Soll ich dich nun herumführen? Wir können mit dem Esszimmer beginnen.“

Sie drehte sich um und fühlte, wie Cade ihren Unterarm sanft festhielt. Durch den Stoff ihres Kaschmirmantels hindurch spürte sie seine Wärme. Sie wirbelte herum und machte sich sofort los.

„Nicht“, warnte sie ihn, um Beherrschung ringend. „Rühr mich nicht an.“

Er wich zurück. „Bevor wir anfangen, wollte ich dir nur sagen, wie aufrichtig leid mir das tut, was damals auf der Highschool passiert ist. Ich war …“

„Vergiss es“, unterbrach sie ihn. Auf keinen Fall wollte sie die hässlichen Einzelheiten der Vergangenheit mit ihm aufwärmen. „Ich habe es schon vergessen.“

„Wirklich?“ Seine Miene drückte Skepsis und Verblüffung aus.

Ava nickte hoheitsvoll. Sie hatte ihn jedes Mal abblitzen lassen, wenn er sich im Lauf der Jahre zu entschuldigen versucht hatte. Aber wenn ihr eine Diskussion über die Vergangenheit erspart blieb, indem sie sein Bedauern wenigstens zur Kenntnis nahm, dann sollte es ihr recht sein. Sie würde ihn erlösen.

„Dann verzeihst du mir?“

Nein. Niemals. Eher würde man in der Hölle Snowboard fahren können.

Trotzdem lächelte sie entspannt, weil sie wusste, dass sie sich ab jetzt professionell verhalten musste. „Einigen wir uns einfach darauf, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen, ja?“ Ohne auf seine Erwiderung zu warten, führte sie ihn zum Esszimmer und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. „Wie du sehen kannst, wurde sorgfältig darauf geachtet, den Stil der Ära zu bewahren, in der die Wolcott-Villa erbaut wurde …“

Ava traf sich am Nachmittag des nächsten Tages mit Jane und Poppy im Sugar Rush, ihrem Lieblings-Coffeeshop in ihrem Viertel. Als sie sich um einen runden Tisch in der Nähe des Spielbereichs für Kinder setzten, atmete sie tief durch. „Gestern Abend habe ich etwas getan, mit dem ihr hoffentlich einverstanden seid“, sagte sie zu ihren zwei besten Freundinnen inmitten des Lärms aus Geschirrklappern und Unterhaltungen. Einen Moment lang zögerte sie, dann platzte es aus ihr heraus. „Ich habe die Villa an Cade Gallari vermietet.“

Na schön, das war vielleicht doch ein bisschen zu unvorbereitet, denn Jane starrte sie geschockt an. Dann schlug sie mit beiden Händen auf den Tisch, erhob sich ein Stück von ihrem Platz, um ihr Gesicht näher an Avas zu bringen, und sagte: „Du hast sie an wen vermietet?“

Ava ignorierte die zwei Frauen am Nebentisch, die angesichts Janes lauter Stimme und angriffslustiger Haltung aufhorchten. Diese Haltung passte nicht zu ihren sorgsam frisierten glänzenden braunen Haaren und der dunklen Kleidung, die auf den ersten Blick stets so konservativ wirkte. Ava wusste sehr wohl, dass ihre Freundin sie verstanden hatte, aber sie wiederholte es dennoch mit ruhiger Stimme. „Cade Gallari.“

„Sag mir, dass das ein Witz ist.“ Die blond gelockte Poppy klang zwar gefasster als Jane, aber als sie ihren Kaffeebecher abstellte, lag ein ebenso ungläubiger Ausdruck in ihren topasbraunen Augen. „Warum sollten wir diesen Idioten auch nur in die Nähe unseres Erbes kommen lassen?“

Das war eine berechtigte Frage. Miss Agnes, die unterkühlte alte Dame, war im Lauf der Zeit zu einer echten Freundin und Förderin der drei Mädchen geworden. Als diese zwölf Jahre alt waren, fing sie an, die drei monatlich zum Tee einzuladen. Sie schenkte ihnen ihre ersten Tagebücher und ermunterte sie zu ihrer lebenslangen Gewohnheit, alles aufzuschreiben. In Avas und Janes Fall hatte die alte Dame ihnen sogar nähergestanden als die eigenen Eltern. Als sie vor anderthalb Jahren starb, hatte sie eine schmerzliche Lücke hinterlassen.

Doch selbst nach ihrem Tod sorgte sie noch für Überraschungen. Verblüfft erfuhren Ava, Jane und Poppy, dass Miss Agnes ihnen ihr Anwesen vermacht hatte. Vermutlich drehte sie sich jetzt im Grab um bei der Vorstellung, dass Cade sich in ihrem Haus zu schaffen machte. Sie hatte Ava nach seinem üblen Verrat nämlich beigestanden und ihr geholfen, darüber hinwegzukommen.

Nun fühlte Ava sich von ihren Freundinnen ein wenig belagert und erklärte: „Wenn es nur nach mir ginge, würde ich ihn das Wolcott-Anwesen nicht benutzen lassen. Aber es gibt nicht so viele Optionen. Ich habe eingewilligt, weil der Markt für Häuser unserer Preisklasse stagniert und wir uns an Steuern, Strom, Nebenkosten und Gartenpflege dumm und dämlich zahlen. Allein der Unterhalt für ein Anwesen dieser Größe kostet ein Vermögen. Und Cade zahlt sehr gut für das Privileg.“

Sie erklärte ihnen die Bedingungen. „Und er wird noch mehr bezahlen, wenn wir ihm zusätzlich einige Stücke aus Miss Agnes’ Sammlung für seine Produktion vermieten. Ich habe ihm gesagt, dass ich das erst mit euch besprechen müsste. Ihr wisst ja, dass er Dokumentarfilme über ungelöste Geheimnisse dreht, oder?“

Die anderen beiden schienen sich unbehaglich zu fühlen, und Ava lachte. Ihre Anspannung löste sich. „Keine Sorge, ich ziehe eure Loyalität nicht in Zweifel. Ihr zwei habt alles, was Gallari angeht, für alle Ewigkeit boykottiert. Aber wir hätten schon in der Mongolei leben müssen, um nicht mitzubekommen, welchen Ruf er sich inzwischen erworben hat.“

„Na schön, ich gebe zu, einen seiner Filme gesehen zu haben.“ Poppy hob die Hände in einer Bitte-erschießt-mich-nicht-Geste, als Ava und Jane sie entsetzt ansahen. „Ich habe ihn nicht ausgesucht – Jason hat ihn eines Abends aus der Videothek mitgebracht. Er, dessen Namen wir nicht aussprechen, wird niemals in unserem Haus erwähnt. Deshalb konnte Jason den Dokumentarfilmer auch nicht mit dem Kerl in Verbindung bringen, über den du dich letztes Jahr in der Bar in Columbia City so aufgeregt hast. Murphy hat ihm gesagt, dass er sich diesen Film unbedingt ansehen muss.“

Ava konzentrierte sich auf das Schild neben der Kinderspielzone und kämpfte gegen ihre erwachende Neugier. „Unbeaufsichtigte Kinder bekommen einen Espresso und ein Hündchen“, las sie. Normalerweise amüsierte sie sich jedes Mal darüber, doch jetzt sprangen die Worte bloß wie Pingpongbälle in ihrem Kopf herum. Schließlich wurde sie schwach und gab ihrer Neugier nach. „Also schön, ich gebe auf. Sind seine Filme wirklich so gut, wie man überall hört? Ist der ganze Hype gerechtfertigt?“

„Ja.“ Ihre Freundin verzog das Gesicht. „Tut mir leid, Ava, aber es stimmt. Ich hatte nie etwas übrig für diese Doku-Dramen, weil die Schauspieler meistens grottenschlecht sind. Aber anscheinend genießt Gallari den Kultstatus eines Starmachers. Schon mehrfach besetzte er die Rollen mit völlig unbekannten Talenten aus irgendwelchen Schauspielkursen, die hinterher super erfolgreich wurden.“

„Und woher weißt du das alles?“, wollte Jane wissen. „Meine Güte, was ist denn plötzlich mit dir los? Gehörst du jetzt zu Gallaris größten Fans?“

„Bist du verrückt geworden?“, schoss die Blonde zurück. „Das ist echt beleidigend, Janie. Natürlich bin ich nicht sein Fan. Jase war so begeistert von dem Dokumentarfilm, dass er darauf bestand, sich die Extras auf der DVD anzusehen.“

„Du lieber Himmel“, murmelte Ava. „Der Film war so gut?“ Während sie beobachtete, wie Jane Poppys Hand ergriff und sich entschuldigte, fragte sie sich, wie sie selbst zu Cades Erfolgen stand. Einerseits hätte sie wohl kaum eine Träne darüber vergossen, wenn er jedes einzelne seiner Projekte in den Sand gesetzt hätte.

Andererseits konnte sein enormer Erfolg ihr und ihren Freundinnen finanziell sehr nützlich sein.

„Ich fürchte, ja“, sagte Poppy und strich sich mit beiden Händen die blonden Locken aus dem Gesicht. „Er besitzt wirklich ein Auge für Talente. Allerdings lässt er Szenen nur wohldosiert nachspielen. Für den Erfolg verantwortlich sind hauptsächlich die Interviews. Der ganze Film war wirklich spannend gemacht.“

Plötzlich zog sie ihre schmalen Brauen zusammen. „Trotzdem – warum will er einen Film auf dem Wolcott-Anwesen drehen? Er muss doch wissen, dass er an die Villa nur schwer herankommt, weil sie jetzt uns gehört. Es sei denn …“ Sie ließ abrupt ihr Haar los, klatschte mit den Handflächen auf den Tisch und drückte den Rücken durch.

„Heiliger Strohsack, Ava. Du sagtest, er will alles so umbauen, dass es wieder aussieht wie in den Achtzigern.“

„Natürlich.“ Auch Jane nahm eine aufrechte Haltung ein. „Der Einbruch, bei dem Miss Agnes’ Gefährte getötet wurde und die Wolcott-Diamanten verschwanden.“

„Das ist das ungelöste Geheimnis“, stimmte Ava ihr zu.

Im Jahr 1985 während des Umbaus von Miss Agnes’ Wohn- und Schlafzimmer wurde ihr Diamantschmuck gestohlen. Eines Nachts, sechs Monate später, hörte Henry – „mein Henry“, wie sie ihn stets nannte – ein Geräusch. Er kam aus seinem Arbeitszimmer und entdeckte Mike Maperton, den Zimmermann von den Umbauarbeiten im Haus. Henry löste den Alarm aus, doch Maperton tötete ihn, ehe Hilfe eintraf. Man nahm an, dass der Handwerker den Schmuck aus seinem Versteck geholt hatte. Aber wenn es so war, wurde er jedenfalls nie gefunden.

Jane lächelte schief. „Ich hatte immer den Eindruck, dass Henry mehr für Miss Agnes war als ein Geschäftsfreund oder Mädchen für alles – oder als was er sonst noch angeblich fungierte.“

Poppy zuckte die Schultern. „Den Eindruck hatten wir alle. Was willst du uns damit sagen?“

„Keine Ahnung. Nur dass ich mir die Geschichte sehr gut in einer Dokumentation vorstellen kann.“ Jane strich sich die Haare hinter die Ohren. „Ich gebe es nur äußerst ungern zu, aber es wäre wirklich schön, wenn der finanzielle Druck für eine Weile von unseren Schultern genommen würde. Miss Agnes war eine einzigartige Persönlichkeit. Falls Gallari nicht Meryl Streep verpflichten kann, wüsste ich allerdings nicht, welche Schauspielerin ihr gerecht werden könnte.“

„Ich würde gern mit euch über etwas sprechen, was mit der Rolle der Miss Agnes zusammenhängt. Doch vorher sollte ich euch vielleicht lieber erzählen, dass ich …“ Okay, das war der wirklich heikle Teil. „Also, ich habe mich bereit erklärt, nächste Woche und anschließend weitere sechs Wochen während der Dreharbeiten für ihn zu arbeiten. Drehbeginn ist um den Ersten des Jahres herum.“

„Hast du vollkommen den Verstand verloren?“ Poppy sprach leise, damit zwei kleine Mädchen, die ganz in der Nähe die Glasur von ihren Muffins naschten, sie nicht hörten. Die Gereiztheit kam trotzdem deutlich herüber.

„Kann schon sein.“ Ava hatte sich das ja seit ihrer Begegnung mit Cade gestern selbst gefragt, deshalb konnte sie sich kaum beleidigt fühlen. „Sehr wahrscheinlich sogar. Mein erster Impuls, als er mir das Angebot machte, war der übliche – ihm entweder ins Gesicht zu spucken oder die Augen auszukratzen.“

Sie straffte die Schultern und sah ihren beiden Freundinnen ins Gesicht. „Aber das wäre eine Kurzschlusshandlung.“

„Mit der ich absolut keine Probleme hätte“, bemerkte Jane trocken.

Ava schüttelte den Kopf. „Das ist doch alles kalter Kaffee. Ich bin längst über ihn hinweg. Aber ihr wisst, wie schlecht ich finanziell in diesem Jahr dastand.“ Ihre Lippen zuckten ein wenig. „Als er mir dann ein Angebot machte, das ich nicht ablehnen konnte – da tat ich es auch nicht. Er will mich als Concierge für die Produktionsfirma haben.“

Janie und Poppy betrachteten sie mit sorgenvollem Blick. Keine von beiden erwiderte ihr Lächeln. Ava seufzte. „Was? Meint ihr, ich schaffe das nicht?“

„Doch, natürlich“, sagte Jane. „Nur traue ich diesem Mistkerl kein Stück. Wir waren dabei, als er dir das eine Mal zu nahekam, und mussten mit ansehen, wie sehr du hinterher gelitten hast.“

„Ja, das war übel“, pflichtete Poppy ihr bei. „Es dauerte sehr lange, bis du dich davon erholt hattest. Und dann musstest du auch noch allein damit fertig werden, weil er unsere Pläne für die Zeit nach dem Abschluss durchkreuzt hatte …“

Ja, dachte Ava, es wurde nicht besser durch den Besuch auf der Diätfarm. Aber sie musste zugeben, dass dafür eher ihre Mutter verantwortlich war und nicht Cade. Na ja, so ganz stimmte das auch wieder nicht. Wenn sein Verrat sie nicht so tief getroffen hätte – wovon ihre Mutter nicht einmal etwas bemerkt hatte –, hätte sie bis zum siegreichen Schluss durchgehalten. Im Grunde war es also doch seine Schuld.

Poppy fuhr fort: „Zumindest ich bin also ein bisschen besorgt um dich. Du hast so hart gearbeitet, um wieder auf die Beine zu kommen und dich von diesem Schlag zu erholen. Ich will einfach nicht miterleben müssen, wie wegen dieses Arschgesichts Gallari alles wieder den Bach runtergeht.“

„Ich auch nicht, und ich werde es auch nicht zulassen“, versicherte Ava ihr. „Ich werde ihm niemals verzeihen, was er getan hat. Aber ich habe keine Lust mehr, vor ihm davonzulaufen. Denn du hast ja vollkommen recht. Ich habe zu hart dafür gearbeitet, mein Selbstbewusstsein wieder aufzupolieren, um vor ihm wegzulaufen. Du magst deine Vorbehalte haben, ob ich damit klarkomme …“

„Habe ich nicht! Wie du Gallari im schlimmsten Augenblick deines Lebens die Stirn geboten hast, ist in die Geschichtsbücher eingegangen. Du hast bewiesen, dass du dich gegen ihn behaupten kannst.“

„Aber seit damals bin ich mehr oder weniger vor ihm weggelaufen. Ich bin ihm aus dem Weg gegangen. Deshalb habe ich vermutlich jetzt das Gefühl, mir etwas beweisen zu müssen – mir selbst, wohlgemerkt, und niemandem sonst. Dass ich heute Morgen in den Spiegel schaute und einen ‚fetten‘ Moment hatte, macht die Sache nicht gerade besser.“

„Verdammt, Ava“, sagte Jane. „Wann hörst du endlich damit auf? Du hast seit zwölf Jahren Kleidergröße 40.“ Sie deutete auf Avas smaragdgrünen Kaschmirpullover und den schwarzen engen Rock. „Sieh dich nur an!“

Ava schaute an sich herunter. „Ich weiß. Sehe ich darin rundlich aus?“

„Jetzt hör aber auf, Spencer!“, rief Poppy tadelnd. „Wie Janie schon gesagt hat, du hast diesen sexy Körper bereits dein ganzes Erwachsenenleben. Du weißt genau, dass die Männer sich alle nach dir umdrehen. Und zwar nicht, weil du fett bist.“

„Okay, tut mir leid.“ Sie schüttelte die Hände, nahm ihren Kaffeebecher und lächelte reumütig. „Für einen Moment habe ich mich in die Vergangenheit verirrt und bin rückfällig geworden. Ich war so oft unsicher, dass es sich schon verselbstständigt hat. Aber jetzt komme ich klar.“

„Es liegt an diesem verdammten Gallari, der aus heiterem Himmel auftaucht und dich aufwühlt.“

Ava zuckte die Schultern. Ihn wiederzusehen hatte sicher auch dazu beigetragen. Aber mehr noch war es das Telefonat mit ihrer Mutter gewesen, in dessen Verlauf Jacqueline ihre übliche Bemerkung über Avas Gewicht gemacht hatte. Warum glaubte ihre Mutter immer, Ava könnte noch besser, noch dünner werden? Mal abgesehen davon, dass sie nun mal eine Frau mit üppigen Rundungen war, die sich zu Tode hungern konnte und trotzdem keine grazile Figur haben würde.

Meistens war sie inzwischen selbstbewusst genug, ihren Wert nicht nur darüber zu definieren, dass sie fast zwanzig Kilo abgenommen hatte.

Sie trank einen Schluck Kaffee, stellte den Becher wieder ab und legte die Hände links und rechts davon flach auf den Tisch. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, beugte sie sich vor. Sie wollte unbedingt, dass ihre Freundinnen verstanden, warum sie sich ausgerechnet auf etwas eingelassen hatte, was Jane und Poppy nie für möglich gehalten hätten. „Seht mal, ich brenne auch nicht gerade darauf, Cades persönliche Concierge zu spielen. Aber das ist ein Job, den ich mit verbundenen Augen machen kann, und er bezahlt mir wöchentlich einen Haufen Geld dafür. Plus einen gewaltigen Bonus, wenn der Film innerhalb des Zeitplans und Budgets bleibt.“

„Selbst wenn er nichts weiter im Schilde führt – wie wirst du damit zurechtkommen, ihn täglich zu sehen?“

„Mit einer absolut professionellen Einstellung. Du wirst staunen. Und indem ich mir ständig sage, dass ich hinterher diese verdammte Ballonrate zahlen kann, die mir im Nacken sitzt.“

Sie erinnerte sich an ein Gespräch mit Cade gestern Abend, das sie fast genossen hätte, und sagte lächelnd: „Worüber ich mich wirklich freue, ist eine Abmachung, die ich mit Cade getroffen habe. Ich werde mit ihm und seiner Drehbuchautorin über Miss Agnes sprechen, damit ihre Rolle so authentisch wie möglich umgesetzt wird. Falls ihr irgendwelche Vorschläge habt, was unbedingt über Miss Agnes gesagt werden muss, lasst es mich wissen.“

Ava schaute auf ihre Uhr und stand auf. „Ich weiß, das alles sind ziemlich überraschende Neuigkeiten, und ich lasse euch nur ungern allein. Aber ich treffe mich heute Abend noch einmal mit Cade bei meinem Anwalt, um gemeinsam mit ihm die Details in meinem Vertrag durchzugehen. Bevor das nämlich nicht geklärt ist, werde ich nichts unterschreiben.“ Sie schaute auf ihre zwei Freundinnen herab. „Ist alles in Ordnung zwischen uns?“

„Natürlich.“ Poppy stand ebenfalls auf und umarmte Ava. „Ich will nur nicht, dass dir wieder wehgetan wird.“

„Das wird nicht passieren“, versprach sie.

„Vergiss das Abendessen nächste Woche bei mir und Dev nicht“, meinte Jane und umarmte sie auch. „Und sei auf der Hut bei diesem Mann, hörst du?“

„Das werde ich“, sagte Ava und zog ihren pflaumenfarbenen Steve-Madden-Wollmantel an. Sie schlug den Kragen hoch und wickelte sich den blaugrünen Schal um den Hals, den Poppys Mutter für sie gestrickt hatte. „Macht’s gut.“

Sie ging zur Tür, wo sie noch einmal stehen blieb, um ihren Freundinnen einen übermütigen Blick über die Schulter zuzuwerfen. „Und macht euch keine Sorgen. Ich werde bei diesem Job die Gewinnerin sein.“

2. KAPITEL

Ich hätte nicht geglaubt, dass ich mich nach Miss Agnes’ Tod jemals daran gewöhnen könnte, mich als Besitzerin ihrer Villa zu fühlen. Umso eigenartiger ist es, dass ich mir hier plötzlich wie eine Außenstehende vorkomme.

Neun Wochen später

Ist sie schon hier?“

Beks Donaldson, Cades Produktionsassistentin, schaute nur widerstrebend von dem Drehplan auf, an dem sie am Küchentisch in der Wolcott-Villa arbeitete. Als sie ihm endlich über die Schulter einen Blick zuwarf, war Cade kurz davor, mit dem Zeigefinger auf das Zifferblatt seiner Uhr zu tippen. Das war eine Geste seines Vaters, die er stets gehasst hatte. Verdammt. Er war sich sicher gewesen, dass er niemals jemanden auf diese Weise daran erinnern würde, dass Zeit Geld bedeutete.

Er war verärgert über seine nachlassende Selbstbeherrschung, und es wurde nicht besser dadurch, dass Beks aussah, als wolle sie ihre graublauen Augen verdrehen – auch wenn sie es nicht wirklich tat.

Sie begnügte sich mit einem nachsichtigen „Nein“, ehe sie sich wieder umdrehte und dem Plan widmete. Ihm entging nicht, dass sie sehr wohl darauf verzichtete, ihn daran zu erinnern, dass er ihre Arbeit erst vor zehn Minuten mit der gleichen Frage unterbrochen hatte.

„Sie kommt zu spät“, knurrte er die auf beiden Seiten ihres Nackens aus dem Kragen ragenden gefiederten Spitzen von Beks’ Tätowierung an. Bei diesem Tattoo handelte es sich um ein von Adlerschwingen gehaltenes Harley-Davidson-Emblem.

„Ja.“

Na schön, er benahm sich wie ein Idiot. Im Stillen verfluchte er Ava Spencer dafür, dass sie ihn warten ließ. Er überlegte, ob er Beks mit einem Leg-dich-bloß-nicht-mit-mir-an-Blick strafen sollte. Dummerweise drehte sie sich nicht noch einmal um. Deshalb musste er sich mit einem strengen „Sag mir Bescheid, wenn sie auftaucht“ begnügen.

„Klar, Boss.“

Er ging zurück ins Wohnzimmer, wo er mit seinen eigenen Vorbereitungen beschäftigt gewesen war, bis er sich eingestehen musste, dass er sich einfach nicht konzentrieren konnte.

So ein elender Mist. Er war nie unkonzentriert, wenn es um seine Arbeit ging. Es hatte ihn zu viel Blut und Schweiß gekostet, sich in dieser Branche einen Namen zu machen, um sich derartigen Luxus zu erlauben.

Natürlich wusste er genau, was das Problem war und was er falsch gemacht hatte. Er plante stets sorgfältig alles im Voraus, um Hindernisse während der Produktion rasch überwinden zu können. Wenn es dann losging, war der Weg meistens zu neunundneunzig Prozent geebnet, damit Fehltritte vermieden werden konnten. Nur hatte er sich an jenem Abend im November einen entscheidenden Fehler bei Ava geleistet.

Sicher, es war total angebracht, sich bei ihr dafür zu entschuldigen, dass er auf der Highschool ein solcher Dreckskerl gewesen war. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass er das in den vergangenen zehn Jahren schon oft genug versucht hatte, war es eigentlich nicht nötig gewesen, gleich wieder damit anzufangen. Avas kühle Art hatte ihn veranlasst, sie sofort wieder um Verzeihung zu bitten, statt erst einmal abzuwarten und die Stimmung einzuschätzen. Dabei konnte er gerade das besonders gut, denn diese Fähigkeit hatte er schon früh in seiner Karriere entwickelt. Sie kam ihm in fast jeder Situation zugute.

Das Problem war, dass für ihn alles von diesem Projekt abhing. Für die Finanzierung hatte er einige Vertragsklauseln akzeptiert, die er früher weiträumig umgangen hätte. Zum Beispiel hatte er von vornherein gewusst, dass er wegen der Wolcott-Villa mit Ava sprechen musste. Entweder das, oder das Projekt war gestorben. Denn wenn er das Anwesen hätte nachbauen müssen, hätte das sein Budget schon vor Beginn der Dreharbeiten gesprengt. Das Budget zu überschreiten ließ sein Vertrag aber nicht zu.

Allerdings hatte er sich nicht völlig ausgeliefert. Er stürzte sich nie blindlings in irgendetwas, und er hatte auch diesmal gründlich recherchiert, ehe er den Vertrag unterschrieb. Als er herausfand, in welchen finanziellen Schwierigkeiten Ava steckte, schien ihm das Risiko akzeptabel zu sein. Hätte das einzige Hindernis darin bestanden, die Wolcott-Villa zu bekommen, wäre alles halb so wild.

Für gewöhnlich engagierte er stets eine effiziente Crew. Doch diesmal brauchte er die allerbesten Mitarbeiter. Bei Leuten aus der Branche war das auch kein Thema. Er wusste genau, wen er engagieren musste – genau die gleichen Profis, mit denen er schon in der Vergangenheit zusammengearbeitet hatte. Diejenigen, die seine Visionen am besten umsetzen konnten.

Er beschäftigte auch immer einen Einheimischen, jemand, der die Gegend kannte und der sich um die Logistik und Koordination der täglichen Aufgaben kümmerte, damit Cade und seine Crew sich auf die Produktion konzentrieren konnten. Zu seiner Bestürzung hatte sich nicht nur herausgestellt, dass Ava eine der Eigentümerinnen war, sondern dass ihr Name bei seiner Suche nach jemandem, der sich in Seattle gut auskannte und die besten Kontakte hatte, auch immer wieder auftauchte. Welch eine Ironie!

Das Schicksal war eben launisch. Trotzdem war er zuversichtlich. Zwar waren die Risiken dieses Projekts größer als die all seiner anderen Projekte zusammen. Aber auch die Belohnung.

Die Wolcott-Dokumentation war sein Ticket zu noch bedeutenderen und besseren Sachen. Zusammen mit einigen Erfolgen aus der Vergangenheit würde es vielleicht der entscheidende Schritt sein für die Umsetzung seines Drehbuchs. Drei lange Jahre hatte er daran gearbeitet. Und er wollte genau den Film daraus machen, den er sich erträumte. Es würde kein Blockbuster-Budget geben, aber das hieß auch, er würde den Film ganz genau nach seinen Vorstellungen machen können.

Na ja, entweder das, oder alles würde den Bach hinuntergehen. Zum Beispiel wenn seine Rechnung nicht aufging und Ava Spencer sich entschloss, die Villa oder ihre Position gegenüber seiner Crew dazu zu nutzen, um es ihm heimzuzahlen. Er musste zugeben, dass ihn diese Sorge seit der Vertragsunterzeichnung beschäftigte. Doch während er nun durch das Salonfenster das stürmische Wetter draußen beobachtete, konnte er sich nicht vorstellen, wie sie das anstellen sollte. Schließlich brauchte sie das Geld fast so sehr wie er diesen Erfolg mit seinem Dokumentarfilm.

Trotzdem war es reichlich naiv von ihm gewesen, nicht einmal die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie irgendwelche Rachegelüste hegte. Jetzt hatte er ihr praktisch eine Blankovollmacht ausgestellt – für das wichtigste Projekt, an dem er jemals gearbeitet hatte. Das Erstaunliche daran war, dass Naivität nie zu seinen Charaktereigenschaften gehört hatte. Und zwar spätestens seit dem Tag, an dem er erfahren hatte, dass sein Vater nicht sein richtiger Vater war.

„Boss!“

Beks’ Ruf lenkte ihn ab, wofür er ziemlich dankbar war. Denn dieser letzte Gedanke hätte ihn zweifellos in Trübsinn verfallen lassen. Er ging zur offenen Tür und schaute in den Flur. „Ja!“

„Deine Concierge ist da.“

Es gab keinen vernünftigen Grund, weshalb sein Puls sich deswegen beschleunigen sollte. Er riss sich zusammen, murmelte ein knappes „Das wurde aber auch Zeit“ und machte sich auf den Weg in die Küche.

„Haben Sie jemals erwogen, Schauspielerin zu werden?“, hörte er Beks fragen, als er sich dem Raum näherte. „Denn Sie erinnern mich echt an diese tollen Schauspielerinnen aus der Glanzzeit Hollywoods. Sie strahlen den gleichen Glamour aus.“

Er blieb im Türrahmen stehen und beobachtete, wie Ava einen teuer aussehenden Mantel auszog. Belustigt lächelte sie seiner Produktionsassistentin zu.

Beks hatte meistens diese Wirkung auf die Menschen. Falls sie überhaupt irgendwelche Hemmungen besaß, kannte er diese jedenfalls nicht. Ihm fiel kein einziges Beispiel ein, wann diese Frau jemals nicht direkt ausgesprochen hätte, was sie gerade dachte.

Allerdings musste er sich eingestehen, dass sie bei ihrer Beschreibung Avas absolut richtiglag. Mit ihrem flammend roten Pagenkopf im Stil der Dreißiger und ihren üppigen Kurven strahlte die Concierge tatsächlich den Retro-Glamour eines Hollywood-Starlets der goldenen Ära aus. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt, als sie den Mantel auszog und darunter ein schwarzes Kleid aus Kaschmirwolle zum Vorschein kam, das ihre sexy Kurven besonders betonte, oberhalb und unterhalb des roten Lackledergürtels um ihre Taille.

Cade fühlte sich auf unmittelbare, elementare Weise zu ihr hingezogen und näherte sich der Türschwelle.

In diesem Augenblick legte sie den Kopf in den Nacken und lachte herzhaft. Cade blieb stehen, denn er kannte den Klang ihres Lachens. Er erinnerte sich daran aus jener Zeit, ehe er den dümmsten Fehler seines Lebens begangen hatte.

„Ich, eine Schauspielerin?“ Im Profil bemerkte er eines ihrer Wangengrübchen. „Ich kann ehrlich behaupten, nie an eine solche Laufbahn gedacht zu haben.“ Erneut stieg dieses Lachen auf. „Im Ernst, das habe ich niemals in Betracht gezogen. Ich besitze nicht das geringste schauspielerische Talent. Ich könnte nicht einmal schauspielern, wenn meine Haare in Flammen stünden.“

„Obwohl die ja so aussehen“, bemerkte Beks.

„Ja, das ist der Fluch der Rothaarigen. Glauben Sie mir, ich hätte lieber schwarze Haare wie Sie. Niemand von meinen Bekannten würde mich und die Schauspielerei in einem Satz nennen. Ich bin super effektiv darin, das Leben anderer Leute reibungslos zu organisieren. Aber vor einer Kamera glänzen?“ Sie verzog das Gesicht, wodurch sich erneut ein Grübchen bildete. „Nein.“

„Tja, ich kann leider auch überhaupt nicht schauspielern“, gestand Beks traurig. „Sonst würde ich alles daransetzen, ein Star zu werden.“

Cade hielt sich seitlich des Rundbogens – aus Avas Blickfeld heraus – und beobachtete, wie sie Beks milchweiße Haut und dunkle Haare musterte, die die jüngere Frau in hohen fächerförmigen Zöpfen mit dunkelroten Strähnen trug. Mit einem belustigten Ausdruck auf dem Gesicht betrachtete Ava die im Gothic-Stil dunkel geschminkten Augen und die knallroten Lippen. Beides bildete einen starken Kontrast zur Schuluniform mit den weißen Kniestrümpfen. Zu den schwarzen Schnürstiefeletten mit den klobigen Absätzen und orthopädisch aussehenden Zehn-Zentimeter-Sohlen passte es wiederum sehr gut.

Avas Lächeln wurde breiter, was ihre Wangengrübchen vertiefte. „Ich hatte gleich den Eindruck, dass Sie nicht der Typ sind, der irgendetwas in sich unterdrückt.“

Cade stutzte. Die beiden befanden sich offenbar mitten in einem dieser Augenblicke spontaner Verbundenheit, die Frauen so mögen. Aber er hatte Ava nicht engagiert, um Zeit mit Beks zu verbringen.

Er betrat den Raum. „Schön, dass du es noch geschafft hast, Spencer.“

Ihre Grübchen verschwanden, als sie sich umdrehte und ihn mit diesem kühlen, distanzierten Blick bedachte, der schon zum Markenzeichen für ihre Begegnungen geworden war. „Mister Gallari“, begrüßte sie ihn in sachlichem Ton. „Ich habe doch gesagt, dass ich hier sein würde.“

„Ja, um halb eins.“ Er widerstand dem Impuls, ihr mitzuteilen, dass sie anderthalb Stunden zu spät kam. Für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie sich dessen ebenso bewusst war wie er.

„O nein, du hast deine Nachrichten nicht abgehört, oder?“ Ihr Ton war unbekümmert freundlich. Ihre Miene schien etwas ganz anderes auszudrücken. „Ich habe gestern Abend angerufen, um dir mitzuteilen, dass sich wegen des Hauses für deine Crew, von dem ich dir letzten Monat erzählt habe, im letzten Moment noch ein besseres Geschäft ergeben hat und ich deswegen später kommen würde.“ Sie nahm eine Handvoll Papiere aus ihrem antiken Aktenkoffer aus Krokoleder und reichte sie ihm. „Ich habe mich heute Nachmittag mit dem Besitzer getroffen. Ich denke, du wirst mit dem Ergebnis meiner Verhandlung zufrieden sein.“

Er nahm die Papiere, ohne einen Blick daraufzuwerfen. Dann klopfte er auf seine Tasche, in der er für gewöhnlich sein Handy aufbewahrte. Sie war leer. Mist. Er musste es im Mietwagen vergessen haben, wo er es nach dem Flug zum Aufladen angeschlossen hatte. Also konnte er Ava kaum die Schuld geben. Trotzdem war er wütend auf sie.

Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass seine und Beks’ Ankunft hier in der Stadt völlig reibungslos verlaufen war. Genau genommen beinah so angenehm wie nie zuvor. Der Taxifahrer hatte Cade mit einem Pappschild an der Gepäckausgabe erwartet. Der Schlüssel zur Hintertür der Villa befand sich genau dort, wo Ava es ihm erklärt hatte. Ihre Anweisungen zum Ausschalten der Alarmanlage waren präzise gewesen. Im Gegensatz zum letzten Mal, als er hier gewesen war, war die Villa warm und einladend. Im Kühlschrank befanden sich Käse, Fleisch, frisches Obst und eine Auswahl an Getränken, alkoholische wie Softdrinks. Auf dem Küchentresen hatten zwei Schachteln Cracker und eine Packung Fran’s Gray and Smoked Salt Caramels bereitgestanden.

Er reagierte seine Gereiztheit mit einem leisen Ausatmen ab. „Ich nehme an, Miss Schüchtern und Zurückhaltend hast du schon kennengelernt, oder?“

Ava grinste wegen des Spitznamens. „Ja und nein. Wir haben uns ein paar Minuten unterhalten, ohne uns einander richtig vorzustellen.“

„In dem Fall darf ich dich mit Rebekka Donaldson bekannt machen, meiner Produktionsassistentin.“

„Okay, das ist ein Name, mit dem mich schon eine ganze Weile niemand mehr angesprochen hat“, sagte die junge Frau und schüttelte Ava mit festem Druck die Hand. „Es ist ehrlich gesagt schon so lange her, dass ich kaum darauf hören werde. Alle außer meiner Großmutter Louise und vielleicht Mom, wenn sie sauer auf mich ist, nennen mich Beks.“

„Wenn ich es mir genau überlege, habe ich nie gehört, wie jemand dich Rebekka genannt hat. Von unserer eigenen Vorstellung einmal abgesehen“, räumte Cade ein. „Also, Ava, das ist Beks. Beks, darf ich dir Ava Spencer vorstellen, unsere Concierge vor Ort.“