Wenn du hinfällst, dann kannst du nicht mehr laufen - Sylvia Wentzlau - E-Book

Wenn du hinfällst, dann kannst du nicht mehr laufen E-Book

Sylvia Wentzlau

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Beschreibung

Wer mit einem Handicap geboren wurde, der hatte es nie leicht. Kommen andere nicht ohne weiteres überwindbare Situationen dazu, so wie es bei mir der Fall war, dann kann es schlimme Folgen über viele Jahre oder Jahrzehnte für den Betroffenen haben. Es gab einen Zeitpunkt, da wollte ich nicht mehr leben. Später ist mir klargeworden, dass es noch viele schöne Dinge gibt, für die es sich zu leben lohnt!

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Seitenzahl: 171

Veröffentlichungsjahr: 2021

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VORWORT

Ich wurde 1959 in Leipzig geboren. Ein paar Monate später stellten die Ärzte ein doppelseitiges Hüftleiden fest, das bis heute mein Leben nicht unwesentlich beeinträchtigt. Trotzdem hatte ich eine schöne und meist unbeschwerte Kindheit.

1972 – ich war gerade 13 Jahr alt, die 6. Klasse hatte ich beendet – änderte sich mein Leben radikal. Bei einem Aufenthalt bei meiner Oma auf dem Lande, dort, wo ich mich immer so wohlgefühlt hatte, versuchte mich mein viel älterer Cousin zu vergewaltigen. Meine Kinderseele war gebrochen.

In meinem Leben ging es oft auf und ab. Mühsam habe ich mich aus manchem Loch wieder herausgeholt. Es war ein jahrelanger Kampf. Meine Träume habe ich mir immer bewahrt. Hoffnung und Träume sind das wichtigste im Leben. Wenn wir die aufgeben, dann ist das Leben nicht mehr lebenswert!

Ich habe viele Jahre anderen geholfen und mich selber dabei aus den Augen verloren. Irgendwann kam der totale Zusammenbruch. Erst heute bin ich in der Lage, meine Vergangenheit aufzuarbeiten. Es hat Jahrzehnte gedauert, aber endlich bin ich auf dem richtigen Weg.

Lasst nicht zu, dass euch schlimme Erlebnisse von innen her auffressen – das Leben kann so schön sein!

Inhalt

Der schwere Schritt ins Leben

Meine Ur-Großeltern und Großeltern

Geplatzter Schulanfang

Danach kamen die Albträume

Ein Schelm und ein kleiner Unhold

Versagensangst

Kinderstreiche

Dunkle Schatten

Aufbegehren

Verfolgt

Die böse Ahnung wird wahr

Entgleist

Vater und Tochter

Schmeiß die sofort raus!

Viel zu früh geheiratet

Heimwerker gesucht

Hilflosigkeit oder So wahnsinnig alleine

Eine Verzweiflungstat

Leere Regale

Ein schwerer Schicksalsschlag

Ein neues Kapitel beginnt

Friedliche Revolution – Oktober 1989 – Mittendrin

Wie meine Oma

Menschliche Tragödien

Jetzt beginnt der Ernst des Lebens

Vielleicht ein Neuanfang?

Endlich Schluss

Jetzt heult die och noch!

Strich durch die Rechnung

Endlich mal raus

Lora und Prinzessin

Heute haben wir keinen Appetit

Alkohol-Exzesse

Neubeginn

Meine Liebe zur Malerei

Ein schreckliches Jahr

Es geht noch mehr

Zusammenbruch

Therapie

Neuorientierung

Was uns verbindet!

Nachwort

Danksagung

Bisher veröffentlichte Bücher

Der schwere Schritt ins Leben

Für manchen steht der Start ins Leben unter keinem guten Stern – so auch bei mir.

Ich wurde 1959 mit einem doppelseitigen Hüftleiden geboren – einer sogenannten Hüftdysplasie. Meine Mutter war felsenfest davon überzeugt, dass ich herausgezogen wurde und dadurch die Probleme in meinem Leben anfingen. Wer kann das heute noch beweisen?

Trotz dieses Handicaps war ich kein trauriges, sondern meist ein glückliches Kind. Freilich, viele Dinge, die anderen Kindern Freude machten, blieben mir verwehrt. Wenn ich zu schnell rannte, dann hörte ich hinter mir den Satz: «Wenn du hinfällst, dann kannst du nicht mehr laufen!» Von klein auf wusste ich, dass bei einem bösen Sturz die Kugel aus der Hüftpfanne springen konnte und ich dadurch im Rollstuhl landen würde. Bis heute übermannt mich manchmal die Angst und ich höre immer noch diesen ermahnenden Satz. Manche Dinge wirken ein Leben lang nach.

Monate nach meiner Geburt bekam ich einen Spreizgips. Dadurch konnte ich meine Beine nicht bewegen – fröhliches Strampeln und Kriechen war so lange Zeit nicht möglich.

Da meine Eltern erst kurz verheiratet waren, bekamen sie keine Wohnung. So wuchs ich in den ersten zwei Jahren bei meinen Großeltern auf, die sich liebevoll um mich kümmerten.

Mit meinen Großeltern – hier war ich ein paar Monate alt und noch ohne Spreizgips

Mit meiner Mutti – Sommer 1960

Meine Omi erzählte mir später, dass ich aus Langeweile die Tapete hinter meinem Kinderbett abgerissen habe. Daraufhin rückten sie das Bett von der Wand weg. Meine einzige Freude waren die Ausfahrten mit dem Kinderwagen. Das erste Gehen erlernte ich mit einem Dreirad. Ich war damals zwei Jahre alt.

Jedes Kind braucht einen besten Freund – für viele ist es sicher auch heute noch der Teddybär. Max, mein geliebter Teddy, war von Anfang an mein allerbester Freund und der Bewahrer meiner Geheimnisse. Ihm vertraute ich meine großen und kleinen Sorgen an – er verriet mich nie. Noch heute hat er einen besonderen Platz in meinem Herzen. Jeden Tag schauen mich seine treuen Teddyaugen wissend an.

Als ich über zwei Jahre alt war, bekamen meine Eltern endlich eine Wohnung zur Untermiete im Haus einer älteren Dame. Ich wohnte jetzt mit meiner Familie in einer Siedlung – umgeben von Wasser, Wald und großen Feldern. Hier bot sich viel Raum zur Entfaltung der kindlichen Fantasie. Mit drei Jahren konnte ich bereits schwimmen. Im Wasser war ich in meinem Element. Mit Stiften, einem Zeichenblock, ein paar Blättern Papier oder mit Büchern vergaß ich die Welt um mich herum. Leider waren auch Krankenhäuser und Untersuchungen meine ständigen Begleiter.

Jedes Jahr musste ich in das Kinderkrankenhaus für Orthopädie und Chirurgie. Für mich die Hölle auf Erden! Stundenlang wartete ich mit meiner Mutter in einem total überfüllten Gang – und jedes Mal war die Untersuchung sehr schmerzhaft. Wenn ich das Krankenhaus nur von Weitem sah, fing ich furchtbar an zu weinen. Ich hatte Angst vor den Ärzten mit den weißen Kitteln und vor den Schmerzen, die sie mir jedes Mal zufügten.

Liebevolle oder ermunternde Worte kamen von diesen Menschen nicht.

Mein linkes Bein ist bis heute über einen Zentimeter kürzer als das rechte. Dadurch lief ich nie richtig gerade. Meine Nächte verbrachte ich eine ganze Weile auf einem harten Brett – ohne Kissen. Rumtoben wie andere Kinder durfte ich nicht.

Von der Ärzten wurde mir orthopädisches Schwimmen und leichte Krankengymnastik verordnet. Schwimmen konnte ich ja schon sehr früh. Meine Mutter und meine Oma hatten es mir im Kanal beigebracht. Das Chlorwasser in den Schwimmbädern vertrug ich nicht und das Schwimmen dort bereitete mir wirklich keine Freude. Die leichte Gymnastik fand in einer Gruppe statt – jedes Kind hatte ein anderes Leiden. Ich fühlte mich von Anfang an in dieser Gemeinschaft unwohl. Auch hier wurden Kinder, die eine Übung nicht perfekt machten, ausgelacht und verspottet. Zum orthopädischen Schwimmen musste ich mit meiner Mutter in das Stadtbad. Meine Eltern wollten ja, dass ich irgendwann ganz normal wie andere Kinder würde laufen können.

Ich bin ihnen, vor allen Dingen meiner Mutti, für ihre Bemühungen und die viele geopferte Zeit sehr dankbar. Leider geht nicht jeder Wunsch in Erfüllung!

Ich war wahnsinnig gerne bei meinen Großeltern, die in der Nähe meiner Schule ihre Wohnung hatten und bei meiner anderen Oma, die 70 Kilometer entfernt von uns wohnte. Im Winter sah ich traurig den anderen Kindern zu, wie sie auf Skiern oder Schlittschuhen durch die Winterlandschaft liefen. Mir blieben solche Aktivitäten verwehrt. Auch Rollschuhlaufen, Seilspringen und andere Sachen waren verboten. Wie gerne hätte ich Klapperlatschen aus Holz gehabt! Aber in den Holzschuhen hatten meine Füße keinen Halt, deshalb durfte ich sie nicht tragen. Wer die Sehnsucht eines Kindes kennt, der weiß, wie schwer dieses Verbot für mich war.

Bei meiner Oma auf dem Lande führte ich ein freies und ungebundenes Leben. Der Aufenthalt dort war Balsam für meine Seele. Von meiner Tante bekam ich sogar ein Springseil und die von mir heiß begehrten Holzlatschen geschenkt. Ich war so selig! Es musste allerdings unser Geheimnis bleiben.

Auch das Skilaufen habe ich mit den Skiern meiner Cousins ausprobiert. Die waren natürlich viel zu groß für mich, aber ich wollte doch wie jedes andere Kind meine eigenen Erfahrungen machen und das war auch gut so! Ich merkte ganz schnell, was mir gut tat und was nicht.

Bei meinen Großeltern hinter dem Haus

Wenn ich wie die Feuerwehr rannte, dann tönte es wieder hinter mir: «Nicht so schnell Sylvi, wenn du hinfällst, dann kannst du nicht mehr laufen!» – ein Spruch, der mich bis zum 12. Lebensjahr begleitete. Wenn ihr jetzt aber denkt, dass ich keine aufgerissenen Knie hatte, dann irrt ihr euch. Die Jod-Flasche war der ständige Begleiter meiner Mutter.

1962 – mit meiner Omi und meinem Vati in Bad Dürrenberg

Meine Ur-Großeltern und Großeltern

Ich hatte das Glück, als Kind noch meine Ur-Großeltern kennenzulernen. In meinem Elternhaus wohnten die Großeltern meines Vaters – Alwin und Selma.

An meinen Ur-Opa Alwin erinnere ich mich besonders gut. Wenn ich zu Besuch kam, dann lag er meist in der Küche auf der Ottomane und hörte Radio. Damals spielte sich das Leben in der Küche ab. Sie war auch der einzige beheizte Raum im ganzen Haus. Meine Großtante Frieda wohnte im ersten Stock. Voller Stolz zeigte mir mein Ur-Großvater seine Tätowierungen auf der Brust und auf dem Rücken. Vorn hatte er ein Segelschiff und hinten eine Nixe. Beides gigantisch, was mich als Kind begeistert hat. Zur See war er nie gefahren. Warum er gerade diese Tätowierungen machen lassen hat, habe ich nie erfahren. Ich höre ihn noch heute sagen: «Sylvi, wenn ich nicht mehr lebe, dann ziehen sie mir das Fell über die Ohren!»

Oft saß er auf der Gartenbank. Unter der wunderschönen Birke standen seine Kaninchenställe. Hinter dem Haus war ein schmaler Gang, an den sich die Ställe für die zwei Schweine, die Puten und die Enten anschlossen. Einen Teich für die Enten gab es auch.

Ur-Opa Alwin

Besonders lebendig ist meine Erinnerung an das Lieblingskaninchen meines Ur-Opas – eine Riesenschecke. Das Tier lief wie ein Hund mit ihm spazieren, und wenn er weg war und wieder nach Hause kam, dann wusste es das Kaninchen ganz genau. Bevor der Opa in Sichtweite kam, stand sein Lieblingstier schon am Gartentor und holte ihn ab. Ein wirklich rührendes Bild einer Freundschaft zwischen Mensch und Tier! Dieses Kaninchen durfte als einziges an Altersschwäche sterben.

Zu mir waren meine Ur-Großeltern immer sehr nett. Ich wünschte nur, sie wären es auch zu meiner Omi und zu ihren Kindern gewesen.

Die Ur-Großmutter sehe ich mit einer Kittelschürze vor mir. Sie buk feine Pfannkuchen. Daran erinnere ich mich heute noch und an die gute Stube, die mir damals riesig erschien – mit dem langen Tisch und den sechs oder acht Stühlen ringsherum. Links vom Fenster stand eine wunderschöne Spiegel-Anrichte mit gedrechselten Säulen und einem kleinen Zaun – alles im Stil der Gründerzeit. Die gute Stube wurde nur zu den Geburtstagen geöffnet. Es ist merkwürdig, an wie viel ich mich nach so langer Zeit erinnern kann.

Meine herzensgute Omi Ellie lebte als junge Frau mit ihrem Mann und ihren Kindern im Haus der Schwiegereltern – in meinem heutigen Elternhaus, das wir von meiner Großtante 1971 gekauft haben. Der ganzen Familie standen nur ein Zimmer von 14 Quadratmetern und eine kleine Küche zur Verfügung. So etwas kann sich heute niemand mehr vorstellen.

Ich weiß, dass meine Ur-Großeltern keine Not gelitten haben. Neben den Tieren und dem Garten am Haus besaßen sie noch ein Feld, auf dem sie Kartoffeln und Rüben anbauten. Die Speisekammer war gut gefüllt – auch in den Kriegszeiten.

Wahrscheinlich war meine Oma Ellie für ihre Schwiegereltern nicht standesgemäß, denn während diese genug zu essen hatten, musste die Familie ihres eigenen Sohnes hungern. Von einer meiner Tanten habe ich erfahren, dass sich ihre Großeltern noch daran ergötzt haben, dass „die da oben“ nichts zu essen hatten – für mich unvorstellbar! Meine Oma hat auf jeden Fall in dieser Zeit viel Leid erfahren und auch noch nach Kriegsende. Oft hatte die Familie nur Zottelsuppe – eine geriebene Kartoffel auf zehn Liter Wasser – oder Brennnessel-Suppe zu essen. Mein Opa war wie alle wehrtüchtigen Männer im Krieg und mehrmals in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Er kehrte 1945 zu seiner Familie heim.

Nach dem Krieg musste auch meine Oma mit ihren Kindern und ihrem Mann hamstern gehen. Die Not zwang Familien dazu – die auf die Lebensmittelmarken verteilten Nahrungsmittel reichten nicht aus, um das Überleben zu sichern. So fuhr die Stadtbevölkerung in total überfüllten Zügen, oft auf den Dächern sitzend, oder mit dem Fahrrad auf das Land. Wer dafür kein Geld hatte, der musste zu Fuß weite Strecken hinter sich bringen. Dort angekommen, tauschten sie Kleidung oder Wertgegenstände gegen Agrarprodukte ein. Wer nichts besaß, der musste für die Bauern arbeiten oder stoppeln gehen 1. Da das Hamstern strafbar war, konnte es passieren, dass die schwer beschafften Lebensmittel beschlagnahmt wurden. Erst 1948 gingen die Hamsterfahrten zurück. In diesem Jahr bekamen meine Großeltern endlich eine eigene Wohnung.

Meine Uroma Bertha – ich kannte sie nur unter dem Namen „Böhlitzer Oma“ – war die Mutter meiner Oma Ellie. Ich sehe sie heute noch, wie sie im Schlafzimmer, das wie ein langer Schlauch war, in ihrem Bett lag. Wegen ihrer offenen Beine konnte sie sehr schlecht laufen. Mit meiner Mutti oder meiner Oma habe ich sie manchmal besucht.

Den Vati meiner Mutti – meinen Opa Emil – habe ich leider nie kennengelernt; er kam schwer erkrankt und völlig abgemagert aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause und verstarb kurz danach. Von ihm habe ich nur dieses eine Foto.

Von meiner Mutti weiß ich, dass mein Opa sehr geschickt war. Er konnte herrliches Spielzeug wie Schaukelpferde, Puppenstuben und Pferdeställe machen. Allerdings waren die schönen Spielsachen nicht für seine fünf Kinder gedacht, sondern für fremde – der Großvater hat alles verschenkt. Er war für seine Familie ein liebevoller Vater und für meine Oma Erna ein wundervoller Ehemann. Leider starb er viel zu früh. Ich hätte ihn so gerne kennengelernt!

Meine Mutti, sie wurde 1934 geboren, und ihre Geschwister mussten weder im 2. Weltkrieg noch nach dem Krieg Not leiden. Da sie auf dem Lande wohnten, hatten sie immer Tiere und in dem großen Garten viel Obst und Gemüse. Vom Kriegsgeschehen hat meine Mutter zum Glück fast nichts mitbekommen – die Truppen zogen in der Ferne auf der Landstraße an ihnen vorbei.

Meine Mutti (2. von links) mit ihren Freundinnen

Meine Oma Erna wurde 1900 oder 1902 geboren. Bei ihr war ich, bis ich 18 Jahre alt war, immer für ein paar Wochen in den Ferien zu Besuch. Ich erinnere mich noch heute gerne daran – eine Ausnahme waren nur die Sommerferien 1972. Bis zuletzt hat sie sehr schwer gearbeitet – immer nur für andere. Jeden Tag um 5 Uhr aus den Federn und die vielen Tiere versorgt – ein Schwein, eine Ziege, viele Kaninchen, Enten, Hühner, Schafe und einen Hund –, Schweinefutter gekocht, schwere Wassereimer geschleppt und den großen Garten bestellt. Sie hatte nie etwas von ihrem Leben. Erst zuletzt ruhten ihre Hände. Sie starb 1978, ich war damals 19 Jahre alt und hatte gerade meinen Sohn zur Welt gebracht.

Geplatzter Schulanfang

Es war inzwischen 1965. In diesem Jahr sollte ich mit meiner Kindergartengruppe, mit der ich die Vorschule besuchte, eingeschult werden. Wie alle Kinder freute ich mich auf meinen ersten Schultag im September.

Einige Wochen vorher – wir waren zuvor bei einem meiner Onkel und seiner Familie gewesen – verfärbten sich meine Haut und meine Augen gelb. Der Onkel hatte mich mit Gelbsucht angesteckt und da ich ein kleines, dünnes Etwas war, erwischte es mich mit voller Wucht. Ich war gerade sechs Jahre alt und noch nie von meinen Eltern über längere Zeit getrennt gewesen. Ich wurde sofort ins Krankenhaus eingewiesen. Am ersten Tag musste ich einen Schlauch schlucken. Eine furchtbare Quälerei. Ich erinnere mich noch heute daran und an die Tränen, die ich geweint habe, weil das Ding einfach nicht rutschen wollte und es mir furchtbar übel wurde. Dabei wurde ich immer wieder angefahren: «Du sollst schlucken!» Jahre später schmeckte ich immer noch den Gummi.

In der ersten Zeit konnte ich meine Eltern nur durch eine Scheibe sehen. Ein furchtbares Heimweh plagte mich und in dem Saal mit 30 Kindern fühlte ich mich gar nicht wohl. Mein Lieblings-Märchenbuch gehörte jetzt allen, denn nichts durfte hinterher wieder mit nach Hause genommen werden.

Ich aß schlecht und warf die Tabletten in die Toilette. Ein Mädchen aus meinem Zimmer meldete es der Schwester, die uns jeden Abend vorlas, daraufhin wurde die Einnahme der Medikamente streng kontrolliert.

Mein Zustand verbesserte sich auch nicht, als mich meine Eltern richtig besuchen konnten. Vor lauter Heimweh verging mir der Appetit. Was nützte es da, wenn es hier sehr oft Bananen und Weintrauben gab! So einen großen Obstteller konnten mir meine Eltern nicht bieten. In der DDR 2 hatten die Geschäfte im Winter außer Äpfeln kein Obst im Angebot.

Die Ärzte wollten mich aufgrund meiner schlechten Verfassung auch nach einem halben Jahr nicht nach Hause lassen. Da es bald Heiligabend war, bestanden meine Eltern auf einer Entlassung und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Ich hätte dort ohnehin nie zugenommen!

Zu Hause angekommen, erwartete mich ein Puppenwagen, den ich mir so sehr gewünscht hatte. Ich war einfach nur selig!

Auf meinem Speiseplan stand jetzt auch Lebertran, der Multivitamin-Sirup Travidyn und noch ein anderer Sirup, an dessen Namen ich mich heute nicht mehr erinnern kann. Am allerschlimmsten war der Lebertran. Möge er euch erspart bleiben!

Durch den langen Krankenhausaufenthalt musste ich bis zum Schulanfang im nächsten Jahr den Kindergarten weiter besuchen. Mit keinem einzigen Kind dort hatte ich vorher Kontakt. Alles war fremd! Eine schwierige Situation, aber mit der Zeit lebte ich mich gut in die neue Vorschulgruppe ein.

Durch meine Erkrankung musste ich jedes Jahr ein oder zwei Mal in das Krankenhaus zum Blut ziehen. Immer wieder fanden die Schwestern bei mir keine Venen. Meine Armbeugen waren grün, blau und violett. Sie versuchten jedes Mal mehrmals die Nadel einzuführen. Erst nach langem „Rumstochern“ floss ein wenig Blut.

Mit meiner Großtante

Auf den Fotos war ich 7 und 8 Jahre alt

Mit sechs Jahren konnte ich schon Rad fahren. Mein Vater hatte es mir beigebracht. Das war auch notwendig: Ich musste ja alleine in die Schule kommen, da meine Eltern berufstätig waren.

Mit sieben Jahren wurde ich endlich eingeschult. Wie jedes Kind freute ich mich auf die Zuckertüte und natürlich auf den Unterricht. Endlich meine geliebten Bücher selbst lesen können, davon träumte ich schon lange.

Als ich dann in der ersten Klasse war, fingen meine Probleme an. Ich hatte ein Attest für leichte Gymnastik – im Sportunterricht in der Schule gab es so etwas aber nicht. Unserem damaligen Sportlehrer war mein Attest völlig egal, er verlangte von mir die gleichen Übungen wie vom Rest der Klasse. Ich war so eingeschüchtert, dass ich meiner Familie nichts davon erzählte, dass er mich über die Sprossenwand, das Pferd und alles andere jagte. Absolutes Gift für meine Hüften!

Ich hing vor Angst zu fallen wie ein nasser Sack an der Sprossenwand. In meinem Kopf raste nur ein Gedanke: Wenn du jetzt runterfällst, dann kannst du nie mehr laufen, dann ist alles aus! Der Lehrer zwang mich trotzdem, oben durch die Sprossen zu kriechen und rückwärts nach unten zu klettern. Ich hasste diesen Mann, aber ich war einfach zu klein, um mich gegen ihn wehren zu können. Im Zeugnis der ersten Klasse hatte ich eine Vier in Sport. Immer noch hielt ich meinen Mund und meine Eltern merkten nicht einmal an der schlechten Note – eigentlich sollte ich in diesem Fach gar nicht bewertet werden –, dass hier etwas nicht stimmte.

Vor jeder Sportstunde war es mir richtig übel. Ein echter Albtraum! Schuld an meiner Misere war eine Ärztegruppe am Leipziger Waldplatz, die damals für die komplette oder teilweise Befreiung vom Sportunterricht zuständig war. Zu meinem Glück wechselte im nächsten Jahr die Gutachterin. Die neue Ärztin befreite mich vom Sport, nachdem ich ihr von meinen Qualen im Unterricht erzählte hatte. Endlich war mein Martyrium beendet! Ich sah jetzt nur noch zu und musste bei Sportfesten die Sandfläche für den Hochsprung glatt harken.

Jahre später passierte mir das gleiche Ungemach mit einem neuen Sportlehrer. Schuld war wieder ein Attest, in dem leichte Gymnastik stand. Lange Zeit schluckte ich alles hinunter, aber irgendwann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und schüttete mein Herz bei unserem Schuldirektor aus. Kurze Zeit später hatten wir einen neuen Lehrer für den Sportunterricht.

Bei dem nächsten Gutachten für die Schule erhielt ich endlich eine komplette Befreiung. Der neue Sportlehrer war ein toller Mensch. Seit dieser Zeit musste ich kein jährliches Attest mehr vorlegen – ich war für die restliche Schulzeit befreit. Dafür bin ich ihm heute noch sehr dankbar!

Meine Freundin Sabrina i hatte das gleiche Hüftleiden wie ich und auch sie war vom Sport befreit. Dadurch hatten wir viele schöne gemeinsame Stunden. Wir mussten nur bei den Sportfesten anwesend sein und kleine Arbeiten erledigen, was wir sehr gerne taten.

i Namen geändert

Danach kamen die Albträume

Wenn ich aus dem Toilettenfenster sah, dann konnte ich das Haus meiner Freundin sehen. Sie war älter als ich und glaubte schon lange nicht mehr an den Weihnachtsmann. Leider nahm sie mir dadurch ein wenig den Weihnachtszauber weg, den meine Mutti mit viel Liebe wieder neu erweckte.

Brigitte ii