Winternacht - J. R. Ward - E-Book

Winternacht E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Seit dem Tod seiner geliebten Shellan Selena verbringt der mächtige Schatten Trez seine Tage in Trauer und Einsamkeit. Doch dann begegnet er im Restaurant seines Bruders der Kellnerin Therese. Trez, der überzeugt ist, dass die schöne Vampirin die Reinkarnation Selenas ist, verliebt sich Hals über Kopf in sie. Doch Therese hat mit eigenen Dämonen zu kämpfen, und wenn die beiden eine gemeinsame Zukunft wollen, müssen sie erst lernen, ihre Vergangenheit loszulassen ...

»Winternacht« ist ein wunderbar anrührender und warmherziger Weihnachtsroman aus dem beliebten BLACK DAGGER-Universum.

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Seitenzahl: 440

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Das Buch

Seit seine geliebten Shellan, die Auserwählte Selena, an der Starre gestorben ist, verbringt der mächtige Schatten Trez seine Tage in Trauer und Einsamkeit. Doch dann begegnet er im Restaurant seines Bruders der Kellnerin Therese. Trez ist davon überzeugt, dass die schöne Vampirin die Reinkarnation Selenas ist, und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Doch Therese hat mit eigenen Dämonen zu kämpfen, und wenn die beiden eine gemeinsame Zukunft wollen, müssen sie erst lernen, ihre Vergangenheit loszulassen. In einer eiskalten Winternacht nimmt das Schicksal schließlich unabänderlich seinen Lauf …

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Ein ausführliches Werkverzeichnis aller von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:

www.jrward.com

J.R.Ward

Winternacht

Ein Black dagger-Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

WHERE WINTER FINDS YOU

Aus dem Amerikanischen

von Dorothee Witzemann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2019 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Autorenfoto © by John Rott

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26546-5V002

www.heyne.de

Für zwei wiedervereinte vollkommene Seelen,glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.

Danksagung

Vielen, vielen Dank an die Leser der BLACK DAGGER! Es ist eine lange, wunderbare, aufregende Reise mit euch und der Bruderschaft, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was in dieser Welt, die wir alle so lieben, als Nächstes passiert. Ich möchte Meg Ruley, Rebecca Scherer und dem Team bei JRA danken, außerdem Lauren McKenna, Jennifer Bergstrom und allen bei Gallery Books und Simon&Schuster.

Ans Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Und wie immer tue ich alles, was ich tue, aus Liebe und Bewunderung für meine Familie, sowohl die blutsverwandte als auch die frei gewählte.

Ach ja, und danke an Naamah, meinen WriterAssistant Nummer zwei. Sie arbeitet genauso hart an meinen Büchern wie ich!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

 Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

 Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.

 Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

 Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

 Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

 Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

 Dhunhd – Hölle.

 Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

 Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

 Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

 Gesellschaft derLesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

 Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

 Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

 Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin zur Partnerin nehmen.

 Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

 Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

 Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder dem Abhandenkommen eines Fahrzeugs oder anderer motorisierter Transportmittel führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.

 Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

 Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

 Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

 Lewlhen – Geschenk.

 Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

 Lhenihan – ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

 Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

 Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

 Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

 Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

 Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

 Novizin – Eine Jungfrau.

 Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

 Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

 Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

 Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

 Rahlman – Retter.

 Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

 Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

 Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

 Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

 Talhman – Die böse Seite eines Vampirs. Ein dunkler Fleck auf der Seele, der ans Licht drängt, wenn er nicht ganz ausgelöscht wird.

 Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

 Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

 Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

 Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

 Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

 Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

 Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

 Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

1

Raul Julia – nicht verwandt mit dem großen, leider verstorbenen Schauspieler – sah seinen ersten Engel in einer kalten Dezembernacht mitten in einem Schneesturm.

Und das alles wegen eines BMW.

Er war im Zentrum von Caldwell an der Kreuzung Main und Tenth stehen geblieben, den langen Wollmantel bis unters Kinn zugeknöpft, den Schal vor der Brust festgesteckt. Seine Zehen waren trotz der Stiefel kalt. Die Schneeflocken, die um die Mittagszeit zunächst durch die Luft tanzend begonnen hatten, fielen jetzt so zahlreich, dass sie keine Arabesken mehr in den Luftströmungen vollführen konnten. Außerdem hatten sie es inzwischen eilig, verschwendeten ihre Freiheit in ihrer Hast, den Boden zu erreichen, ohne zu merken, dass der Fall der allerbeste Teil ihres Daseins war und dass man auf ihnen herumtrampeln würde, sobald dieser vorüber war. Dass man sie überfahren, sie zu schmutzigen Haufen zusammenschieben würde, als wären sie niedere Kreaturen und keine schwebenden Wunder.

Von der Einzigartigkeit hin zu lästiger Überbevölkerung, um die sich die Stadtreinigung von Caldwell kümmern musste.

Eigentlich traurig. Vergleichbar mit Kindern, die zu Erwachsenen wurden.

Als Raul nun an der Ecke stand, aufgehalten von einem roten Handsymbol, das ihn von der Ampel herunter anblinkte, hatte er so dermaßen genug von den kalten Böen in seinem Gesicht, dass er sich umdrehte und der Ampel den Rücken zuwandte. Das akustische Signal für Sehbehinderte würde ihn wissen lassen, wann es Zeit war zu gehen, genauso wie der Verkehr, der sich langsam und schleppend vorwärtsbewegte, als hätten die Autos ebenso wenig für das Wetter übrig wie er. Unter besseren Bedingungen hätte er sich direkt an den Bordstein gestellt und mit Adleraugen nach einer Gelegenheit Ausschau gehalten, die Straße bei Rot zu überqueren – er war in Brooklyn geboren, damals, bevor Giuliani die fünf Stadtteile für eine kurze Zeit aufgeräumt hatte, deshalb war er Experte im Lesen von Verkehrsmustern –, aber im Winter änderten sich die Regeln. Vierradantrieb bedeutete nicht Vierradbremsen, und die Rutschgefahr vergrößerte das Risiko, wenn man es versuchte.

Und Raul war jemand, der eine Menge hatte, wofür es sich zu leben lohnte. Vor allem heute Abend.

Er trug eine schwarze Schachtel bei sich, außen lederbezogen, innen samtgepolstert. Er hatte seine Ivelisse zweiunddreißig Jahre zuvor geheiratet, und auch wenn ihr Hochzeitstag erst im April war und noch dazu kein runder, war er in der Mittagspause an einem Schmuckgeschäft vorbeigekommen und hatte angehalten. Das Fenster war randvoll mit tragbarem Gold und Platin gewesen, in den Rahmen waren Leuchten eingebaut, damit die Diamanten funkelten. Es waren eine Menge Verlobungsringe gewesen, denn die bevorzugte Jahreszeit für Heiratsanträge stand bevor – in Abgrenzung zur Zeit der Jaworte, die laut seiner jüngsten Tochter Alondra der Juni war –, aber es hatte auch einige Kreuze gegeben.

So hübsch die Auslage auch war, Raul war weitergegangen, er wollte pünktlich zu seinem Job als Aktuar bei einer Versicherung zurück sein. Während er mit den anderen, die sich über Mittag nach draußen gewagt hatten, über den festgetretenen Schnee stapfte, hatte er an die Kreuze gedacht, an kein Bestimmtes, eher an alle zusammen. Sie waren gemeinsam in die Ecke rechts unten im Fenster verbannt worden, eine Ansammlung von vielleicht zehn, allesamt überschattet von diesen Ringen. Aus irgendeinem Grund bekam er sie nicht aus dem Kopf. Das ging so weit, dass er sich einbildete, etwas Schlimmes würde passieren. Nicht einmal sein normales Arbeitspensum, das ihn manchmal überforderte, konnte ihn von der Sorge ablenken.

Vielleicht war es ein Zeichen. Vielleicht war es ein schlechtes Omen.

Solche Gedanken hatte er allerdings oft. Er verdiente als Versicherungsmathematiker aber auch sein Geld damit, die Sterberate anderer Leute zu analysieren, fertigte Risikoeinschätzungen an, auf deren Grundlage Lebensversicherungsprämien berechnet wurden – und wenn man das zwanzig Jahre lang machte, wurde man zwangsläufig ein bisschen schreckhaft. Jedes Muttermal an seinem Körper wuchs sich in seiner Vorstellung beispielsweise zu einem Melanom aus. Jeder ausgesetzte Herzschlag war für ihn ohne jeden Zweifel ein drohender Infarkt. Oh, und diese Kopfschmerzen, die er am Morgen im Stau auf dem Weg zur Arbeit gehabt hatte, bildeten definitiv die Vorstufe zu einem Schlaganfall.

Obwohl, wahrscheinlich spielte er einfach nur verrückt.

Vielleicht sollte er sich eine Weile freinehmen.

Dennoch, sobald er kurz nach fünf mit seiner Arbeit fertig war, hatte er seinen Mantel angezogen, sich von seinen Kollegen verabschiedet und war aus dem Gebäude geeilt. Statt zum Parkplatz sechs Straßen weiter zu gehen, war er zu dem Schmuckgeschäft zurückgekehrt. Während er durch die Kälte trottete, war er überzeugt, es würde sowieso geschlossen sein – aber er hätte es besser wissen müssen. Schließlich war Vorweihnachtszeit, und der schmale, relativ kleine Laden war vollgepackt mit Leuten, als er sich hineindrängelte. Er hatte eine gute Viertelstunde warten müssen, bis er die Aufmerksamkeit einer Verkäuferin erregte, und als sie seinen Hilfe suchenden Blick nur mit einem Schulterzucken erwidern konnte, als könnte sie nicht versprechen, noch irgendwann vor Silvester frei zu sein, hatte er auf die Uhr geschaut und überlegt, ob er wieder gehen sollte.

Das Mädchen, das ihn schließlich bedient hatte, war gestresst und erschöpft gewesen, als hätte sie bereits eine lange Reihe von Tagen mit verlängerten Öffnungszeiten hinter sich ohne Aussicht auf Besserung. Sie war schätzungsweise in Alondras Alter, und sie trug einen hübsch großen Diamanten am Ringfinger. Zweifellos hatte ihr Verlobter dank ihr einen Rabatt dafür bekommen. Ihre Augen waren müde gewesen, aber sie hatte sich die Mühe gemacht zu lächeln, und das hatte ihn letztlich überzeugt, doch zu bleiben. Noch mehr als die Tatsache, dass er extra zu Fuß hergekommen war, und die Wartezeit oder auch, dass er sich immer noch nicht sicher war, ob er kaufen sollte, was ihm vorschwebte.

Nach Abschluss der Transaktion – und nachdem sie ihm einen hübschen Preisnachlass gewährt hatte – hatte er ihr alles Gute für ihre bevorstehende Eheschließung gewünscht. Daraufhin hatte sie aufrichtig gestrahlt und über den Mann gesprochen, den sie heiraten würde, die Hochzeitsplanung, das Kleid. Es sprudelte aus ihr heraus wie ein Wasserfall, sicher musste sie ihn bei der Arbeit zurückhalten, und ihre Freude, ihre Jugend und alles, was sie noch vor sich hatte, das Gute und das Schlechte, hatten dafür gesorgt, dass ihm ein bisschen die Tränen in den Augen brannten.

Es war eine Erleichterung gewesen, den Laden verlassen und die feuchten Augen auf die Kälte schieben zu können.

Und nun stand er hier, an dieser Kreuzung, mit einem Diamantkreuz in der Tasche – seine Ivelisse würde ihn dafür umbringen, dass er es für sie gekauft hatte – und einem gebrochenen Herzen.

Alondra wäre im Januar dreiundzwanzig geworden. Und bei dem Kreuz ging es nicht um irgendeinen Hochzeitstag, auch wenn er sich das einreden wollte. Er musste es selbst glauben – denn sonst hätte er das Ding in Wirklichkeit im Gedenken an seine Tochter gekauft, die an einem verschneiten Abend genau wie diesem ums Leben gekommen war, auf dem Rücksitz eines Autos, das auf eisglatter Fahrbahn zu schnell gefahren wurde. Von ihrer allerbesten Freundin, die überlebt hatte.

Was ziemlich makaber wäre, nicht wahr?

Als er an den Unfall dachte, der ihm und seiner Frau und den anderen Kindern dieses wertvolle Geschenk genommen hatte, ging ihm durch den Kopf, dass es durchaus einige gefährliche Dinge gab, die man im Leben vorhersehen konnte. Wenn man zu viele Risiken einging, was die Gesundheit betraf, den Körper, die Finanzen, die Gewohnheiten, war man statistisch gesprochen selbst dafür verantwortlich, wenn man in eine Situation geriet, die schlimm endete. Das wusste er. Er analysierte es, er rechnete es hoch, er verstand es von einem übergeordneten, objektiven Standpunkt aus, der gottähnlich war. Doch nichts von alledem hatte eine Bedeutung gehabt, als sein Cousin Fernando an jenem verschneiten Abend um ein Uhr nachts an seine Haustür geklopft hatte. In dem Augenblick, als Raul die Tür öffnete und sah, wie Fernando die CPD-Mütze abnahm, hatte er es gewusst.

Er und Ivelisse hatten insgesamt drei Kinder, und viele, hauptsächlich aus der älteren Generation, hatten sich veranlasst gesehen, darauf hinzuweisen, sie hätten nach dem Todesfall wenigstens noch zwei weitere. Als löschte das den Schmerz aus oder reduzierte ihn um zwei Drittel. Er hatte anlässlich ihrer Gefühllosigkeit toben, ihnen ins Gesicht brüllen, ihnen die Haare ausreißen wollen. Er liebte seine beiden lebenden Kinder genauso, wie er seine Alondra geliebt hatte, aber sie wogen diesen Verlust nicht auf. Die Launen des Zufalls hatten sich in dieser Nacht zu einer Tragödie verschmolzen, die Kombination aus einem Bleifuß und Blitzeis, gepaart mit der Tatsache, dass sich Alondra aus irgendeinem Grund nicht angeschnallt hatte, hatten genau zu einem dieser Phänomene geführt, die Raul an jedem Wochentag von neun bis fünf einschätzte.

Der Tod hatte ihm eine seiner Lieben genommen, und lange Zeit hatte er furchtbare Angst gehabt, dass es seine eigene Schuld war. Dass er durch seine Arbeit irgendwie einen Blitzableiter aus seiner Familie gemacht hatte, und Gott zahlte es ihm heim, dass er versucht hatte, eine Rolle einzunehmen, die kein Mensch sich anmaßen sollte.

Doch sein Glaube hatte ihn in dieser schweren Zeit getragen. Sein Glaube, dass es einen freundlichen und wohlwollenden Ursprung gab, aus dem alles floss, hatte ihm geholfen, sich von den Schuldgefühlen zu befreien, die aus den ersten, irrationalsten Phasen seiner Trauer entwachsen waren.

Der Verlust wurde mit der Zeit keineswegs leichter zu tragen. Wenn er an seine jüngste Tochter dachte, tat es noch genauso weh wie in dem Moment, als Fernando den Mund geöffnet und ihm die traurige Mitteilung gemacht hatte, die Raul schon erahnt hatte. Inzwischen war er nur in der Lage, auch noch an andere Dinge zu denken.

Er stand mit dem Rücken zu der Richtung, in die er gehen wollte, stemmte den Körper gegen den Wind, die unbehandschuhten Hände in die Taschen seines Wollmantels gerammt, als das schönste M850i xDrive Coupé, das er je gesehen hatte, vor der Ampel auf der Tenth Street hielt.

Es war eine Erleichterung, seine Gedanken und Gefühle von seiner verlorenen Tochter abzulenken, denn er wusste, wenn er Ivelisse an diesem Abend das Kreuz schenkte – er würde nicht bis zum Weihnachtsmorgen warten, denn wenn es etwas gab, das ihn Alondras Tod gelehrt hatte, und seine Arbeit unterstrich das noch, dann, dass Sterbliche wichtige Dinge nicht aufschieben sollten –, würde es viele Tränen und viel bittersüße Sehnsucht nach ihrer Tochter geben. Also musste er seine Kraft beisammenhalten. Außerdem würde es schwierig werden, in der verschneiten Dunkelheit nach Hause zu fahren, wenn seine Augen vom Weinen in der Kälte ganz geschwollen waren.

Der BMW war ein Segen für ihn, eine willkommene Ablenkung, gerade als er sie am dringendsten brauchte. Und der Grund, warum es so gut funktionierte, war, dass das nicht irgendein Luxus-Sport-Coupé war. Es war sein absolutes Traumauto. Es war das Luxus-Sport-Coupé. Schnittig und edel, mit einem starken Motor und bequemen Sitzen. Er hatte letztes Jahr in einem Autohaus sogar einmal in einem gesessen. Mit einem Startpreis von hundertelftausend Dollar lag es außerhalb seiner finanziellen Möglichkeiten – und dabei würde es bleiben. Lustig, wie das Alter die Dinge veränderte. Wenn man in den späteren Teenagerjahren war und das Road&Track-Magazin durchblätterte, konnte man noch glauben, die Enttäuschung darüber, dass manche Autos zu teuer für die eigene Brieftasche waren, sei vorübergehend, dass sich das mit den Jahren und der Ausbildung, auf die man sich konzentrierte, und den Plänen, die man schmiedete, regeln würde, dass das scheinbar Unerreichbare durch harte Arbeit und Fleiß auf jeden Fall machbar werden würde.

Dieser habgierige Optimismus verschwand auf einmal spurlos, wenn man knapp über der Fünfzigergrenze war, zwei Kinder hatte, die studierten, eine Hypothek, die vollends abbezahlt werden musste, eine Frau, für die man sorgen wollte, wie sie es verdiente. Das Unerreichbare blieb unerreichbar. Hätten sie keine Kinder bekommen, hätte er sich vielleicht überlegen können, einen Gebrauchtwagen zu kaufen. Aber er hätte keines seiner drei Wunder für einen fahrbaren Untersatz eingetauscht, auch nicht mit dem Wissen um den Schmerz des einen, das er verloren hatte.

Aber was war das für ein Gefährt. Der Besitzer hinter dem Steuer hatte die karbonschwarze Metallic-Lackierung gewählt und die Zwanzig-Zoll-Speichenfelgen in Tiefschwarz. Man konnte durch die dunklen Scheiben kaum etwas von der Ausstattung erkennen, aber Raul hätte gewettet, der Mann hatte möglichst viele Extras gewählt, was laut der BMW-Website die Bauzeit um gute sechs bis acht Wochen verlängerte.

Raul wusste das alles, weil er für sich selbst ein paar Monate zuvor eines dieser Modelle online ausgestattet hatte. In seinem Fall war es nur ein Traum, mit dem er sich beschäftigen konnte, eine Fantasie, die er beinahe mit Händen greifen konnte, wenn er mit der Maus herumfuhr und auf Dinge klickte, die den sowieso schon stratosphärischen Preis noch um ein paar tausend Dollar anhoben. Bei dem Mann hinter dem Steuer dieses Wagens war das nicht der Fall. Wer immer er war, er hatte das nötige Kleingeld, um sich so ein Auto zu leisten, und Raul spürte einen Anflug von Neid – und Neugier darauf, wer den entsprechenden Scheck ausgestellt hatte.

Er beugte sich leicht vor und blinzelte. Nach allem, was er von dem Fahrer sehen konnte, war Rauls Traumauto für einen unglaublich gut aussehenden, ungefähr dreißigjährigen Afroamerikaner Realität geworden. Der Kerl hatte ein makellos symmetrisches Gesicht mit ausgeprägter Kinnlinie, hohen Wangenknochen und tief liegenden Augen. Seine Frisur war ein perfekt gemachter Fade Cut: unten komplett rasiert, oben nur so lang, dass man das Schwarz sah. Von seiner Kleidung war nicht viel auszumachen, aber er trug kein Jackett oder einen Mantel. Er hatte nur ein Hemd an, das zu fließen schien, als wäre es aus Seide, und im Licht der Straßenbeleuchtung blitzte ein Manschettenknopf auf.

Er hätte ein Sportler sein können, wirkte aber mehr wie ein Geschäftsmann. Wer wusste, was er wirklich von Beruf war, und ganz ehrlich: Welche Rolle spielte es? Womit auch immer er sich sein Geld verdiente, es genügte offensichtlich, um sich den BMW und sehr viel mehr zu leisten.

Zu schade, dass der Mann überhaupt nicht glücklich aussah.

Raul konnte nur den Kopf schütteln. Reiche Leute. Sie wussten nie zu schätzen, was sie hatten, was einer Definition der Hölle gleichkam, oder nicht? An einem üppig gedeckten Tisch zu sitzen, aber fast zu verhungern, egal, wie viel man aß …

Ohne Vorwarnung passierte etwas extrem Seltsames, und Raul kniff die Augen noch fester zusammen, schaute ganz genau hin, denn das wollte er Ivelisse sofort erzählen, wenn er nach Hause kam: Zwischen einem Blinzeln und dem nächsten war das Innere des Wagens in ein grellgrünes Licht getaucht.

Zuerst dachte Raul, es käme von einem Handybildschirm, weil der Fahrer in seinem Frust, drei Minuten an einer roten Ampel aufgehalten zu werden, seine E-Mails checkte. Nur dass da kein Handy war. Kein iPad. Kein Laptop. Vielleicht war es der Schein der Ampel, weil die gerade umsprang – aber nein, da oben hatte es keine Veränderung gegeben. Verwirrt sann Raul darüber nach, ob er vielleicht halluzinierte.

Woraufhin er die Gestalt bemerkte, die direkt vor dem BMW stand.

Der Schnee peitschte um etwas herum, das ein Mann zu sein schien, wenn man von der Masse des Oberkörpers ausging, vom Flugmuster der Schneeflocken, die sich den drei Dimensionen Höhe, Gewicht und zumindest in der Theorie der Sterblichkeit anpassten. Das Problem war … Raul konnte durch die Gestalt hindurch die Gebäude auf der anderen Straßenseite erkennen. Alles war sichtbar, von der Straßenecke über die Eingangstür der Bank bis hin zur Schar der Fußgänger, die sich der Kreuzung näherten.

Raul rieb sich die Augen, auch wenn das nichts daran änderte, was er da vor sich sah, und in diesem Moment begannen die Reifen des BMW durchzudrehen. Als die Ampel endlich auf Grün umsprang, verloren alle vier Niederquerschnittsreifen abrupt den Halt, und das nicht nur schleudernd wie bei einem schlampigen Rennstart, sondern eher als ein komplettes Durchdrehen ohne irgendein Vorwärtskommen. Was völlig unlogisch war, denn der M850i hatte xDrive. Allradantrieb.

Der starke Motor heulte auf. Und dann noch einmal.

Im Inneren, hinter dem Steuer, sah Raul den Fahrer das Lenkrad fester packen und sich zur Windschutzscheibe beugen, als wollte er den leistungsstarken Wagen durch Willenskraft antreiben.

Die Reifen drehten weiter durch, und die Geistererscheinung blockierte den Weg.

»’tschuldigung, Kumpel«, sagte jemand zu ihm.

Der Reflex des lebenslangen Stadtbewohners setzte ein, und Raul trat zur Seite, ohne hinzusehen, denn er ging davon aus, dass auf dem freigeräumten Gehweg noch Platz war. Aber Fehlanzeige. Sein Fuß landete auf der Kante des vom Schnee rutschigen Bordsteins, und sein Körper geriet aus dem Gleichgewicht …

… gerade, als ein Sattelschlepper, der versuchte, an der roten Ampel auf seiner Spur anzuhalten, die Kontrolle verlor und über die Kreuzung pflügte, die Fußgänger, die angefangen hatten, die Straße zu überqueren, in alle Richtungen auseinanderstieben ließ, an dem feststeckenden BMW vorbeiraste und direkt auf Raul zusteuerte.

Er riss den Kopf herum, sah direkt in den näherkommenden Kühlergrill und wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass er sterben würde. Sein Körper würde mit genügend Geschwindigkeit getroffen werden, um umfangreiche innere Verletzungen davonzutragen, und angesichts der Vorwärtsneigung seiner Flugbahn würde sein Schädel aufplatzen wie reifes Obst.

Obwohl es keine Hoffnung gab, riss er die Hände aus den Manteltaschen und nahm dabei das Kreuz in seiner Schachtel mit. In hohem Bogen flog sie davon. Seine Bemühungen, sich zu retten, kamen zu zaghaft, zu spät.

Sein erster Gedanke galt Alondra. Er konnte es nicht erwarten, sie wiederzusehen.

Sein zweiter Gedanke galt seiner Ivelisse und seinen anderen beiden Mädchen. Sie würden untröstlich sein. Sie hatten sich gerade einigermaßen von der ersten Familientragödie erholt – wie sollten sie jetzt noch seinen Tod überstehen, vor allem, wenn er so willkürlich kam, so unglücklich … und wieder an einem eisglatten, verschneiten Abend.

Sein dritter Gedanke war, wie ungerecht das alles war. Er hatte ein rechtschaffenes Leben geführt. Er hatte seine Frau geliebt und geehrt. Er hatte seine Kinder liebevoll großgezogen. Er hatte hart gearbeitet und war ehrlich gewesen und hatte sich größte Mühe gegeben, niemandem etwas anzutun, was er selbst nicht wollen würde. Wie konnte so etwas passieren …

Die Zeit stand still.

So konnte man das Unbeschreibliche am besten in Worte fassen.

Alles verharrte in der Bewegung: der zu schnelle Sattelzug, sein Sturz, die Fußgänger, die rannten, um der Gefahrenzone zu entkommen, die durchdrehenden Reifen des BMW. Alles … kam zum Stillstand.

Bis auf den Schnee.

Der Schnee fiel weiter, landete mit schwereloser Eleganz auf dem Bildnis des Chaos. Und die Gestalt vor dem BMW, die durchsichtige, irgendwie anwesende und doch nicht richtig gegenwärtige Gestalt drehte den Kopf und sah Raul an. Das Gesicht des Mannes war so schön, dass Raul die Tränen kamen, die sich zu dem Schnee gesellten und heruntertropften, auf den Boden fielen, auf dem er nie aufprallen würde, weil ihn der Kühlergrill des Lasters wegfegen würde.

Und da sah Raul die ganze Wahrheit.

Der Mann war kein Mann, und er war auch kein Geist. Er war ein Engel, mit langen schwarz-blonden Haaren, die ihn umwehten, als spielte er im Schnee, und er hatte Flügel, riesige, hauchzarte, regenbogenfarben schimmernde Flügel, die hinter seinen Schultern aufragten. Und er besaß sogar eine Aura. Das Leuchten, das ihn umgab, das himmlische Licht, das von seiner Gestalt ausging, war genau so, wie es auf Gemälden immer dargestellt wurde, und diese herrliche Erleuchtung war der Beweis, dass es wirklich ein Leben nach dem Tod gab, und wer auch immer das Universum lenkte, war wahrhaftig ein gütiger Gott, einer, der Diener auf die Erde schickte, die geschaffen waren, um sich um die zerbrechlichen Sterblichen zu kümmern, die kein Versehen des Kosmos waren, kein zufälliges Aufeinanderprallen von Elektronen, Neutronen und Protonen in einer weiten, kalten Leere, sondern eine bewusste, in Liebe getroffene Entscheidung.

So wurde Raul vor dem Tod bewahrt.

Er weinte ganz offen, als der Engel seine Hand nach ihm ausstreckte, eine gütige und freundliche Hand, um ihn aufzufangen, ihn aufzurichten, sein Leben zu retten. Die Berührung fand statt und gleichzeitig auch wieder nicht, denn obwohl eine gewisse Distanz zwischen ihnen lag, spürte Raul die Berührung, und sie war warm, war gleichzeitig Mutter und Vater, es war die Berührung eines höheren Wesens, das dafür sorgte, dass ein Kind nicht durch eine dumme Unaufmerksamkeit zu Schaden kam.

Er spürte, wie sein Körper aufgerichtet und weit nach hinten auf den Gehweg gestellt wurde, und Erleichterung und Dankbarkeit überschwemmten ihn. Dieser unwahrscheinliche Moment der Rettung bestätigte den Glauben, der ihn durch den Tod so vieler und vor allem seiner Alondra getragen hatte. Ja, dachte er mit Freude, seine geliebte Tochter, die ihm zu früh genommen wurde, war jetzt an einem sicheren und glücklichen ewigen Ort, und er würde sie wiedersehen, und das Wiedersehen würde von solchem Jubel begleitet sein, dass jedes Leiden auf der Erde da unten sein würde wie fallender Schnee, schnell vergehend und ohne große Tragweite.

Der Engel lächelte ihn an.

Und Raul hörte in seinem Kopf eine Stimme, tief und mit Vollmacht: Sorge dich nicht, mein Freund. Es liegen gute Jahre vor dir, und wenn du nach Hause gerufen wirst, werden dich die willkommen heißen, die du am meisten vermisst.

Und dann verschwand der Engel, und die Welt drehte sich weiter.

Der Sattelschlepper rauschte hupend vorbei, Schneematsch spritzte in hohem Bogen nach allen Seiten, als er über die Kreuzung schlingerte. Die Fußgänger fluchten und schrien, schüttelten die Fäuste, stampften mit den Füßen auf. Die Räder des BMW fanden ihre Bodenhaftung wieder, und er überquerte die Kreuzung, die andernfalls ein Pfad des Todes und der Zerstörung gewesen wäre.

Raul prallte gegen etwas hinter ihm. Ein Gebäude. Granit. Noch so eine Bank, dachte er abwesend.

»Hey, alles klar, Mann?«, fragte jemand. »Jesus Christus, Sie hätten fast den Löffel abgegeben.«

Raul entgegnete etwas. Oder wenigstens glaubte er das. Sicher sein konnte er sich nur, dass seine Wangen mit Eis überzogen waren, weil seine Tränen bei winterlicher Kälte und frostigem Wind kristallisierten. Er wollte sie wegwischen …

Die kleine Lederschachtel, die mit dem Kreuz, für das ihn seine Frau schelten würde, wenn er es nach Hause brachte, lag in seiner Hand. Obwohl es in dem Moment, kurz bevor er um ein Haar gestorben wäre, weggeflogen war.

Ein Wunder, dachte er, während er es staunend betrachtete.

Er hatte ein Weihnachtswunder erlebt. In letzter Sekunde.

2

»Scheeeiße!«, schrie Trez, als ein Sattelschlepper, so groß wie ein Haus, an der Stoßstange seines brandneuen BMWs vorbeirauschte. Also, im Sinne von haarscharf daran vorbei. Also, im Sinne von … fast die Scheißmotorhaube abrasieren.

Als der Vierradantrieb und die Winterreifen mit dem starken Profil wieder griffen und ein Fußgänger, der ausgerutscht war, sich plötzlich aufrichtete und aus der Schussbahn des Lasters bewegte, entschied Trez, dass gerade die Definition von »in letzter Sekunde« passiert war. Hätte er losfahren können, als die Ampel umsprang, hätte dieser Fußgänger sich nicht genau im richtigen Augenblick gefangen, hätten sie an diesem Abend beide ihre Kündigungspapiere auf dieser Erde unterschrieben.

Was nicht einer gewissen Ironie entbehrte.

Denn ungefähr einen Sekundenbruchteil vor der Beinahe-Katastrophe hatte Trez überlegt, einfach weiterzufahren. Und nicht nur über die Kreuzung.

Nach zwei Jahrzehnten in Caldwell, in denen er mit den Augen eines Schatten beobachtet hatte, wie Generationen von Menschen die Stadt aufbauten, wusste er genau, wo diese spezielle Straße in diesem speziellen Stadtteil endete.

Am Hudson River.

Wenn er also aufs Gas trat und geradewegs und unbeirrt weiterfuhr, bis die Straße endete, konnte er einen Fast&Furious-Sprung vom Betonkai unter eine von Caldies zwei Brücken abziehen. Der BMW würde im freien Fall nicht lang durchhalten, das schnittige Auto war dafür gebaut, über den Asphalt zu fliegen, nicht buchstäblich durch die Luft, und bald würden sowohl er als auch dieses ganze teure Stahl, Leder und Plastik im kalten, trägen Gewässer des Hudson versinken.

Während seine Augen peridotgrün aufleuchteten, hatte er sich vorgestellt, wie es sein würde. Zuerst würde das Wasser durch die Fugen und Öffnungen eindringen, ein Sickern, kein Strömen. Aber das würde sich ändern, wenn er die Fenster herunterfuhr, solange die Elektronik noch funktionierte. Danach würde er sitzen bleiben und auf sein Ertrinken warten, wahrscheinlich mit den Händen immer noch am Steuer, vielleicht auch nicht, aber mit dem Sicherheitsgurt vor der Brust, und seine Kleider würden nass werden und dann an seinem warmen Körper kleben – mit der klammen Berührung der Leiche, die er bald sein würde.

Er würde nicht dagegen ankämpfen. Er würde seine Augen nicht verschließen. Er stellte sich vor, wie ihn eine Ruhe erfasste, die er nicht mehr verspürt hatte, seit alles Licht auf dieser Welt in diesem Krankenhauszimmer erloschen war, ein Stück tiefer unter der Erde und ungefähr zwanzig Meilen von dort entfernt, wo er selbst sterben würde. Es würde so eine immense Erleichterung sein. Schon wenn ihm das Wasser bis zum Hals stieg und weiter über seinen Mund, die Nase und die Ohren, schon während sein Körper vergeblich versuchte, gegen die eisigen Temperaturen anzukämpfen, und einfach keine Wärme mehr speichern konnte, schon wenn ihm die Luft ausging und seinen Lungen auch, dann würde er Frieden haben.

Wenn der Todeskampf einsetzte – und er würde kommen, denn sein Körper war wie alle anderen evolutionär dem Überleben angepasst, und das Bewusstsein arbeitete nur bis zu einem gewissen Punkt, woraufhin die autonome Funktion einsetzte und alles verrücktspielte –, würde er sich auf dem Sportsitz herumwerfen, den Kopf vor und zurück schleudern, sein Mund würde sich öffnen und reflexhaft Wasser einsaugen in der verzweifelten Hoffnung, es könnte doch noch irgendwo Sauerstoff geben, und er würde ihm nur verweigert. Es würde nicht einfach werden, in diesem Punkt machte er sich nichts vor. Das Ersticken würde qualvoll werden, ein Brennen in seinem Körper, vielleicht würde im letzten Moment sogar Panik einsetzen, wenn der Reptilienteil seines Gehirns sein sterbliches Oberlicht überrannte.

Doch dann würde es vorbei sein. Erledigt. Das ganze jämmerliche biologische Desaster seines Daseins abgeschlossen, im Eimer, aus und vorbei.

Grenzenlose Leere und nichts weiter.

Was ketzerisch war.

Als Schatten war er in einem etwas anderen Glaubenssystem erzogen worden als normale Vampire. Sein Volk, eine evolutionäre Erweiterung innerhalb der Spezies mit den Reißzähnen, baute sehr auf die Sterne am Himmel, und die Traditionen der s’Hisbe waren eine Variante dessen, was als das Leben nach dem Tod angenommen wurde. Die Hauptlehre war allerdings bei beiden dieselbe. Es war wie bei Protestanten und Katholiken: dieselbe Grundsprache, aber verschiedene Dialekte, und deshalb galt unter seinesgleichen ebenfalls die Theorie, dass man, wenn man starb, in den Schleier einging und die Ewigkeit mit seinen Lieben unter dem gütigen Schutz der Jungfrau der Schrift verbrachte. Vorausgesetzt, man war auf Erden kein Vollidiot gewesen. War man ein Arschloch, wurde man in den Dhunhd verbannt, auch bekannt als die Hölle, der Ort, wo Omega und seine Lakaien herumhingen. So oder so entschied das Verhalten im Laufe der eigenen sterblichen Nächte die endgültige Postleitzahl, und es gab nach dem letzten Atemzug etwas, worauf man sich freuen – oder das man fürchten – konnte, je nachdem, wie würdig man war.

Die Theorie war ganz okay und ein Konstrukt, das man, soweit er es verstanden hatte, in leichter Abwandlung auch auf der menschlichen Seite wiederfand. Nicht den Schleier oder den Dhunhd vielleicht, nicht direkt die Jungfrau der Schrift oder Omega, aber andere, ähnliche Glaubenssysteme, die mit einbezogen, wie man mit sich und anderen umging, während man sterblich war, und die sich außerdem überlegten, was mit einem passierte, wenn man den Löffel abgab. Islam, Judentum, Christentum, Buddhismus, Hinduismus und zahllose andere Religionen erhofften sich nach dem Tod mehr als nur einen Sarg und ein Grab. Oder einen Scheiterhaufen.

Er kannte sich aus mit Scheiterhaufen.

Verflucht, ja.

Womit er sich allerdings nicht mehr auskannte, woran er nicht mehr glaubte, war der ganze Rest. Er war nie besonders spirituell gewesen, aber man wusste ja nie, wie sehr man etwas gewesen war, bis man es nicht mehr war.

Überhaupt nicht mehr.

Jedenfalls war das, worüber er vor der ganzen Sache mit dem Sattelschlepper, der Kreuzung und seiner Beinahe-Auslöschung nachgedacht hatte, vielleicht nicht direkt eine Sünde, aber auch keine allzu grandiose Idee gewesen. Vorausgesetzt, man war gläubig. Sowohl nach den Gesetzen der Vampire als auch der Schatten war es vorbei, wenn man sich selbst das Leben nahm. Das war’s mit dem Schleier, Arschloch. Zwar hatte ihm bisher noch keiner eine gute Erklärung liefern können, was die alternativen Auswirkungen waren – klar, es gab Überlieferungen, dass man von dem Schleier-Ding ausgeschlossen wurde. Aber wo landete man dann? Im Dhunhd? Als Wurmfutter? Wer weiß. Aber absolut alle waren sich todsicher, dass man für die nächste Trillion Jahre nicht von Leuten umgeben sein würde, die man mochte.

Die Botschaft war wohl: Wenn du dir das Leben nimmst, tja, dann zur Hölle mit dir, wenn du das Geschenk, das dir mit der Geburt gegeben wurde, nicht zu schätzen weißt.

Ja, als wäre dieser ganze Mist mit dem Atem und dem Herzschlag so ein großartiger Gewinn gewesen, diese Jahre, in denen er hier aufrecht herumgelaufen war, so eine gottverdammte Freude. Seit der Nacht seiner Geburt war er für eine lieblose Vereinigung vorbestimmt gewesen, verantwortlich für das sinnlose Leid seiner beiden Eltern, hatte zugesehen, wie ein lieber Freund gut zwanzig Jahre lang von einer psychotischen Schlampe gefoltert worden war – das war ein Spaß –, war ein Zuhälter gewesen, ein Drogendealer und ein Vollstrecker.

Was für ein sinnloser Haufen Scheiße.

Und dann wurde dieser stinkende Misthaufen – gegen den er ausgerechnet mit einer Sexsucht angehen wollte, vielen Dank auch – noch vom Großvater aller Qualen gekrönt.

Er hatte die Frau seiner Träume getroffen, sich verliebt … und nach gefühlten zwanzig Minuten Glück ihre Hand gehalten, während sie vor seinen Augen an einer zehrenden Krankheit starb.

Ganz ehrlich, er war nicht nur unter einem schlechten Stern geboren, er war unter einem geboren, der ihm so in die Eier trat, dass er sie oben wieder heraushustete.

Und jetzt saß er also hier, in diesem BMW, den er gerade erst gekauft hatte, an diesem verschneiten Abend, während der verfickten menschlichen Jahreszeit der beschissenen Freude, und dachte über Selbstmord nach – nur, damit ihm DER GOTTVERDAMMTE UNFALL, MIT DEM ALLES EIN GUTES ENDE HÄTTE NEHMEN KÖNNEN, VERWEHRT WURDE VON EINEM SATZ GANZJAHRESREIFEN, DIE BISHER AN JEDER ANDEREN BESCHISSENEN KREUZUNG HERVORRAGEND FUNKTIONIERT HATTEN.

Um es mal ganz klar zu sagen.

Aber verdammt noch mal, er bekam noch nicht einmal die Chance, so zu sterben, dass dieser Scheiß hier ein Ende hatte UND er nicht damit kollidierte, dass ein Selbstmord vielleicht buchstäblich nirgendwohin führte.

Nicht dass er noch an ein Leben nach dem Tod geglaubt hätte. Egal, was er nach Selenas Tod zu sehen meinte.

Scheiße, wenn ihn die letzten drei Monate eines gelehrt hatten, dann, dass der Tod eine Vollbremsung war. Vor allem wenn man derjenige war, der zurückgelassen wurde.

Tja, dachte Trez, während er im Schnee weiterraste, wenigstens bleibt noch die Option mit der Kaimauer.

Wenigstens darauf konnte er sich freuen.

3

Ihr Schattenliebhaber kam wieder durch die dichte Dunkelheit des Traums zu ihr, sein nackter Körper riss sich aus dem Äther los und nahm vor ihr Gestalt an. Groß und stark, mit breiten Schultern und langen Beinen, war er die im Reich des Unterbewussten wahr gewordene Fantasie, das Abbild geheimer Sehnsüchte tief in ihrer Seele.

Sie richtete sich auf und streckte die Arme aus, und er kam zu ihr, ohne sich groß bitten zu lassen, legte sich mit seinem warmen, festen Körper so bereitwillig auf sie, dass es war, als bräuchte er sie genauso wie sie ihn. Sein Mund, gleichzeitig vertraut und überraschend fremd, legte sich auf ihre Lippen, er war eine Droge: seine Küsse, seine Zunge, sein Duft. Hände, breit und maskulin, strichen über ihre Brüste und ihre Taille, weiter nach unten … noch weiter.

Aufstöhnend bettelte sie wortlos darum, seinen Namen zu erfahren. Er kannte ihre Gedanken, sie teilte ihm durch die Magie, die sie umgab, mit, dass sie zur Vollendung seinen Namen wissen musste, wie er gerufen wurde, wie genannt. Es gab nichts, das sie trennte, kein Er und Sie, keinen Anfang und kein Ende. Sie waren ein Ganzes.

Wenn er zu ihr kam, war es immer eine Vereinigung.

Immer das Schließen eines Kreises.

Immer die Rückkehr in das Zuhause, aus dem sie verbannt worden war.

Aber er verließ sie jedes Mal wieder. Er blieb nie. Und es kam immer zu früh, sein Weggehen, egal, wie viel Zeit sie zusammen hatten.

Wenn sie doch nur seinen Namen wüsste … dann wäre er real. Er würde bei ihr bleiben, statt ihr durch das Erwachen wieder genommen zu werden. Er wäre neben ihr statt in ihr. Sein Name würde alles verändern …

Ihre Körper verbanden sich, das Schloss und der Schlüssel, die Frage und die Antwort, der Grund für alles, was vorher unlogisch war.

Die Wunde verheilte.

Sie umfasste ihn fester. Zog ihn enger an sich. Konzentrierte sich stärker auf jede Bewegung seines Körpers, jedes Eindringen seines Geschlechts, jede Welle der Lust.

Und immer der Abschied.

Egal, wie lange er bei ihr war, er stand immer kurz davor, sie zurückzulassen, nahm einen Teil ihres Herzens mit, sein Weggehen so sehr ein Fluch, wie die Vereinigung ein Segen war. Er war schönstes Mondlicht, verfinstert durch die Wolkendecke; er war die stille Sommernacht, unterbrochen durch den wilden Sturm; er war die Wärme, die aufflackerte vor der Ankunft des brutalen, betäubenden Winters.

Er war der letzte süße Atemzug vor dem Ertrinken.

Tränen, jetzt. Tränen, die ihr entrissen wurden.

Bleib bei mir, flehte sie ihn an. Nur dieses eine Mal. Geh nicht …

Zum ersten Mal in all den Jahren, die sie ihn kannte, hielt er inne und schaute herab in ihre Augen.

Seine Hand zitterte, als er ihr die langen, dunklen Locken aus dem Gesicht strich.

Sein Schweigen war Antwort genug. Es sagte alles.

Es gab keine Kluft zwischen ihnen, niemals. Ihnen gehörte der Ort zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, zwischen dem Endlichen und der Grenzenlosigkeit, ein Beweis, dass Liebe das Band war, das hielt, aber sie war eine defekte Reißleine, sie änderte nichts, wenn der Tod die Distanz schuf.

In seinem Schweigen brach ihr Herz.

Wieder einmal …

… immer.

Therese, Blutstochter von wer zur Hölle wusste das schon, steckte ihre Hand in ihre billige Handtasche und schob ihre Brieftasche, eine Tempopackung, ihren Lippenpflegestift und eine Haarbürste herum. Kleingeld klimperte ganz unten und weckte kurz Hoffnung, aber ihr Schlüsselbund blieb unauffindbar.

Beim Schleier, sie war erschöpft und hatte keine Zeit für so was. Dieser verdammte Traum hatte sie sogar wach gehalten, während sie geschlafen hatte, von den getrockneten Tränen auf ihrem Gesicht, als sie aufgewacht war, hatte sie wirklich die Schnauze voll, vielen Dank auch. Wie viele Jahre holte ihr Unterbewusstsein diesen Mist schon immer wieder hervor?

Seit sie denken konnte. Und sogar vor der schlimmen Sache mit ihrer Familie …

Ein gedämpfter Schrei und das Krachen einer zerbrechenden Lampe – oder war es vielleicht wieder Geschirr? – aus der Wohnung gegenüber ließen sie den Kopf heben. Die Tür zu ihrem Einzimmerapartment hatte in Höhe und Breite Standardmaße, war aber anscheinend nicht massiv genug. Andererseits hätte sie, wenn man bedachte, wer sonst noch in diesem Haus wohnte, eine gebraucht, die dreißig Zentimeter dick und vielleicht aus etwas Feuerfestem war.

Also wieder die Schlüsselsuche. Sie waren definitiv nicht in ihrer Handtasche, und dank dieses Traums hatte sie den Wecker überhört und kam zu spät zur Arbeit. Aber sie musste sie finden. Und bitte, sie musste nur ungefähr achtundzwanzig Quadratmeter abdecken, allerhöchstens. Und das schloss das Badezimmer und die Küchenzeile mit ein. Außerdem war sie extrem ordentlich und räumte mit einer Disziplin hinter sich auf, die schon an Besessenheit grenzte. Das musste zu schaffen sein.

Während sie die Kissen auf dem abgewetzten Sofa hochhob, noch mal alle Flächen absuchte und die Decken auf ihrem Schrankbett ausschüttelte, weigerte sie sich, auf die Uhr zu schauen. Sie brauchte keine Bestätigung, dass sie zu spät dran war, zu spät, zu spät. Sie hätte schon vor ungefähr einer Stunde zu ihrer Schicht als Kellnerin im Sal’s erscheinen müssen, und sie konnte es sich nicht leisten, diesen Job zu verlieren.

Vielleicht sollte sie ein Schlafmittel nehmen oder so was. Abgesehen von ihrem ständigen Herzschmerztraum ging es in diesem Wohnblock vierundzwanzig Stunden am Tag laut zu. Wenn einer der Mieter nicht gerade jemanden anbrüllte, mit dem er zusammenlebte oder von nebenan oder gegenüber, dann verbrannten sie Essen auf dem Herd, warfen zerbrechliche Gegenstände oder trampelten in Betonschuhen herum.

Sie ließ die Decken auf die dünne Matratze zurückfallen und schloss die Augen – und musste dann alles noch mal von vorn klinisch genau absuchen. Der Wohnblock war eine Absteige, und schlimmer noch, er war gefährlich – auch wenn zumindest das in der letzten Woche besser geworden war. Der gruslige Dealer am Ende des Flurs mied sie, als wäre sie ansteckend, und angesichts der Krankheiten, die er schon in seiner Blutbahn hatte, was sie spüren konnte, hatte das einiges zu sagen.

»Schlüssel …«

Noch ein Krachen, diesmal über ihr, ließ ihr Herz rasen. Sie hätte das Angebot für einen Umzug wirklich annehmen sollen. Aber sie wollte keine Almosen, und auch wenn sie den Job als Servicekraft bekommen hatte: Sie hatte nicht viel gespart. Sie würde eine bessere Stelle finden müssen oder ein paarmal dickes Trinkgeld an Land ziehen.

Als ihr Handy klingelte, fluchte sie und überlegte, ihren Chef Enzo auf die Mailbox sprechen zu lassen. Es konnte niemand anderer sein. Das Wegwerfhandy hatte sie sich ausschließlich für die Stellensuche zugelegt. Ihr anderes Handy, das sie bei ihrer Familie benutzt hatte, war nicht einmal eingeschaltet.

Die Erinnerung daran, wie wenig sie hatte und wie schmal ihr Überlebensspielraum war, trieb sie wieder zu ihrer Handtasche. Sie schnappte das Wegwerfhandy und räusperte sich.

»Hi«, meldete sie sich aufgesetzt fröhlich. »Es tut mir so leid – ja, ja, ich weiß. Ja. Alles klar. Natürlich. Nein, nein, ich komme. Ja, ganz sicher. Danke.«

Sie legte auf, schluckte trocken, und ihr war schwummrig. Dass ihr Dinge abhandenkamen, und nicht nur ihre Schlüssel, gab ihr das Gefühl, in einem auf einer Eisfläche außer Kontrolle geratenen Auto zu sitzen und auf einen Unfall zuzuschleudern, den sie nicht überleben konnte. Nichts lief nach ihren Vorstellungen. Nicht diese fürchterliche Wohnsituation. Nicht dieses neue Leben, das sie in Caldwell begonnen hatte. Und jetzt auch beinahe der Job nicht, den sie so dringend brauchte.

Im Gegensatz zu Menschen hatten Vampire kein Sicherheitsnetz. Für die Spezies gab es keine Sozialhilfe. Keine Krankenversicherung oder Gesundheitsversorgung. Keine organisierten Wohltätigkeitseinrichtungen. Wenn sie es nicht allein schaffte, würde sie auf der Straße landen, denn nach Michigan, wo sie aufgewachsen war, konnte sie nicht zurück. Keine Heimkehr in den Schoß der Familie, denn dort hatte sie keine Blutsverwandtschaft. Diese Leute waren Fremde, die sich als ihre Mahmen, ihr Vater und Bruder ausgegeben hatten, und nur durch einen Zufall, der auch genauso gut hätte ausbleiben können, hatte Therese die Wahrheit erfahren.

Ja, man hätte meinen können, es hätte bei einem der Tausenden von gemeinsamen Ersten Mahle Thema werden können, dass sie als Kleinkind ausgesetzt und dann adoptiert worden war. Vielleicht bei einem Letzten Mahl. Vielleicht bei den Familienversammlungen, wo Entscheidungen diskutiert und getroffen wurden. Oder wie wäre es mit den Festnächten? Aber nein. Nada. Dass sie nicht in ihre Familie hineingeboren war, war für alle außer die, die es am meisten betraf, ein Staatsgeheimnis.

Als eine erneute Welle der Benommenheit über sie hinwegschwappte, ging sie zu dem Singlekühlschrank, um einen Schluck Apfelsaft zu trinken und …

… fand ihren Schlüsselbund.

»Heilige Scheiße«, murmelte sie, als sie ins Eisfach griff.

Die gerillten Metallstücke fühlten sich kalt an, ihr stiegen Tränen in die Augen, als sie die Finger darum schloss.

Als Vampir konnte sie allein durch Willenskraft den Riegel an der Pappkartontür ihres Apartments schließen. Kein Problem. Dafür brauchte sie keinen Schlüssel, und die anderen Leute im Haus waren zu sehr mit ihren eigenen Dramen und Abhängigkeiten beschäftigt, um zu bemerken, dass ihre Tür sich von allein verschloss. Aber es hing noch mehr an diesem schlichten Schlüsselring als das, wofür sie den Vertrag für diese vier Wände mit Decke unterschrieben hatte.

Sie öffnete die Hand und sah den anderen Schlüssel an. Den aus Kupfer. Den für die kupfernen Schlösser der Vorder- und Hintertür des Hauses, in dem sie aufgewachsen war.

Mitglieder der Spezies konnten keine Kupferschlösser per Gedankenkraft betätigen. Deshalb waren sie die erste Sicherheitsbarriere, wenn man ein Haus voller Leute und Gegenstände hatte, die man beschützen wollte. Leute und Gegenstände, die einem gehörten. Die einem wichtig waren, für die man sorgte und über die man wachte.

Sie hatte schon mehrmals versucht, den verdammten Kupferschlüssel aufzugeben. Sie hatte ihn vom Ring genommen. Ihn in den Küchenabfall befördert. Ihn in die Einkaufstüte gepfeffert, die innen an ihrer Badezimmertür hing. Hatte sogar einmal mit dem Ding über einem städtischen Mülleimer im Park gezögert, genau wie über der Mülltonne hinterm Restaurant.

Jedes Mal sagte sie sich, sie sollte sich von ihm trennen, ihn wegwerfen, es hinter sich bringen … und in der letzten Minute weigerte sich ihre Hand, ihn loszulassen. Wie zum Teufel konnte ein Symbol für alles, wovon sie verraten worden war, ihr Talisman sein? Es ergab verdammt noch mal keinen Sinn.

Dennoch hatte sie im Wettstreit mit ihren Gefühlen bislang keinen Erfolg gehabt.

Jetzt schnappte sie sich ihre Tasche, rannte zur Tür hinaus, schloss ab. Auf dem Weg zur Treppe hielt sie den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen und die Tasche fest unter den Arm geklemmt. Der Gestank war furchtbar. Kalter Rauch, Drogen, von denen sie die Namen nicht wusste, die sie inzwischen aber trotzdem erkannte, und altes Fleisch, das genauso gut auch verwesende Menschenhaut hätte sein können.