"Wir bitten nur um Dispens für den vorliegenden einzigartig liegenden Fall" – die Habilitation Emmy Noethers - Cordula Tollmien - E-Book

"Wir bitten nur um Dispens für den vorliegenden einzigartig liegenden Fall" – die Habilitation Emmy Noethers E-Book

Cordula Tollmien

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Beschreibung

* Die Autorin legt mit diesem Band die zweite Veröffentlichung einer Reihe vor, in der in loser Folge Ergebnisse ihrer biografischen Forschungen zu der Mathematikerin Emmy Noether publiziert werden sollen. Dabei ist das aus ihrer inzwischen fast dreißigjährigen Beschäftigung mit Emmy Noether hervorgegangene Projekt "Lebens- und Familiengeschichte Emmy Noethers" nicht linear, auf Noethers Lebensweg fokussiert, angelegt, sondern mehrdimensional unter Einbeziehung des gesamten familiären und historischen Umfelds. In diesem zweiten Band der Reihe wird die spannende Habilitationsgeschichte Emmy Noethers im Detail aufgerollt und damit gleichzeitig ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der akademischen Frauenbildung geleistet. "Ihre Erzählung von Frl. Noethers Habilitationshindernissen hat uns sehr amüsiert. Gott, Gott, wie dumm die gescheiten Männer sind!" - Das schrieb Hedwig Pringsheim am 2. März 1916 an David Hilbert, der als unerschrockener Förderer und Unterstützer Emmy Noethers, als "David Frauenlob Hilbert", wie ihn seine Schüler scherzhaft titulierten, neben Emmy Noether selbst die Hauptfigur, ja der "Held" dieser Geschichte der Habilitation einer außergewöhnlichen Frau ist. "Werden Sie's denn trotz des Widerstands der bornierten Gelehrten durchsetzen?", hatte Hedwig Pringsheim Hilbert gefragt. Ob und wie ihm dies gelang, erfährt man in diesem Buch. Auch der Vorstoß Edith Steins, der die formalen Hürden für die Habilitation von Frauen endlich auch in Preußen beseitigte, wird hier erstmals in angemessener Ausführlichkeit gewürdigt. Dabei wird deutlich, dass Edith Stein unter anderem deshalb in Göttingen nicht habilitiert werden konnte, weil Emmy Noether dies zuvor gelungen war und die Gegner jeder Frauenhabilitation, die sich bei Emmy Noether nicht hatten durchsetzen können, ihren Widerstand nun gegen Edith Stein richteten.In dieser zweiten Auflage wird außerdem erstmals aufgedeckt, dass der Mann, der das Verbot von Frauenhabilitationen zu verantworten hatte, 1915 seinen Posten räumen musste, weil er eines sexuellen Übergriffs überführt worden war.Das Buch enthält 54 SW-Abbildungen.

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Das Zitat im Titel stammt aus dem Schreiben der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen an den preußischen Minister der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten vom 26. November 1915, in dem die Abteilung für Emmy Noether um Dispens von dem Erlass des 29. Mai 1908 bat, durch den in Preußen die Habilitation von Frauen als unzulässig galt.

Cordula Tollmien, geb. 1951, studierte Mathematik, Physik und Geschichte an der Universität Göttingen. Seit 1987 arbeitet sie als freiberufliche Historikerin und Schriftstellerin und veröffentlichte u. a. auch eine Reihe von Kinderbüchern. Sie war an dem 1987 publizierten Projekt zur Geschichte der Universität Göttingen im Nationalsozialismus beteiligt, arbeitete von 1991 bis 1993 als wissenschaftliche Lektorin bei der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte und trug Grundlegendes zum dritten Band der Göttinger Stadtgeschichte bei, der die Jahre 1866 bis 1989 behandelt. In den Jahren 2000 bis 2011 hatte sie einen Forschungsauftrag der Stadt Göttingen zur NS-Zwangsarbeit (www.zwangsarbeit-in-goettingen.de), und 2014 erschien ihr Buch über die Geschichte der jüdischen Göttinger Familie Hahn. Mit der Entwicklung der akademischen Frauenbildung und insbesondere mit den Biografien von Mathematikerinnen beschäftigt sie sich seit 1990 – dem Jahr, in dem ihre Arbeit erschien, in der erstmals die Geschichte der Habilitation Emmy Noethers im Detail nachgezeichnet wurde. 1995 publizierte sie eine Biografie der russischen Mathematikerin Sofja Kowalewskaja.

Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten 2/2021 und 2024

Cordula Tollmien

„Wir bitten nur um Dispens für den vorliegenden einzigartig liegenden Fall“ – die Habilitation Emmy Noethers

Zweite verbesserte und erweiterte Auflage

Ahrensburg 2024

© 2021 und 2024 Cordula Tollmien, Rehhagen 7, 3434 Hann. Münden –

www.tollmien.com

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg

ISBN

Softcover:

978-3-384-15515-3

Hardcover:

978-3-384-15517-7

e-Book:

978-3-384-15516-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Ein Mann wie Sie, schrieb Hedwig Pringsheim am 2. März 1916 an David Hilbert, ist doch warhaftig [sic!] ein König im eigentlichen Sinne. Die absolute innere und äußere Freiheit gibt Ihnen eine Ausnahmestelle und macht Sie zu einem Ausnahmemenschen.

In gewisser Weise ist David Hilbert der „Held“ dieser hier vorgelegten überaus spannenden Geschichte der Habilitation Emmy Noethers. Er steht dabei stellvertretend für die Männer, die dazu beitrugen, die den Frauen verschlossenen Türen der Universitäten zunächst einen Spalt und dann (sehr) langsam ganz zu öffnen.

Danksagung

Stellvertretend für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der von mir genutzten Archive, die mich auf vielfältige Weise unterstützt haben, seien hier Holger Berwinkel und Petra Vintrova vom Universitätsarchiv Göttingen genannt und Bärbel Mund von der Handschriftenabteilung der Göttinger Universitätsbibliothek, die mich seit Beginn meiner Studien über Emmy Noether vor nunmehr über 30 Jahren unterstützend begleitet. Mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben mir außerdem Roland Wengenmayr, Renate Tobies, Jörg-Dieter Schwethelm, Norbert Schappacher, David Rowe und Angelika Deese. Für die hier vorliegende zweite Auflage verdanke ich Benigna von Krusenstjern den entscheidenden Quellenhinweis auf die Gründe, die der Entlassung des Universitätsreferenten Ludwig Elster – des Mannes, der das bis zum Ende des Kaiserreichs bestehende Verbot von Frauenhabilitationen zu verantworten hatte – zugrunde lagen.

In großer Dankbarkeit denke ich außerdem zurück an Frau Schulte, die jahrelang als Dekanatssekretärin in der Göttinger Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät wirkte und in dieser Zeit auch schon meinem Vater hilfreich zur Seite stand. Als ich dann Ende der 1980er auf der Suche nach Dokumenten zu Emmy Noethers Lebensgeschichte war, leitete Frau Schulte das Gemeinsame Prüfungsamt der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultäten (natürlich nicht formal, aber faktisch) und als ich dort vorsprach, schob sie mir leicht grummelnd eine große Kiste vor die Füße mit den Worten „Das ist alles, was wir haben. Müssen Sie selber sehen, was Sie davon gebrauchen können.“ Und ich sah, dass ich alles gebrauchen konnte, und da Frau Schulte großzügig darüber hinwegsah, dass ich in der Mittagspause einige Kopien von den wichtigsten Dokumenten machte, war es mir möglich, die bis dato weitgehend unbekannte Habilitationsgeschichte Emmy Noethers in kürzester Zeit im Detail zu rekonstruieren und zu publizieren. Danke, Frau Schulte!

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Danksagung

Vorwort zur zweiten Auflage

1. Der Antrag auf Habilitation Emmy Noethers

2. Vorgeschichte

Einladung nach Göttingen

Vortrag vor der Göttinger Mathematischen Gesellschaft

3. Erster Habilitationsversuch 1915

„Der Widerspruch der Minorität beruht lediglich auf der prinzipiellen Abneigung gegen die Zulassung einer Frau“87 – Sondervoten gegen die Habilitation Emmy Noethers

Die Gutachten für Emmy Noethers Habilitationsgesuch

„Es hat mir in der letzten Fakultätssitzung durchaus ferngelegen, irgend einen der Herren Kollegen persönlich beleidigen zu wollen“ – Hilbert platzt der Kragen

„Aber meine Herren, eine Universität ist doch keine Badeanstalt!“

Der Kompromiss – Seminare unter Hilberts Namen

„Es handelt sich um eine sehr schwere Bezichtigung gegen einen der Räte Eurer Excellenz“ 284

„Ferner wird in Aussicht genommen nach dem Kriege Frl. Noether eine Remuneration zu gewähren“

4. Zweiter Habilitationsversuch und Entscheidung des Ministers 1917

5. Zulassung zur Dozentenlaufbahn 1919

„Erst die Revolution hat sie geschaffen“ – die ersten Privatdozentinnen in Deutschland

„Beim Empfang der neuen Arbeit von Frl. Noether empfand ich es wieder als grosse Ungerechtigkeit, dass man ihr die venia legendi vorenthält“ – Einsteins Intervention

6. „Der in Ihrer Eingabe vom 12. Dezember 1919 vertretenen Auffassung, daß in der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht kein Hindernis gegen die Habilitierung erblickt werden darf, trete ich bei“ – Edith Steins Vorstoß für eine generelle Regelung der Frauenhabilitationen in Preußen

Die Husserlschülerin Edith Stein

„Gestatten Sie mir nur soviel zu sagen, daß es sich dabei um eine wertvolle Persönlichkeit handelt, die ein gütiges Entgegenkommen verdient“ – Husserl über Edith Stein

Der Erlass vom 21. Februar 1920

„Gänzlich ungeeignet ein ordentliches Lehramt zu vertreten“ 542 –Karrierehemmnisse für Frauen während der Weimarer Republik

Anhang

Anhang 1: Veröffentlichungen Emmy Noethers bis 1919

Anhang 2: Emmy Noethers Habilitationslebenslauf 1919

Anhang 3: Emmy Noethers Lehrveranstaltungen vom Wintersemester 1916/17 bis zum Herbstzwischensemester 1919596

Abkürzungsverzeichnis

Literatur- und Quellenverzeichnisse

Verzeichnis der Literatur und gedruckten Quellen

Verzeichnis der ungedruckten Quellen

Personenregister

Konkordanzliste für die Seitenzahlen der ersten Auflage

Vorankündigungen

„Wir bitten nur um Dispens für den vorliegenden einzigartig liegenden Fall“ – die Habilitation Emmy Noethers

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Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort zur zweiten Auflage

Vorankündigungen

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„Ehrendiplom“ für David Hilbert zu seinem 50. Geburtstag am 23. Januar 1912, in der rechten hinteren Buchecke signiert mit E. H. (= Erich Hecke), unterzeichnet von „Amanda Maßlos“ als „Schatz-Meisterin“ (NStuUB Gö Cod. Ms. Hilbert 452b Nr. 73, Original farbig)

Vorwort zur zweiten Auflage

Die Autorin legt mit diesem zweiten Band der Veröffentlichungsreihe, in der sie in loser Folge ihre biografischen Forschungen zu der Mathematikerin Emmy Noether publizieren wird, die eigentliche Habilitationsgeschichte Emmy Noethers vor, für die der erste Band, der die Geschichte des Erlasses vom 29. Mai 1908 schildert, die Vorgeschichte oder besser die Basis für deren Verständnis liefert.

Erstmals hat sie diesen sich von 1915 bis 1919 hinziehenden Versuch der Göttinger Mathematiker, Emmy Noether zu habilitieren, in ihrem 1990 erschienener Artikel mit dem Titel

„Sind wir doch der Meinung, daß ein weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise in der Mathematik schöpferisch tätig sein kann…“ – eine Biographie der Mathematikerin Emmy Noether (1882-1935) und zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Habilitation von Frauen an der Universität Göttingen, in: Göttinger Jahrbuch 38 (1990), S. 153-219,

veröffentlicht, der auf seinerzeit von ihr entdeckten, zu großen Teilen damals noch nicht archivierten Dokumenten zur Habilitationsgeschichte Emmy Noethers beruhte. Diese Dokumente werden hier, was damals nicht möglich war, ausnahmslos in vollständiger Länge transkribiert und abgedruckt, so dass die vorliegende Publikation wie auch schon der gleichzeitig erscheinende Band 1 zu der in der ursprünglichen Fassung nur als Exkurs behandelten Frage, ob Frauen Privatdozentinnen werden können, auch als Quellenedition gelten kann. Das gilt cum grano salis auch für den inzwischen erschienenen dritten Band des auf insgesamt 15 Bände angelegten Emmy-Noether-Biografieprojekts, der sich mit der inhaltlichen Füllung der in den Bänden 1 und 2 beschriebenen formalen und institutionellen Aspekten von Emmy Noethers Habilitation, also dem Thema ihrer Habilitationsarbeit, beschäftigt:

„Eine der schönsten Verbindungen, die zwischen der wahrnehmbaren Welt und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung besteht“ – die Noether-Theoreme, tredition Ahrensburg 2023.

Auch dieser Band zeichnet sich durch eine quellengesättigte Darstellung aus, die uns nicht nur die damalige akademisch-wissenschaftliche Welt näherbringt, in der sich Emmy Noether, seit sie im Frühjahr 1915 nach Göttingen gekommen war, bewegte, sondern auch bisher nicht bekannte Details über die Entstehung ihrer berühmten Theoreme ans Licht bringt.

In dem hier vorliegenden zweiten Band des Emmy-Noether-Biografieprojekts lassen die in der Veröffentlichung von 1990 notgedrungen nur gekürzt zitierten Quellen die zentrale Rolle, die Felix Klein, vor allem aber David Hilbert als Unterstützer und Förderer Emmy Noethers spielten, noch einmal deutlicher als in der ursprünglichen Fassung hervortreten. Insbesondere der „Ausnahmemensch“ David Hilbert, wie ihn Hedwig Pringsheim in einem enthusiastischen Brief, in dem es auch um Emmy Noethers Habilitation ging und aus dem die diesem Band vorangestellte Widmung stammt, einmal nannte, soll daher in diesem Band gewürdigt werden. Vor diesem Vorwort ist das zu Hilberts 50. Geburtstag 1912 gezeichnete scherzhafte Ehrendiplom abgebildet, in dem seine Schüler ihn als „David Frauenlob Hilbert“ titulierten und zum „Protektor und Ehrenpräsidenten“ des „Vereins für Frauen Studium“ machten. Auch wenn wir heute zusammenzucken, wenn wir eine Frau sehen, die nur mit einem Badeanzug bekleidet auf dem Rücken der vom Bund Deutscher Frauenvereine herausgegebenen Zeitschrift Die Frau reitet, und wir uns auch nur schwer mit der Namensgebung „Amanda Maßlos“ für die Schatzmeisterin des Vereins für Frauenstudium anfreunden können, so zeigt dieses Ehrendiplom doch eindrücklich, welche herausragende Stellung David Hilbert als Frauenförderer unter den Professoren, ja sogar unter den Mathematikern, von denen sich auch Felix Klein einen entsprechenden Namen gemacht hatte, einnahm. Hilbert war in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme, wie schon sein ausführliches, rein sachliches, hier erstmals vollständig zitiertes Gutachten für Emmy Noether aus dem Jahr 1915 zeigt, in dem er an keiner Stelle erwähnte, dass es sich bei der um die Habilitation nachsuchenden Person um eine Frau handelte. Dieses Gutachten kann zugleich als eine Einführung in Emmy Noethers mathematische Arbeiten gelesen werden und lässt sich zudem auf den im Anhang abgedruckten Lebenslauf zurückbeziehen, den Emmy Noether für ihr 1919 schließlich erfolgreiches Habilitationsgesuch verfasste.

Doch nicht nur durch die ausführlichen Quellenzitate aus der Diskussion um Emmy Noethers Habilitation geht der vorliegende Band über die Veröffentlichung von 1990 hinaus, sondern auch dadurch, dass er Noethers Geschichte in die Geschichte anderer, mit ihr direkt oder indirekt verbundener Frauen einwebt. Insbesondere werden hier die unmittelbaren Vorgängerinnen Emmy Noethers, also die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, kurz vor ihr habilitierten Frauen gewürdigt: Den Anfang machte schon im Dezember 1918 Adele Hartmann in München, dann folgte Margarete Bieber, die am 28. Mai 1919 in Gießen Privatdozentin wurde – beide wurde an nichtpreußischen Universitäten habilitiert –, bis dann am 4. Juni 1919 Emmy Noether als erste Privatdozentin Preußens zugelassen wurde. Ebenfalls noch 1919 habilitiert wurden Agathe Lasch in Hamburg und Paula Hertwig an der Berliner Universität, die damit den Anfang bildeten für eine Reihe von Berliner Privatdozentinnen, die nach dem von Edith Stein erwirkten Erlass vom 21. Februar 1920 die Venia legendi erhielten. Dieser Erlass, der die Verfügung vom 29. Mai 1908, durch den es in Preußen unmöglich gemacht worden war, eine Frau zu habilitieren, endlich auch formal aufhob, geht zurück auf die Ablehnung eines Habilitationsgesuchs Edith Steins durch die Historisch-Philologische Abteilung der Göttinger Philosophischen Fakultät im Oktober 1919. Stein hielt diese Ablehnung, die damit begründet worden war, dass die „Zulassung einer Dame zur Habilitation“ immer noch „Schwierigkeiten“ begegne, für nicht verfassungskonform und beschwerte sich deshalb beim Ministerium, das ihr letztendlich Recht gab.

Bisher nicht bekannt und in der Literatur meines Wissens an keiner Stelle thematisiert ist, dass bei der Ablehnung des Habilitationsgesuchs Edith Steins im Hintergrund die Verärgerung und auch die gekränkte Eitelkeit der Göttinger Geisteswissenschaftler, die sich schon seit Jahren in einem spannungsreichen Dauerkonflikt mit den Mathematikern und Naturwissenschaftlern befanden, eine Rolle spielten. Denn diese fühlten sich in der Diskussion um die Habilitation Emmy Noethers von den Naturwissenschaftlern „majorisiert“ und bestanden deshalb darauf, dass Noethers Habilitation auch unter den inzwischen geänderten politischen Verhältnissen eine Ausnahme bleiben sollte. Ebenfalls gegen Edith Stein sprach in Göttingen, dass sie eine Schülerin Edmund Husserls war. Husserl war der Göttinger Philosophischen Fakultät 1902 durch den mächtigen Ministerialdirektor Friedrich Althoff oktroyiert worden, was zur Folge hatte, dass Husserl von seinen Göttinger Philosophenkollegen nie wirklich akzeptiert worden war.

Aber auch Husserl selbst, der sich bei der im vorigen Band ausführlich dargestellten 1907 vom Preußischen Kultusministerium veranlassten Umfrage zur Habilitation von Frauen in einer sehr langen und auffällig gewundenen Stellungnahme gegen jede Frauenhabilitation ausgesprochen hatte, spielte, wenn auch sicherlich unbeabsichtigt, eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen des Erlasses vom 21. Februar 1920. Denn Husserl, der seit 1916 in Freiburg lehrte, hatte sich von Anfang an geweigert, Edith Stein in Freiburg zu habilitieren und sie stattdessen nach Göttingen – man kann es nicht anders sagen – abgeschoben. Göttingen wiederum lehnte wie gesagt aus einer Mischung von „Rache“ für Emmy Noethers Habilitation und Gegnerschaft gegen Husserl das Habilitationsgesuch Edith Steins ab, begründete dies aber ausschließlich damit, dass sie eine Frau war (der Erlass vom 29. Mai 1908 galt ja formal noch). Nur wegen dieser Ablehnung und der daraus folgenden Beschwerde Edith Steins kam es dann sozusagen in einem beiden natürlich nicht bewussten, aber faktischen Zusammenwirken zwischen Emmy Noether und Edith Stein zur Aufhebung des preußischen Habilitationsverbots für Frauen. Hätte man Edith Stein in Göttingen wie zuvor Emmy Noether noch mit einer Ausnahmegenehmigung habilitiert, hätte das preußische Verbot von Frauenhabilitationen sicher noch länger als bis zum Februar 1920 Bestand gehabt.

Da neuerdings in der wissenschaftlichen Literatur die Meinung aufgetaucht ist, dass es keinerlei Grund gebe, Husserls Verhalten in der Habilitationssache Edith Stein „kritisch“ (im Sinne von negativ) zu beurteilen (Varga 2016, S. 127), nimmt die Auseinandersetzung zwischen Stein und Husserl, der sich nicht nur weigerte, Stein in Freiburg zu habilitieren, sondern ihr, worauf schon Theresa Wobbe (1996, S. 365 ff.) hingewiesen hat, auch schon während ihres Dissertationsvorhabens etliche Steine in den Weg gelegt hatte, in dem hier vorliegenden Band einen relativ breiten Raum ein. Husserl, der, wie er später einer anderen seiner wenigen Schülerinnen gestand, der Meinung war, dass die Aufgabe der Frau im Grunde doch das Heim und die Ehe sei, was der Grund dafür sei, dass er Edith Stein nicht habilitiert habe (Walther 1960, S. 216), nimmt dabei in gewisser Weise die Rolle eines „Gegenspielers“ oder „Gegencharakters“ zu Hilbert ein, wenn diese Bezeichnungen aus der Welt der Literatur und des Theaters hier einmal erlaubt seien – dies jedoch nicht im Sinne eines persönlichen Dissenses, denn Hilbert hatte Husserl im Gegensatz zu dessen Philosophiekollegen immer unterstützt, oder gar weil es zu einer persönlichen Auseinandersetzung in der Habilitationsfrage gekommen war, sondern einfach durch die Art und Weise, wie Hilbert Emmy Noether förderte und unterstützte, und Husserl Edith Stein nicht nur nicht förderte, sondern sie als seine Schülerin sogar verleugnete, wie man nicht umhin kommt zu konstatieren.

So bildete die gläserne Decke, an die Frauen in ihrer akademischen Laufbahn früher oder später stießen, für Edith Stein, die von dem von ihr erwirkten Erlass vom 21. Februar 1920 selbst nicht profitieren konnte, dank Husserls (Gegen-)Wirken schon die Habilitation. Für die Frauen, die die Hürde der Habilitation überwunden hatten, war diese Decke, die sie nicht durchstoßen konnten, die Berufung auf einen Lehrstuhl. Privatdozentinnen wurden wie Emmy Noether in der Regel nur nicht-beamtete (was bedeutete nicht besoldete) außerordentliche Professorinnen; nur in einigen wenigen Ausnahmefällen wurden sie wie etwa Margarete Bieber, der 1932 ein planmäßiges Extraordinariat zugesprochen wurde, verbeamtet. Ein Ordinariat erhielt keine von ihnen: Die Philosophische Fakultät Gießen hatte in die Genehmigung für Margarete Biebers Habilitation sogar ausdrücklich den Vorbehalt eingebaut, dass diese Genehmigung nicht automatisch bedeute, dass Frauen auch für die Übernahme eines Lehrstuhls geeignet seien.

Dennoch gab es zwei Frauen, die in den Zwanziger Jahren einen Lehrstuhl bekleideten: Margarete Wrangel an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim, also nicht an einer Universität, und Mathilde Vaerting an der Universität Jena. Obwohl mit ihrer Habilitation in Berlin gescheitert, erhielt Vaerting dennoch von dem sozialdemokratischen thüringischen Kultusminister, der eine umfassende Unterrichtsreform anstrebte und sich von Vaerting entsprechende Anregungen erhoffte, gegen den erbitterten Widerstand ihrer künftigen Professorenkollegen einen ordentlichen Lehrstuhl in Jena.

Vaertings Habilitationsgesuch stellt neben dem Edith Steins einen der wenigen gescheiterten Habilitationsversuche dar, die aktenkundig geworden sind und deshalb die Gründe für deren Scheitern zumindest durchscheinen lassen. So begegnet uns in dem Habilitationsverfahren Vaerting mit dem Philosophen Benno Erdmann ein Protagonist der in Band 1 der hier vorgelegten Noetherbiografie detailliert geschilderten Auseinandersetzungen um die Habilitation von Frauen in den Jahren 1906 und 1907 wieder. Erdmann hatte sich seinerzeit positiv von vielen seiner Amtskollegen abgehoben, indem er das Habilitationsgesuch Maria von Lindens vorbehaltlos unterstützte, nun aber setzte er dem linken und zugebenermaßen teilweise aggressiven Feminismus Mathilde Vaertings ein deutliches Nein entgegen. Sozusagen als Ausgleich wird Mathilde Vaerting in diesem Band über die Habilitation Emmy Noethers „die Ehre“ zuteil, das Schlusswort sprechen zu dürfen.

Neben Husserl und Erdmann gibt es weitere vielfältige personelle (außer Klein und Hilbert seien hier beispielsweise Carl Runge, Woldemar Voigt und Max Lehmann genannt), aber auch inhaltliche Kontinuitäten zwischen Band 1 und Band 2. So nahm man, was bisher völlig unbekannt war, im Ministerium in der Diskussion über Edith Steins Beschwerde wegen der Ablehnung ihres Göttinger Habilitationsgesuches direkten Bezug auf die 1847 geführte, in Band 1 ausführlich dargestellte Debatte über die Habilitation von Juden, was sich in diesem Fall positiv für die Frauen auswirkte. Ebenfalls positiv für die Frauen und speziell für Emmy Noether war, dass spätestens seit Anfang 1916 Ludwig Elster, der Universitätsreferent, der die Verfügung vom 29. Mai 1908 mit dem Verbot jeder Frauenhabilitation zu verantworten hatte, aus dem Kultusministerium verschwunden war. Die Gründe dafür lagen bisher im Dunkeln. Doch gibt es im Hessischen Staatsarchiv einen Vorgang, der beweist, dass Elster wegen sexueller Übergriffe gegenüber der Ehefrau eines aus Australien stammenden Lektors der Berliner Universität vom langjährigen Kultusminister August von Trott zu Solz zum Rücktritt gezwungen worden war. Dieser Vorgang, der mir erst nach Abschluss der ersten Auflage dieses hier vorgelegten Bandes durch Benigna von Krusenstjern, von der eine Maßstäbe setzende Biografie des Widerstandskämpfers und Sohnes des genannten Kultusministers Adam von Trott zu Solz stammt, zur Kenntnis gekommen ist, wird in dieser zweiten Auflage erstmals öffentlich gemacht. Er verfestigt nicht nur das schon in Band 1 geschilderte Bild Elsters, der sich in vieler Hinsicht als charakterlich mehr als zweifelhaft zeigte, sondern auch das von einem unbeirrbaren bürgerlich-konservativem Ehrgefühl getragene Verhalten nicht nur des Kultusminister, sondern auch des damaligen Berliner Rektors Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf und des Anglistikprofessors Alois Brandl, der Elsters Übergriffe dem Rektor in einem dreiseitigen Brief ausführlich geschildert hatte. Dies bedeutet, dass aufrechtes Denken und Verhalten, das sich von der im Krieg herrschenden propagandistisch aufgeheizten antienglischen Stimmung nicht beeinflussen ließ, häufiger als zu erwarten auch in Universitätskreisen und zumindest an dessen Spitze auch im Kultusministerium anzutreffen war.

In Göttingen war herausragender Protagonist dieser Unabhängigkeit in Denken und Verhalten auch im engeren politischen Sinne David Hilbert, was ihm insbesondere zu Beginn des Krieges manche Unannehmlichkeiten einbrachte. Diese konnten zwar von seinem damals als Rektor amtierenden Freund Carl Runge aufgefangen werden, machen aber dennoch deutlich, dass selbst Hilbert, was sich auch in der 1915 geführten Diskussion über Emmy Noethers Habilitation zeigte, nicht unangreifbar war. Die von Edith Stein verfassten Lebenserinnerungen und ihre umfangreiche Korrespondenz, aus der wir in diesem Band im Kontext ihrer Auseinandersetzungen mit Husserl ausführlich zitieren, vermitteln über das in den Akten und im Nachlass Hilberts Dokumentierte hinaus ein anschauliches Bild sowohl von der argwöhnisch aufgeheizten Atmosphäre der ersten Kriegsjahre, als Stein in Göttingen studierte, als auch von den Diskussionen speziell über die Stellung der Frau in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in die ja auch Emmy Noethers letztes und erfolgreiches Habilitationsgesuch fiel. Sie bilden sozusagen das „Untergrundrauschen“ auch zu Noethers Habilitationsversuchen und rechtfertigen damit die ausführlichen Zitate aus Steins Schriften und Briefen.

Die enge Verbindung, die zwischen den Bänden 1 und 2 besteht, wird schon durch die Tatsache deutlich, dass beide mit dem gleichen Zitat beginnen, nämlich mit dem Antrag der Mathematiker auf Habilitation Emmy Noethers vom 26. November 1915, wobei Band 1 durch die Einbeziehung aller preußischen Universitäten und die Ausweitung des Themas auf die Auseinandersetzungen über die Habilitation von Juden mehr ist als die bloße Vorgeschichte zu Band 2, und Band 2 wiederum trotz vieler existierender personeller und inhaltlicher Verbindungen zu Band 1 auch eigenständig gelesen werden kann. Das gilt auch für Band 3, der seinem Thema entsprechend ebenfalls vielfältige personelle und inhaltliche Überschneidungen vor allem zu Band 2 aufweist.

Das Foto Emmy Noethers, das am Ende des ersten Bandes stand und dort als Vorankündigung wirken sollte, eröffnet hier den zweiten Band meiner Noetherbiografie. Auf eine ohne Kenntnis des Fundortes und der (wahrscheinlichen) Datierung nicht sofort ersichtliche Weise symbolisiert dieses Foto die enge Verbindung zwischen Hilbert und Noether. Denn dieses Foto, das mit großer Wahrscheinlichkeit noch in Erlangen aufgenommen wurde (denn in ihren Göttinger Anfangsjahren wird Emmy Noether kaum zum Fotografen gegangen sein), stammt aus einem Album, das David Hilbert zu seinem 60. Geburtstag am 23. Januar 1922 geschenkt bekam und das Portraits aller seiner Schüler und Wissenschaftlerfreunde enthält. Emmy Noether, deren am 13. Dezember 1921 kurz zuvor verstorbener Vater Max Noether darin ebenso vertreten war wie ihr Erlanger Lehrer und Freund Ernst Fischer, hatte für diesen Zweck ein, wie ich finde, bemerkenswertes Foto ausgewählt: Denn dieses Foto mit dem weißen Spitzenkragen wirkt im Gegensatz zu anderen von ihr überlieferten Aufnahmen sehr brav und fast schülerhaft, obwohl Emmy Noether Anfang 1922 schon fast 40 Jahre alt war. Auch wenn Altersschätzungen immer problematisch sind, wirkt sie auf diesem Foto jedoch deutlich jünger, so dass ich vermute, dass es kurz vor ihrer Ankunft 1915 in Göttingen gemacht worden sein könnte. Dafür spricht auch, dass fast alle Fotos in dem Album nicht um 1921/22 entstanden sind, sondern – wie es damals üblich war – aus den zumeist schon Jahre zuvor aufgenommenen, auch teilweise andernorts bereits veröffentlichten Aufnahmen aus dem Besitz der jeweils Portraitierten stammten. So kann dieses Foto auch als Reminiszenz an Emmy Noethers Göttinger Anfänge und den gemeinsam mit Hilbert ausgefochtenen Kampf um ihre Habilitation gesehen werden.

Emmy Noether um 1915 (NStuUB Gö Cod. Ms Hilbert 754, digital bearbeiteter Ausschnitt)

1. Der Antrag auf Habilitation Emmy Noethers

Am 26. November 1915 stellte die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen beim preußischen Minister der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten einen Antrag auf Habilitation für Emmy Noether, der hier in voller Länge wiedergegeben werden soll:

Eure Exzellenz

bittet die mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung der philosophischen Fakultät der Göttinger Universität ehrerbietigst, ihr im Falle des Habilitationsgesuches von Fräulein Dr. Emmy Noether (für Mathematik) Dispens von dem Erlass des 29. Mai 1908 gewähren zu wollen, nach welchem die Habilitation von Frauen unzulässig ist.

Zur Zeit dieses Erlasses war die Immatrikulation von Frauen noch nicht gestattet; sie erfolgte bald darauf. Wir glauben aber die Rechtslage doch so auffassen zu müssen, dass die Habilitation von Frauen ohne generelle oder spezielle Erlaubnis Eurer Exzellenz auch heute noch unzulässig ist.

Unser Antrag zielt auch nicht dahin, um Aufhebung des Erlasses vorstellig zu werden; sondern wir bitten nur um Dispens für den vorliegenden einzigartig liegenden Fall.

Vor allem bemerken wir, dass Fräulein Dr. Noether ihr Gesuch – welches mit allen Anlagen beiliegt – nicht aus eigener Initiative gestellt hat, sondern dazu von den Fachvertretern – die ihr natürlich keinerlei Zusagen machen konnten – ermuntert wurde, nachdem ein Vortrag in der mathematischen Gesellschaft uns auch in pädagogischer Hinsicht wohlgelungen erschien. Alsdann wurde ihre wissenschaftliche Qualifikation von einer Kommission auf Grund der eingereichten Arbeiten und der persönlichen Kenntnis einiger von uns geprüft. Des weiteren beschloss die Abteilung in ihrer Sitzung vom 6. XI. [19]15, an E[ure] Exzellenz die obige Bitte zu richten. Diese Sitzung war von 19 der 21 in Göttingen befindlichen Abteilungsmitglieder besucht. Der genannte Beschluss wurde mit 10 gegen 7 Stimmen (bei 2 Stimmenthaltungen) gefasst; alle vier Fachvertreter und alle drei Vertreter der Nachbarfächer angewandte Mathematik und Physik gehörten zur Mehrheit. Von den beiden fehlenden Mitgliedern hätten nach ihren Erklärungen einer mit ja, einer mit nein gestimmt.

Der Widerspruch der Minorität beruht lediglich auf der prinzipiellen Abneigung gegen die Zulassung einer Frau. Niemand widersprach dem Votum der Fachvertreter: die Leistungen von Fräulein Noether stehen über dem Durchschnitt des Niveaus der bisher in Göttingen zugelassenen Privatdozenten der Mathematik. Wir wissen, dass sie keinem der aus dem Felde zurückkehrenden Dozenten noch künftigen Privatdozenten der Mathematik Platz wegnimmt. Wir haben keinen numerus clausus und empfanden noch vor dem Kriege das Bedürfnis nach mehreren neuen Dozenten unseres Faches, ohne bei unseren strengen Anforderungen auch nur einen finden zu können. Die Zulassung von Fräulein Noether würde nur einen Teil des vorhandenen Bedürfnisses ausfüllen, und es erscheint uns ganz unwahrscheinlich, dass wir in absehbarer Zeit eine weitere Frau zulassen möchten. Sind wir doch der Meinung, dass ein weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise in der Mathematik schöpferisch tätig sein kann, geschweige denn Fräulein Noethers Leistungen aufweisen.

Gerade ihre besondere, dem theoretischen Teil unserer Wissenschaft zugewandte Richtung erscheint uns als Stütze unserer Bitte. Sie arbeitet z. B. in dem wichtigen, zu Unrecht in den letzten Dezennien vernachlässigten Gebiete der Invariantentheorie, das erst durch sie unserem Lehrplan wieder eingefügt werden könnte und in dem auch manche unserer mathematischen und physikalischen Kollegen von ihr Belehrung schöpfen würden.

Wir rollen absichtlich nicht die allgemeine und unbestimmte Frage auf, wie nach dem Kriege sich der Wirkungsbereich der beiden Geschlechter abgrenzen solle. Aber wir heben hervor, dass gerade die Rücksicht auf die durch den Krieg bewirkte Neubewertung der Wissenschaften uns zwingt, alles zu tun, um neben den praktischen auch die theoretischen Fächer zu fördern, ohne welche eine Verflachung auf die Dauer unvermeidlich wäre. Es erscheint uns daher als eine wichtige voraussehende Maßnahme, sich besondere Begabungen zu sichern und zwar noch während des Krieges.

Sehr wesentlich bei unserer Bitte um Erlaubnis dieses ersten Versuches einer Frauenhabilitation ist auch der persönliche Eindruck. Es scheint uns bei Frl. Noether alles ausgeschlossen, was bei einzelnen Vertreterinnen wissenschaftlicher Tendenzen in unliebsamer Weise hervorgetreten ist. Sie ist in einem Gelehrtenhause aufgewachsen und wird eine eifrige und stille Arbeiterin auf dem Felde ihres Berufes sein.

Unterzeichnet war das Gesuch von dem Mathematiker Edmund Landau (1877-1938), der 1915 Vorsteher der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät war.1

Ganz offensichtlich versuchte man in diesem sorgfältig formulierten Antrag sowohl die während der Diskussionen in Abteilung und Fakultät vorgebrachten Einwände gegen Emmy Noethers Habilitation zu entkräften (von denen im Einzelnen noch die Rede sein wird) als auch um jeden Preis den Eindruck zu vermeiden, dass man etwa den im Erlass vom 29. Mai 1908 festgelegten prinzipiellen Ausschluss von Frauen von der Habilitation in Frage stelle.2 Der letzte Satz sollte zudem Befürchtungen zerstreuen, dass Emmy Noether etwa emanzipatorische Gedanken hege oder gar Verhaltensweisen zeige, wie man sie insbesondere den russischen Gasthörerinnen zugeschrieben hatte, die seit den 1890er Jahren an die deutschen Universitäten geströmt waren. Diese stellten, bis sie durch die Zulassung von (deutschen) Frauen zum regulären Studium verdrängt wurden, die größte Gruppe unter den an deutschen Universitäten hospitierenden Frauen und galten – wegen der radikalen Russinnen, die in den 1870er Jahren das Frauenstudium an der Universität Zürich etabliert hatten – per se als radikale Feministinnen oder Sozialistinnen.3 Ohne direkt auf diese zu rekurrieren, wollte man also im Fall Emmy Noethers alles verhindern, was die bei vielen Professoren durchaus noch lebendigen Erinnerungen an diese frühen ausländischen (und im Übrigen zumeist jüdischen) Studentinnen hervorrufen könnte.

Als ein zurückhaltendes, nur ihren mathematischen Studien verschriebenes, auf keinen Fall emanzipationssüchtiges weibliches Wesen hatte auch schon Karl Weierstraß (1815-1897) seine Schülerin Sofja Kowalewskaja (1850-1891) angepriesen, als er seine Göttinger Kollegen zu überreden versuchte, diese zu promovieren, was schließlich auch gelang. Und auch Weierstraß hatte damals darauf hingewiesen, dass er ein Gegner der Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium sei und nur in diesem einen Ausnahmefall für die Promotion einer Frau plädiere.4

Nun waren zum Zeitpunkt von Emmy Noethers Habilitationsversuch Frauen inzwischen als reguläre Studentinnen zugelassen, doch noch immer waren sie aufgrund des Erlasses vom 29. Mai 1908, der ihnen die akademische Laufbahn verwehrte, keine vollwertigen akademischen Bürgerinnen.5 Die Fakultät musste nun alles vermeiden, was den Eindruck erwecken konnte, dass man dies ändern wollte: „Unser Antrag zielt auch nicht dahin, um Aufhebung des Erlasses vorstellig zu werden; sondern wir bitten nur um Dispens für den vorliegenden einzigartig liegenden Fall.“

Trotz dieses deutlich defensiven Charakters des Habilitationsantrags für Emmy Noether waren sich seine Befürworter offensichtlich relativ sicher, dass dieser erfolgreich sein würde. Denn anders ist nicht zu erklären, dass man nicht – wie dies andere Universitäten in vergleichbaren Fällen taten – erst eine vorsichtige Voranfrage beim Ministerium stellte,6 sondern gleich das gesamte vorgeschriebene Verfahren (bis auf die Habilitation selbst) mit Gutachten und Gegengutachten absolvierte, wobei unter den insgesamt 19 Anlagen zum Habilitationsantrag Emmy Noethers nicht nur der Nachweis über die bereits gezahlten Gebühren von immerhin 100 Mark war,7 sondern auch schon drei mögliche Themata für den öffentlichen Probevortrag genannt wurden. Die Anlagen sind in den Göttinger Akten leider nicht vorhanden, aber es existiert eine Liste derselben.8

Demnach lagen – von mir chronologisch sortiert, kommentiert und um die Titel der hier nur summarisch genannten wissenschaftlichen Arbeiten Emmy Noethers ergänzt – dem Antrag bei:

- ein Lebenslauf (leider nicht vorhanden);

- ein Leumundszeugnis;

- zwei Lehrerinnenprüfungszeugnisse – Emmy Noether hatte Ostern 1900 die Sprachlehrerinnenprüfung abgelegt und so die Berechtigung erworben als Gasthörerin an der Universität Erlangen zugelassen zu werden; in den folgenden Semestern bereitete sie sich auf das Abitur vor;9

- das „Absolutorium“ – Emmy Noether hatte am 14. Juli 1903 als Externe am Königlichen Realgymnasium in Nürnberg die Abiturprüfung abgelegt;10

- die Genehmigung zum Belegen von Vorlesungen im WS 1903/04 - Emmy Noether hatte nach dem Abitur ein Semester als Gasthörerin in Göttingen studiert, bevor sie wegen einer Erkrankung nach Erlangen zurückkehren musste; dort setzte sie dann ab dem Wintersemester 1904/05 ihr Studium fort;

- das Doktordiplom – Emmy Noether war am 7. Dezember 1907 in Erlangen von Paul Gordan (1837-1912) „summa cum laude“ promoviert worden;11

- ihre Dissertation:

Über die Bildung des Formensystems der ternären biquadratischen Form, Dissertation 1907, Druck Reimer Berlin 1908; auch in: Journal für die reine und angewandte Mathematik 134 (1908), S. 23-90 mit zwei Tafeln;

- 5 weitere im Druck erschienene Arbeiten:

Zur Invariantentheorie der Formen von n Variabeln, in: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 19 (1910), S. 101-104 (Vortrag auf der Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte / Deutsche MathematikerVereinigung 1909 in Salzburg);

Zur Invariantentheorie der Formen von n Variabeln, in: Journal für die reine und angewandte Mathematik 139 (1911), S. 118-154;

Rationale Funktionenkörper, in: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 22 (1913), S. 316-319 (Vortrag auf der Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte / Deutsche Mathematiker-Vereinigung 1913 in Wien);

Der Endlichkeitssatz der Invarianten endlicher Gruppen, in: Mathematische Annalen 77 (1916), S. 89-92 (abgeschlossen im Mai 1915);

Über ganze rationale Darstellung der Invarianten eines Systems von beliebig vielen Grundformen, in: Mathematische Annalen 77 (1916), S. 93-102 (abgeschlossen am 5. Januar 1915);

- die Habilitationsschrift:

Körper und Systeme rationaler Funktionen, in: Mathematische Annalen 76 (1915), S.161-191 (abgeschlossen im Mai 1914);

- die Korrekturbögen einer weiteren Arbeit:

Die allgemeinsten Bereiche aus ganzen transzendenten Zahlen, in: Mathematische Annalen 77 (1916), S. 103-128 (abgeschlossen am 30. März 1915);

- Nachweis über Gebühreneinzahlung;

- drei Themata für öffentliche Probevorlesung (leider nicht genannt).

Diese Liste lässt sich schon als eine Art Kurzlebenslauf Emmy Noethers lesen, wobei für uns die Zeit unmittelbar vor dem Habilitationsversuch von besonderem Interesse ist: Wie war es überhaupt zu diesem Habilitationsversuch gekommen, was geschah zwischen Emmy Noethers Promotion im Dezember 1907 und ihrem Göttinger Antrag auf Habilitation im Juli 1915?

1 Schreiben der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen an den preußischen Minister der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten (künftig einfach Kultusminister bzw. Kultusministerium) vom 26.11.1915, Universitätsarchiv Göttingen (UniA GÖ), Kur., 4134 „Frauenpromotionen pp.“, 1887 ff., o. P.; auch vorhanden in: UniA GÖ, Math.-Nat. Pers., in 17: Personalakte Prof. Noether, 1915-1928, o. P., und in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK), I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 1, Tit. VIII, Nr. 8, Adh. III, Bl. 146 f. Die Göttinger Philosophische Fakultät war 1910 in eine Mathematisch-Naturwissenschaftliche und eine Historisch-Philologische Abteilung geteilt worden.

2 Siehe zur Entstehungsgeschichte des Erlasses ausführlich Cordula Tollmien, Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten 1/2021: „Kann eine Frau Privatdozentin werden?“ – die Umfrage des preußischen Kultusministeriums zur Habilitation von Frauen 1907, tredition Hamburg 2021.

3 Siehe dazu Tollmien 1/2021, S. 194-197; Monika Bankowski-Züllig, Zürich – das russische Mekka, in: Ebenso neu als kühn, 120 Jahre Frauenstudium an der Universität Zürich, hg. vom Verein Feministische Wissenschaft Schweiz, eFeF-Verlag Zürich 1988, S. 127-146, hier S. 127 f.

4 Siehe Cordula Tollmien, Zwei erste Promotionen: die Mathematikerin Sofja Kowalewskaja und die Chemikerin Julia Lermontowa, mit Dokumentation der Promotionsunterlagen, in: „Aller Männerkultur zum Trotz“ – Frauen in Mathematik und Naturwissenschaften, hg. von Renate Tobies, Campus Frankfurt New York 1997, S. 83-130, hier S. 97 f., und Dies. Fürstin der Wissenschaft. Die Lebensgeschichte der Sofja Kowalewskaja, Beltz & Gelberg Weinheim 1995, S. 85.

5 In Tollmien 1/2021, S. 94 und S. 245, wird ausgeführt, warum es – wie viele der Zeitgenossen, aber auch die meisten HistorikerInnen glaubten – keinesfalls die falsche Reihenfolge war, dass der Erlass vom 29.5.1908, der Frauen die Habilitation verwehrte, vor deren Zulassung als reguläre Studentinnen am 18.8.1908 erfolgte.

6 So im September 1917 der Leiter der Psychiatrischen und Nervenklinik Königsberg Ernst Meyer (1871-1931) für seine Schülerin Frieda Reichmann (1889-1957), später Frieda Fromm-Reichmann, GStAPK I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 1, Tit. VIII, Nr. 8, Adh. III, Bl. 148. Siehe dazu unten Kapitel 4 S. 169 ff., und zur Person Frieda Reichmann Tollmien 1/2021, S. 263 f. und die dortigen Literaturangaben.

7 Emmy Noether überwies die Gebühren am 20.7.1915, also direkt mit ihrem Antrag auf Habilitation. UniA GÖ Phil. Fak. 315: „Kontoführung beim Bankverein Göttingen“ 1915-1916, o. P.

8 Anlagenliste zum Gesuch vom 26.11.1915, UniA GÖ Kur., 4134, o. P.

9 Siehe dazu Cordula Tollmien, „Das mathematische Pensum hat sie sich durch Privatunterricht angeeignet“ – Emmy Noethers zielstrebiger Weg an die Universität, in: Mathematik und Gender 5, Tagungsband zur Doppeltagung Frauen in der Mathematikgeschichte + Herbsttreffen Arbeitskreis Frauen und Mathematik, hg. von Andrea Blunck, Renate Motzer, Nicola Ostwald, Franzbecker Verlag für Didaktik in der Reihe ‚Mathematik und Gender‘ des AK Frauen und Mathematik 2016, S. 1-12.

10 Siehe zu Emmy Noethers verschlungenem und steinigem Weg zum Abitur ausführlich Cordula Tollmien, Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten 6/2026: Von der Höheren Töchterschule über die Universität zum Abitur – Emmy Noethers Kindheit und Jugend, tredition Ahrensburg 2026.

11 Siehe dazu Cordula Tollmien, Die Lebens- und Familiengeschichte der Mathematikerin Emmy Noether in Einzelaspekten 5/2025: Hilbert und Gordan – Studium in Göttingen und Erlangen, tredition Ahrensburg 2025.

2. Vorgeschichte

Nach ihrer Promotion arbeitete Emmy Noether über sieben Jahre lang wissenschaftlich und in der Lehre am Mathematischen Institut in Erlangen ohne Anstellung oder Vertrag, das heißt also auch ohne jede Vergütung. Sie unterstützte dabei sowohl ihren Vater als auch die beiden Nachfolger ihres Doktorvaters Paul Gordan, der 1910 emeritiert worden war: zunächst den Hilbertschüler Erhard Schmidt (1876-1959), der nur ein Jahr in Erlangen blieb, und dann Ernst Fischer (1875-1954), ein Schüler des Wiener Mathematikers Franz Mertens (1840-1927), von dem – wie Emmy Noethers Vater Max Noether (1844-1921) in seinem Berufungsvorschlag für Fischer geschrieben hatte – dieser an „die spezifisch-algebraischen Zweige der mathematischen Wissenschaft“ herangeführt worden war.12

Als Emmy Noether 1913 an der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien teilnahm, besuchte sie auch Franz Mertens13 und zollte mit diesem Besuch dem Lehrer des Mannes Respekt, der ihr – wie sie in ihrem Habilitationslebenslauf schrieb – „den entscheidenden Anstoß zu der Beschäftigung mit abstrakter Algebra in arithmetischer Auffassung gab“.14 Und das erste Ergebnis dieses „Anstoßes zu der Beschäftigung mit abstrakter Algebra“ hatte sie denn auch auf dieser Tagung in Wien vorgetragen. „Die folgenden Fragestellungen“, hieß es dementsprechend im ersten Satz ihres Vortrags über „Rationale Funktionenkörper“, mit dem Emmy Noether erstmals mit einer Arbeit an die Öffentlichkeit trat, die aus dem Gebiet stammte, für das sie später berühmt werden sollte, „gehen ursprünglich auf Gespräche mit E[rnst] Fischer zurück.“15

Die Bedeutung dieser Gespräche, die Fischer und Noether oft auch schriftlich weiterführten – obwohl beide in derselben Stadt wohnten, gingen fast täglich Postkarten oder manchmal auch Briefe zwischen ihnen hin und her –, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Was Fischer publiziert, hatte Max Noether in seinem Berufungsvorschlag geschrieben, „ist in hohem Grade anregend, nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die einfache und auffällig klare Darstellung, vorzüglich aller leitenden Gedanken. Schon diese Eigenschaft weist auch auf einen ausgezeichneten Lehrer hin“.16

„Anregend“, „einfache und auffällig klare Darstellung, vorzüglich aller leitender Gedanken“ – das sind Eigenschaften, die auch Emmy Noethers Publikationen auszeichnen, was sie neben der Schulung durch ihren Vater, der ebenfalls ein sehr guter Stilistiker war, wohl auch ihrem „ausgezeichneten Lehrer“ Ernst Fischer verdankte. Dabei war die Beeinflussung wechselseitig befruchtend: In ihrem zur Habilitation 1919 verfassten Lebenslauf beschrieb Emmy Noether, wie eine ihrer Arbeiten, die auf Gedanken von Ernst Fischer aufbaute, diesen seinerseits wieder zu einer eigenen Arbeit angeregt hatte.17

Emmy Noether betreute während ihrer Erlanger Zeit auch schon zwei Doktoranden: Der eine war Hans Falckenberg (1885-1946), ein enger Freund ihres Bruders Fritz Noether (1884-1941), und der andere Fritz Seidelmann (1890-1968), dem sie mit Ratschlägen zur Seite stand, obwohl sie während der Abfassung seiner Arbeit schon in Göttingen war. Beide promovierten nominell bei ihrem Vater, für Hans Falckenberg schrieb Fischer das Gutachten.18

Einladung nach Göttingen

In den Jahren 1913 und 1914 intensivierte Emmy Noether ihren wissenschaftlichen und persönlichen Kontakt sowohl zu Felix Klein (1849-1925) als auch zu David Hilbert (1862-1943). So war sie 1913 für längere Zeit in Göttingen und verfasste in dieser Zeit zusammen mit ihrem Vater und Klein einen Nachruf auf ihren 1912 verstorbenen Doktorvater Paul Gordan.19 Klein, der Emmy Noethers wissenschaftlichen Bestrebungen nach eigener Aussage ursprünglich eher skeptisch gegenüber gestanden hatte, überzeugte diese gemeinsame Arbeit so nachdrücklich von ihren mathematischen Fähigkeiten, dass er darauf sogar in seinem Habilitationsgutachten Bezug nahm: „Ich sah zu meiner Überraschung“, so Klein über die Arbeit mit Emmy Noether, „dass sie eines meiner früheren Arbeitsgebiete, die Theorie der Gleichungen fünften Grades, nicht nur vollständig beherrschte, sondern mir darüber noch manche Einzelbemerkungen mitteilen konnte, die mir neu waren und mich sehr befriedigten.“20 Klein und Emmy Noether hatten also während ihrer gemeinsamen Arbeit an dem Nachruf auf Gordan noch Zeit gefunden über Kleins bis heute als klassisch geltende, 1884 erschienene Arbeit über das Ikosaeder zu diskutieren,21 und Emmy Noether bewies, wie später in vergleichbaren Situationen immer wieder, nicht nur, dass sie die Arbeit (natürlich) kannte und verstanden hatte, sondern dass sie auch darüber hinauszugehen in der Lage war.

Felix Klein um 1912 (NStuUB Gö Sammlung Voit 6)

Mit Hilbert korrespondierte Emmy Noether im Mai 1914 von Erlangen aus wegen der Veröffentlichung ihrer aus ihrem Wiener Vortrag hervorgegangenen Arbeit in den Mathematischen Annalen:22

Sehr geehrter Herr Geheimrat!,

schrieb Emmy Noether am 4. Mai 1914 an David Hilbert.

Ich schicke Ihnen gleichzeitig eine Arbeit „Körper und Systeme rationaler Funktionen“ mit der Bitte um Aufnahme in die Annalen.

Über den Inhalt der Arbeit soll die Einleitung orientieren; einen Überblick über Fragestellungen und Resultate habe ich auch in meinem Wiener Vortrag über „rationale Funktionenkörper“ (Nov[ember]-Dezemberheft des Jahrb[e]r[ichts] der Math[ematiker]ver[einigung] 1913)23gegeben.

Die Arbeit knüpft an Kapitel I Ihrer Arbeit „über die vollen Invariantensysteme“ und an das Problem der „relativ ganzen Funktionen“, Problem 14 Ihrermathematischen Probleme, an: Sonst finden sich noch Berührungspunkte mit der „algebraischen Theorie der Körper“ von E[rnst] Steinitz.

Ich habe versucht, die Frage der rationalen Darstellbarkeit der Funktionen eines abstrakt definierten Systems durch eine Basis (Rationalbasis) erschöpfend zu behandeln, und von da aus auch Angriffspunkte zur Behandlung des Endlichkeitsproblems zu gewinnen. Es haben sich so neue Endlichkeitssätze ergeben; bei Voraussetzungen anderer Art als die, die man bis jetzt beherrschen konnte. Allerdings ist mir die Behandlung der „relativ ganzen Funktionen“ nur für eine spezielle Klasse gelungen; hier kann ich dafür aber die Integritätsbasis abstrakt durch den Bereich definieren.

Die in dem Vortrag erwähnten Anwendungen auf die „Konstruktion von Gleichungen mit vorgeschriebener Gruppe“ habe ich fortgelassen, um sie für sich zu veröffentlichen; da sie doch wieder neue Begriffe erfordern.

Mit besten Empfehlungen

Ihre

sehr ergebene

Emmy Noether.24

Emmy Noethers Arbeit, die sie Hilbert mit diesem Brief als Manuskript zuschickte, war also eine direkte Antwort auf beziehungsweise sogar eine Fortsetzung von Hilberts bahnbrechender Veröffentlichung aus dem Jahr 1890, in dem dieser gezeigt hatte, dass sich die aus einer algebraischen Form mit beliebig vielen Variablen entstehenden Kovarianten und Invarianten immer als ganze rationale Funktionen eines endlichen Basissystems solcher Kovarianten darstellen lassen (Hilberts Basissatz).25 Diesen Satz von der Endlichkeit des vollen Invariantensystems hatte Hilbert dann zum Ausgangspunkt seiner 1893 von Emmy Noether in ihrem Brief genannten Veröffentlichung Über die vollen Invariantensysteme gemacht, in der er die Theorie der algebraischen Invarianten der allgemeinen Theorie der algebraischen Funktionenkörper unterordnete, so dass, wie Hilbert in der Einleitung dieser Arbeit selbst schrieb, „die Theorie der Invarianten lediglich als ein besonders bemerkenswertes Beispiel für die Theorie der algebraischen Funktionenkörper mit mehr [sic!] Veränderlichen erscheint.“26

Die beiden hier genannten Arbeiten Hilberts haben das algebraische Denken grundlegend verändert und hatten einen weit über die Invariantentheorie hinausgehenden Einfluss auf die moderne Algebra. Hilberts ebenso geniale wie letztlich einfache Idee, den Invariantenkörper als Spezialfall eines Funktionenkörpers zu betrachten,27 markiert den Beginn einer historischen Entwicklung, aus der später die allgemeine Theorie der abstrakten Körper, Ringe und Moduln hervorgehen sollte, zu der wiederum Emmy Noether Bahnbrechendes beitrug. Und Emmy Noether, die ihre Dissertation noch mit 331 explizit angegebenen Invarianten beendet hatte, zeigte hier, dass sie abgesehen von ihren fundierten Kenntnissen in der klassischen Invariantentheorie Gordanscher Prägung auch mit den Hilbertschen (oder auch Mertenschen28 und Fischerschen) modernen Methoden vertraut war.29

David Hilbert um 1912 (NStuUB Gö Sammlung Voit 4)

Das ebenfalls von Emmy Noether in ihrem Brief genannte Problem 14 aus Hilberts berühmtem Pariser Vortrag aus dem Jahr 1900, in dem dieser in 23 ungelösten mathematischen Problemen die Zukunft der Mathematik umrissen und damit endgültig seinen Weltruhm begründet hatte,30 stellte die Frage nach der Endlichkeit gewisser voller Funktionensysteme oder modern ausgedrückt nach der endlichen Erzeugbarkeit eines speziellen Polynomrings über einem Körper. Mit Blick darauf schloss Hilbert dann später sein Habilitationsgutachten mit dem Satz, dass Emmy Noether mit der ihm hier im Mai 1914 erstmals als Manuskript vorgelegten Arbeit über Körper und Systeme rationaler Funktionen die „Ausführung eines Teiles des großen Programms“ gelungen sei, „das ich seinerzeit hinsichtlich der Endlichkeitsfragen aufgestellt habe“.31

Außerdem wies Emmy Noether in ihrem Brief an Hilbert auch noch auf die Arbeit Ernst Steinitz‘ (1871-1928) über die „Algebraische Theorie der Körper“32 hin, die Emmy Noethers berühmtester Schüler Bartel van der Waerden (1903-1996) später als einen „Wendepunkt in der Geschichte der Algebra des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete, weil es das erste Mal gewesen sei, dass „eine bestimmte Struktur, nämlich die Körperstruktur, ganz allgemein axiomatisch untersucht“ worden sei.33

Emmy Noether zeigte damit schon in diesem frühen Brief, was auch ihre späteren Arbeiten auszeichnen sollte und was Mechthild Koreuber in ihrer Veröffentlichung über die Noetherschule als das Emmy Noethers Arbeiten innewohnende dialogische Prinzip herausgestellt hat.34 Gemeint ist damit nicht nur, dass Emmy Noether ihre Leser gelegentlich direkt ansprach, sondern auch und vor allem, dass sie ihre eigenen Arbeiten immer in einem Kontinuum von Vorgängerarbeiten verankerte und sich mit diesen auseinandersetzte.35 Damit führte sie nicht nur im persönlichen Kontakt oder Briefen, sondern auch in ihren Veröffentlichungen in gewissem Gespräche mit anderen Mathematikern.

In einem zweiten Brief ein paar Monate später führte Emmy Noether das mit Hilbert begonnene Gespräch fort, indem sie – ohne dazu aufgefordert zu sein – ausführliche Anmerkungen zu einer wissenschaftlichen Note Hilberts machte, die dieser eigentlich ihrem Vater zugeschickt hatte. Dabei kündigte sie zugleich auch wieder zwei neue Veröffentlichungen an:

Sehr geehrter Herr Geheimrat!,

schrieb Emmy Noether am 1. Dezember 1914 an David Hilbert.

Sie sprachen in der gestern meinem Vater zugesandten Note „über die Invarianten eines Systems von beliebig vielen Grundformen“ die Vermutung aus, daß diese Invarianten sich ganz und rational durch die endlich vielen Invarianten des Systems (J, PJ) darstellen lassen. Es interessiert Sie deshalb vielleicht, daß vermöge einer Mertens‘schen Erweiterung der Clebsch‘-Gordan‘schen Reihenentwicklung* sich diese Vermutung tatsächlich leicht als zutreffend nachweisen läßt.

* Mertens: Über eine Formel der Determinantentheorie. Formel 5. Wiener Berichte. Math.-nat. Klasse B. 91 Abt. II (1885) – dieselbe Tatsache läßt sich auch aus der Capelli'schen Reihenentwicklung abstrahieren.

Es folgt die mathematische Ableitung der genannten Vermutung (für die Mathematiker unter meinen Lesern und für diejenigen, die einmal eines der wenigen erhalten Originalschreiben Emmy Noethers sehen wollten, auf den folgenden Seiten als Faksimile wiedergegeben – mathematische Ableitung Seite 2 und 3 des Briefes) mit der Folgerung, dass „damit Ihre Vermutung bewiesen“ ist (Seite 3 und 4 des Faksimiles):

Jede ganze rationale Invariante des Grundformensystems (F) von N Formen ist eine ganz rationale Funktion der endlich vielen Invarianten (J, PJ).36

Ich benutze,

fuhr Emmy Noether fort (Seite 4 des Faksimiles),

die Gelegenheit, um ein in den nächsten Wochen zuzuschickendes Manuskript (etwa 10-12 Seiten) „über die allgemeinsten Bereiche aus ganzen transzendenten Zahlen“ anzumelden. Ich zeige darin, welche der Basiseigenschaften des Zermelo'schen Bereichs durch die spezielle Konstruktion bedingt, und welche Folgen der abstrakten Definition sind, um daraus die allgemeinste Konstruktion zu gewinnen.

Die oben vollständig zitierte erste Seite des Briefes Emmy Noethers an David Hilbert vom 1. Dezember 1914 (NStuUB Gö Cod. Ms. Hilbert 284)

Seite 2 des Briefes, den letzten Satz auf Seite 1 fortführend (vor der von Emmy Noether gesetzten Anmerkung) „Diese Erweiterung lautet:“

Seite 3 endet mit dem oben bereits zitierten Satz:„Jede ganze rationale Invariante des Grundformensystems (F) von N Formen ist eine ganz rationale Funktion der endlich vielen Invarianten (J, PJ).“ (Schluss auf Seite 4)

Auf Seite 4 kündigt Emmy Noether ihr neues Manuskript an, dessen Inhalt sie auf den folgenden Seiten skizziert: „Es zeigt sich, daß der Zermolo’sche Bereich frakterisiert ist als Durchschnitt aller zu der gleichen algebraischen Basis gehörenden Bereiche aus algebraisch-ganzen transzendenten Zahlen …“

Seite 4 fortführend umriss sie auf den Seiten 5 und 6 in groben Zügen ihre Ergebnisse, die 1916 wieder in den Mathematischen Annalen erschienen: Emmy Noether, Die allgemeinsten Bereiche aus ganzen transzendenten Zahlen, in: Mathematische Annalen 77 (1916), S. 103-128 (abgeschlossen 30. März 1915)

Seite 6 mit den beiden im Folgenden (S. 40) zitierten Schlusssätzen: „Ich habe diese Resultate schon Ende Oktober…“

Emmy Noether schloss ihren Brief (für den Anfang des Zitats siehe das Faksimile von Seite 6 ihres Briefes auf S. 39):

Ich habe diese Resultate schon Ende Oktober ausführlich Herrn Zermelo mitgeteilt; allerdings keine Antwort erhalten, so daß möglicherweise meine beiden Briefe die Grenzkontrolle nicht passiert haben.

Von meinem Vater soll ich bestens für die beiden zugeschickten Arbeiten danken. Ich hoffe, daß, falls Ihr Sohn im Feld sein sollte, Sie immer gute Nachrichten haben. Mein Bruder [Fritz] steht nördlich Reims und es geht ihm bis jetzt gut.

Mit besten Empfehlungen für Sie und Ihre Frau Gemahlin

Ihre

sehr ergebene

Emmy Noether.37

Ernst Zermelo (1871-1953), der als Begründer der axiomatischen Mengenlehre gilt und wie Emmy Noether stark von Richard Dedekind (1831-1916) beeinflusst war, war seit 1910 Ordinarius an der Universität Zürich, lebte also in der neutralen Schweiz, was – da inzwischen der Erste Weltkrieg ausgebrochen war38 – zu den von Emmy Noether vermuteten Problemen an der Grenze geführt haben könnte. 1904 und erneut 1908 hatte Zermelo den sogenannten Wohlordnungssatz bewiesen, der besagt, dass jede Menge wohlgeordnet sein kann, das heißt, dass in jeder ihrer nicht-leeren Teilmengen ein kleinstes Element existiert. Emmy Noether bezog sich nun auf eine gerade erst im September 1914 erschienene Arbeit Zermelos,39 in der der Wohlordnungssatz ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, und entwickelte eine verallgemeinernde Klassifizierung der von Zermelo in seiner Arbeit untersuchten speziellen Ringe.40

In das mathematische Gespräch, das sich hier in ihrem Brief an Hilbert abbildet, bezog Emmy Noether nicht nur Hilbert und Zermelo, sondern auch (zumindest indirekt) wieder Franz Mertens und natürlich auch Ernst Fischer mit ein, dem sie am 10. April 1915 – zwei Wochen bevor sie nach Göttingen aufbrach – eine Karte schrieb:

Hilbert schreibt daß er weiß, daß man für endliche Gruppen den Endlichkeitssatz elementar beweisen kann; nicht weiß, ob ein solcher Beweis publiziert ist – vermutlich hat er sich selbst den Beweis einmal überlegt. Er hat Toeplitz41beauftragtnach einem gedruckten Beweis zu suchen. – Die Zermelosache hat er übrigens angesehen, da er schreibt daß die Durchsicht ihn sehr interessiert habe. Was hat eigentlich Mertens zu Ihrer Widmung gesagt? E.N.42

Hilbert hatte am 13. Februar 1915 der Göttinger Akademie der Wissenschaften eine Arbeit Ernst Fischers über Die Isomorphie der Invariantenkörper der endlichen Abel’schen Gruppen linearer Transformationen vorgelegt, die dieser Franz Mertens „in größter Verehrung zum 75. Geburtstage“ gewidmet hatte.43 Auf der zweiten Seite dieser Abhandlung findet man dann Sätze, die die wechselseitige Zusammenarbeit zwischen Emmy Noether und Ernst Fischer besonders eindrücklich illustrieren:

Ursprünglich, schrieb Fischer dort, hatte ich bei der Stellung des Problems nur Permutationsgruppen im Auge. Mit dem so spezialisierten Problem hatte sich bereits vor mehreren Jahren auf meine Veranlassung Fräulein E. Noether beschäftigt, und hat insbesondere für den Invariantenkörper der zyklischen Permutationsgruppe durch Rechnung eine aus n Produkten von Lagrange’schen Resolventen bestehende Basis gefunden. Später haben sowohl Frl. Noether als ich den Beweis für dieses Resultat in der Weise geführt, daß die Lagrange’schen Resolventen selbst als neue Variable y1…y n eingeführt werden […].44

Als sich Hilbert sekundiert von Klein schließlich im Frühjahr 1915 entschloss, Emmy Noether nach Göttingen einzuladen und ihr dabei in Aussicht stellte, dass sie sich hier habilitieren könne, wusste er also sowohl durch eigene Anschauung als auch durch Fischers Expertise bezogen auf Emmy Noethers mathematische Fähigkeiten sehr gut, was er tat. Weniger gut wusste er allerdings, was es für ihn und seine ihn unterstützenden Kollegen bedeuten würde, die Habilitation einer Frau in der Fakultät und vor allem im Ministerium durchsetzen zu wollen. Davon wird im Weiteren ausführlich die Rede sein.

Hinter dieser Einladung von Klein und Hilbert an Emmy Noether – das ist vorab festzuhalten – stand kein wie auch immer geartetes Entgegenkommen gegenüber einer begabten Frau, sondern ein durchaus eigennütziges Interesse. Denn in Göttingen fehlte eine Invariantenspezialistin, vor allem fehlte eine Spezialistin, die auch die seit Hilberts Existenzbeweis aus dem Jahr 1890 von den meisten Mathematikern vernachlässigten Methoden beherrschte, wie Gordan sie gepflegt hatte. Emmy Noether hatte zudem in ihren Briefen an Hilbert gezeigt, wie gut sie sich auch in dessen invariantentheoretischen Arbeiten (und denen seiner Kollegen) auskannte und dass sie diese kreativ weiterzuführen verstand. Sie war damit eine der wenigen Mathematiker, wenn nicht sogar die einzige, die ein tiefes Verständnis sowohl für die klassische Invariantentheorie als auch für Hilberts modernen theoretischen Zugang besaß. Dies sollte vor allem für die Beschäftigung mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie von Bedeutung werden, mit der kurz nach Emmy Noethers Ankunft in Göttingen sich sowohl Hilbert als etwas später auch Klein intensiv auseinandersetzen sollten, wobei sie in diese Auseinandersetzung auch Emmy Noether einspannten.45

Ende April 1915 kam Emmy Noether also mit der Aussicht auf Habilitation und die Zusammenarbeit mit einigen der bedeutendsten Mathematiker ihrer Zeit nach Göttingen. Und diese Zusammenarbeit gestaltete sich in der Folgezeit für alle Beteiligten so positiv, dass Emmy Noether (nachdem sie nach dem überraschenden Tode ihrer Mutter zwei Wochen nach ihrer Ankunft zunächst vorübergehend nach Erlangen hatte zurückkehren müssen)46 in Göttingen blieb, bis die Nationalsozialisten sie 1933 zunächst aus ihrer universitären Wirkungsstätte und schließlich ganz aus Deutschland vertrieben. Der inhaltlichen Ausgestaltung dieser einzigartigen Kooperation zwischen Hilbert, Klein, Noether und auch Einstein (1879-1955) ist, wie gesagt, eine gesonderte Veröffentlichung gewidmet.47 In dem hier vorliegenden Band meiner Noetherbiografie konzentriere ich mich ausschließlich auf das Verfahren und die Diskussionen um Emmy Noethers Habilitation und die daraus sich ergebenden Folgerungen für die Habilitation von Frauen allgemein.

Emmy Noether mit ihren Brüdern: links Robert (1889-1928), sitzend Fritz (1884-1941) und rechts Alfred (1883-1918), wahrscheinlich aufgenommen kurz vor Beginn des Krieges und damit ein Jahr, bevor Emmy Noether Erlangen Richtung Göttingen verließ

Das Foto stammt aus der Sammlung Ilse Sponsel, die seinerzeit von Herbert Heisig (1904-1989), dem Assistenten und Freund Fritz Noethers, eine Reihe von Fotos der Noetherfamilie erhalten hatte. Ilse Sponsel (1924-2010) war 1980 von der Stadt Erlangen zur ehrenamtlichen Beauftragten für die jüdischen Bürgerinnen und Bürger ernannt worden und forschte und publizierte in diesem Zusammenhang auch zu Emmy Noether. Dieses und einige andere Fotos überließ sie der Autorin 1991. Inzwischen befinden sich die Fotos von Heisig in der Sammlung des Mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach und die Sammlung Sponsel im Stadtarchiv Erlangen.

Vortrag vor der Göttinger Mathematischen Gesellschaft

Bevor Emmy Noether einen Antrag auf Habilitation stellten konnte, musste sie sich zunächst einmal durch einen Vortrag vor der Göttinger Mathematischen Gesellschaft bewähren. Diese Gesellschaft war im Herbst 1892 von Felix Klein gegründet worden und führte Professoren, Privatdozenten, Assistenten und Doktoranden einmal in der Woche zu Vorträgen mit anschließender Diskussion zusammen.

Klein, der über Jahrzehnte und weit über seine Emeritierung hinaus Spiritus Rector und Motor dieser ohne Statuten und daher auch ohne formellen Vorsitzenden auskommenden Gesellschaft war, hatte damit ein Forum geschaffen, das nicht nur etablierten Mathematikern wie etwa Klein selbst, der regelmäßig aus seinen aktuellen Forschungen vortrug, sondern vor allem auch jüngeren Wissenschaftlern oder auswärtigen Gästen eine Plattform zur Verfügung stellte, auf der sie ihre Ideen vorstellen und im Austausch mit anderen weiterentwickeln konnten.

Klein leitete die Sitzungen, berichtete zu Semesterbeginn über während der Ferien erfolgte wissenschaftliche Aktivitäten und über Veränderungen im Lehrkörper, erfragte mögliche Diskussionsthemen, regte ihn persönlich interessierende Themen an und wies auf die Literatur hin, die er für das 1886, direkt nach seiner Berufung nach Göttingen, von ihm gegründete mathematische Lesezimmer neu hatte anschaffen können. In der Sitzung vom 7. Juli 1908 war dies unter anderem die im Crelle Journal veröffentlichte „Dissertation von Frl. Nöther“ aus Erlangen.48 Am 13. Juli 1915 trug Emmy Noether dann erstmals selbst in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft vor, und zwar über das Thema Endlichkeitsfragen der Invarianten-Theorie.49

Die Göttinger Mathematische Gesellschaft 1902 (NStuUB Gö Cod. Ms. Schwarzschild 23)

Erste Reihe sitzend von links nach rechts: 1) der damalige Privatdozent für theoretische Physik Max Abraham 875-1922); 2) der Kleinschüler Friedrich Schilling (1868-1950); 3) David Hilbert und 4) Felix Klein, als Mittelpunkt der Gesellschaft und mit Blick zu seiner ersten Doktorandin Grace Chisholm Young (1868-1944) am Tisch thronend; 5) der Astronom Karl Schwarzschild (1873-1916); 6) Grace Chisholm Young; 7) Friedrich Diestel (1863-1925), ein Schüler des bereits verstorbenen Göttinger Mathematikers Ernst Schering (1844-1897), 8) Ernst Zermelo, der von 1897 bis 1910 in Göttingen war und dort 1899 von Hilbert habilitiert worden war.

Zweite Reihe stehend von links nach rechts: 1) der im Jahr 1900 von Franz Mertens mit einer Arbeit aus der Zahlentheorie promovierte Ernst Fanta (1878-1939), der ein Gastsemester in Göttingen verbrachte; 2) Rudolf Hansen [Lebensdaten nicht eruierbar], Mathematikstudent, der 1899 und 1901 in Kleins Seminar vortrug;50 3) Conrad Müller [in der hier nicht abgedruckten Bildlegende C. Müller] (1878- 1953), ebenfalls ein Kleinschüler und eifriger Beiträger zu Kleins Seminaren,51