Age of Trinity - Silbernes Schweigen - Nalini Singh - E-Book

Age of Trinity - Silbernes Schweigen E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

AGE OF TRINITY - der Beginn einer neuen Ära

Kontrolle, Präzision und Familie - das sind die drei Pfeiler, auf denen die Mediale Silver Mercant ihr Leben aufgebaut hat. Für Chaos, Emotionen und Leidenschaft ist kein Platz. Aber all das verkörpert Valentin Nikolaev, Alpha der StoneWater-Bären für die kühle Mediale. Und obwohl sie ihm einen Korb nach dem anderen gibt, lässt sich der charismatische Gestaltwandler nicht beeindrucken und flirtet bei jeder Begegnung unverhohlen mit ihr. Doch als ein Anschlag auf Silver verübt wird, bei dem sie fast stirbt, ist Valentin ihre einzige Zuflucht...

"Nalini Singh ist brillant!" USA Today

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Seitenzahl: 712

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Inhalt

TitelZu diesem Buch Die Ära des DreigruppenbündnissesTEIL 112345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940TEIL 24142434445464748495051DanksagungDie Autorin Nalini Singh bei LYXImpressum

NALINISINGH

Age of Trinity

Silbernes Schweigen

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Silver Mercant glaubt fest an Kontrolle, Präzision und Familie. Das sind die drei Pfeiler, auf denen sie ihr Leben aufgebaut hat. Allerdings war sie nicht auf Valentin Nikolaev vorbereitet. Der Alpha der StoneWater-Bären verkörpert alles, was Silver nicht in ihr Leben lassen möchte: Unvorhersehbarkeit, Emotionen und Leidenschaft. Und doch übt er eine ungeahnte Faszination auf die beherrschte Mediale aus. Als es zu einem Anschlag auf ihr Leben kommt, ist es Valentin, der ihr das Leben rettet und sie zu ihrem eigenen Schutz mit in die Höhle der Bären nimmt. Hier entdeckt die kühle Schönheit, dass sie nicht so tief in Silentium verankert ist, wie sie immer glaubte. Silver entwickelt gefährliche Gefühle für Valentin, Gefühle, die sie niemals kannte und doch nicht mehr missen will – und sie entschließt sich, dieser Leidenschaft nachzugeben. Aber damit bringt Silver ihr Leben in Gefahr, denn sie hütet ein Geheimnis, das einzigartig in der Welt der Medialen ist und das es ihr unmöglich macht, ohne Silentium zu existieren. Valentin tut alles, um seine Geliebte zu schützen, auch wenn es bedeutet, dass sein Herz für immer zerbrechen wird.

Die Ära des Dreigruppenbündnisses

Der Oktober des Jahres 2082 läutet einen Neuanfang ein.

Mediale, Menschen und Gestaltwandler, alle drei Gattungen haben sich darauf geeinigt zu kooperieren, um ihre gespaltene Welt zu vereinen.

Das Dreigruppenbündnis ist das fragile Fundament für all ihre Hoffnungen und Träume von einer Zukunft ohne Krieg, ohne Gewalt, ohne verheerende Verluste.

Es ist ein hehres Ziel.

Aber die Vergangenheit lässt sich nicht ablegen und vergessen gleich einem alten Mantel.

Sie ist wie ein fortwährend anhaftender Geruch.

Nach Blut und nach Verrat und eisigem, emotionslosem Silentium.

Zum ersten Mal seit über hundert Jahren streben die mit geistigen Kräften ausgestatteten Medialen danach, Gefühle zu empfinden.

Die impulsiven Gestaltwandler kämpfen gegen ihren natürlichen Instinkt, nur dem Rudel, dem eigenen Clan zu vertrauen.

Die Menschen blicken mit grimmiger Entschlossenheit einer Zukunft entgegen, in der sie nicht länger die schwächste Gattung sind.

Und andere … trachten danach, Chaos, Unfrieden und Tod über die Welt zu bringen.

Willkommen im Zeitalter des Dreigruppenbündnisses.

Teil 1

1

Wer den Mercants angehört, bewegt sich wie ein Schatten – mit Entschlossenheit, Intelligenz und gnadenloser Präzision.

Ena Mercant (circa 2057)

Silver Mercant glaubte an Kontrolle. Sich niemals überrumpeln zu lassen, machte sie so gut wie unangreifbar in allem, was sie tat. Sie war stets auf alles vorbereitet – nur nicht auf den muskelbepackten Hünen, der plötzlich vor ihrer Wohnungstür stand.

»Wie sind Sie ins Haus gelangt?«, fragte sie auf Russisch und baute sich mitten im Eingang auf, damit er nicht vergaß, dass dies ihr Revier war.

Bären hatten die Angewohnheit, ein Hindernis kurzerhand aus dem Weg zu räumen.

Dieses Exemplar zuckte im Türrahmen lehnend die breiten Schultern. »Indem ich nett darum bat«, antwortete es in derselben Sprache.

»Dies ist das sicherste Gebäude im Zentrum Moskaus.« Silver taxierte das Gesicht mit dem markanten Kiefer und einer Haut wie dunklem Honig. Es war keine Sonnenbräune. Valentin Nikolaev wies diesen Teint auch im Winter auf, im Sommer dunkelte er nach. »Und das Wachpersonal«, fuhr sie fort, »besteht aus ehemaligen Soldaten, die das Wort ›nett‹ nicht kennen.« Einer davon war ein Mercant. Und an einem Mercant mogelte sich niemand vorbei.

Mit Ausnahme dieses Mannes. Dies war nicht das erste Mal, dass er auf ihrer Türschwelle im vierunddreißigsten Stock des Gebäudes auftauchte.

»Ich verfüge über einen besonderen Charme«, erklärte Valentin, dessen mächtige Statur das Licht aussperrte. Sein breites Lächeln brachte die vertrauten Grübchen in seinen Wangen zum Vorschein, und sein tintenschwarzes Haar war derart zerzaust, dass sie sich fragte, ob er überhaupt einen Kamm besaß. Gleichzeitig wirkte es seidenweich und bildete damit einen seltsamen Kontrast zu seinen scharf geschnittenen Gesichtszügen.

Valentin ließ keinerlei Anspannung erkennen, sein Körper wirkte völlig entspannt.

Er bemühte sich, harmlos zu wirken, aber sie war kein Dummkopf. Ungeachtet ihrer Kampfausbildung hätte das Alphatier des StoneWater-Clans sie, bildlich gesprochen, wie eine Wanze zerquetschen können. Er war zu stark und muskulös, er konnte nicht ohne Waffe geschlagen werden. Nur gut, dass Silvers messerscharfer Verstand einer solchen gleichkam.

»Aus welchem Grund suchen Sie mich um sieben Uhr morgens auf?«, fragte sie, als feststand, dass er ihr nicht verraten würde, wie er an den Wachen vorbeigekommen war.

Er streckte die Hand aus, in der er einen Datenkristall hielt. »Der Clan hat dem Krisennetz eine Analyse der kleinen Zwischenfälle versprochen, um die wir uns in den vergangenen drei Monaten gekümmert haben.«

Bei diesen »kleinen Zwischenfällen« handelte es sich um Situationen, in denen Mediale, Menschen oder Gestaltwandler ohne Rudelzugehörigkeit in dem von dem StoneWater-Clan kontrollierten Gebiet dessen Hilfe benötigten oder aber andernorts die eines in der Nähe befindlichen Bären. Als Direktorin des unter der Schirmherrschaft des Dreigruppenbündnisses stehenden weltweiten Krisenreaktionsnetzes war es Silvers Aufgabe, sämtliche verfügbaren Reserven zu koordinieren, zu denen in diesem Teil der Welt auch die StoneWater-Bären zählten.

Natürlich hatte sie nicht die Macht, ihnen irgendetwas zu befehlen – ein solcher Versuch gegenüber einem Raubtiergestaltwandler wäre zu kläglichem Scheitern verurteilt. Aber sie konnte sie bitten. Bislang hatten die Bären immer eingewilligt. Der Datenkristall würde ihr verraten, wie viele Clanmitglieder und/oder andere Ressourcen bei den jeweiligen Zwischenfällen erforderlich gewesen waren, und es ihr erleichtern, ihre künftigen Anliegen präziser zu formulieren.

Sie nahm den Kristall, ohne zu fragen, wieso das Alphatier des Clans die Informationen persönlich überbrachte.

Valentin regelte die Dinge gern auf seine Weise.

»Weshalb sieht Selenka tatenlos zu, wie Sie in ihr Revier eindringen?« Die BlackEdge-Wölfe kontrollierten diesen Teil Moskaus, was den Zutritt für Gestaltwandler betraf. Die Stadt war gleichmäßig zwischen dem Wolfsrudel und dem Bärenclan aufgeteilt, ihre jeweiligen Territorien grenzten beidseitig an die zentrale Trennlinie an.

Dieses Wohnhaus befand sich in der Hälfte der BlackEdges.

Valentin lächelte, dabei leuchteten seine tiefdunklen Augen auf eine Weise, die sich nicht beschreiben ließ. »Die Wölfe und die Bären sind jetzt Freunde.«

Wäre Silver zu Gefühlen imstande gewesen, hätte sich in ihrer Miene blanke Ungläubigkeit gespiegelt. Die beiden mächtigsten Rudel in Russland unterhielten eine gut funktionierende Beziehung und lieferten sich keine gewalttätigen Auseinandersetzungen mehr, aber sie waren mitnichten Freunde. »Ich verstehe«, sagte sie, ohne den Blick von den onyxschwarzen Augen abzuwenden.

Manche Raubtiergestaltwandler interpretierten fehlenden Blickkontakt als Unterwürfigkeit, sogar dann, wenn sie es mit Menschen oder Medialen zu tun hatten. Die Bären zählten definitiv dazu. Sie machten daraus auch keinen Hehl. Tatsächlich waren sie die am wenigsten unergründlichen Gestaltwandler, die Silver durch ihre Funktion als Kaleb Krycheks Chefassistentin und Leiterin des Krisennetzes kennengelernt hatte.

»Was sehen Sie, Starlight?«, fragte Valentin mit seiner tiefen Stimme, die von dem Tier in ihm kündete.

Silver ersparte es sich, auf den Namen zu reagieren, bei dem er sie hartnäckig nannte. Als sie ihn einmal darauf hingewiesen hatte, wie unhöflich es sei, nicht ihren richtigen Namen zu benutzen, hatte er gekontert, dass es ihn nicht stören würde, wenn sie ihn ihren medvezhonok, ihren Teddybären, nennen würde. Es war schwierig, ein vernünftiges Gespräch mit jemandem zu führen, den man allem Anschein nach weder beleidigen noch vergraulen konnte.

Bären.

Sie hatte dieses Wort Selenka Durev bei mehr als einer Gelegenheit mit zusammengebissenen Zähnen sagen hören. Obwohl Silvers Konditionierung durch Silentium fehlerlos und sie vollkommen frei von Gefühlen war, konnte sie, seit sie Valentin kannte, die Reaktion der Leitwölfin nachvollziehen. »Danke für die Informationen«, sagte sie zu ihm. »Nächstes Mal könnten Sie eventuell eine Erfindung in Betracht ziehen, die wir in der zivilisierten Welt E-Mail nennen.«

Sein lautes Lachen schallte durch ihre Wohnung, füllte sie bis in den letzten Winkel aus.

Sie wusste nicht warum, aber es durchfuhr sie immer, wenn Valentin in ihrer Nähe lachte. Zahllose Male hatte sie sich schon ins Gedächtnis gerufen, dass sie für den mächtigsten Mann auf dem Planeten arbeitete, wohingegen Valentin nur ein Gestaltwandler-Alphatier war. Leider schienen Alphatiere über ihr ganz eigenes, mächtiges Charisma zu verfügen. Und dieser Anführer der Bären besaß es im Übermaß.

»Haben Sie über mein Angebot nachgedacht?«, fragte er, und noch immer stand ihm das Lachen in den Augen.

»Es bleibt bei meiner Antwort«, entgegnete Silver, während sich gleichzeitig in ihrer Brust ein brennendes Gefühl ausbreitete. »Ich möchte nicht mit Ihnen Eis essen gehen.«

»Es ist wirklich gute Eiscreme.« Valentins Lächeln erstarb, als er sich, eben noch am Türrahmen lehnend, zu voller Größe aufrichtete, was seine Körperkraft auf einschüchternde Weise hervorhob. »Geht es Ihnen gut?«

»Ja, bestens«, behauptete Silver, während sich das Brennen zu einem stechenden Schmerz verstärkte. Etwas stimmte nicht. Sie musste Kontakt zu …

Ihr Gehirn erlitt einen Kurzschluss. Sie war sich bewusst, dass ihr Körper zu zucken begann, sie keuchend um Atem rang und ihre Beine nachgaben, doch ihre telepathischen »Muskeln« wollten ihr nicht gehorchen, sodass sie weder ihre Familie noch Kaleb um eine Notfallteleportation bitten konnte.

Indem er sich weit schneller bewegte, als die meisten es einem Gestaltwandlerbären zugetraut hätten, fing Valentin Silvers zarten, taumelnden Körper auf. Er wusste, dass ihr Schwanken nicht auf die hochhackigen Pumps, die sie bevorzugt trug, zurückzuführen war, weil diese ihr nie Probleme bereiteten. Sie lief so sicher auf ihnen wie er auf seinen »Bigfoot«-Füßen, wie eine seiner drei älteren Schwestern sie nannte.

»Nichts passiert, Starlight«, sagte er, als er sie auf seine Arme hob und ihre Wohnung betrat.

Seit zehn langen Monaten, genauer gesagt, seit seiner ersten Begegnung mit Ms Silver Mercant, war das schon sein Wunsch, jedoch war er keinesfalls darauf gefasst gewesen, dass es einmal dazu käme, weil sie in seinen Armen von einem Krampfanfall geschüttelt wurde. Nachdem er sie auf das dunkelgraue Sofa gebettet hatte, drehte er sie auf die Seite und hielt ihr Kinn fest, um das Zucken ihres Kopfes zu verringern. Wenigstens atmete sie, wenn auch stoßweise.

Dann griff er nach seinem Handy, um Kaleb Krychek anzurufen. Dank seiner extrem starken Kräfte konnte der TK-Mediale ihr viel schneller als jeder Krankenwagen medizinische Hilfe beschaffen. Aber Silvers Krämpfe waren zu stark, als dass er gleichzeitig telefonieren und verhindern konnte, dass sie sich selbst verletzte. Leise fluchend legte er das Handy weg und drückte die Hand auf ihre Hüfte, um sie dort zu halten.

»Das ist nicht die Art, wie ich mir erträumt hatte, Sie zu berühren, moyo solnyshko.« Er sprach mit ihr, um sie wissen zu lassen, dass sie nicht allein war, doch mit jeder verstreichenden Sekunde wurde ihm banger ums Herz. Der Anfall dauerte zu lang.

Valentin beschloss, das Risiko einzugehen. Er ließ ihre Hüfte los, griff nach dem Handy und stellte die Verbindung her. »Silvers Wohnung«, teilte er dem erbarmungslosen Eisklotz mit, für den sie arbeitete. »Ein medizinischer Notfall.«

Als Silver erneut zuckte, ließ er das Telefon fallen. »Halten Sie durch, Starlight!«, sagte er und schlug dabei den unnachgiebigen Befehlston des Alphatiers an, während er gleichzeitig ihren Körper daran zu hindern versuchte, sich schmerzhaft zu verrenken. Wenn Silver auf irgendetwas reagieren würde, dann darauf, dass er es wagte, ihr Kommandos zu erteilen. »Sie sind stärker als das hier.«

Ihre Pupillen waren geweitet, als sie den Blick ihrer prachtvollen silberfarbenen Augen auf ihn richtete, bevor ihr Körper gleich darauf erschlaffte.

Im selben Moment erschien Kaleb im Zimmer, bekleidet mit einem makellosen schwarzen Anzug. »Was ist passiert?«, fragte er mit einer Stimme, die kalt war wie eine Nacht in der russischen Steppe.

»Bringen Sie sie zu einem Arzt«, knurrte Valentin, und obwohl die Stimmbänder seiner menschlichen Hälfte die Laute erzeugten, klang in ihnen der Zorn des Bären mit. »Sagen Sie ihm, es war Gift.«

Kaleb war klug genug, keine Zeit auf weitere Fragen zu verschwenden. Wortlos teleportierte er mit Silver. Valentin biss die Zähne zusammen, weil er sie notgedrungen aus den Augen lassen musste, dann begab er sich in ihre Küche und kramte alles hervor, was nach Nahrung aussah. Was das betraf, hatten Mediale merkwürdige Vorstellungen – Energieriegel und Vitamindrinks. Die einzige Überraschung in Silvers Schrank war eine Tafel feinster dunkler Schokolade.

Er überlegte, ob er womöglich auf ein Geheimnis der faszinierendsten Frau, die er kannte, gestoßen war, eines, das er dazu benutzen könnte, ihre Abwehr zu durchbrechen – nein, was Silver Mercant betraf, kannte er kein Schamgefühl –, als er die Tafel umdrehte und die schmale Karte entdeckte, die daran haftete. Die Worte waren in Englisch abgefasst. Sie lauteten: Danke für Ihre Hilfe, Ms Mercant. Ich hoffe, Sie genießen diese kleine Kostprobe unseres Familienunternehmens. Rico Cavalier.

Der Bär grummelte in seiner Brust.

Dies war die Art von Präsent, die ein Mann einer Frau machte, an der er interessiert war. Allerdings war die Schokolade ganz hinten in Silvers Vorratsschrank gelandet, was vermuten ließ, dass dieser Rico abgeblitzt war.

Gut. Andernfalls müsste ich den Trottel zu Staub zermalmen.

Der Einzige, der um Silver warb, würde Valentin sein.

Nachdem er alles potenziell Essbare zusammengesucht hatte, darunter auch einen fade aussehenden »Kuchen« aus dem Kühlschrank, bei dem es sich vermutlich um ein nährstoff- und eiweißreiches Nahrungsergänzungsmittel handelte, ging er die Sachen durch. Gestaltwandler hatten von allen drei Gattungen den schärfsten Geruchssinn.

Und Bären den schärfsten unter den Gestaltwandlern.

Jetzt, da er den toxischen Geruch aus den Millionen anderen, die stets in der Luft lagen, herausgefiltert hatte, würde ihm nichts mehr entgehen. Dieser spezielle Geruch war von Silver ausgegangen wie ein Warnruf ihres Körpers an seine Sinne, als das Gift aktiv geworden war.

»Hungrig, Anführer Nikolaev?«

Er erschrak nicht, als Krycheks dunkle Stimme erklang, er hatte den zurückgekehrten kardinalen TK-Medialen bereits gewittert. Zum Glück für Valentins Nase verströmte Kaleb nicht diesen stechenden Geruch nach Metall wie manch andere Mediale, jene, die der gefühllosen Herrschaft von Silentium derart ergeben waren, dass nach Valentins Dafürhalten nichts sie davon erlösen konnte.

Es war, als hätte man ihnen Herz und Seele genommen.

Silver war pures Eis, aber auch ihr haftete dieser metallische Geruch nicht an. Das gab ihm Hoffnung. Genau wie dieser Hauch von Feuer, den er immer wieder bei ihr wahrnahm, geheime Sonnenstrahlen, die über seine Haut flirrten. Valentin war entschlossen, Silvers verborgene Wildheit ans Licht zu locken. Wer wäre dafür geeigneter als ein unzivilisierter Bär?

Er sah Krychek ins Gesicht. »Wie geht es ihr?«

Der TK-Mediale hatte die etwas unheimlichen Augen – weiße Sterne auf schwarzem Hintergrund –, die die mächtigsten Vertreter der medialen Gattung kennzeichneten und deren Ausdruck selbst dann schwer zu deuten gewesen wäre, hätte es sich nicht um Kaleb Krychek gehandelt, einen Mann, den Valentin nicht nur für seinen unbedingten Willen, sondern mehr noch für seine überraschende Fähigkeit zur Loyalität respektierte.

Der StoneWater-Clan machte seine Hausaufgaben, was mögliche Geschäftspartner anging. Als die Bären erstmals auf Krychek aufmerksam geworden waren, hatte Valentin, damals noch Zoyas junger Stellvertreter, es übernommen, Erkundigungen über den Kardinalmedialen einzuholen. Dabei hatte er die Entdeckung gemacht, dass, solange man Krychek nicht hinterging, er das ebenfalls nicht tat.

Mit solch einem Mann konnte Valentin zusammenarbeiten.

Besonders da Krychek so clever gewesen war, Silver anzustellen.

»Die Ärzte bemühen sich, sie zu stabilisieren«, antwortete der TK-Mediale tonlos.

Valentins Magen zog sich zusammen.

Mit einem leisen Knurren hielt er Krychek eine kaum angebrochene Büchse Proteinpulver hin. »Das hier hat denselben toxischen Geruch, den ich bei ihr wahrgenommen habe. Lassen Sie es testen, während ich das restliche Zeug prüfe.«

Kaleb teleportierte unverzüglich, offenbar begriff er, dass die M-Medialen die Art des Gifts, das Silver eingenommen hatte, kennen mussten, um sie wirksam zu behandeln. Valentin konnte zwar erkennen, ob etwas toxisch war, doch da er sich nie ausführlich mit diesem Thema befasst hatte, verfügte er nicht über die Fähigkeit, ein Gift anhand seines Geruchs zu identifizieren.

Er bemerkte ein halb volles Glas auf dem Tresen und schloss daraus, dass er Silver beim Frühstück unterbrochen hatte. Er musste das Glas nicht unter seine Nase halten, um die Toxine zu riechen, mit denen die kaffeefarbene Flüssigkeit versetzt war. Wäre er zum fraglichen Zeitpunkt hier gewesen, er hätte ihr das Glas aus der Hand geschlagen, ehe auch nur ein Tropfen ihre Lippen benetzt hätten.

Seine Kiefermuskeln mahlten, als er es Krychek übergab, sobald dieser zurück war. Bis zu dessen dritter Rückkehr hatte Valentin ein zweites Behältnis mit einem kontaminierten Nahrungsergänzungsmittel entdeckt und hielt es ihm hin. »Es war das dritte von vorn, ganz rechts«, erklärte er, denn es konnte durchaus wichtig sein, wo die vergifteten Behälter gestanden hatten. »Die Energieriegel waren in Ordnung.« Er hatte jeden einzelnen ausgepackt, ihn der Luft ausgesetzt und daran gerochen. »Silver wird sauer sein, weil ich ihre Küche in ein Schlachtfeld verwandelt habe.«

Kaleb studierte das Etikett des Behälters, bevor er mit ihm teleportierte. »Das war ein ganz gewöhnlicher Nährstoffmix, den man in jedem medialen Lebensmittelgeschäft bekommt«, teilte er Valentin bei seiner Rückkehr mit.

»Sie denken an Produktmanipulation?«

»Es wäre eine Möglichkeit. Meine Gattung erfreut sich nicht eben allgemeiner Beliebtheit.«

Das war eine gewaltige Untertreibung. Obgleich viele Mediale danach strebten, ihre Gefühle wiederzubeleben, nachdem sie sich mehr als hundert Jahre lang antrainiert hatten, nichts zu empfinden, hatten ihre früheren Machthaber erheblichen Schaden angerichtet, indem sie töteten und folterten und eine tiefe Feindseligkeit zwischen den Gattungen schürten.

Sowohl Menschen als auch Gestaltwandler hatten ein gutes Gedächtnis.

»Die andere Möglichkeit wäre ein Attentatsversuch.« Krycheks Kardinalenaugen betrachteten das Chaos, das Valentin angerichtet hatte. »Ich vertraue auf Ihren Geruchssinn, dennoch werde ich das alles untersuchen lassen.«

Valentin fühlte sich nicht gekränkt. Hier ging es nicht um Stolz. Sondern um Silvers Leben. »Nur zu. Und jetzt sagen Sie mir, wo sie ist.«

Kaleb steckte die Hände in die Hosentaschen. »Sie hat nicht erwähnt, dass Sie beide befreundet sind.«

»Ich arbeite daran.« Das tat er schon seit jenem Tag, als er sich missmutig zu einer Besprechung eingefunden und dort eine Frau angetroffen hatte, die ihn an verborgenes Feuer und kaltes, fernes, gleißend helles Sternenlicht denken ließ. Und, wenn er ehrlich war, an Körperprivilegien. An intime Körperprivilegien. Ungezügelte Leidenschaft. Er konnte nicht in Silvers Nähe sein, ohne dass sein Körper reagierte. So zart ihr eigener auch war, hatte sie trotzdem ansehnliche Kurven. Und sie war stark und kampflustig wie eine Bärin.

Nicht ein einziges Mal war sie vor seinen absichtlichen Provokationen zurückgescheut.

Seinem Bären gefiel das. Sehr sogar.

In einem Ausmaß, dass er sie am liebsten über die Schulter geworfen und in seine Höhle getragen hätte, nur dass sie ihm für diese Dreistigkeit das Gehirn rösten würde. Valentin war verlockt, es dennoch zu riskieren. Er hatte einen harten Schädel und würde es vermutlich verkraften, solange sie ihn nicht zu töten versuchte.

Sie besaß einen solch wachen Verstand, wie er Valentin nie zuvor begegnet war. Silver Mercant vergaß niemals etwas, darüber hinaus umgab sie eine stählerne Aura, die selbst rüpelhafteste Bären dazu brachte, aufrecht zu sitzen und ihr Beachtung zu schenken. Eine Frau wie sie wäre eine wundervolle Gefährtin. Zu schade, dass sie diese Idee noch nicht einmal in Betracht zog. Silver würde keinen Millimeter von ihrem gefühllosen Silentium abrücken.

»Mein Volk hatte seine Gründe, sich für dieses Programm zu entscheiden«, hatte sie ihm bei einem seiner früheren Besuche erklärt. »Und obwohl sie sich in Teilen als dermaßen falsch erwiesen haben, dass viele Mediale sich von Silentium abkehren, haben andere noch immer Bestand. Ich bin und bleibe in Silentium. Und das bedeutet, dass ich nie bereit sein werde, ›wegzulaufen‹ und ›Unfug‹ mit Ihnen zu treiben.«

Egal. Valentin hatte einen Plan.

Denn sie würde verdammt noch mal überleben. »Versuchen Sie erst gar nicht, mich davon abzuhalten, sie zu sehen, Krychek«, warnte er den Kardinalmedialen, der ihm Silvers Aufenthaltsort noch immer nicht preisgegeben hatte. »Ich bin größer und gemeiner als Sie.«

Krychek hob eine Augenbraue. »Größer, das ja. Gemeiner? Lassen wir die Frage mal offen. Doch da sie nur dank Ihrer Hilfe noch am Leben ist, werde ich es Ihnen verraten.« Er nannte Valentin den Namen der Klinik.

Sie war nur einen kurzen Fußmarsch von zehn Minuten entfernt. Normalerweise hätte Valentin sich ohne Zögern auf den Weg gemacht, ohne dass sein Bär beim Erreichen des Krankenhauses auch nur außer Puste gewesen wäre. Er hätte auch einen fahrbaren Untersatz nehmen können, aber die mochte er nicht sonderlich. Sie waren ausnahmslos zu klein für ihn. Doch dies war kein gewöhnlicher Tag. »Könnten Sie mich hinbringen?«

Krychek antwortete nicht, aber kaum eine Sekunde später stand Valentin auf einem kühlen, graublauen Fußboden in einem antiseptischen weißen Flur. Rechts neben den an einer Wand befestigten, dunkelblau gepolsterten Stühlen befand sich eine Tür, in die ein schmales Fenster eingelassen war.

Dahinter lag ein Operationssaal, in dem weiß gekleidete Ärzte und Krankenschwestern mit hochkonzentriertem Einsatz Silver zu stabilisieren versuchten. Valentin konnte sie nicht sehen, doch trotz der scharfen, beißenden Krankenhausgerüche in der Luft fing er Silvers Witterung auf – eisiges Sternenlicht und verborgenes Feuer.

»Ich nahm an, Sie würden sie in eine Privatklinik bringen.« Dieses öffentliche Krankenhaus genoss einen hervorragenden Ruf, aber Silver war extrem wichtig für das fragile Gleichgewicht in ihrer zerrissenen Welt – und Krychek konnte binnen eines Wimpernschlags an jeden Ort teleportieren.

»Die Chefärztin, die sie behandelt, gehört zu den weltweit führenden Spezialisten für Krankheitserreger und Gifte wie auch deren Wirkung auf den Körper von Medialen.«

»Haben Sie diese Information aus dem geistigen Netzwerk heruntergeladen, mit dem Sie alle verbunden sind?«

Krychek nickte.

»Wie überaus praktisch.« Valentin war außerstande, sich ein Leben vorzustellen, in dem das eigene Bewusstsein mit einer unendlichen, von Millionen Fremden bevölkerten Weite verwoben war, aber als Bär, dem sein Clan alles bedeutete, konnte er es dennoch verstehen. »Sie haben sie hier nicht allein gelassen.« Beim ersten Mal war Krychek mit einer leichten Verzögerung in Silvers Wohnung zurückgekehrt, offenbar hatte er sich die Zeit genommen, jemanden zu holen, der ein Auge auf seine Assistentin hatte.

»Nein, das hat er nicht«, bestätigte eine Frau, die sich ein Stück weiter den Flur hinunter gerade ein Glas Wasser geholt hatte. Sie sprach Englisch, und ihr haftete so gut wie überhaupt kein Geruch an. Aber für einen Bären besaß jeder eine Witterung, und tatsächlich war es ihr nicht ganz gelungen, ihre zu neutralisieren. Er nahm einen zarten Seifenduft wahr, ihren natürlichen, unverwechselbaren Körpergeruch, einen Hauch von Rosen.

Er musste nicht erst fragen, wer sie war. Genauso würde Silver in fünfzig Jahren aussehen. Sie hatte schneeweißes Haar, feine Gesichtszüge und die gleichen Augen wie Starlight. Die Frau war eine Mercant, daran bestand kein Zweifel. Und sollten die Gerüchte, die Valentins drittälteste Schwester aufgeschnappt hatte, wahr sein, handelte es sich sehr wahrscheinlich um die Mercant.

Er ließ es darauf ankommen. »Großmutter Mercant«, sagte er in derselben Sprache, die sie benutzt hatte, und neigte als Zeichen des Respekts gegenüber einem anderen Alphatier leicht den Kopf.

Silvers hoheitsvolle Großmutter zeigte keinerlei Überraschung angesichts seiner Begrüßung, offenbar hielt die Matriarchin der Familie Mercant es für selbstverständlich, dass man sie trotz ihrer großen Scheu vor der Öffentlichkeit erkannte. Die weiblichen Mercants waren definitiv hart wie Stahl.

Und mehr als fähig, mit Bären umzugehen.

»Leider bin ich Ihnen gegenüber im Nachteil«, lautete ihre höfliche, wenn auch keineswegs warme Antwort.

»Valentin Nikolaev«, stellte er sich vor. »Anführer des StoneWater-Clans.«

»Er war bei Silver, als sie kollabierte.«

Krycheks Erklärung veranlasste Großmutter Mercant, Valentin fest in die Augen zu sehen. »Falls meine Enkelin überlebt, ist es Ihrem raschen Eingreifen zu verdanken.« Sie richtete den Blick auf den Kardinalmedialen, der die dritte Spitze ihres Dreiecks bildete. »Hat sich das Labor schon gemeldet?«

»Nein«, antwortete Krychek. Dann hielt er kurz inne. »Hier ist der Bericht. Ich leite ihn weiter.«

Valentin sah durch das Sichtfenster, dass eine Ärztin den Kopf hob. Sie nickte knapp in ihre Richtung, um den Erhalt der telepathischen Nachricht zu bestätigen, bevor sie ihrem Team Anweisungen erteilte.

Aus Minuten wurden eine Stunde, dann mehr.

Sie warteten weiter.

Der menschliche Patriot

Er hielt sich nicht für eine schlechte Person. Es bestand keinerlei Ähnlichkeit zwischen ihm und den anderen Mitgliedern des Konsortiums, diesen ichbezogenen Opportunisten. Sie wollten Zwietracht säen und Chaos stiften, weil sie sich davon höhere Profite versprachen. Ihre Gier widerte ihn an, er hatte sich der Gruppe nur deshalb angeschlossen, weil er sie zum Erreichen seiner Ziele benutzen wollte. Ziele, die auf dem Gewissen, der Hoffnung und der Liebe zu seinem Volk gründeten.

Für ihn war das Konsortium ein Instrument, das ihm dabei helfen würde, eine der Gerechtigkeit dienende Revolution in Gang zu setzen. Jawohl, er fällte, wenn nötig, rücksichtslose Entscheidungen, allerdings nur auf geschäftlicher Ebene. Im Leben wie in der Politik folgte er der Überzeugung seines Herzens, und diese besagte, dass durch das Dreigruppenbündnis alles zerstört würde, was ihm kostbar war.

Seine geliebten Kinder, seine vollkommene, wunderschöne Frau, sie alle würden zugrunde gerichtet durch diese »Proto-Föderation«, die als Kraft für Einheit angepriesen wurde. Mediale, Menschen und Gestaltwandler – alle drei Gattungen wären dann ebenbürtig, alle hätten ein Mitspracherecht bei der Ausrichtung der Welt.

»Schwachsinn.«

Er ballte die Faust auf dem antiken Kirschholzschreibtisch, in dessen Oberfläche feine Goldintarsien und Halbedelsteine eingelassen waren. Es war ein Statussymbol, dessen Wert das Jahreseinkommen des Durchschnittsverdieners um ein Hundertfaches überstieg und das ihn täglich daran erinnerte, was er durch Intelligenz, Entschlossenheit … sowie einen genetisch bedingten Glücksfall erreicht hatte.

Ohne die natürlichen Schilde, die seinen Geist schützten, wäre er schon vor Langem ein weiteres Opfer medialer Arroganz geworden, ein weiterer Mensch, dessen Geist von diesen gefühl- und seelenlosen Bastarden geschändet und verletzt wurde, dem man seine Ideen und seine Freiheit stahl.

Sein Blick glitt zu dem Foto seiner Frau auf dem Schreibtisch. Dieses Leuchten in ihren Augen. Das war davor gewesen. Zwar lachte und liebte sie noch immer, aber sie war seit dem grauenvollen Tag, an dem sie etwas erfunden hatte, das die Begehrlichkeit eines Medialen weckte, nie wieder so wie zuvor gewesen. Dieses Ungeheuer war in ihren Geist eingedrungen, bevor der Mann, der sie aus tiefstem Herzen liebte, einen Weg gefunden hatte, sie zu schützen.

Sie erschuf nichts mehr, weil sie wusste, dass es ihr jederzeit weggenommen werden konnte.

Und jetzt sollten sie glauben, dass die Medialen ein neues Kapitel aufschlagen wollten und die Unantastbarkeit des menschlichen Bewusstseins plötzlich respektierten?

Er legte den Füller weg, den er zur Hand genommen hatte, um einen Vertrag zu unterzeichnen, stand auf und trat hinaus auf den Balkon vor seinem Arbeitszimmer, betrachtete das Schatten spendende Paradies, das der weiß gepflasterte Innenhof mit dem Springbrunnen in der Mitte bot. Das Lachen seiner Kinder schallte zu ihm herauf, ihre kleinen Gestalten waren hinter den schwer an ihren Früchten tragenden Pflaumenbäumen verborgen.

»Papa! Papa!« Sein Sohn kam rennend unter den Ästen hervor und reckte einen Spielzeuglaster in die Luft. »Komm spielen!«

Er lächelte, sein Herz war so voll von Liebe, dass er es kaum ertrug. »In ein paar Minuten«, rief er. »Lass Papa erst seine Arbeit zu Ende bringen. Danach spielen wir.«

Zufrieden mit dem Versprechen wandte sich der Junge wieder seiner Beschäftigung zu, während ein kleines Mädchen jauchzend vor Freude in den Brunnen sprang. Seine Tochter war ein Wildfang und sein Augapfel. Wie konnte es anders sein, da sie ihrer Mutter doch so sehr glich! Und seinen Sohn liebte er ebenso.

Über alle Maßen.

Darum würde er für eine Zukunft kämpfen, in der sie nicht benutzt und weggeworfen würden. Denn sollte sein Informant recht haben, brauchten die Medialen aus Gründen, die dieser noch nicht aufgedeckt hatte, dringend Zugriff auf das Bewusstsein von Menschen. Und wann immer diese Gattung mit ihren mächtigen geistigen Gaben etwas von den Menschen wollte, nahm sie es sich bedenkenlos.

Das würde er nicht länger zulassen.

Und falls das bedeutete, dass er selbst zum Monster werden, Loyalitäten unterlaufen und Verrat finanzieren, ja, sogar die Ermordung einer brillanten Frau befehlen musste, die dem Anschein nach keine Vorbehalte hatte, Hilfe in unterschiedlichste Krisengebiete auf dem gesamten Globus zu entsenden, dann sollte es eben so sein.

Silver Mercant und das Krisennetz waren einer der Grundsteine, auf denen das Dreigruppenbündnis errichtet war. Doch dieser Grundstein ebenso wie eine ganze Reihe anderer würden bald anfangen zu bröckeln.

Sehr bald.

2

Verrat ist ein rostiges Schwert, das lange vor dem ersten Hieb verwundet.

Lord Deryn Mercant (circa 1502)

Zwei Stunden, nachdem Krychek ihr die telepathische Nachricht mit Einzelheiten über das Gift geschickt hatte, kam die M-Mediale aus dem OP. Valentin spürte das dichte, schwere Fell seines Bären unter der Haut, während er unruhig im Flur auf und ab schritt.

»Sie wird vollständig genesen. Komplikationen sind nicht zu erwarten.«

Endlich strömte wieder Luft in Valentins Lungen, sein Brustkorb weitete sich.

»Mussten Sie ihr irgendwelche Organe entfernen?«, erkundigte sich Großmutter Mercant.

»Nein, das war nicht nötig.« Die zierliche, dunkelhaarige Ärztin nahm von einer Krankenschwester, die gerade aus der Tür am Ende des Flurs gekommen war, einen hauchdünnen Organizer entgegen. »Wir mussten ihr so schnell wie möglich den Magen auspumpen und haben ihr ein Gegenmittel verabreicht, allerdings mussten wir aufgrund der Komplexität des Gifts ihre Reaktion genau überwachen und das Antidot tropfenweise dosieren.«

Sie hob den Blick von der elektronischen Krankenakte. »Die Patientin hatte Glück. Die Nährstoffe waren noch nicht einmal ansatzweise verdaut, daher konnte das Toxin nicht seine volle Wirkung entfalten.«

Valentin dachte wieder an das halb volle Glas und daran, wie lange er gebraucht hatte, um zu einem offenen Fenster in einem tiefer gelegenen Stockwerk von Silvers Wohnhaus zu klettern. Anschließend war es relativ einfach gewesen, den Überwachungskameras auszuweichen und auf Silvers Etage zu gelangen. Wäre er nur eine Minute später aufgetaucht … »Wann können wir zu ihr?«

Die Ärztin schien seinen Besuch in keiner Weise infrage zu stellen. Offenbar reichten die Gegenwart des Oberhaupts der Familie Mercant und Kaleb Krycheks, um ihn als vertrauenswürdig einzustufen, und das ungeachtet seiner zerrissenen Jeans und des alten weißen Hemds mit den hochgekrempelten Ärmeln und dem blauen Farbklecks auf einer Schulter. Er hatte – kurz – überlegt, sich für Silver in Schale zu werfen, war dann aber zu dem Schluss gelangt, dass er, wenn er sie auf die Seite der Bären locken wollte, sich auch wie ein solcher gebärden sollte.

Falsche Reklame wäre unsinnig gewesen.

Er konnte es nicht erwarten, dass sie ihn mit kühlem Blick auf ihre typische Weise kritisch musterte. Bei seinem letzten Besuch hatte sie angeboten, ihm den Namen einer guten Schneiderin zu nennen, damit die Löcher in seinen Jeans geflickt wurden. Das Mal davor hatte sie ihn darauf hingewiesen, dass die meisten Leute ihre T-Shirts ausmisteten, lange bevor deren Farbe zu einem »Straßenkötergrau«, wie sie es nannte, verblasst war.

»Den neuesten Werten zufolge«, sagte die Ärztin, ihren Blick auf den Organizer richtend, »müsste sie in eineinhalb bis zwei Stunden zu Bewusstsein kommen. Wir werden sie in Kürze in einen Aufwachraum bringen.«

Das Trio wartete schweigend, bis Silver verlegt worden war. Valentin sah zu, wie ihre Großmutter anschließend zu ihr ging und sich neben sie setzte. Er zwang sich, draußen auszuharren, obwohl es Bär und Mann gleichermaßen drängte, in das Zimmer zu stürmen. Er spähte noch nicht einmal durch die halb geöffneten Jalousien vor dem Fenster neben der Tür, so wie er auch nicht hingeschaut hatte, als Silver aus dem Operationssaal in den Aufwachraum gebracht worden war.

Silver würde es ihm nicht danken, wenn er sie in diesem geschwächten Zustand sah.

Nur war das natürlich schon geschehen.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie wird mir niemals verzeihen, dass ich ihren Zusammenbruch miterlebt habe.«

Neben ihm blickte Kaleb, dessen dunkles Haar im Schein der Deckenstrahler leuchtete, auf seine Uhr. »Sowohl der Zeitpunkt als auch die Tatsache, dass Silver sich strikt an ihren Tagesplan hält, wenn sie ihn nicht einer unvorhergesehenen Situation anpassen muss, weisen darauf hin, dass Sie sie beim Frühstück gestört und ihr damit das Leben gerettet haben.«

»Sie denken, dass sie es so sehen wird?« In Valentin flackerte ein Funken Hoffnung auf.

Krychek überlegte keine Sekunde. »Nein. So viel Glück werden Sie nicht haben.«

Valentin kniff die Augen zusammen. Machte sich der Mann etwa lustig über ihn?

Der Kardinalmediale war die kälteste Person, die er kannte – doch anders als er selbst hatte Kaleb Krychek eine Frau an seiner Seite, die ihn vergötterte. Sahara Kyriakus machte keinen Hehl aus ihrer Liebe zu ihrem Gefährten. Valentin hatte einmal beobachtet, wie sie Krychek mitten auf dem Roten Platz küsste, ihre Freude leuchtete hell wie ein Sonnenstrahl. Bei Krychek hingegen hatte sich nicht das winzigste Lächeln gezeigt, trotzdem musste dieser Mann ein Herz haben, um die Liebe einer Frau gewonnen zu haben, die ihre Zuneigung so offen zur Schau stellte.

Darum, schlussfolgerte sein Bär, war es durchaus möglich, dass Krychek sich hinter seiner eisigen Fassade über ihn amüsierte. »Danke, das hat mir wirklich weitergeholfen«, brummte er und lehnte sich gegen die Wand.

»Soll ich Sie zurückteleportieren?«

»Nein, ich werde warten.« Nur bis Starlight wach war. Er musste sehen, wie ihre Brust sich hob und senkte, ihre kühle, kontrollierte Stimme hören, sich vergewissern, dass ihr Verstand noch immer punktgenau wie ein Laser arbeitete.

»Passen Sie auf, dass Silver Sie nicht entdeckt, andernfalls können Sie die Hoffnung, dass sie diesen Vorfall vergessen wird, begraben.«

Jetzt stand für Valentin fest, dass Krychek sich über ihn lustig machte. »Ziehen Sie ab, und zählen Sie Ihre Flöhe, Sie räudiger Wolf«, sagte er. Die Worte waren begleitet von einem tiefen Brummen seines Bären, der seine zweite Hälfte war.

Krychek teleportierte so schnell, dass Valentin nicht sicher war, ob er die Bemerkung gehört hatte, deren letzter Teil die schlimmste Beleidigung aus dem Repertoire der StoneWater-Bären war. Vermutlich war es nicht besonders diplomatisch gewesen, so etwas zu einem extrem mächtigen Kardinalmedialen zu sagen, aber Valentin bereute es kein bisschen. Genau aus diesem Grund überließ er die Kontakte mit Krychek in der Regel Anastasia. Seine älteste Schwester, die zugleich als seine Stellvertreterin fungierte, verstand sich darauf wesentlich besser als er.

Valentin war ein »großer, irrer Grizzly«, Stasya hingegen ein »intelligenter, bedächtiger Panda«.

Dieser Vergleich stammte von Nova, seiner zweitältesten Schwester. Dabei hatte sie aber nicht berücksichtigt, dass er, Stasya, Nova und Nika – die drittälteste im Bunde – allesamt zu den Kamtschatkabären gehörten und Pandas dermaßen »bedächtig« waren, dass sie oft eine Stunde brauchten, um auf eine Frage zu antworten. Es sollte wohl eher eine Metapher sein. Wenigstens hatte Nova ihn nicht einen waschechten snearzhnyi chelovek genannt. Ein Alphatier musste einen gewissen Standard einhalten – und seiner beinhaltete, nicht als Yeti verunglimpft zu werden.

Oder als Wolf.

Sein undiplomatisches Naturell war der Grund, warum er Silver erst so spät kennengelernt hatte. Er hatte einfach nie an einem der Treffen in Moskau teilgenommen. Jetzt ging er zu jedem von ihnen, wenn er wusste, dass Silver anwesend sein würde. Stasya hatte entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen ließ – dann hatte sie ihm eine Rolle Klebeband gegeben. Damit er es sich über den Mund klebte, wann immer sein »trampeliger Bär« die Oberhand zu gewinnen drohte. Zitat Ende.

Valentin war kein Trampel. Es sei denn, er hatte ein paar Bier getrunken.

Keiner dieser Gedanken half ihm jedoch, seine Hauptaufmerksamkeit von der Frau hinter der geschlossenen Zimmertür zu lösen.

Als die Tür dann endlich geöffnet wurde, traf ihn ein Blick aus Augen wie Stahl. »Mein Name ist Ena«, sagte die Matriarchin der Mercants. »Aber Sie dürfen mich Großmutter nennen.«

Valentin wusste, dass sie ihm damit ein Privileg gewährte. Bei der Begrüßung hatte er diese Anrede nur deshalb benutzt, weil es die respektvollste war, die er kannte. Und nun erteilte sie ihm die Erlaubnis, sie wie ein Familienmitglied anzusprechen. Er wusste über Ena nicht mehr, als dass sie das Oberhaupt eines mächtigen Clans war, aber er kannte Silver gut genug, um zu begreifen, welche Ehre sie ihm damit erwies.

So etwas taten Frauen wie Ena und Silver nicht leichtfertig.

»Wie geht es unserem Mädchen, Großmutter?«

Ena Mercant sah ihn lange wortlos an. »Sie sind ganz schön dreist. Der völlige Gegensatz zu diesem Alphatier der Leoparden, das im Dreigruppenbündnis so viele Gestaltwandlergruppen vertritt.«

»Lucas ist nicht ohne Grund unser Repräsentant.« Es war keine schwere Entscheidung gewesen, in der frisch geschmiedeten Allianz, welche ihre gespaltene Welt einen sollte, Lucas Hunter die Wahrung der Interessen des StoneWater-Clans zu übertragen.

Niemand hatte ein stärkeres Motiv, für den Erfolg des Dreigruppenbündnisses zu kämpfen, als der Leopard. Seine Tochter war zugleich Mediale und Gestaltwandlerin und damit seit hundert Jahren die Erste ihrer Art. Hinzu kam, dass in seiner Gemeinschaft, genau wie in der Valentins, mehrere Menschen lebten. »Können Sie sich mich in Verhandlungen mit diesen Kretins vorstellen, mit denen Lucas tagtäglich zu tun hat?« Er formte aus Daumen und Zeigefinger eine Pistole, hielt sie an seine Schläfe und imitierte mit den Lippen einen Knall, als er vorgab abzudrücken.

Ena Mercant reagierte nicht darauf, sondern setzte sich auf einen der Besucherstühle, die an der Wand aufgereiht waren. Er blieb stehen, ließ nicht von seiner Wachsamkeit ab. »Es gibt keine weiteren Fenster in Silvers Zimmer?«

»Nein. Ich werde es telepathisch scannen, dann merke ich sofort, wenn jemand zu ihr teleportiert.«

Auch Valentin würde das dank seines aufs Äußerste konzentrierten Geruchssinns nicht entgehen. Niemand würde Starlight etwas zuleide tun. »Dann glauben Sie, jemand hat das Pulver gezielt manipuliert, Großmutter?«

Ena antwortete auf Umwegen. »Silver bewahrt stets sechs Büchsen in ihrem Küchenschrank auf. Sie beginnt auf der linken Seite und schiebt die zweite auf die vorderste Position, sobald die erste aufgebraucht ist, und so weiter. Es ist interessant, dass Sie ein zweites mit Gift versetztes Exemplar auf der rechten Seite fanden.«

Valentins lange, gebogene, gefährliche Krallen wollten ausfahren. »›Interessant‹ ist nicht das Wort, das ich gebrauchen würde.« Falls der Übeltäter sich hinsichtlich Silvers System unsicher war, würde er logischerweise auf beiden Seiten eine Pulverdose vergiften. Nicht die erste, sondern die zweite in jeder Reihe, damit es schwieriger wäre, den exakten Zeitpunkt der Kontamination zu bestimmen. »Silver wurde gezielt angegriffen.«

Valentin nutzte Enas langes Schweigen, um seinem Bären auszureden, an die Oberfläche zu kommen. Jetzt war nicht der richtige Moment für einen Wutausbruch. Denn wenngleich er momentan dazu neigte, sich wie ein »irrer Grizzly« zu gebärden, war Valentin doch durch und durch ein Alphatier, das seine primitiven Instinkte zu bezähmen wusste.

Von Zeit zu Zeit ertönten Durchsagen über die Sprechanlage, und einmal hetzte eine Krankenschwester vorbei, die auf einen Notruf reagierte, doch in Silvers Zimmer blieb alles ruhig.

»Was wissen Sie über meine Familie?«, fragte Ena irgendwann.

Die Wahl des Possessivpronomens entging ihm nicht. Diese Frau war ebenfalls ein Alphatier, so viel stand fest. Eine Matriarchin wie die Bärin, der Valentin vor acht Monaten an die Spitze des StoneWater-Clans nachgefolgt war. Zoya war genauso freiheraus, allerdings weit weniger beherrscht in ihren Reaktionen gewesen. Seine ehemalige Anführerin war eben eine Bärin und Ena eine Mediale. Doch sagte das nichts über die Macht beider Frauen aus.

»Nicht viel«, bekannte er. »Meine Schwester Janika kennt eine Menge Leute.« Halb Russland, wie es manchmal schien. »Dadurch schnappen wir hie und da etwas auf, aber wir kümmern uns nicht um Medialenpolitik.« Es gab in ihrem Clan keine Medialen, daher hatten sie weder einen Anlass noch die Möglichkeit, einen direkten Informationskanal zu unterhalten. Natürlich würde sich das ändern, sobald er Silver davon überzeugt hatte, ihm zu vertrauen. Er brauchte solche Informationen, um für ihre Sicherheit zu sorgen.

Die ihre eigene Wohnung nicht gewährleistet hatte.

Außer sich vor Zorn, weil jemand bei Silver eingebrochen war, erhob sich der massige Körper seines Bärs auf die Hinterbeine. Ein Zuhause sollte Schutz bieten, dort zog man seine Kinder groß und pflegte die familiären Bande. Ein Zuhause sollte warm sein, erfüllt mit Liebe und Spiel. Es war niemals ein akzeptables Angriffsziel, egal, um welchen Krieg es ging.

»Man muss mir nicht erst sagen, dass Sie persönlich große Macht verkörpern.« Seine Stimme wurde um eine Oktave dunkler, während sein Bär in ihm weiter unruhig auf und ab lief. »Sie umgibt Sie wie eine zweite Haut. Das ist so offensichtlich, dass es nicht einmal einem schneeblinden Polarbären entgehen könnte. Dazu kommt, dass Krychek Sie respektiert.«

Obgleich der StoneWater-Clan und der Kardinalmediale sich noch immer auf dem steinigen Weg zu einem vorsichtigen Vertrauensverhältnis befanden, hatte Valentin Krycheks Intelligenz nie in Zweifel gezogen. »Er wusste, dass Sie imstande sein würden, Silver zu beschützen.«

Ena betrachtete ihn mit unergründlicher Miene. »Dreist und klug. Eine seltene Kombination.«

Valentin zuckte die Achseln. »Dadurch habe ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite.« Viele Leute sahen in der Lebenseinstellung der Bären den Beweis dafür, dass es sich um begriffsstutzige Trottel handelte. Die Bären unternahmen keinerlei Anstrengung, diese Blindgänger vom Gegenteil zu überzeugen.

Stasya hatte es folgendermaßen ausgedrückt: »Wieso sollten wir ihnen ihre Verblendung nehmen, da sie uns doch in beinahe jeder Verhandlung einen entscheidenden Vorteil verschafft?«

Zu schade, dass Selenkas Wölfe die Wahrheit schon vor Langem erkannt hatten.

»Meine Familie ist sehr einflussreich«, bemerkte Ena, die Augen auf die Wand gerichtet. »Obwohl wir im Verborgenen agieren, sind wir die eigentlichen Drahtzieher im Medialnet. Alle streben danach, uns zu hofieren, um an Informationen zu gelangen und unsere Ressourcen anzuzapfen, während sie zur Macht aufsteigen.«

Valentin, den ihre Offenheit überraschte, lauschte gespannt. Eins der Dinge, die Nika durch ihre Fähigkeit, Freundschaften jeder Art zu schließen – man hätte meinen können, sie sei aus einer Ponyherde adoptiert –, aufgeschnappt hatte, war, dass die Lippen der Mercants in Bezug auf die Familie versiegelt waren.

»Silvers Tod würde uns für mindestens ein Jahrzehnt das Rückgrat brechen«, fügte Ena hinzu, und Valentin sah abermals rot bei der Erinnerung daran, dass jemand versucht hatte, Silvers Sternenlicht auszulöschen. Seine Schultermuskeln spannten sich an, als er die Arme verschränkte.

»Wir würden uns zurückziehen, uns neu formieren und wieder erstarken«, fuhr sie fort. »Doch wir hätten die eine Person verloren, der ich zutraue, die Mercants in die Zukunft zu führen.«

Ihre Stimme veränderte sich nicht, ihr Tonfall blieb flach, trotzdem wusste Valentin ohne den geringsten Zweifel, dass Ena Mercant töten würde, um ihre heiß geliebte Enkeltochter zu beschützen. Sie selbst würde es zwar nicht Liebe nennen – dasselbe galt für Silver –, doch änderte das nichts an der Tatsache, dass die Loyalität, die sie verband, aus tiefstem Herzen kam. Jeder Bär würde das erkennen.

»Außerdem ist sie die Einzige, die das Krisennetz in- und auswendig kennt«, ergänzte Valentin. Trotz der antiseptischen und medizinischen Gerüche, die die Luft schwängerten, fing er feine Schwaden von Silvers Duft auf.

Sein Bär schlug mit den Krallen nach ihm, er wollte raus, wollte Silver an sich drücken, sie küssen. Da Valentin sich dasselbe wünschte, bereitete es ihm einige Mühe, das Tier unter Kontrolle zu bringen. »Selbst wenn wir ihre Verbindung zu Krychek aus der Gleichung herausnehmen«, sagte er, »bleibt Silver an zahlreichen Fronten ein Angriffsziel. Das Konsortium will keine Eintracht.« Lucas Hunter hatte ihn vor dieser gierigen, ehrlosen Gruppe gewarnt. »Und das Krisennetz ist das Aushängeschild des Dreigruppenbündnisses.« Es stand für die Hoffnung auf einen dauerhaften Weltfrieden.

»Das ist wahr.« Wieder schwieg Ena so lange, dass er das Gespräch schon für beendet hielt. Bis sie dann hinzufügte: »Jemandem ist es gelungen, in das sicherste Gebäude Moskaus und in Silvers Wohnung einzudringen. Ohne von den Sicherheitsleuten bemerkt zu werden.«

»So schwer ist es nicht, sich dort Zutritt zu verschaffen«, entgegnete Valentin, wütend über das Wachpersonal. »Ich bin durch ein offenes Fenster auf der dritten Etage eingestiegen.« Sein Bär war aufgrund seiner Größe kein guter Kletterer, aber in menschlicher Gestalt und mit ausgefahrenen Krallen gab es keine Wand, die er nicht erklimmen konnte.

Nicht dass das Alphatier des StoneWater-Clans regelmäßig an Wohnhäusern hochkraxelte. Das tat er nur für die eisige Starlight.

»Selbst unter den Gestaltwandlern verfügen nur die wenigsten über Krallen, wie Bären sie aufweisen«, erwiderte Ena. »Abgesehen davon wirken Sie sehr muskulös, woraus ich schließe, dass Sie extrem stark sind.«

»Teleporter brauchen weder Krallen noch körperliche Kraft.«

»Das nicht, aber Silver arbeitet seit Jahren für einen kardinalen TK-Medialen. Sie hat Geruchssensoren und Bewegungsmelder installieren lassen. Kaleb hat diese Vorsichtsmaßnahmen einem Test unterzogen, um sicherzustellen, dass sie jemandem mit seinen Fähigkeiten standhalten. Sie hätte jeden Eindringling sofort bemerken müssen, was offensichtlich nicht passiert ist.«

Valentins Bär erstarrte. »Sie vermuten also, dass sie denjenigen, der den Giftanschlag verübte, selbst hereinließ.« Falls es jemand war, dem Silver vertraute, den sie im Wohnzimmer allein gelassen hätte, um etwas zu holen oder einen Anruf entgegenzunehmen, hätte derjenige leichtes Spiel gehabt. Die Küche war nur wenige Schritte entfernt.

Ena neigte den Kopf. »Eine clevere Person hätte nicht ausgerechnet den Behälter, den Silver gerade in Gebrauch hatte, mit Gift versetzt.«

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung.« Sein Bär, der sich stur weigerte, sich folgsam hinzusetzen, solange er Silver nicht gesehen hatte, verpasste ihm einen Kopfstoß, während Valentin noch einmal über Silvers Küchenschrank und den zweiten vergifteten Behälter nachdachte. »Wie lange reicht eine solche Büchse?«

»Vier Wochen, wenn man sie durchgehend verwendet, was Silver nicht tut. Zwei bis drei Monate, wenn man zusätzlich auf andere Nährstoffquellen wie Energieriegel und Eiweißprodukte zurückgreift.«

»Wir müssen jeden einzelnen Gast unter die Lupe nehmen, der bei ihr zu Besuch war, seit sie den Behälter vor dem kontaminierten angebrochen hat.« Zwar hatte Silver das erst kürzlich getan, trotzdem würden sie, nur zur Sicherheit, mindestens vier Monate zurückgehen müssen.

»Nein, Valentin«, unterbrach Ena seine Gedanken. »Das ist nicht Ihre Sache.«

Sein Bär brüllte vor Zorn.

Valentin biss frustriert die Zähne zusammen. Ihm war klar, dass er kein Mitspracherecht hatte. Silver gehörte ihm nicht, sie hatte ihn bisher noch nicht einmal einen Fuß in ihre Wohnung setzen lassen. Der heutige Tag zählte nicht, und selbst sein Bär würde nicht behaupten, damit einen Präzedenzfall geschaffen zu haben. Zuerst musste Starlight ihn schon selbst hereinbitten.

»Ihre Aufgabe ist es, für Silvers Sicherheit zu sorgen«, fuhr Ena fort.

Der Bär verstummte überrascht.

»Nichts täte ich lieber«, meinte Valentin perplex, »aber sie würde einen Leibwächter niemals dulden.« Darüber hinaus war er ein Alphatier, seine Zeit gehörte dem Clan. Ena musste das einsehen, auch wenn sie nicht wissen konnte, wie dringend ihn die Bären brauchten. Seine kurzen Abstecher zu Starlight, um sie zu necken und zu umgarnen, waren die einzigen Pausen gewesen, die er sich gegönnt hatte, seit er vor acht Monaten die Führungsrolle übernommen hatte.

»Das weiß ich«, entgegnete sie. »Und mir ist auch klar, dass sie sich niemals weit von ihrem Arbeitsplatz entfernen würde. Aber sie darf nicht länger in einer Wohnung leben, zu der jeder, der böse Absichten hegt, sich Zutritt verschaffen kann.«

Valentins Fell stellte sich unter der Haut auf, sein Bär war ganz Aufmerksamkeit. »Das Gift spielt eine zentrale Rolle.« Dann fragte er intuitiv: »Ist es eine Waffe der Mercants?« Wer es gewohnt war, im Verborgenen zu agieren, würde eher listig zu Werke gehen, anstatt sich offener Gewalt zu bedienen.

Enas Antwort war aufschlussreich. »Ich kann ihr keines unserer sicheren Häuser anbieten, weil jeder Mercant Schlüssel zu ihnen hat.«

Er verkniff sich ein unflätiges Wort in seiner Muttersprache, für dessen Gebrauch in Gegenwart einer älteren Person ihn sowohl Babuschka Caroline als auch Babuschka Anzhela ins Ohr gezwickt hätten, und strich sich mit der Hand durchs Haar. »Sie haben den Verdacht, dass einer Ihrer Angehörigen den Angriff auf Silver verübt hat?«

»Unsere Familie gründet sich auf Vertrauen.«

»So wie ein Bärenclan.« Verrat kam einem Dolchstoß ins Herz gleich, er schmerzte fürchterlich. Valentin wusste das, er hatte es am eigenen Leib erfahren. Die Wunde, die ihm die unerwartete Attacke beigebracht hatte, blutete bis heute und hatte seinen Bären schwermütig gemacht.

»Wieso fragen Sie nicht Krychek nach einem Versteck?«, zwang Valentin sich vorzuschlagen, obwohl er Silver am liebsten tief in sein Territorium gebracht hätte, wo niemand ihr etwas anhaben konnte. Aber sie würde dasselbe fragen, und darum sollten er und Ena lieber Sorge tragen, dass sie Silver in Sicherheit brachten, ehe sie aufwachte.

Sein Bär tat die Idee, sich an die Regeln zu halten, während Starlights Leben auf dem Spiel stand, mit einem Schnauben ab.

»Da Silver sich weigern wird, ihre Arbeit ruhen zu lassen, um an einen völlig anderen Ort umzusiedeln, befinden sich die einzigen Optionen, die Kaleb uns anbieten könnte, im Zentrum von Moskau. Ihre Feinde würden weiterhin an sie herankommen.«

Valentin ließ die Arme sinken und verzog die Lippen zu einem kleinen Lächeln. »Bitten Sie mich etwa, Ihre Enkeltochter zu entführen?«

»Nennen wir es einen erzwungenen Abzug aus der Gefahrenzone.«

Dank seiner Großmutter mütterlicherseits, einer kanadischen Polarbärin, beherrschte er die englische Sprache fließend, trotzdem brauchte er eine Sekunde, ehe er begriff, dass Ena ihn tatsächlich aufforderte, Silver zu kidnappen.

3

Nur ein Narr strebt nach blinder Gleichförmigkeit.

Ena Mercant (circa 2072)

»Silver kennt jede Menge Teleporter«, bemerkte Valentin, der bereits Pläne für die Entführung schmiedete. Sogar die extrem gefährliche, geheimnisumwitterte Pfeilgarde – Nika zufolge eine Eliteeinheit der medialen Gattung – würde dem Ruf der Chefin des Krisennetzes folgen.

»Bei dieser Art von Vorfall wird sie sich an niemand anderen als an Kaleb wenden, weil er das Problem versteht.«

Damit bestätigte sie, was er bereits vermutete. Krychek war nicht einfach nur ein TK-Medialer, für den Silver jahrelang gearbeitet hatte, bevor sie die Leitung der humanitären Organisation übernahm, sondern er war eng mit den Mercants verbunden. »Wieso vertrauen Sie mir?«

»Sie hätten sie sterben lassen können. Doch das taten Sie nicht. Infolgedessen sind Sie und Kaleb die beiden Einzigen, auf die ich mich momentan blind verlassen kann.«

»Ich muss zuerst mit meinen Leuten sprechen.« Valentin war ein Alphatier, sein Wort war demnach Gesetz, aber kein Bärenclan konnte unter einem autokratischen Anführer gedeihen. In einem Rudel ging es um Familie, um Respekt und Loyalität.

Sein Bär spürte einen scharfen Stich im Herzen, als im Zuge dieses Gedankens schreckliche Erinnerungen in ihm aufstiegen. Die Wunde war noch so frisch wie an dem Tag, an dem sie ihm beigebracht worden war.

Ena erhob sich. »Ich werde bei meiner Enkelin wachen, während Sie sich mit Ihren Leuten beraten.«

Sobald sie im Aufwachraum verschwunden war, holte Valentin sein Handy heraus. Er hatte das schmale, schwarze Gerät fast automatisch eingesteckt, bevor er Silvers Küche betreten hatte, um das Gift aufzuspüren. Er gab einen vertrauten Code ein.

»Was hast du nun wieder zerdeppert?«, lauteten Stasyas Begrüßungsworte.

Valentin ignorierte die süffisante Bemerkung, die sich nur eine große Schwester gegenüber ihrem Alphatier herausnehmen würde. »Wie hoch wäre das Sicherheitsrisiko, wenn wir eine Mediale bei uns beherbergen würden?« Die miteinander verbundenen Behausungen ihres labyrinthischen, dem Berg abgetrotzten Höhlensystems erinnerten an unregelmäßig aufgefädelte Perlen an einer Kette. Es war weitläufig, gemütlich und bot vor allen Dingen Sicherheit für ihre Jungen, diese mitunter schusseligen und immer Unruhe stiftenden Fellknäuel.

»Welche Mediale?«, fragte Stasya mit der unverblümten Direktheit, die er von ihr gewohnt war.

»Silver Mercant.«

»Sehr witzig, Mishka.« Es war sein Spitzname aus Kindertagen und bedeutete »kleiner Bär«. Schwestern vergaßen nie etwas und tratschten es überall weiter, sodass er sich genötigt sah, den Leuten in Erinnerung zu rufen, dass er in Wahrheit den äußerst erwachsen klingenden Namen Valentin Mikhailovich Nikolaev trug.

»Ich weiß ja, dass du auf sie stehst, aber Frauen zu entführen, verstößt gegen das Gesetz«, sagte sie entschieden. »Das gilt auch für Bären. Schreib dir das hinter die Ohren.«

»Es ist kein Scherz.« Er wünschte, es wäre nur ein Spiel. Hätte er doch seinem ersten Instinkt nachgegeben und sie sich kurzerhand über die Schulter geworfen. Sie hätte das übel aufgenommen, aber zumindest würde sie dann jetzt nicht bewusstlos im Krankenhaus liegen. »Sie braucht einen sicheren Ort, wo sie sich verstecken kann, und wir sind die beste Option.«

»Solltest du mich verschaukeln, schmiere ich dir Zahnpasta in die Haare, wenn du schläfst«, drohte seine Stellvertreterin. »Du weißt ganz genau, dass von Silver Mercant eine Bedrohung ausgeht wie von einem Elefanten auf Steroiden. Sie würde Einblick in unsere Höhle und unser Sicherheitssystem bekommen, Kontakt zu unseren Kindern haben. Das alles könnte sie für einen Angriff gegen uns benutzen. Es muss kein gewaltsamer sein, auch ein wirtschaftlicher könnte uns verheerenden Schaden zufügen. Besonders jetzt, wo unsere Reihen dezimiert sind.«

Valentin rieb sich mit der Faust über das Herz. »Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich ein Abkommen treffen kann, demzufolge nichts von dem, was sie über uns erfährt, jemals gegen uns verwendet würde.« Das Bauchgefühl sagte ihm, dass Ena Mercant ihr Wort nicht leichtfertig gab. Wenn er es hatte, war sein Clan sicher.

Außerdem war es seine Aufgabe, Starlight zu beschützen. Natürlich würde sie dagegen aufbegehren, aber er zankte sich gern mit Silver. Sie war pures Eis, trotzdem hatte sie sich nie gescheut, den Fehdehandschuh aufzunehmen, den er ihr hinwarf, um listig ihre Abwehrmechanismen zu unterlaufen. Wobei listig wohl nicht das richtige Wort war, wenn seine Absicht so offensichtlich war wie bei Anastasias Elefant auf Steroiden.

»Kann sein, dass die Gefahr nicht so groß ist, wie ich sie anfangs eingeschätzt habe«, sagte seine Schwester mit klarer, deutlicher Stimme. »Zwar ist Silver eng mit Krychek vernetzt, und wir wissen von Nikas zahlreichen Freunden und Spionen, dass er ein Gesicht als Portschlüssel benutzen kann und somit die Möglichkeit hätte, in unsere Höhle zu gelangen, wenn er es wollte. Andererseits haben wir eine Vereinbarung mit Krychek, und das bedeutet, dass Silver, sollte sie uns hintergehen, ihren Boss mit in die Sache hineinziehen würde.«

»Ich glaube nicht, dass sie uns hintergehen wird.« Seine kühle, blonde Starlight leistete Schwerstarbeit, um aus dem Krisennetz eine wahrhaft geschlossene Einheit zu machen. Sie konnte es sich nicht erlauben, es sich mit einer der beiden größten Gestaltwandlergruppen in Russland zu verscherzen. »Ich werde sie in unser Territorium bringen.«

»Dir ist klar, dass einige Bären vermutlich ein Problem damit haben werden?«

»Sie werden sich damit abfinden, andernfalls schlage ich ihre Köpfe gegeneinander, bis sie zur Vernunft kommen.« Valentin verspürte nicht den Wunsch, sich jeden Tag wieder aufs Neue in die Verhandlungen des Dreigruppenbündnisses einzubringen, trotzdem verstand er das Bedürfnis, das zu dieser Zusammenarbeitsvereinbarung geführt hatte. Ihre Welt war zu lange gespalten gewesen, die Risse waren tief und ein fruchtbarer Nährboden für Zorn und Misstrauen.

Der Rat der Medialen hatte vor seiner Abschaffung grauenvollen Schaden angerichtet, er hatte gemordet, gestohlen und zerbrochen, aber diese Bestien hatten keinen Anspruch auf die Zukunft. Alle drei Gattungen, Mediale, Menschen und Gestaltwandler, mussten Verantwortung übernehmen für die Welt, die sie ihren Kindern hinterließen. In dieser Stadt würde der erste Schritt darin bestehen, dass ein Bärenclan eine Mediale bei sich willkommen hieß.

»Ich werde eine Höhle für sie vorbereiten.«

Dabei wohnten sie eigentlich nicht in richtigen Höhlen … na ja, eigentlich schon, aber es waren sehr hübsche Höhlen. Was Silver wohl von den Behausungen der Bären halten würde? »Spasibo, Stasya.«

Er legte auf, klopfte sacht an die Tür des Aufwachraums und trat ein, dabei vermied er es bewusst, zu dem Bett und Silvers stiller, regloser Gestalt hin zu sehen. Sein Bär begehrte nicht dagegen auf. Das Tier wusste nur zu gut, dass es eine extrem schlechte Idee wäre, es sich mit einer stolzen Bärin zu verderben – und soweit es Valentin betraf, schlummerte in Silver eine Bärin.

Sie war stark und wild und hatte einen unbändigen Willen mit Tendenz zu Halsstarrigkeit.

Was nicht negativ war. Valentin konnte selbst ein Dickkopf sein. Darum brauchte er eine Gefährtin, die sich nichts von ihm würde bieten lassen. Gleichzeitig würde sie ihn in den Wahnsinn treiben, dessen war er sich sicher, aber Bären waren von Haus aus verrückt. Es würde lustig werden.

Jetzt musste er nur noch Silver davon überzeugen.

Sein Bär brummte zuversichtlich, er war überzeugt, sowohl den nötigen Charme als auch die Fähigkeit zu besitzen, diese Frau zu umwerben, nach der Mann und Tier sich gleichermaßen verzehrten. Valentin war vollkommen seiner Meinung, was das weitere Vorgehen betraf: Er würde seinen ganzen Charme auffahren und sie damit einfangen. Allerdings musste er gerissen vorgehen, damit sie sich nicht dagegen wappnen konnte. Listig wie eine Katze. Nicht wie ein Bär.

Doch zuerst galt es, sie in sein Revier zu bekommen.

»Silver ist in der StoneWater-Höhle willkommen«, informierte er Ena. »Könnte sie ihre Arbeit von dort aus fortsetzen, bis die Gefahr gebannt ist?« Im Geist erstellte er bereits eine Liste der Technik, die sie dafür benötigte. Eine Katze würde auf diese Weise vorausdenken und der Angebeteten geben, was sie brauchte, noch ehe sie darum bat.

»Ich werde mit ihr sprechen«, entgegnete Ena. »Und ihr klarmachen, dass sie im Kreis der Familie nicht sicher ist.«

Als Valentin kurz darauf ging, war ihm bewusst, wie viel Überwindung diese Worte die stolze, starke Matriarchin gekostet haben mussten.

Beim Aufwachen erfasste Silvers Blick kahle weiße Wände und eine Zimmerdecke mit einem schraffierten Muster, das vielleicht vor sechzig Jahren einmal Mode gewesen war. In ihrer Wohnung gab es solche Decken nicht, sie waren glatt. Auch nicht weiß, sondern eher hellgrau. Dasselbe galt für die Wände. Nicht sie hatte die Farbe ausgewählt, sondern die Wohnung in diesem Zustand übernommen, und da das Grau sie weder ablenkte noch unerwünschte Reaktionen in ihrem Gehirn hervorrief, hatte sie es dabei belassen.

Ihre Nachbarin, eine Managerin aus dem Menschenvolk, hatte ihr eigenes Apartment im Zeitraum von vier Jahren bereits dreimal gestrichen, obwohl sie im Durchschnitt nur ein Viertel des Jahres in Moskau verbrachte, verteilt auf Dutzende Stippvisiten. Bei ihrem letzten Aufenthalt hatte sie an Silvers Tür geklopft und sie gebeten, unter drei Cremetönen ihren Favoriten zu bestimmen.

Silver hatte sich den Hinweis darauf verkniffen, dass sie eine Mediale war und folglich weder Zeit auf derlei verschwendete noch besondere Vorlieben hatte. Um die Frau zufriedenzustellen, hatte sie wahllos auf einen Farbton gezeigt. Natürlich war es ausgerechnet der, von dem Monique Ling nicht angetan war.

Während diese chaotischen Gedanken binnen weniger Herzschläge durch ihren Kopf wirbelten, suchte sie mit ihren telepathischen Sinnen das Zimmer nach einer möglichen Bedrohung ab. Sie kam nicht weit. Ihr Kopf war benommen, wie vernebelt. Doch das war nicht der Grund. Dagegen hätte sie ankämpfen und sich zwingen können zu funktionieren, wenn auch nicht bei voller Leistung.

Sie gab auf, weil ihre mentalen Fühler ein Bewusstsein streiften, das ihres einmal schützend umgeben hatte. Sie war damals noch ein Kind gewesen, das gerade lernte, seine starken telepathischen Fähigkeiten zu beherrschen, durch die sie dem ohrenbetäubenden Lärm der Welt hilflos ausgeliefert war. »Großmutter.« Ihre Stimme klang wie durch Kies gesiebt.

»Hier bin ich.« Ena, die auf einem Stuhl neben Silvers Bett saß, schob ihr etwas zerstoßenes Eis zwischen die Lippen.

Silver hatte so viele Fragen, aber sie zwang sich zur Geduld. Das war eine weitere Lektion, die sie von ihrer Großmutter gelernt hatte: Um ihre geistigen Kräfte zu kontrollieren, musste sie ihre Impulsivität zügeln.

Ena Mercant glaubte nicht an Defekte oder an Perfektion. »Wir sind, wer wir sind, und das macht uns stark«, lautete ihr viel beschworener Leitspruch. Dieses Motto war in ungebrochener Linie von einem Oberhaupt der Familie an das nächste weitergegeben worden.

Was zur Folge hatte, dass die Mercants auch Kinder mit solchen Eigenschaften nicht ausgrenzten, durch die sie in vielen anderen Familien als Fehlschlag abgestempelt worden wären. Stattdessen erzogen und trainierten sie ihren Nachwuchs entsprechend der jeweiligen Veranlagung. In manchen Fällen bedeutete dies, den Kindern beizubringen, sich ihrer natürlichen Fähigkeiten zu bedienen. In anderen, ihnen Facetten bewusst zu machen, die sich negativ auf ihre geistige Stabilität auswirken konnten.

Heute wendete Silver eine vertraute mentale Übung an, um ihre Fragen zurückzudrängen, sie weder verbal noch auf geistiger Ebene zu stellen. Kaum hatte ihr Verstand wieder mit gewohnter Schärfe angefangen zu arbeiten, setzte sie den telepathischen Scan fort … und stieß gegen ein Bewusstsein, welches sie zwar nicht ausloten konnte, das ihr aber dennoch vertraut war. Die harte äußere »Schale«, die vor geistigen Übergriffen schützte, gehörte einem Gestaltwandler.

Das war nicht weiter bemerkenswert, nachdem sie sich allem Anschein nach in einem Krankenhaus befand, wo man jederzeit damit rechnen musste, einem Gestaltwandler oder Menschen zu begegnen. Aber dieses Bewusstsein …

»Was macht Valentin hier?«, fragte sie, bevor ihr klar wurde, was sie damit preisgab. Sie hatte ihre Großmutter mühelos identifiziert, weil seit fast neunundzwanzig Jahren ein telepathischer Kanal zwischen ihnen beiden bestand, der so tief in ihr verwurzelt war, dass sie Ena blind erkannte. Für Valentin galt das nicht.

Doch obwohl seine natürlichen Schilde derart robust waren, dass sie nicht einmal seine oberflächlichen Gedanken auffing, wusste sie ohne Zweifel, dass er es war. Würde man sie bitten, das näher zu erklären, konnte sie nichts weiter sagen, als dass sein Bewusstsein nach ihm »roch«.

Was aus dem Mund einer Medialen geradezu lächerlich klang.