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AGE OF TRINITY - Ihre Vergangenheit verbirgt ein Geheimnis, das ihn seine Zukunft kosten könnte ...
Auden Scotts Erinnerungen sind seit ihrer schlimmen Gehirnverletzung ein einziges Durcheinander. Nur eins weiß sie mit Sicherheit: dass sie das ungeborene Kind in ihrem Bauch um jeden Preis beschützen muss. Verzweifelt bittet sie schließlich Remi Denier, das Alphatier der RainFire-Leoparden, um Hilfe. Und obwohl alles an ihr nach Feind riecht, fühlt sich der Gestaltwandler unwiderstehlich zu ihr hingezogen und zögert nicht, der Medialen zu helfen. Gemeinsam versuchen sie, das Geheimnis um Audens Erinnerung zu lüften, und müssen sich einer furchtbaren Wahrheit stellen ...
»Eine spannende Geschichte voller Prickeln, die Lust auf mehr macht!« CAFFEINATED REVIEWER
Der 8. Band der AGE-OF-TRINITY-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nalini Singh
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Seitenzahl: 611
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Blutlinien
Erster Teil
1
2
3
4
5
Zweiter Teil
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8
9
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11
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Die Autorin
Nalini Singh bei LYX
Leseprobe
Impressum
NALINI SINGH
Age of Trinity
Spiegelnder Abgrund
Roman
Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek
Seit ihre eigene Mutter versucht hat, ihr ein Implantat einzusetzen, und ihr Gehirn dabei schwer beschädigt hat, sind Auden Scotts Erinnerungen ein einziges Durcheinander. Doch eins weiß die Mediale genau: dass sie das ungeborene Kind in ihrem Leib um jeden Preis beschützen muss. Als sie es auf dem Anwesen der Scotts, wo sie rund um die Uhr von der Assistentin ihrer verstorbenen Mutter überwacht wird, nicht mehr aushält, zieht sie sich in eine Hütte zurück, die auf einem Grundstück neben dem Revier der RainFire-Leoparden liegt – und trifft dort auf Remington Denier. Von ihrer ersten Begegnung an spürt sie eine besondere Verbindung zu dem Alphatier des noch jungen Rudels. Und auch Remi kriegt die geheimnisvolle Frau mit den auffallend blauen Augen nicht mehr aus dem Kopf. Deshalb willigt er ein, ihr zu helfen, als Auden nicht mehr weiterweiß und ihn darum bittet, sie und ihr ungeborenes Kind vor ihrer Familie zu beschützen. Gemeinsam beginnen sie, das Geheimnis um Audens Erinnerung zu lüften und herauszufinden, warum der Scott-Clan alles riskieren würde, um Audens Baby in die Finger zu bekommen. Doch je mehr sie in der Vergangenheit graben, umso unglaublicher ist, was sie ans Tageslicht befördern …
Für die, die immer da sind.
Genetische Integrität.
Diesem skrupellosen Ideal hatten sich unter Silentium bestimmte Medialenfamilien verschrieben. Sie glaubten, dass je reiner sie die Erbanlagen hielten, desto stärker die geistigen Kräfte der nachfolgenden Generationen sein würden. Infolgedessen wurde jede Person, die potenziell als Fortpflanzungspartner beziehungsweise -partnerin in Betracht kam, gründlich auf wie auch immer geartete Anomalien überprüft, um zu gewährleisten, dass sich der eigene Genpool nur mit ebenfalls erstklassiger DNA vermischte.
Und es funktionierte.
Nach der Einführung von Silentium und der damit einhergehenden Eliminierung von Gefühlen ist es diesen Familien im Lauf von mehr als hundert Jahren gelungen, ihr Genmaterial in einem solchen Maße zu perfektionieren, dass ihre Nachkommen heute ausnahmslos alle hohe Skalenwerte aufweisen und ihre Zellen frei sind von jedwedem »überflüssigen« Material, das unerwünschte Resultate nach sich ziehen könnte. Keine genetischen Variationen bedeutet zwar, dass sich niemals neue außergewöhnliche Fähigkeiten manifestieren, aber auch, dass die Ressourcen der Familie nicht von Mitgliedern mit niedrigen Rangzahlen belastet werden.
Dummerweise kalkulierten diese Medialen dabei drei entscheidende Faktoren nicht mit ein.
Erstens: die Unberechenbarkeit der Natur.
Zweitens: die Tatsache, dass noch immer niemand auf biologischer Ebene eine Erklärung für die mentalen Gaben der medialen Gattung gefunden hat.
Und drittens: die Gefahr, die von denjenigen ausgeht, die glauben, sie seien allen anderen – ihre Angehörigen eingeschlossen – überlegen. Denn für diese extrem kleine Randgruppe der »makellosen« Minderheit ist genetische Vollkommenheit nicht genug, ist eine kardinale Nachkommenschaft nicht genug. Ihre Kräfte übersteigen die der Bevölkerungsmehrheit um ein Vielfaches, doch auch das genügt ihnen nicht.
Sie streben nach der Herrschaft über sämtliche fühlenden Wesen.
Nach einer Macht, die berauschender ist als jede Droge.
Fünf Monate früher
»Ganz ruhig. Die Frau ist bereits im Wagen.«
Remington Denier, Alphatier der RainFire-Leoparden in einer stürmischen Nacht zu Aden Kai, Anführer der Pfeilgarde (9. April 2082)
Remi fluchte leise.
Er hatte gehofft, dass die Geräusche, die er wahrnahm, von nichts anderem herrührten als von herabfallenden Ästen, die Sturm und Regen, die vor einer Stunde über diesen Teil der Smoky Mountains hinweggefegt waren, von den Bäumen gebrochen hatten.
Aber das, was sich auf dem im Norden an das RainFire-Territorium angrenzenden Stück Land abspielte, hatte mit dem Unwetter rein gar nichts zu tun. Remi und seine Leute versuchten mit Unterstützung ihrer extrem gefährlichen Freunde von der Pfeilgarde zu ermitteln, wem diese Parzelle gehörte, seit zwei hochrangige Gardisten seinerzeit in dem einzigen darauf befindlichen Gebäude schwer verletzt aus der Bewusstlosigkeit erwacht waren und sich in der Gewalt von Kidnappern befanden.
Damals hatte ein mit welkem Laub bestücktes Tarnnetz den flachen, rechteckigen, aus altmodischem Beton erbauten Bunker camoufliert. Heute überwucherten Moos und Flechten die schmutzigen, von Wind und Wetter angegriffenen Wände. In zwanzig bis dreißig Jahren würde sich der Wald sein Terrain zurückerobert haben und das Bauwerk mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen sein.
Remi juckte das nicht, er wollte bloß in Erfahrung bringen, wer der Eigentümer oder die Eigentümerin des Grundstückes war. Die beiden Pfeilgardisten wussten, wer hinter ihrer Entführung gesteckt hatte, aber es ließ sich keine Verbindung zwischen einem Mitglied der Verschwörergruppe und der Parzelle feststellen. Zunächst hatte es den Anschein gehabt, als deuteten sämtliche Hinweise auf ein Kind hin, das im Alter von fünf Jahren gestorben war, doch am Ende erwies sich auch das als bewusste Irreführung.
Zuletzt war Tamar, die zivile Datenanalystin der Garde, auf eine weitere Briefkastenfirma gestoßen. »Wer immer dafür zuständig war, die Eigentümerschaft zu verschleiern, versteht sein Handwerk«, hatte sie gegrummelt. »Ich würde ganz genauso vorgehen. Die Spur ist eine einzige Endlosschleife, die nirgendwohin führt.«
Mittlerweile hatte die Truppe ihre Bemühungen auf Eis legen müssen. Das geistige Netzwerk, das den Großteil der Medialen auf der ganzen Welt verband und eine Lebensnotwendigkeit für sie darstellte, löste sich mit katastrophaler Geschwindigkeit in seine Einzelteile auf. Darum fokussierte die Eliteeinheit ihre Kräfte und volle Aufmerksamkeit auf diese tödliche Bedrohung für Abermillionen Individuen.
»Aber sei unbesorgt«, hatte Aden Kai, der Anführer der Pfeilgarde und Remis Freund, diesen beruhigt. »Jeder weiß, dass wir dieses Areal genauestens im Auge behalten, somit ist es absolut unbrauchbar für weitere illegale Aktivitäten.«
Jetzt lehnte Remi mit der Schulter an einer hohen Goldbirke, deren Zweige mit jungen, grünen Blättern wie ein Perlenvorhang um ihn herum fielen, und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen die fünfköpfige Gruppe, die sich auf der Lichtung vor dem Bunker versammelt hatte. Es handelte sich um zwei Frauen und drei Männer, die allesamt viel zu luftig angezogen waren für diese Höhenlage.
Die ältere Frau war eine hochgewachsene, hagere Brünette um die fünfzig, mit hellbrauner Haut und dunklen Augen. Anscheinend hatte sie das Sagen, jedenfalls hörten die anderen ihr konzentriert zu, während sie mit ihnen sprach.
Mit Ausnahme der jüngeren Frau, auch sie relativ groß – Remi schätzte sie auf einen Meter fünfundsiebzig –, die etwas abseits stand. Ihr dunkles, lockiges Haar war am Hinterkopf zu einem strengen Knoten zusammengefasst, und ihre Haut schimmerte sogar unter dem wolkenverhangenen Himmel wie Ebenholz. Sie trug ein schwarzes Kostüm, dazu eine weiße Bluse und schwarze Stöckelschuhe, die so ungeeignet für dieses Gelände waren, dass er fast lachen musste.
Aber was ihn noch viel mehr irritierte, war die Tatsache, dass sie sich nicht nur mit keinem Wort an dem Gespräch beteiligte, sondern vollkommen abwesend wirkte. Obwohl Remi nur ihr Profil sehen konnte, sagten ihm ihr leerer Gesichtsausdruck, der ins Nichts gerichtete Blick, die schlaff an den Seiten hinabhängenden Arme und das leichte Vor- und Zurückschaukeln ihres Körpers, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmte.
Überzeugt, dass von ihr keine Gefahr ausging, nahm er erneut die Brünette ins Visier. Aber trotz seines feinen Gestaltwandlergehörs konnte er nicht verstehen, was gesprochen wurde. Dafür stand die Gruppe ein winziges Stück zu weit weg.
Also blieb nur eine Option.
Er richtete sich auf und wollte gerade verstohlen zwischen den Bäumen hervortreten, als die jüngere Frau im selben Moment ruckartig den Kopf in seine Richtung wandte.
Ihre Augen waren von einem hypnotischen Blau, das an flüssigen Mondstein erinnerte.
Remi stockte der Atem, und seine eigenen Augen nahmen die gelbgrüne Farbe des Leoparden an, als die Raubkatze, die die andere Hälfte seiner Seele ausmachte, nach vorn drängte.
Aber sie reagierte nicht aggressiv. Es war … komplizierter. So als wäre sie gleichermaßen fasziniert und abgestoßen. Das Tier in ihm merkte erst jetzt, was der Mann bereits erkannt hatte, nämlich, dass etwas an dieser auffallend schönen Frau alle Warnsignale in ihm auslöste, auch wenn ihre Miene jetzt nicht mehr leer und entrückt und ihr Körper aufs Äußerste angespannt war.
Um sie nicht zu erschrecken, ließ Remi erneut den menschlichen Teil von sich die Führung übernehmen, während die Frau mit langsamen Schritten auf ihn zuhielt. Die anderen schienen nicht auf sie zu achten, bis sich plötzlich der kräftigste der Männer umdrehte und ihr hinterherging.
Die Brünette rief ihm etwas zu, und er machte kehrt, ohne der blauäugigen Frau weiter Beachtung zu schenken.
Sie wirkten gänzlich unbesorgt. Und warum auch nicht?
Schließlich glaubten sie sich allein hier draußen in der Wildnis. Das Herz des RainFire-Reviers befand sich etliche Kilometer entfernt – doch angesichts der lauernden Bedrohung, die von diesem Flurstück ausging, schlossen Remi und seine Wächter es regelmäßig in ihre Patrouillengänge mit ein.
Die junge Frau trat in den Wald, und noch immer folgte ihr niemand. Aber sie war noch nicht weit gekommen, als Remi sich ihr in den Weg stellte. Sie war von der Lichtung aus weiterhin zu sehen, wohingegen Remi vollständig mit dem Dämmerlicht der Ahornbäume, Buchen und Pappeln verschmolz.
»Guten Morgen«, sagte er und atmete instinktmäßig tief ein, um ihre Witterung aufzufangen.
Gerüche konnten viel über eine Person aussagen.
Ihr Geruch war … problematisch. Genauer gesagt der anormalste, den er jemals wahrgenommen hatte. Eigentlich würde er diesen Ausdruck niemals in Verbindung mit einem Individuum benutzen, weil jedes auf seine eigene Weise normal war und sein Geruch ein wesentliches Erkennungsmerkmal darstellte, aber es war die einzig treffende Beschreibung.
Ihr Geruch entsprach keinem einzigen der Merkmale für ein fühlendes Geschöpf. Hätte er aus Licht bestanden, hätte Remi angenommen, die Strahlen würden von einem Spiegel reflektiert, der alles verzerrt. Er besaß zu viele Facetten, war gleichzeitig träge und schlammig. Sein Leopard gab ein Fauchen von sich.
Ihre außergewöhnlichen, leuchtend blauen Augen taxierten ihn einen Moment, bevor sie den Blick abwandte.
Remi missverstand das nicht als eine Geste der Unterwürfigkeit.
Diese Frau war völlig in ihrer eigenen Welt verloren und konnte vermutlich niemanden lange ansehen.
Es war im Lauf der Jahre schon öfter vorgekommen, dass jemand seinem Blick auswich, und es wäre ein Leichtes gewesen, sie als eine neurologisch von der Norm abweichende Mediale abzutun – hätte sie nicht diesen völlig unnatürlichen Geruch verströmt.
Eine derart zerfaserte, erratische Witterung war ihm sein ganzes Leben noch nicht begegnet. Fast hätte man meinen können, dass diese Frau nicht aus einem Stück bestand, sondern in viele ungleichartige Teile zersplittert war.
Ihm sträubten sich die Nackenhaare.
Trotzdem hielt er sie nicht davon ab, als sie nach seiner Hand griff. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass seine Krallen ausfuhren und seine Augen wieder die der Raubkatze wurden. Die anfängliche Faszination des Leoparden war einem konfusen Beschützerdrang gewichen. Er wollte dieser offenkundig verwundeten Frau nicht wehtun, sie gleichzeitig aber auch nicht zu nah an sich heranlassen.
Ohne seine krallenbewehrten Hände zu beachten, strich die Mediale mit den Fingern über die Smartwatch an seinem Unterarm. Sie war nicht größer als eine gewöhnliche Armbanduhr und sogar nach über einer Dekade noch wie neu. Weil Remi sich nie dazu hatte überwinden können, sie zu tragen – außer einmal im Jahr zum Geburtstag seiner Mutter.
»Ich bestehe darauf, dass du sie annimmst. Zumal ich weiß, dass du niemals so viel Geld für dich ausgeben würdest«, hatte sie kurz vor ihrem Tod lächelnd zu ihm gesagt. »Mein kleiner Sparfuchs.«
All die Jahre, als er fest entschlossen gewesen war, nie ein Alphatier zu werden, als er gegen seinen Instinkt, ein Rudel anzuführen und zu beschützen angekämpft hatte, hatte Remi kaum etwas für sich selbst ausgegeben. Er hatte sich eingeredet, es seien Rücklagen für seinen Ruhestand … auch wenn er nicht eine Sekunde geglaubt hatte, dass er sein Leben nicht schon lange vorher verpfuscht haben würde.
»Rem-Rem«, wisperte die Frau mit dem schlammigen Geruch.
Ihm war, als hätte sie ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt.
»So müde.« Sie schwankte hin und her. »Mein Handgelenk ist viel zu schmal für diese Uhr. Ob mein Rem-Rem ahnt, dass ich sie eigentlich für ihn gekauft habe?«
Übermannt von Trauer, musste Remi sich beherrschen, um sich nicht zu einer zornigen Reaktion hinreißen zu lassen. Ausgeschlossen, dass diese Mediale in seinen Kopf hineinsehen konnte, dafür waren seine Gestaltwandlerschilde zu massiv. Um sich Zugang zu seinen Erinnerungen zu verschaffen, hätte es eines brutalen telepathischen Angriffs bedurft, durch den vermutlich sein Gehirn zerstört worden wäre.
Es musste also eine andere Erklärung geben.
»Sie gehörte meiner Mutter«, entgegnete er mit rauer Stimme. »Sie hat sie mir hinterlassen.« Und Gina Denier war die einzige Person auf der ganzen Welt gewesen, die ihn Rem-Rem genannt hatte. Wenn auch nur, solange sie unter sich waren, weil der Name eher zu einem kleinen Jungen passte. »Oh, mein Rem-Rem«, hatte sie mehr als einmal mit liebevollem Blick zu ihm gesagt. »Aus dir ist ein wahrer Prachtkerl geworden.«
Aber die blauäugige Frau, die seine verborgensten Erinnerungen kannte, hörte nur ihre eigene, innere Stimme. »Ein letztes Geschenk.« Ihre Miene wurde weich. »Ich bin so stolz auf dich, mein Sohn.« Ihre Wimpern flatterten, sie starrte blicklos ins Leere. »Kleine braune Kuchen.«
»Schokoladen-Cupcakes.« Seine Mutter hatte sie geliebt und mindestens einmal in der Woche welche gebacken.
Bis sie zu krank geworden war und er die Arbeit für sie übernommen hatte.
»Bunte Streusel auf den kleinen braunen Kuchen.« Sie blinzelte, ihre Augen schwammen in Tränen. »Es tut weh.« Sie presste die Faust auf ihren Bauch. »So furchtbar weh.« Dann ahmte sie ganz exakt die Geräusche nach, mit denen der Herzmonitor seiner Mutter Alarmsignale ausgesendet hatte.
Remi riss seine Hand weg.
Die Frau taumelte und drohte hinzufallen.
Er hatte ein schlechtes Gewissen und packte ihren Arm, um sie festzuhalten, während gleichzeitig seine Wangen vor Wut darüber brannten, dass diese Fremde im schmerzhaftesten Teil seiner Vergangenheit herumstocherte.
Sie fand ihr Gleichgewicht wieder und richtete ihre schönen, unheimlichen Augen direkt auf sein Gesicht.
Plötzlich wirkte sie nicht mehr benommen und in sich gekehrt, haftete ihrem Geruch nichts Diffuses mehr an.
Er war komplex, glasklar und berauschend.
»Sie war glücklich, als sie diese Uhr das letzte Mal trug.« Deutlich artikulierte Worte voller Nachdruck. »Sie spürte keinen Schmerz, sondern nur Freude darüber, mit dir zusammen zu sein, am Fenster zu sitzen und die Sonne und die Aussicht auf den Wald zu genießen. Sie war zutiefst zufrieden mit dem, was sie im Leben erreicht hatte. Und du warst ihr größter Stolz …« Die Frau wandte ihren Blick ab, der plötzlich wieder stumpf und unkonzentriert wirkte, ihre Muskeln erschlafften, und ihr Geruch wurde abermals zu einer verzerrten Version seiner selbst.
Erschüttert ließ Remi ihren Arm los.
Ohne zu ahnen, welches Chaos sie in ihm angerichtet hatte, drehte sie sich um und kehrte genau zu der Stelle zurück, wo er sie das erste Mal gesehen hatte.
Er beugte sich, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, vornüber und atmete tief ein und wieder aus, während ihn Erinnerungen an seine Mutter durchfluteten, die ihn voller Liebe, Mut und Hingabe großgezogen hatte. Und die ihn durchaus auch auf Linie gebracht hatte, was besonders während seiner Jugendjahre, als er gegen die ganze Welt rebellieren wollte, häufig nötig gewesen war.
»Du setzt dich jetzt auf deinen Hintern, Remington, und erzählst mir haargenau, was dich bedrückt.« Ein strenger Blick aus hellbraunen Augen, deren Iris von einem golden schimmernden Ring umgeben war, in dem sich die Leopardin zeigte. »Du wirst nicht auf die schiefe Bahn geraten, weil du deinen Ängsten erlaubst, sich in dir festzusetzen.«
Sie umfing sein Gesicht mit ihren starken, geschickten Händen, damit er stillhielt. »Du bist nicht nur der Sohn deines Vaters, Rem-Rem, sondern auch der meine. Vergiss das nie.«
Du warst ihr größter Stolz.
Ihm wurde die Brust eng. Wie kam diese Mediale dazu, so etwas zu sagen? Wie konnte sie wissen, welche Wirkung es auf seine noch immer sehr gegenwärtige Trauer haben würde, wenn er erfuhr, dass seine Mutter bei ihrem Tod stolz auf den Mann gewesen war, zu dem er sich entwickelt hatte?
Sie hatte zu Hause sterben wollen und nicht in der sterilen Atmosphäre einer Klinik. »Ich werde in jedem Fall sterben, mein lieber Junge«, vernahm er in seinem Kopf ihre zarte Stimme. »Und ich möchte meine letzten Tage lieber von der Natur umgeben sein, die schon immer an mein wildes Herz gerührt hat.«
Also hatte er sie heimgeholt und in den Wald getragen, wenn sie ihn darum bat. Aber meistens war sie zufrieden gewesen, wenn sie, ihr Gesicht von der Sonne gestreichelt, in ihrem Lieblingssessel an einem offenen Fenster der Hütte sitzen konnte, die er für sie gebaut hatte, als sie zu krank und schwach geworden war, um zu ihrem Baumhaus hinaufzusteigen.
Kurz vor ihrem Ende hatte sie sich ein letztes Mal gewandelt. Sie war so abgemagert gewesen, dass sich unter ihrem schwarz-goldenen Fell, auf dem die Sonnenstrahlen tanzten, ihre Knochen abzeichneten. Trotzdem hatte sie wohlig geseufzt, als sie den Kopf auf die Vorderläufe bettete und die Augen schloss, wie um ein Nachmittagsschläfchen zu halten. Das war seine letzte Erinnerung an Gina Denier.
… am Fenster zu sitzen und die Sonne und die Aussicht auf den Wald zu genießen.
Wie konnte diese rätselhafte Fremde irgendetwas davon wissen?
Es kostete ihn einige Willenskraft, sich aufzurichten und seine Krallen einzuziehen. Sein Tier saß ganz nah an der Oberfläche, und er wusste, dass seine Augen noch nicht wieder menschlich waren.
Das galt es zu korrigieren, bevor er mit den Leuten auf der Lichtung sprach. Remi war sich sicher, dass die Mediale mit der zutiefst verstörenden Aura die anderen weder telepathisch noch sonst irgendwie auf seine Anwesenheit aufmerksam gemacht hatte. Alle standen am selben Fleck wie zuvor, während sie sich ein Stück abseits, die Arme um ihren wohlgeformten Körper geschlungen, vor- und zurückwiegte.
Remi wartete noch ein paar Minuten, ehe er mit leichten Schritten und freundlichem Gesichtsausdruck unter den Bäumen hervortrat. Er wählte dafür ganz bewusst eine andere Stelle als die, an der die junge Frau den Wald betreten hatte. Außerdem war inzwischen so viel Zeit verstrichen, dass das Quartett die beiden Vorfälle nicht miteinander in Verbindung bringen würde.
Alle vier erstarrten – zwei der Männer auf eine Weise, die Remi verriet, dass sie im Kampf ausgebildet waren. Er hielt eine Hand in die Höhe und gab sein Bestes, um einen zwanglosen, unbedrohlichen Eindruck zu machen. »Ich bin Remi vom RainFire-Rudel. Ihr Nachbar.«
Die jüngere Frau verschränkte den Blick mit seinem, und sein Bauch zog sich unwillkürlich zusammen. Sie blinzelte und schaute weg, während die ältere auf ihn zukam.
»Guten Morgen«, sagte sie tonlos, aber sie näherte sich, gefolgt von ihren beiden Anzug tragenden Bodyguards, dicht genug, dass sie sich mühelos verständigen konnten. Unterdessen rückte der dritte Mann näher an die Mediale heran, die Dinge wusste, von denen sie keine Kenntnis haben konnte.
»Mein Name ist Charisma Wai. Ich bin die persönliche Assistentin von Auden Scott.« Sie wies mit einer Bewegung des Kopfes auf ihre schweigsame Begleiterin. »Der neuen Eigentümerin dieses Grundstücks.«
»Remi Denier hat still und leise ein Stück Land in den Smokies erworben und dort zusammen mit einigen Einzelgängern, die er auf seinen Streifzügen kennenlernte, ein neues Rudel gegründet. Meinen aktuellen Informationen zufolge hat er einen Aufruf gestartet, um neue Mitglieder anzuwerben.«
»DannhaterseinSchicksalendlichakzeptiert?IchwusstegleichbeiunserererstenBegegnung,dasserdasZeugzumAnführerhat.EristdamalsmitseinemWagenaufderRennpistegerast,alswäreerfestentschlossen,sichdasGenickzubrechen.«
»Seit ungefähr diesem Zeitpunkt habe ich ihn im Auge behalten – für den Fall, dass er sich als Problem herausstellen würde. Remi ist zu dominant für ein Leben außerhalb einer Gemeinschaft.«
»Denkst du, er wäre bereit, einen guten Rat anzunehmen, der es ihm erleichtern könnte, in seine Rolle hineinzufinden?«
»Ich werde ihm meine Hilfe zumindest anbieten. Aber ich finde, dass er sich bis jetzt ganz gut schlägt. Und ich halte es nicht für einen Zufall, dass der Grund, den er gekauft hat, an ein brachliegendes Areal angrenzt, welches der Kontrolle der Treuhand untersteht.«
»Ein cleverer Schachzug. Falls es ihm gelingt, sein bunt zusammengewürfeltes Rudel ein ganzes Jahr beieinander zu halten, ist er berechtigt, einen Antrag auf Landschenkung zu stellen. Im Allgemeinen mag ich euch Katzen nicht, trotzdem hoffe ich, dass er Erfolg haben wird.«
»Nichts ist unmöglich, wenn wir es sogar schaffen, mit einem Haufen räudiger Wölfe auszukommen.«
Gespräch zwischen Lucas Hunter, Alphatier der DarkRiver-Leoparden, und Hawke Snow, Leitwolf der SnowDancer-Wölfe (27. Januar 2080)
Remi hatte noch nie von Auden gehört, dafür aber von der Familie Scott. Vor einigen Jahren war ein Ehepaar dieses Namens als Repräsentant des mittlerweile abgeschafften Rats ständig in den Nachrichten aufgetaucht.
Der Mann war ein Hüne mit der Körperhaltung eines Offiziers, mahagonifarbener Haut und aristokratischen Gesichtszügen gewesen, die auf seine vornehme Herkunft verwiesen. Er hatte dieselbe Arroganz ausgestrahlt wie seine Frau, eine schlanke, zartgliedrige Mediale mit einem kühlen Porzellanteint und eisblauen Augen. Die beiden Ratsmitglieder verstanden es perfekt, sich kultiviert und mustergültig zu geben, aber Remi hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, hinter die glänzende Fassade zu schauen.
Die Rede war von Henry und Shoshanna Scott.
Was die Haut- und Augenfarbe betraf, hatte sich bei Auden in leicht abgewandelter Form Braun beziehungsweise Blau durchgesetzt, aber es konnte kaum einen Zweifel daran geben, dass Henry und Shoshanna ihre Eltern waren. Ihr Körperwuchs entsprach ungefähr dem ihrer Mutter, und sie besaß die edlen Gesichtszüge ihres Vaters, nur in weiblicher Ausprägung.
»Sieh einer an!« Remi verschränkte die Arme vor der Brust und hauchte seinem Lächeln eine Prise Charme ein. Er wusste, dass das bei den meisten Medialen vergebliche Liebesmühe war, trotzdem konnte ein Versuch nicht schaden. »Ich bemühe mich schon seit einer ganzen Weile, mit der Person, der dieses Stück Land gehört, in Kontakt zu treten. Aber die Suche nach ihr entpuppte sich als einzige Sackgasse. Möchten Sie mir verraten, wie es Ms Scott gelungen ist, sie zu finden?«
Auden selbst schwieg beharrlich und starrte mit leerem Blick zu den Bäumen hinüber.
Ihre Assistentin hätte Remi mitteilen können, dass ihn das überhaupt nichts anging, und das völlig zu Recht. Doch stattdessen sagte sie: »Auden hat diese Parzelle von ihrem Vater geerbt. Die Eigentumsurkunde ging nach seinem Tod verloren – und diesem nicht genehmigten Bauwerk nach zu urteilen, haben irgendwelche Unbefugten sich diesen Umstand zunutze gemacht. Wissen Sie zufällig, wer diese Leute sind?«
Remis Leopard knurrte unter der Haut, er hatte keine Lust, mit dieser Frau zu sprechen, deren Witterung ebenfalls seltsam war, wenn auch auf andere Art als Audens. Ihr haftete diese metallische Note an, die einem Teil der Medialen zu eigen war.
Dieser fiel zwar inzwischen geringer aus als vor der Rückkehr der Empathen ins Medialnet, war jedoch immer noch hoch. Remi hatte von anderen Gestaltwandlern, die mehr Kontakt mit dieser Gattung hatten, erfahren, dass dieser metallische Unterton von jenen Individuen ausging, deren Gefühle durch die als Silentium bekannte Doktrin, die bis vor nicht allzu langer Zeit das Leben der Medialen bestimmte, dauerhaft ausgemerzt worden war.
Auch die drei Männer hatten ihn in abgeschwächter Form an sich.
Die blauäugige Frau, die heute seine Welt aus den Angeln gehoben hatte, trat von einem Fuß auf den anderen.
Sein Leopard nahm noch einen tiefen Atemzug und fauchte. Was zur Hölle war das, das er in ihrem Geruch wahrnahm? Irgendein Beruhigungsmittel? Er hatte nichts dergleichen gewittert, als er ihr ganz nah gewesen war. Und er wusste von diversen Pfeilgardisten, dass die Medialen Medikamente generell mieden, weil sie sich negativ auf ihre geistigen Kräfte auswirkten.
Remi zwang sich, den Blick von Auden loszureißen, und konzentrierte sich wieder auf Charisma Wai. »Es handelte sich um eine Art paramilitärische Einheit«, erklärte er, während er sich fragte, ob sie wirklich so ahnungslos war, wie sie tat.
Jeder kannte die Geschichte von Henry Scott: Er hatte dem größten Wolfsrudel des Landes den Krieg erklärt und den Kürzeren gezogen. Der frühere Ratsherr hatte sich mit genau dem Schlag von Leuten eingelassen, die Aden und Zaira gekidnappt und ihre Gehirne anschließend einem brutalen chirurgischen Eingriff unterzogen hatten. Die beiden wären gestorben, hätte Remi sich nicht gerade auf dem Gelände herumgetrieben, um auszukundschaften, was dort vor sich ging. Und ehe er wusste, wie ihm geschah, hatte er zwei blutende Mitglieder der Pfeilgarde in seinem Fahrzeug gehabt. »Die ganze Bande wurde vor ungefähr eineinhalb Jahren davongejagt und ist nie wieder zurückgekehrt.«
Aden und seine Truppe waren überzeugt, dass sie zu einer Gruppierung gehörte, die sich »das Konsortium« nannte. »Es ist in letzter Zeit still um die Organisation geworden«, hatte Aden erst vor ein paar Wochen bemerkt, während er und Remi gemeinsam eine steile Felswand erklommen. »Kaleb hatte immer den Verdacht, dass Shoshanna Teil des Konsortiums – wenn nicht sogar die eigentliche Drahtzieherin – war, nur konnte er es nie beweisen.«
Aus welchem Blickwinkel man es auch betrachtete, die Scotts hatten ihre Finger in allen möglichen schmutzigen Intrigen gehabt und höchstwahrscheinlich auch bei dieser Operation fleißig mitgemischt.
»Ich verstehe.« Charisma Wai machte ein paar Notizen auf dem schmalen Organizer in ihrer Hand. »Sind Ihnen darüber hinaus irgendwelche Details bekannt?«
»Leider nein.« Remi richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Auden Scott. »Schon eigenartig.«
Sie starrte ihn, ohne zu blinzeln, auf eine Weise an, die er unter anderen Umständen als Provokation verstanden hätte. Stattdessen beschlich ihn nur ein mulmiges Gefühl, weil er sich fast sicher war, dass Auden ihn überhaupt nicht sah, sondern etwas ganz anderes betrachtete, das jenseits seiner Wahrnehmung lag.
»Was meinen Sie?«, fragte Charisma Wai nach einem kurzen Blick zu ihrer Chefin.
Welche mehrmals zwinkerte, bevor sich erneut ein Schleier über ihre Augen legte und dieser unnatürliche Unterton in ihren Geruch zurückkehrte.
Remi unterdrückte das Grollen, das in seiner Brust aufsteigen wollte, weil er wusste, dass die Medialen es als Drohung auffassen würden. »Ich verstehe nicht, wie ein solches Grundstück komplett in Vergessenheit geraten kann.«
»Ratsherr Scott starb vollkommen unerwartet.« Ihr Lächeln war so falsch, dass es einer Fratze glich. »Hinzu kommt, dass er vermögender war, als Sie es sich je vorstellen könnten. Diese kleine Parzelle war nichts als Beiwerk.«
»Autsch.« Remi musste grinsen. »Das hat gesessen.«
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.«
»So sind reiche Leute eben, nicht wahr?« Remi zuckte lässig die Achseln, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. »Und, hat Ms Scott vor, das Land zu veräußern?«
Charisma Wai schaute auf ihren Organizer. »Wir führen gerade eine Erstbesichtigung durch, darum kann ich für nichts garantieren. Allerdings besteht durchaus die Möglichkeit, dass es auf den Markt kommen wird.«
Damit hatte er definitiv nicht gerechnet. Remi wollte zwar unbedingt mit Auden reden, aber diese Sache war wichtiger. Es ging um eine Rudelangelegenheit, und seine Pflichten als Alphatier hatten Vorrang vor allem anderen.
Das hatte er von Anfang an gewusst, ohne dass es ihm erst jemand sagen musste.
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir vorher Bescheid geben könnten, falls das Gelände tatsächlich zum Verkauf angeboten wird.« Die RainFire-Gemeinschaft war in keiner Weise wohlhabend, aber dieses Stück Land lag so weit ab vom Schuss, dass sich mit ziemlicher Sicherheit keine weiteren Interessenten finden würden. Was ihnen eine gute Verhandlungsbasis verschaffen würde.
»Kein Problem. Haben Sie eine E-Mail-Adresse, über die ich Sie erreichen kann?«
Remi nannte sie ihr, anschließend richtete er seine nächsten Worte direkt an Auden. »Haben Sie eine Erklärung dafür, was Ihr Vater mit dem Erwerb dieser Parzelle bezweckte, Ms Scott?« Er war gespannt, ob er ihr eine Antwort entlocken konnte. »Oder warum er seine Eigentümerschaft hinter so vielen Scheinfirmen und falschen Identitäten versteckt hat?«
Keine Reaktion.
Ihr Sprachrohr bedachte ihn erneut mit diesem gruseligen Lächeln. »Die Unterlagen verweisen darauf, dass Henry Scott dieses Land bereits in sehr jungen Jahren kaufte. Möglicherweise wollte er sich ein Immobilienportfolio in dieser Region aufbauen, bevor er erkannte, dass es nicht lukrativ genug war, um sich als Investition in die Zukunft auszuzahlen. Und was Ihre zweite Frage betrifft … nun, er war schließlich Mitglied des Rats.«
Remi nickte. Sie hatte ihm nichts Konkretes mitgeteilt, trotzdem konnte ihre Vermutung zutreffen. Im Allgemeinen interessierten die Medialen sich nicht für Ländereien in abgelegenen Gegenden. Es sei denn natürlich, es handelte sich um eine mächtige Person, die etwas Übles im Schilde führte. Dann war es praktisch, einen geheimen Rückzugsort zu haben, wo man Gefangene foltern konnte, ohne dass jemand ihre Schreie hörte. Und es erklärte, weshalb Scott zu seinen Lebzeiten mit allen Mitteln verhindert hatte, dass jemand einen Bezug zwischen ihm und diesem Besitz herstellte.
Dumm nur, dass sich plötzlich in unmittelbarer Nachbarschaft ein Leopardenrudel niedergelassen und alle seine Pläne durchkreuzt hatte.
»Haben Sie einen offiziellen Nachweis, dass Ms Scott die Eigentümerin ist?«, hakte er nach. »Ich möchte ungern am Ende als Trottel dastehen, weil ich Sie beim Wort genommen habe.« Die ganze Welt wusste, dass Mediale wie Charisma Wai sich den beiden anderen Gattungen weit überlegen fühlten.
Nach ihrer Auffassung waren die Menschen zu schwach und die Gestaltwandler zu animalisch.
Sie zeigte ihm ein Dokument auf ihrem Organizer. Es wirkte authentisch und belegte, dass das Eigentum vor drei Wochen an Auden Scott übergegangen war. Wer immer Henry Scotts Liegenschaften verwaltete, hatte den Überblick über dieses Land tatsächlich schon vor geraumer Zeit verloren.
»Ich maile Ihnen eine Kopie, dann können Sie sich bei den zuständigen Behörden die Echtheit bestätigen lassen. Verständlich, dass Sie nach der Sache mit der paramilitärischen Einheit, die Sie erwähnten, auf Nummer sicher gehen wollen.«
Oft resultierte das rein vernunftgesteuerte Denken unter Silentium stehender Medialer in einer wohltuenden Geradlinigkeit. Zwar wog das nicht den Mist auf, den sie sonst so abzogen, aber es war zumindest ein kleiner Pluspunkt.
Wenngleich es ebenso dazu diente, andere auf Distanz zu halten.
»Danke. Sie wissen, wo die Grenze verläuft? Nicht, dass jemand von Ihren Leuten meine Wächter versehentlich zu aggressivem Verhalten provoziert.« Sie waren viel zu klug und erfahren, um im Affekt anzugreifen, aber Remi wollte, dass Wai sie für eine Gefahr hielt, damit weder sie noch irgendwer sonst aus Audens Entourage auf dumme Ideen käme.
Sie tippte noch einmal auf ihr Tablet, dann drehte sie es so, dass er die Karte darauf sehen konnte. Die Grenze war leuchtend rot markiert. »Ist sie so richtig eingezeichnet?«
Remi warf einen prüfenden Blick darauf. »Sieht gut aus. Meine Leute haben sich angewöhnt, hier durchzulaufen, während das Gelände verwaist war. Ich werde sie anweisen, von nun an auf unserer Seite zu bleiben.«
»Das wäre wünschenswert.« Dieses Mal erinnerte ihn ihr Lächeln an die Gestaltwandlerkobra, der er einmal begegnet war – und die ihm das Blut in den Adern hatte gefrieren lassen. Zum Glück war diese Spezies so selten, dass er niemanden kannte, der außer ihm schon einmal mit einem Exemplar in Kontakt gekommen war. »Nicht, dass am Ende unser Sicherheitsteam zu aggressivem Verhalten provoziert wird.«
»Verstanden«, entgegnete er mit der Andeutung eines Grinsens. Er warf einen letzten Blick zu Auden hin, die nicht ein einziges Mal den Mund aufgemacht hatte, ehe er sich wieder unter die Bäume zurückzog.
Allerdings entfernte er sich gerade nur so weit, dass er von der Gruppe nicht mehr gesehen werden konnte. Theoretisch war es möglich, dass die Personenschützer einen telepathischen Scan durchführen würden, allerdings wusste Remi von seinen Freunden in der Pfeilgarde, dass mediale Leibwächter in aller Regel nur in sehr gefährlichen Situationen auf dieses kräftezehrende Mittel zurückgriffen.
»Für uns gehört das zu unserem Job«, hatte ihm ein hochrangiges Mitglied der Truppe erklärt. »Aber wir verfügen auch über weit mehr geistige Energie als neunundneunzig Prozent unserer Gattung.«
Trotzdem beschloss Remi, ihnen jeden potenziellen Versuch zusätzlich zu erschweren.
Er zog sich im Schatten der Bäume aus, deponierte seine Kleidung auf einem niedrig hängenden Ast, der von dem starken Regen halbwegs verschont geblieben war, und wandelte sich. Sein Körper zersprang in eine Million Lichtfunken, und nur einen von entsetzlichem Schmerz und unvorstellbarer Ekstase begleiteten Wimpernschlag später hatte er die Gestalt des Leoparden angenommen, der seine andere Hälfte war.
Er schüttelte sich, kletterte mit kraftvollen, anmutigen Bewegungen den Stamm empor und bahnte sich den Weg zu einem dicken Ast in der Baumkrone, um von dort aus seine neuen Nachbarn zu beobachten, auch wenn sie jetzt wieder außer Hörweite waren. Sein Schwanz zuckte träge, aber sein Blick war so wachsam wie sein Verstand, dessen Gegenwart Charisma Wai und ihre Bodyguards nun nicht mehr wahrnehmen konnten.
Das wusste er, weil die Elitesoldatin Zaira – Adens Gefährtin und gänzlich unerwartet das Herz des Ortes, wo die Pfeilgarde ein Zuhause gefunden hatte – einmal zu ihm gesagt hatte: »Dein Schild ist immer existent, aber mir ist aufgefallen, dass er nicht wie einer wirkt, wenn du in Tiergestalt bist. Ich kann ihn zwar auch dann spüren, doch das liegt daran, dass ich so viele Gestaltwandler kenne. Die meisten Telepathen würden dich für einen wilden Leoparden halten.«
Remi passte das hervorragend ins Konzept.
Darum traf es ihn völlig unvorbereitet, als Auden Scott, wie schon zuvor, ihren Kopf exakt in seine Richtung wandte und zu seinem Baum hinüberstarrte, als könnte sie durch das dichte, dunkelgrüne Blätterwerk hindurch seinen mit dem Dämmerlicht verschmolzenen goldenen Pelz sehen, während Remi die Gruppe auf der Lichtung observierte. Es war, als spürte auch sie diese zwanghafte Anziehung, die ihn zu dem wiederholten Versuch animiert hatte, Auden irgendwelche Reaktionen zu entlocken, um aus ihr klug zu werden.
Er erwiderte ihren Blick, lieferte sich einen Anstarrwettbewerb mit ihr, der allen anderen verborgen blieb.
Aufgrund eingangs erwähnter und mittels qualifizierter Rechtsberatung attestierter Umstände widerrufe ich hiermit die Einsetzung von Auden Jackson als meine rechtmäßige Erbin. Sie hat aufgrund dieser neuen testamentarischen Verfügung keinerlei Ansprüche auf mein Vermögen, die über die ihr zugewiesenen Vermächtnisse hinausgehen.
Zur Klarstellung: Seitens Shoshanna Scotts ist keine Vertragsstrafe wegen der Adoption von Auden durch ihre Familie zu entrichten. Shoshanna und ich haben die Angelegenheit zu unser beider Zufriedenheit intern geklärt; es bestehen keine offenen Forderungen.
Aktualisierte Version von Henry Ignatius Scotts letztem Willen (9. März 2076)
Audens Kopf fühlte sich schwer an, ihre Sicht war verschwommen, trotzdem konnte sie nicht aufhören, zu dem Mann im Wald hinüberzustarren. Sie hatte Erinnerungen über die Uhr an seinem Handgelenk aufgefangen, die nicht schmerzhaft gewesen waren, und daraus geschlossen, dass die Person, die sie vor ihm trug, gütig war, auch wenn Auden nur eine sehr ungefähre Vorstellung davon hatte, was dieses Wort bedeutete.
Ihre Gedanken zersplitterten ohne Vorwarnung, sie zerfransten an den Rändern, bis sie nicht mehr wusste, warum sie die hoch aufragenden Bäume mit ihren dicht belaubten Ästen und den knorrigen Stämmen fixierte, deren raue, borkige Oberfläche sie förmlich an ihren Handflächen spüren konnte. Und sie entsann sich auch nicht mehr, wieso sie heute Morgen mit Blutergüssen an ihrer Hüfte und ihren Schenkeln aufgewacht war.
Sie taten weh.
»Auden.« Charismas spröde Stimme.
Es dauerte ein, zwei Sekunden, ehe sie zu ihr durchdrang, aber als sie es dann tat, zwang Auden sich, ihren Blick vom Wald loszureißen und auf die Frau zu richten, die, solange sie denken konnte, die rechte Hand ihrer Mutter gewesen war.
Charisma Wai war intelligent, resolut in ihren Ansichten, was mediale und genetische Vollkommenheit betraf, und sie verstand ihren Job. Und Auden kannte sie schon so lange, dass sie Charisma selbst dann nicht vergaß, wenn ihr Gedächtnis aussetzte.
»Das war unerwartet«, sagte sie gerade, während Auden nur mühsam dem Drang widerstand, schon wieder zu dem dunkelgrünen Dickicht hinüberzuspähen, das so gar keine Ähnlichkeit mit den gepflegten Grünflächen und präzise geschnittenen Hecken hatte, an die sie gewöhnt war.
»Ja«, sagte sie schließlich, weil Charisma auf eine Reaktion von ihr wartete. In Wahrheit hatte Auden keine Ahnung, worauf sie antwortete, wusste schon jetzt nicht mehr, worüber sie sprachen.
»Der Mann ist ein Gestaltwandler«, erklärte Charisma in schroffem Ton und blickte auf ihren Organizer. »Er hat Interesse am Erwerb dieses Grundstücks gezeigt.«
Auden schwieg.
»Normalerweise würde ich dir von einem Verkauf abraten. Es kann nützlich sein, einen geheimen Stützpunkt für verdeckte Operationen zu haben.«
Dieses Mal war es Auden gelungen, ihr zu folgen. »Aber?« Sie versuchte, den Gesichtsausdruck der Frau zu deuten, die seit dem Tag ihrer Geburt zumindest am Rande zu ihrem Leben gehörte. Obwohl Auden größtenteils im Haushalt ihres Vaters und bei seinen Angehörigen aufgewachsen war, hatte sie stets gewusst, wie wichtig Charisma für ihre Mutter war.
»Ich hatte bis gerade eben keine Kenntnis davon, dass dieses Grundstück an ein Gestaltwandlerrevier grenzt.« Ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich. »Viele Rudel schotten sich von der Außenwelt ab und bleiben unter sich, aber da dieser Remi aus eigenem Antrieb an uns herangetreten ist, würde ich mich in diesem Fall nicht darauf verlassen. Das Tier in ihm gehört definitiv keiner Spezies an, die sich ausschließlich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmert.«
Audens Gehirn feuerte wie wild und förderte die fragmentarische Erinnerung an einen Mann zutage, dessen von hellen Streifen durchzogene Augen so klar waren wie der Topas, den sie einmal gesehen hatte. Sein nachlässig geschnittenes Haar schimmerte in vielen Schattierungen von Braun, und seine golden getönte Haut sah warm aus und lud zum Streicheln ein.
Nein, seine Augen waren gelbgrün, widersprach eine Stimme in ihrem Kopf.
»Beides«, wisperte sie. »Sie waren beides.«
Weil der zweite Teil seiner Seele eine Katze war.
Es verwirrte sie, dass Charisma trotz ihres unbeschädigten, einwandfrei arbeitenden Verstandes nicht darauf gekommen war. Seine geschmeidigen Muskeln, die gemächlichen, fließenden Bewegungen waren ein eindeutiger Beleg.
»Ich glaube …«, sagte sie, jetzt laut genug, dass Charisma es hören konnte, »ich würde hier gern ein Haus haben. Einen ruhigen Rückzugsort. So wie … Vater früher welche besaß.«
Ich begebe mich an meinen ruhigen Rückzugsort, um nachzusinnen, Auden. Darum kannst du nicht mitkommen. Wenn ich mit dir zusammen bin, sind meine Gedanken nur bei dir, weil du meine Tochter und Erbin bist.
Charisma schaute sie prüfend an. »Kannst du diese Gleichung lösen?« Sie hielt Auden ihren Organizer hin.
Die Zahlen wirbelten in Unschärfe durcheinander, doch dann streckte Auden die Hand aus und tippte die Lösung, die ihre voll funktionstüchtige Großhirnrinde ihr eingab.
Charisma schnappte hörbar nach Luft.
»Ich denke, es ist Zeit, Dr. Verhoeven aufzusuchen. Was dieses Stück Land betrifft, verstehe ich, was du meinst. Aber überlege es dir gut. Ich weiß nicht genug über die privaten Immobilien deines Vaters, doch ich weiß, dass sich die deiner Mutter fernab von neugierigen Nachbarn befanden. Außerdem führt noch nicht einmal eine Straße zu diesem gottverlassenen Ort. Du müsstest ein Luftfahrzeug benutzen oder die Dienste eines Teleporters in Anspruch nehmen.«
Audens Lider senkten sich kurz und hoben sich wieder. Ihre Gedankenströme drohten ihr zu entgleiten, doch zum ersten Mal seit einer endlosen Zeit vollkommener Leere gelang es ihr, mit ihren geistigen Fingern nach ihnen zu greifen und sie festzuhalten.
Das Transportproblem könnte sich sogar als vorteilhaft erweisen.
Bevor ihr Verstand vernebelt und zerrüttet gewesen war, hatte sie irgendetwas vollbracht. Bloß was?
Ich gratuliere dir zu deiner Pilotenlizenz. Du hast den Test bestanden, obwohl du erst vierzehn bist. Damit machst du der Familie große Ehre.
Ein Steuerknüppel in ihren Händen, das berauschende Gefühl, vom Boden abzuheben.
Sie konnte kleinere Fluggeräte bedienen, so wie den schnittigen schwarzen Düsenhubschrauber, den sie zur Belohnung von ihrem Vater bekommen hatte. Sie erinnerte sich, dass Shoshanna nicht erfreut gewesen war und gemeint hatte, Auden sei zu jung.
»Was diese Gestaltwandler angeht, haben sie praktisch keinen Fußabdruck im Internet hinterlassen«, fuhr Charisma fort, ihren Blick auf ihr Tablet gerichtet, das regelrecht mit ihrem Körper verwachsen zu sein schien. »Manche Rudel versuchen, es um jeden Preis zu vermeiden. Darum sollten wir nicht automatisch davon ausgehen, dass diese Gruppe schwach oder klein ist. Aber zumindest konnte ich über den Grundbucheintrag ihren Namen herausfinden: RainFire. Sie haben das Nachbarareal vor gerade einmal dreieinhalb Jahren gekauft und darüber hinaus einen rechtlichen Anspruch auf öffentliches Gebiet, doch der überwiegende Teil ihres Territoriums stammt von der Treuhand.«
Auden starrte sie an, hatte Mühe zu begreifen. »Was ist eine Treuhand?«
»Das weiß ich selbst nicht.« Die Lider von Charismas runden, leicht schräg gestellten Augen schienen vor Frustration leicht zu zucken, aber Auden wusste, dass das ein durch ihre eigene mentale Störung ausgelöstes Produkt ihrer Fantasie sein musste. Charismas Silentium war makellos.
»Ich werde kurz im Medialnet recherchieren.«
Eigentlich hätte Auden dazu selbst imstande sein müssen, aber ihr Gehirn weigerte sich preiszugeben, wie sie ins geistige Netzwerk gelangen konnte. Die Information lag direkt vor ihr, knapp außer Reichweite, und der Vorgang an sich war so elementar, dass er ihr zur zweiten Natur hätte werden müssen. Es war, als hätte sie das Laufen verlernt.
»Die Treuhand wurde im Zuge des Friedensabkommens nach den Territorialkriegen im achtzehnten Jahrhundert gegründet«, erklärte Charisma. »Sie verwaltet die Ländereien ausgestorbener Rudel und vergibt sie an Gestaltwandlergemeinschaften, die die erforderlichen Kriterien erfüllen.«
Für Auden hatte nichts davon irgendeine Bedeutung, ihre geistigen Finger erschlafften plötzlich und entließen die Gedankenströme aus ihrem Griff. Sie schwankte vor und zurück.
Charisma legte ihr die Hand auf die Schulter. »Bringen Sie uns zu Ms Scotts Arzt«, wies sie irgendjemanden in scharfem Ton an.
Auden bekam von der Teleportation nichts mit, aber einen Herzschlag später stand sie in einem strahlend hellen Raum, in dem sich ein mit weißem Kunstleder bezogener Untersuchungsstuhl und unzählige an Monitore angeschlossene medizinische Geräte befanden.
Die Luft roch steril, keine Spur mehr von feuchter Vegetation, kein frischer Sauerstoff mit jedem Atemzug.
Sie war schon früher hier gewesen. Viele Male. Als Charisma sie aufforderte, Platz zu nehmen, protestierte sie nicht. Sie setzte sich in den mit breiten Armstützen ausgestatteten Stuhl, die Lehne fuhr zurück, sodass Auden auf dem Rücken lag, dann senkte sich eine durchsichtige Haube über ihren Kopf.
»Charisma.« Die Stimme eines Mannes, eine Bewegung an der Tür. »Zeigen Sie mir die Gleichung, die Sie sie haben lösen lassen.«
Dr. Verhoeven, meldete Audens Gehirn und lieferte gleichzeitig ein Bild zu dem Namen und der Stimme. Rosafarbene Haut mit Narben von Jugendakne, die entweder nicht oder unfachmännisch behandelt worden war, kurz geschnittenes, stets akkurat gescheiteltes rotbraunes Haar, untersetzter Körperbau.
»In der Tat«, murmelte er. »Das ist ein ermutigendes Zeichen.«
Rings um Auden erwachten Monitore zum Leben, während er einen … Scan durchführte. Ja, das war das richtige Wort.
Sie zog sich in ihr Inneres zurück, während ihre Gedanken um das Faszinierendste kreisten, was sie heute gesehen hatte: ein Mann, der sich bewegte wie eine Katze. Aber was für eine? Doch bestimmt keine Hauskatze. Auden glaubte nicht, dass diese Gestaltwandlerspezies existierte.
Also musste er zu den Raubtieren gehören.
Es könnte ein Leopard, ein Tiger, ein Jaguar, ein Luchs oder ein Puma gewesen sein.
Gab es noch weitere?
Die flackernden Lichter um sie herum holten sie in die Gegenwart zurück.
»… funktioniert.« Dr. Verhoevens Stimme klang höher als sonst. »Ihre neuronale Aktivität hat sich in einem Maß gesteigert, das alle Vergleichsdaten seit dem missglückten Versuch weit übertrifft.«
»Aber warum ausgerechnet heute? Ich nehme sie schon seit zwei Monaten, als Sie erste Anzeichen für eine Regeneration bei ihr feststellten, zu Ortsbesichtigungen und anderen, mit geringem Risiko verbundenen geschäftlichen Unternehmungen mit. Shoshanna ist begeistert von Audens Fortschritten und hofft, dass externe Stimulation ihre Genesung weiter vorantreibt.«
»Ja, vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit. Aber anders, als wir gern glauben würden, gibt es noch immer vieles, was wir nicht über die Funktionsweise des medialen Gehirns wissen.«
»Wie wird sich das Ganze auf ihren körperlichen Zustand auswirken?«
»Schwer zu sagen. Weiß sie überhaupt, dass sie schwanger ist?«
Auden driftete geistig wieder davon, ihr Kopf füllte sich mit Bildern von großen Raubkatzen … und Schnappschüssen von ihr in Momenten, an die sie keine Erinnerung hatte. War das sie, die da an diesem Konferenztisch saß? Die an ein Gerät angeschlossen war, das ihren Bauch scannte? Die auf einem Untersuchungstisch lag, während … während …
Sämtliche Gedanken entzogen sich ihr.
Mit Ausnahme von einem.
Ein großes, schimmerndes Fragment, das in einem einzigen Wort kulminierte: schwanger.
Dann wurde es verdrängt von einer anderen Erinnerung, die an die Oberfläche ihres Bewusstseins trieb. Auden hatte an einem Videoanruf mit einem Geschäftspartner teilgenommen. Nicht heute oder gestern oder vor zwei Wochen. Aber irgendwann einmal.
Im Grunde hatte sie nichts weiter tun müssen, als ihr Gesicht zu zeigen, während Charisma die Besprechung leitete. Audens Aufgabe beschränkte sich darauf, ihren ruchlosen Verhandlungspartner in den Glauben zu versetzen, dass die Familie eine über starke Kräfte gebietende Erbin in der Hinterhand hatte.
Nicht die Familie ihres Vaters. Sondern Shoshannas.
Scott war ihr Nachname. Henry hatte ihn nur in der Öffentlichkeit benutzt, um das Bild der Einheit zu stärken, auf das er und seine Frau sich im Rahmen ihrer Zusammenarbeit verständigt hatten. Er war als Henry Ignatius Jackson zur Welt gekommen.
»Ein Mitglied der Scotts muss bei diesen Gesprächen anwesend sein«, hatte Charisma ihr erklärt. »Und zwar ein Abkömmling der direkten Linie, was auf dich zutrifft. Dein Onkel und dein Cousin kommen nicht infrage, weil sie von einem Nebenzweig abstammen. Es ist wichtig, dass du jetzt, da du die Zwanzig überschritten hast, sichtbar wirst. Das wird einen reibungslosen Machtwechsel ermöglichen, wenn es soweit ist.«
Auden verstand nicht, warum das von Belang sein sollte, da doch Shoshanna sämtliche Zügel fest in der Hand hielt, aber ihr Kopf hatte nicht gut genug funktioniert, um Charisma zu bitten, es ihr zu erklären. Also hatte Auden ihre Rolle gespielt und die Worte nachgeplappert, die die andere ihr während der Einleitungsphase telepathisch soufflierte, und sich anschließend einfach zurückgelehnt.
Niemand hatte ihr zugetraut, die Besprechung selbst zu führen.
»Wird er sich nicht brüskiert fühlen, wenn ich nicht mit ihm selbst verhandle?«, hatte sie in einem seltenen Moment der Klarheit zu bedenken gegeben.
Ein durchdringender Blick. »Erstaunlich. Dein Verstand wird tatsächlich langsam wieder so scharf wie früher.« Dann antwortete sie auf Audens Frage. »Nein. Er weiß, dass du eine junge Frau bist, die gerade die Grundlagen erlernt. Aber durch deine Anwesenheit verdeutlichst du, dass du ganz sicher die Absicht hast, die Geschäfte zu übernehmen, wenn deine Mutter in den Ruhestand geht. Und dass ich als ihre Stellvertreterin agiere, ist nicht ungewöhnlich. Es ist allgemein bekannt, dass die ehemalige Ratsfrau sehr viel zu tun hat.«
Gegen Ende des Meetings hatte sich Audens Verstand immer wieder eingetrübt, und nur durch schiere Willenskraft war es ihr gelungen, sich an der Realität festzuklammern.
Wieder dachte sie an den Mann, dem sie heute begegnet war.
Topas. Wildes Gelbgrün. Spuren von Gold in struppigem Haar.
Kräftiger Körper … aber geschmeidige, katzenhafte Bewegungen. Krallen.
War es eine Erinnerung? Aber wie sollte das möglich sein? Aus welchem Grund könnte sie heute in einem Wald einem Gestaltwandler gegenübergestanden haben? Ihr Oberarm pulsierte, sie spürte das Echo von warmen, starken Fingern, die ihn umschlossen.
Ihre Gedanken zerfaserten an den Rändern.
Ein leises Fauchen und ein Blick aus gelbgrünen Augen, der ihr folgte, als sie in die Leere glitt.
Kompletter Misserfolg. Durch die Fehlfunktion wurden Läsionen in ihrem Gehirn hervorgerufen, und die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Genesung ist gleich null.
Bericht von Dr. Nils Verhoeven an Shoshanna und Henry Scott (11. November 2075)
Auden erwachte, bekleidet mit einem weißen, an ein Krankenhaushemd erinnernden Nachtgewand, in ihrem Bett. Sie warf einen Blick auf das kleine Gerät an der Wand über ihrem Nachttisch, das Datum und Uhrzeit anzeigte.
Es waren drei Tage vergangen seit ihrer Begegnung mit einer Gestaltwandlerraubkatze.
Sie war es gewohnt, das Zeitgefühl zu verlieren, aber seit ihr mentaler Zustand angefangen hatte sich zu stabilisieren, erinnerte sie sich in der Regel – wenngleich bruchstückhaft, schwammig und diffus – daran, wie sie den Tag verbracht hatte.
Doch die vergangenen zweiundsiebzig Stunden waren vollständig ausradiert.
Auden spürte einen dumpfen Schmerz in ihren Armen und Beinen, als sie aufstand und über den Teppich zum Bad tappte. Es fühlte sich an wie ein Muskelkater. Sie trat durch die Tür, schaltete das Licht ein und betrachtete sich im Spiegel. Ihr Haar war zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, die eng am Kopf anlagen. Es war eine außerordentliche Präzisionsarbeit, die mindestens drei Stunden in Anspruch genommen haben musste.
Trotzdem hatte sie keinerlei Erinnerung an das Ziepen, das normalerweise damit einherging.
Und ebenso wenig daran, sich diese Frisur ausgesucht zu haben. Sie entsprach nicht ihrem Stil. Ihre Großmutter väterlicherseits hatte darauf beharrt, dass es die beste Methode sei, um ihre Locken vor Spliss zu schützen, und Auden ihre gesamte Kindheit hindurch gezwungen, diese Flechtfrisur zu tragen.
Keine Diskussion. Kein Mitspracherecht.
Vielleicht erklärte das, warum Auden, seit sie erwachsen war, ihre Haare stets zu einem Knoten zusammenfasste oder – wenn sie zu Hause und keine außenstehende Person anwesend war – offen und nur mit Spangen zur Seite gesteckt herabfallen ließ.
Auden nahm vage eine Präsenz in ihrem Bewusstsein wahr … aber sie machte ihr keine Angst.
Stattdessen regte sich ein starker Beschützerinstinkt in ihr, und sie betastete intuitiv ihren Bauch. Er war nicht gewölbt, aber auch nicht mehr so flach wie früher.
»Ich bin schwanger.«
Sie empfand keine Überraschung. Allerdings verstand sie nicht, warum sie ein Kind erwartete. Obwohl sie in drei Monaten vierundzwanzig würde, war das nach den Standards der Medialen – und erst recht nach denen ihrer Familie – deutlich zu jung. Die Jacksons gingen eher nach der Reife als nach dem Alter der betreffenden Person, aber bei den Scotts galt die strikte Regel, dass unter dreißig keine Fortpflanzungsverträge geschlossen wurden. Undenkbar, dass Shoshanna in diesem Punkt Zugeständnisse gemacht hatte.
Und die Scotts waren jetzt ihre Familie. Auden würde nie wieder eine Jackson sein.
Dieses Wissen hatte sich ihrem Gedächtnis unauslöschlich eingebrannt.
Charisma hatte ihr irgendetwas erzählt, aber Auden konnte sich nur noch unscharf entsinnen, was es gewesen war, dafür fiel ihr etwas anderes ein, was sie zu ihr gesagt hatte. Sie ging zu ihrem Nachttisch und griff nach dem kleinen Organizer, der neben der darauf befindlichen Wasserflasche lag.
»Ich werde ein Tagebuch für dich anlegen«, vernahm sie das Echo von Charismas Stimme in ihrem Kopf. »Du kannst selbst etwas hineinschreiben, und an den Tagen, an denen du nicht auf der Höhe bist, werde ich Informationen darin festhalten, damit du nachlesen kannst, was an ihnen passiert ist. Dr. Verhoeven glaubt, dass dir das dabei helfen könnte, über längere Phasen geistig anwesend zu bleiben.«
Auden entsperrte den Organizer mittels Stimmerkennung und las den letzten, mit Charismas Namen und Zugangscode versehenen Eintrag.
Du hast beschlossen, während der Schwangerschaft Sport zu treiben, und der von Dr. Verhoeven empfohlene Gynäkologe befürwortete deinen Plan. Darum habe ich es arrangiert, dass ein Personal Trainer, der bei der Familie unter Vertrag steht (er hat eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet und weiß, welch harte Strafe ihn im Falle eines Verstoßes erwarten würde), dich im hauseigenen Fitnessstudio auf dem sicheren Anwesen der Scotts bei deinem Vorhaben unterstützt. Deine Mutter hat diese Maßnahme während ihres kurzen, vierundzwanzigstündigen Besuchs befürwortet.
Du hast ungefähr eine Stunde zusammen mit ihm trainiert, und er achtete darauf, dich langsam an die körperliche Ertüchtigung heranzuführen und nicht zu überanstrengen. Am Ende warst du außer Atem, aber du hast sämtliche Übungen, die er dir auftrug, absolviert. Er hat vorgeschlagen, eine tägliche Routine daraus zu machen, damit du die Muskeln wieder aufbaust, die du in den Jahren seit dem ursprünglichen Fehlschlag verloren hast.
Die Entscheidung liegt ganz bei dir, trotzdem habe ich dem Trainer, für den Fall der Fälle, in der benachbarten Stadt eine Unterkunft besorgt, damit du nach Belieben auf seine Dienste zurückgreifen kannst.
Auden versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie Gewichte gestemmt, ein Laufband benutzt und Dehnübungen gemacht hatte – oder auch nur an Charismas schlanke, dunkelhaarige Gestalt –, aber wieder war da nur eine kahle Wand. Nein … nicht ganz. Plötzlich nahm sie etwas Metallisches in ihrem Mund wahr. Sie fragte sich, ob sie sich auf die Zunge gebissen hatte und ihr eigenes Blut schmeckte.
Aber als sie es im Spiegel überprüfte, konnte sie keine Verletzung entdecken.
Doch der Geschmack blieb. Und er kam vier Tage später zurück – zusammen mit einer noch größeren Gedächtnislücke. Sie erzählte Charisma davon, woraufhin diese Auden von Dr. Verhoeven untersuchen ließ.
Seine Schlussfolgerung war, dass ihr Gehirn ausbrannte, derweil es phasenweise mit voller Kapazität funktionierte. »Das wird sich geben«, beruhigte er sie. »Momentan sieht alles danach aus, als handele es sich um einen typischen geistigen Erschöpfungszustand, der zur Folge hat, dass eine Zeitlang keine Erinnerungen erzeugt werden. Ihr Gehirn wurde massiv geschädigt – da sind solche Rückschläge zu erwarten.«
Für Auden klang das irgendwie nicht einleuchtend, zumal Charismas Tagebucheinträge darauf hinwiesen, dass Auden während dieser Phasen bei klarem Verstand und entschlossen gewesen war, mit ihren selbst auferlegten Aufgaben weiterzumachen. Aber sie fand nicht die richtigen Worte, um ihm zu widersprechen. Nicht an jenem Tag und auch nicht in den darauffolgenden Wochen, als ihre Filmrisse an Häufigkeit zunahmen und der metallische Geschmack in ihrem Mund so stark wurde, dass sie sich eines Nachts sogar übergeben musste.
Würgend und von Krämpfen geschüttelt, hatte sie, die Wange auf die kalten Fliesen gepresst, am Boden gekauert.
Baby. Mein Baby!
Ein Alarm hatte geschrillt.
Dann hastige Schritte.
Ein rötliches Gesicht, das sich über sie beugte »… Überlastung! Bringen Sie sie …«
Später Erinnerungsfragmente an einen Raum voller summender und piepender Maschinen, die über feine Schläuche mit ihrem Körper verbunden waren.
»… aufhören …« Charismas scharfe Stimme am Rande ihres Bewusstseins. »… wird nicht …«
»Es hätte zu einer Fehlgeburt kommen können. Sie müssen sie überzeugen, weniger …«
Dann nichts mehr, ihre Gedanken so weich und verheddert wie ein Wollknäuel.
Der metallische Geschmack war verschwunden, als Auden das nächste Mal zu sich kam, und er kehrte, obwohl sie damit rechnete, auch in den Tagen danach nicht zurück. Sie hatte immer noch Blackouts, aber ihre Erinnerungen waren – zwar unscharf und lückenhaft – vorhanden. Keine kahle Wand, vielmehr schien es, als hätte ein übermächtiges Wesen Audens Gedanken mit einem schmutzigen Radiergummi bearbeitet und ein verschmiertes Chaos hinterlassen.
Wilde gelbgrüne Augen, in denen Zorn loderte.
Tödlich scharfe Krallen.
Eine sengende Berührung.
Diese falsche Erinnerung verblasste nicht und ließ sich auch nicht vertreiben. Sie suchte sie in ihren Träumen heim, genau wie die große Katze, deren Gestalt sie nicht genau bestimmen konnte. Das Einzige, was sie klar und deutlich sah, waren Augen, die im Dunkeln glühten.
Sir, die Auswirkungen des letzten Versuchs waren schädlich, mit einem erheblichen Risiko einer Fehlgeburt. Dr. Verhoeven rät dringend dazu, keine weiteren Versuche zu unternehmen, bis das Kind geboren ist. Ich füge seine Empfehlung sowie Notizen zu Audens Gesundheitszustand bei.
Nachricht von Charisma Wai an Shoshanna Scott (21. Juni 2083)
Die Frau, die früher dem Rat angehört hatte und heute ein ungleich mächtigeres Geschöpf war, nahm Charismas Mitteilung zur Kenntnis, stellte das Thema jedoch zurück, bis sie sich um eine dringlichere Angelegenheit gekümmert hatte.
Als sie dann endlich Zeit fand, sich in Ruhe hinzusetzen und sich die medizinischen Berichte sowohl über Auden als auch den Fötus anzusehen, musste sie Verhoevens Einschätzung zustimmen. Auden war entbehrlich, aber Shoshanna hatte viel zu viel Zeit und Geld in das Kind investiert, um es jetzt einem Risiko auszusetzen.
Nun, egal. Sie konnte noch ein paar Monate länger warten, ehe sie ihre These ein weiteres Mal auf den Prüfstand stellte. Schließlich hatte sie sich jahrelang in Geduld gefasst, genauer gesagt, seit dem Tag, an dem der Chip den Geist ihrer Tochter quasi zu einem Häufchen Asche verbrannt hatte.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und trank einen Schluck von der klaren Flüssigkeit, die dazu gedacht war, ihr Gehirn mit neuer Energie zu versorgen. Durch dessen verborgenste Windungen ein einziges, geflüstertes Wort geisterte. Mutter. Ihre wahren Kinder, die Skarabäen, die nach ihr riefen.
Bald, versprach sie ihnen. Meine Herrschaft rückt näher. Und dann werdet ihr sein, wozu ihr immer bestimmt wart: die Elite der medialen Gattung.
Heute
Wenngleich es mir widerstrebt, sie aus den Augen zu lassen, müssen wir ihren Wunsch wohl respektieren, um eine weitere Zusammenarbeit mit ihr zu gewährleisten. In diesem späten Stadium verbietet es sich von selbst, noch einmal auf die früheren Maßnahmen zurückzugreifen. Die Gefahr für den Fötus wäre zu hoch.
Das Wichtigste ist, dass sie Ruhe bewahrt. Solange sie die Vitaldatenmonitore benutzt, die ich ihr zur Verfügung gestellt habe, dürfte das Risiko überschaubar sein. Wir können zu ihr teleportieren, falls medizinische Probleme auftreten.
Private Nachricht von Dr. Nils Verhoeven an Charisma Wai (vor 48 Stunden)
Es war Lark, die den kleinen schwarzen Helikopter entdeckte, der spätnachts über das RainFire-Territorium hinwegflog. Und sie befand sich nahe genug an der nördlichen Grenze, um zu beobachten, wie er auf dem Landeplatz aufsetzte, der vor einem Monat auf dem Nachbargrundstück eingerichtet worden war – unmittelbar, nachdem man dort eine kleine Hütte errichtet hatte.
Die Scotts hatten darauf verzichtet, den Bunker abzureißen, wahrscheinlich, weil das mit zu viel Aufwand verbunden gewesen wäre.
»Außer dem Piloten war niemand an Bord«, sagte Lark am nächsten Morgen zu Remi. »Darum habe ich dich nicht geweckt.« Sie biss ein Stück von ihrem gebutterten Toast ab.
Sie saßen zusammen mit Angel, einem weiteren von Remis Wächtern, an einem Tisch im Speiseraum, der in einem der Baumhäuser untergebracht war. Es ging relativ ruhig zu, die meisten Anwesenden kamen gerade von ihrer Nachtschicht auf der Krankenstation oder als Sicherheitspatrouille – es fanden sich nur ein paar vereinzelte Personen darunter, die aufgrund anderer Pflichten noch auf den Beinen waren.
Die meisten, die sich am kalten und warmen Büffet bedienten, hoben nur grüßend die Hand, bevor sie sich mit ihren Tellern in stille Ecken oder an Tische verzogen, wo Rudelmitglieder saßen, die ebenfalls nicht in Plauderlaune waren.
Katzen hatten bisweilen das Bedürfnis, mit ihren Gedanken allein zu sein, und das galt es zu respektieren.
Alle, mit Ausnahme von Lark, die anscheinend in ihrem früheren Leben eine Bärin gewesen war. Die zartgliedrige Leopardin mit den feingeschnittenen Gesichtszügen und der ebenholzschwarzen Haut, die ihre kurzen Haare gern kunterbunt färbte, heute leuchtend pink – auch wenn die Verwandlung ihr Werk jedes Mal zunichtemachte –, war gern in Gesellschaft und liebte Klatsch und Tratsch.
»Details konnte ich nicht erkennen, weil die Hütte die Sicht auf den Landeplatz größtenteils versperrt«, fügte sie gerade hinzu. »Der Pilot stieg aus und verschwand durch die Hintertür im Inneren des Gebäudes.«
Remi war nicht besorgt, dass er eine potenzielle Bedrohung verschlafen haben könnte. Ein guter Anführer vertraute den Leuten, die er in hohen Positionen einsetzte. Wer nicht delegieren konnte, würde in null Komma nichts kein Rudel mehr haben. Raubtiergestaltwandler wie die RainFire-Leoparden kannten kein Erbarmen mit Idioten, die versuchten, sie am Gängelband zu führen.
Er trank einen Schluck Orangensaft, während er über das, was er von Lark gehört hatte, nachdachte. »Du bist sicher, dass es nur eine einzige Person war?«
»Ganz sicher. Es handelt sich um einen dieser für Kurzstrecken gedachten Mini-Helis mit gläserner Cockpithaube. Er bietet Platz für zwei Personen, aber ich habe nur eine Silhouette gesehen.«
»Ich vermute, er ist von Sunset Falls aus gestartet«, murmelte Angel, sein Haar verstrubbelt nach der langen Nacht, seine wie gemeißelten Gesichtszüge wie immer ein echter Hingucker. »Es gibt am Ortsrand ein Rollfeld und einen kleinen Hangar, wo Leute aus abgelegenen Gebieten ihre privaten Fluggeräte parken können, wenn sie diesen Teil der Smokies besuchen.«
Remi nickte, als sich im selben Moment Rina Monaghan mit einem Frühstückstablett auf den Stuhl neben ihm setzte. Die große, mit üppigen Kurven ausgestattete Wächterin, die ihr blondes Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengefasst hatte, würde jeden, der sie blöd anmachte, ohne mit der Wimper zu zucken einen Kopf kürzer machen.
Seinem Leoparden war vor Stolz die Brust geschwollen, als sie darum gebeten hatte, sich dem RainFire-Rudel anschließen zu dürfen.
Aber ungeachtet seiner Freude über das Interesse der jungen, starken Soldatin hatte er als Erstes Lucas Hunter gefragt, was er von Rinas Plan hielt.
Er wusste, dass Rina bereits mit ihrem Alphatier gesprochen haben musste, trotzdem wäre es schlechter Stil gewesen, nicht mit Lucas persönlich zu reden.
Das Letzte, was er und seine Leute brauchen konnten, war, sich das mächtige Rudel, das ihnen noch vor allen anderen die Hand gereicht hatte, zum Feind zu machen. Lucas hatte Remi nicht nur mit Rat und Tat bei dessen Bewerbung um den Anführerposten unterstützt, sondern ihm sogar ein paar seiner eigenen Handwerker zur Verfügung gestellt, die beim Bau der ersten Baumhäuser mithalfen.
Ein Geschenk von Alphatier zu Alphatier und eine Geste der Freundschaft, die Remi nicht als selbstverständlich betrachtete.
»Rina ist jetzt eine erwachsene Frau und zu stark und erstklassig ausgebildet, um etwas anderes als eine Wächterin zu sein«, hatte Lucas geantwortet. »Nur leider haben wir bereits für uns die maximale Anzahl erreicht. Wäre sie nicht so verdammt loyal, hätten wir sie längst verloren.« Ein Zucken seiner Kiefermuskeln. »Ich will sie nicht gehen lassen, aber es ist an der Zeit. Sie wird eine Bereicherung für euch sein.«