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Eine rasante Mischung aus Pretty Little Liars & How to get away with murder Wenn all deine Freunde tot sind und deine Familie dir mehr Bürde als Stütze ist, gibt es nur zwei Dinge, die du tun kannst: Aufgeben oder komplett neu anfangen. Deshalb folgt der junge Polizist Tyler dem Jobangebot einer Kollegin in die Modemetropole Fairfield. Kaum tritt er seinen ersten Dienst an, wird er einem Team zugeteilt, das Ungereimtheiten in der Ermittlung um das Verschwinden einer stadtbekannten Journalistin aufklären soll. Von der Frau fehlt seit Wochen jede Spur – ein Umstand, den Tyler einfach nicht akzeptieren kann. Da muss etwas sein. Doch bevor er diese Aufgabe lösen kann, muss er ein Geflecht aus Geheimnissen entwirren und stellt fest, dass in dieser Stadt scheinbar jeder etwas zu verbergen hat. Manche würden sogar töten, um ihre Sünden unter Verschluss zu halten.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Wenn all deine Freunde tot sind und deine Familie dir mehr Bürde als Stütze ist, gibt es nur zwei Dinge, die du tun kannst: Aufgeben oder komplett neu anfangen.
Deshalb folgt der junge Polizist Tyler dem Jobangebot einer Kollegin in die Modemetropole Fairfield. Kaum tritt er seinen ersten Dienst an, wird er einem Team zugeteilt, das Ungereimtheiten in der Ermittlung um das Verschwinden einer stadtbekannten Journalistin aufklären soll.
Von der Frau fehlt seit Wochen jede Spur – ein Umstand, den Tyler einfach nicht akzeptieren kann. Da muss etwas sein. Doch bevor er diese Aufgabe lösen kann, muss er ein Geflecht aus Geheimnissen entwirren und stellt fest, dass in dieser Stadt scheinbar jeder etwas zu verbergen hat.
Manche würden sogar töten, um ihre Sünden unter Verschluss zu halten.
Erin J. Steen wurde im Herbst 1983 in Niedersachsen geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute wieder, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Sie liebt große Städte, möchte aber nicht mehr längere Zeit in einer Großstadt leben. Das Haus teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und zwei tierischen Gefährten.
Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit Spaziergängen im Wald, der Familie und stetig wechselnden kreativen Hobbys. Sie fotografiert, näht und denkt hin und wieder daran, das Töpfern zu erlernen.
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Nachwort
2. Auflage, 2023
© Erin J. Steen – alle Rechte vorbehalten.
Erin J. Steen
Zum Fuhrenkamp 12
38448 Wolfsburg
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, unterliegen der Zustimmung des Rechteinhabers.
Personen und Handlungen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Auf der anderen Seite des schweren Moltons brummte es wie in einem Bienenstock. Obwohl der Theatervorhang schalldämpfend wirkte, spürte sie die Unruhe im Publikum bis zum Bühnenaufgang.
Seit Tagen machte der Stadt eine Hitzewelle zu schaffen. Auch im modernen Theater Fairfields ließ sich die feuchte Luft nur um wenige Grad herunterkühlen. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren.
Dennoch hatten die in edle Abendkleider gewandten Damen damit zu kämpfen, dass ihnen die Kleidung auf der schweißnassen Haut klebte. Mit jeder Bewegung riskierten sie, dass der zarte Stoff riss. Der Saal war voll und sie alle waren gekommen, um an diesem Abend der alljährlichen Preisverleihung der National Broadcasting Society beizuwohnen und die Preisträger zu bejubeln. Die geladenen Gäste trugen bodenlange Roben und hochgeschlossene Anzüge, wie es dem Anlass gebührte.
Teagan Osbournes Bauch rumorte. Das rührte nicht nur von den zwei Margaritas, die sie auf leeren Magen getrunken hatte. Vielmehr lag es daran, dass sie es allein getan hatte.
Sie war mit ihrer besten Freundin Delia in ihrem Stammrestaurant verabredet gewesen. Gemeinsam wollten sie auf den Abend anstoßen, an dem sie ihr einen bedeutenden Preis überreichen durfte. Jahrelang hatte Delia darauf hingearbeitet und endlich war es so weit. Nie zuvor hatte eine Modejournalistin diese Auszeichnung der NBS entgegennehmen dürfen. Doch ihre Freundin war weder in der Bar aufgetaucht noch hatte sie sich abgemeldet.
»Guten Abend, sehr geehrte Damen und Herren«, erklang die rauchige Stimme des prominenten Moderators von CFB One aus den Lautsprechern und das Gemurmel der rund sechshundert Gäste verstummte auf einem Schlag. Mit seinen einführenden Worten machte er Appetit auf den Rest des Abends und sorgte für erste Lacher, bis die Band ihren Platz auf der Bühne eingenommen hatte.
Teagan fuhr mit dem Daumen über ihre klammen Fingerspitzen. Es fühlte sich an, als gehörten sie einer Fremden.Sicher wartete Delia schon an ihrem Platz im Publikum auf sie und hatte ihr Date bei all der Aufregung nur vergessen. Wenn sich ein Mensch auf dem Planeten eine derartige Verfehlung erlauben durfte, dann sie.
»Sind Sie so weit, Miss Osbourne?«, fragte sie eine Regieassistentin, die mit ihrer dezent schwarzen Kleidung mit dem Hintergrund verschwamm. Sie und ihre Kollegen sollten nicht auffallen, sondern wie hilfreiche Elfen unsichtbar den Zauber wirken, der eine landesweit übertragene Preisverleihung wie ein Kinderspiel aussehen ließ.
Teagan sah an dem mitternachtsblauen Kleid mit den lichtreflektierenden Seidenfäden hinunter auf ihre makellosen Stilettos. Sie würde auf der Bühne schimmern wie der Sternenhimmel in dieser betörenden Julinacht. Alles an ihrem Auftritt war bis ins letzte Detail durchgeplant, doch die ungewohnte Nervosität blockierte sie. Sie lag wie ein Gewitter über ihr und mochte jeden Moment mit Blitz und Donner über sie hereinbrechen.
»Selbstverständlich«, bestätigte sie kraftvoll. Aufgeben war in ihrer Familie nie eine Option gewesen. Routiniert straffte sie die Schultern und legte ihr schönstes Medienlächeln auf, während sie auf das Signal wartete.
»Kommen wir zur Verleihung des Grünen Schlüssels, dem Preis für die beste Nachwuchsjournalistin oder den besten Nachwuchsjournalisten des Jahres. Bitte begrüßen Sie mit mir die wundervolle Teagan Osbourne.«
Sie zählte bis drei und ließ dem Applaus Raum, um anzuschwellen. Dann trat sie auf die Bühne und strahlte dem Publikum entgegen. Mit federleichten Schritten stieg sie das kleine Podest empor. Oben angekommen wartete sie einen Moment, damit sich wieder andächtiges Schweigen über den Raum legen konnte.
»Liebe Gäste, ich habe heute an meines Vaters Stelle die große Ehre, einen der begehrtesten Preise des Abends zu verleihen. Bitte gestatten Sie mir jedoch zunächst, Ihnen die Nominierten und ihre Arbeiten vorzustellen.« Die Präsentation der Journalisten lief hinter ihr über die Leinwand, während Teagans Augen unauffällig durch das Publikum wanderten. Die Zuschauer konzentrierten sich ganz auf die Bilder hinter ihr, sodass sie nach ihrer Freundin Ausschau halten konnte.
Alle Preisträger sollten in der Nähe der Gänge sitzen, damit sie ungehindert auf die Bühne kamen, wenn ihre Namen genannt wurden. Doch auf keinem der Plätze sah jemand ihrer Freundin auch nur ähnlich. Sie trug die kurzen Anmoderationen der einzelnen Reportagen vor, die an diesem Abend auf der Shortlist gelandet waren. Keiner der anderen Beiträge hatte auch nur im Entferntesten ihr Interesse geweckt. Das ließ sie sich in ihrer Moderation natürlich nicht anmerken.
Sie kommentierte die Beitragsreihe über die Schicksale der Obdachlosen in der Stadt mit der gleichen gespielten Begeisterung wie die Reportage über die Blumenzucht des Jahres. Als alle Beiträge ihre dreißig Sekunden Ruhm erhalten hatten, richtete sie sich nochmal zu ihrer vollen Größe auf und setzte zur Verkündung an.
»Der diesjährige Grüne Schlüssel für den besten Nachwuchsjournalisten geht an Delia Gupta für ihren Einblick in die verborgene Welt hinter der Designermode. Herzlichen Glückwunsch, liebste Delia. Du hast es dir verdient«, beendete Teagan ihre Rede und strahlte weiter, während nun die Scheinwerfer durch das Auditorium wanderten. Sie würden mehr Erfolg haben.
Die Reportage, mit der Delia diesen Preis gewonnen hatte, war eine atemberaubende Geschichte, bei deren Entstehung Teagan hautnah dabei gewesen war. Sie wusste, was es ihre Freundin gekostet hatte, den ersten Artikel zu dem Thema zu veröffentlichen, und wie sehr sie sich diesen Preis erarbeitet hatte. Gleich würden die Beleuchter Delia finden und die Lichter sich an ihrem Sitzplatz sammeln. Ihre beste Freundin würde mit ihrem herzlichen Lächeln in die Kameras strahlen, winken und zu ihr hinauf kommen. Dann würde endlich auch dieses Unwohlsein in ihrem Magen verschwinden.
Ganz sicher. Hoffentlich.
Die Lichtkegel kreisten und kreisten. Die Kameras blieben auf die Bühne gerichtet. Auf diesen Fall waren weder sie noch die Kameraleute vorbereitet. Die feinen Härchen in Teagans Nacken stellten sich auf und ein eisiger Luftzug streifte sie. Panik wallte in ihr auf und ließ sich nur schwer hinter der Fassade verbergen.
* * *
Delia verpasste ihre eigene Preisverleihung.
Auch am nächsten Tag tauchte sie nicht auf. Weder in der Redaktion ihres Magazins, noch in ihrem Freundeskreis wusste jemand, wo sie sich aufhielt. Schließlich ließ ihre Familie die Wohnungstür öffnen. Dort war ebenfalls keine Spur von der Vermissten zu finden.
Es war, als hätte sich an ihrem wichtigsten Tag der Erdboden unter ihr aufgetan und Delia Gupta verschluckt. Nicht einmal ein Riss blieb an der Stelle zurück. Nichts.
Selbst Wochen nach jenem Tag gab es keine Informationen zu ihrem Verbleib. Ganz Fairfield suchte nach ihr, doch niemand fand einen einzigen brauchbaren Hinweis.
Weil keiner wusste, was mit ihr geschehen war, breitete sich besonders unter den jungen Frauen in der Metropole Sorge aus. Delia war oft und gern ausgegangen. Konnte ihr das zum Verhängnis geworden sein?
Niemand konnte diese These entkräften, weshalb haltlose Gerüchte die Runde machten. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, man müsse eine Ausgangssperre einrichten, um die jungen Frauen zu schützen. Doch letztlich blieb alles, wie es war. Das Nachtleben zeigte sich unbeeindruckt – sowohl von ihrem Verschwinden als auch von den Gerüchten. Irgendwann verstummten auch die Rufe der Medien nach Aufklärung.
Einzig, dass keine Leiche gefunden wurde, gab Familie und Freunden Anlass zur Hoffnung. Unter ihnen regte sich Unmut, dass die Polizei so gar keine Ahnung zu haben schien, was mit Delia passiert war.
War es Mord? Eine Entführung? War sie davongelaufen? Oder steckte etwa ein Unfall hinter ihrem Verschwinden?
Erst ein Brief an den Fairfield Chronicle brachte schließlich wieder Bewegung in die Ermittlungen. Der anonyme Autor drohte, er würde nicht ruhen, ehe nicht alle Wahrheiten ans Licht gekommen waren, die mit Delias Verschwinden in Zusammenhang stehen mochten.
Bei jenen, die noch keine Angst hatten, führte diese Ankündigung zu Schweißausbrüchen. Denn die eigenen Geheimnisse blieben besser unangetastet. Schließlich gab es einen Grund, warum man sie geheim hielt.
Keinen der Bewohner der Stadt ließ Delias Schicksal unberührt. Manche hatten sogar mehr damit zu tun, als allen anderen bewusst war...
»Wirklich erstaunlich, dass in diesen Koffer mein gesamtes Leben passt«, murmelte sie beim Anblick des braunen Lederkoffers, dessen durchdringender Geruch das ganze Kinderzimmer erfüllte. Ein Zimmer, dem sie längst entwachsen war. Dennoch waren der kleine Raum und das hellhörige Haus ihre Heimat.
An diesem Samstagmorgen zog Quinn von Zuhause fort und wagte den ersten Schritt in ihr eigenes Leben. Alles, was sie kannte, ließ sie hinter sich, um sich neuen Herausforderungen zu stellen. Ihre Mum und ihr älterer Bruder Logan blieben zurück. Ebenso ihre beste Freundin Kate, die sie in- und auswendig kannte.
Manchmal empfand sie ihr Leben am Rand der Welt als langweilig und doch waren die schönen Bilder ihrer eigenen Jugend unmittelbar mit allem hier verbunden.
Die Großstadt, in die sie aufbrach, machte ihr Angst. Sie betrat ein neues Umfeld, in dem sie weder die Wege noch die Regeln kannte. Ihre ganze Welt würde sich verändern, ob sie die Veränderung im Detail nun wollte oder nicht. Sie hatte sich dafür entschieden, diesen Schritt zu wagen.
Der einzige Hoffnungsschimmer in der Fremde war die Wohngemeinschaft, in die sie zog. Da war irgendwo jemand, der sich zwangsläufig mit ihr befassen musste. Jemand, der sie hoffentlich aufsammelte, wenn sie unter der Last zusammenbrach. Am Telefon hatte ihr zukünftiger Mitbewohner sehr nett geklungen. Aber die Wahrheit würde sie erst vor Ort erfahren. Vielleicht sogar erst nach Wochen.
Der Job bei Brooks & Shore war der Grund, aus dem sie ihre Heimat hinter sich ließ. Nirgendwo anders hätte sie eine so phänomenale Chance bekommen, ihr Handwerk zu perfektionieren, wie bei ihnen.
Ihr war das Risiko allzu bewusst. Noch nie in ihrem Leben hatte sie Angst vor dem Scheitern gespürt. Doch langsam wurde ihr klar, dass Misserfolg durchaus im Rahmen der Möglichkeiten lag.
So verließ sie ihre Heimat mit tausend Schmetterlingen im Bauch, die von winzigen Trommelsteinen begleitet wurden. Es zog sie hinab, obwohl sie fliegen wollte. Und sie flog trotz des tonnenschweren Gewichts, das sie am Boden halten wollte. Flügel und Ballast.
Seufzend sank sie auf die hölzernen Dielen und strich über die ordentlich gefalteten Kleidungsstücke im Koffer. Es war Zeit zu gehen. Sonst würde sie den Absprung nie schaffen. Natürlich konnte sie noch ein Jahr bleiben, aber es würde nur schwerer werden sie zurückzulassen.
Ein weiteres Jahr mit Logan, Kate, Mum und ihrem wohligen Alltagstrott, in dem sie nichts, aber auch gar nichts Neues dazu lernte.
Vergeudete Zeit.
Jahre des Stillstands.
Das hatte sie nun schon lange genug ausgehalten. Sie musste aus ihrem geliebten Kokon ausbrechen, um ihre schönen Flügel ausbreiten zu können. Dieser Job glich dem Riss in der Puppe. Er war ihre Tür. Sie musste nur heraustreten und sich der Welt stellen.
Noch einmal ging sie alles durch, damit sie auch nichts Wichtiges vergaß. Sie hatte sämtliche Kleidung, die sie gerne trug, ihre Badezimmerartikel, alle regelmäßig genutzten Schuhe und einige persönliche Gegenstände eingepackt. Trotzdem war noch so viel Platz im Koffer, dass es sie ganz nervös machte.
Ihr Werkzeug und die Werke, an denen ihr etwas lag, waren in dem Aluminium-Koffer, der neben der Zimmertür stand.
»Bist du so weit?«
Das Zittern in der sonst so melodisch sanften Stimme ihrer Mum verriet Quinn, dass auch sie unsicher war. Mit den Händen auf den üppigen Hüften lugte sie ins Zimmer. Es gelang ihr nicht, die Traurigkeit zu verbergen, die sie darüber empfand, dass ihre einzige Tochter das Haus verließ.
Sie alle wussten, wie schwer Verlust wog.
Energisch zog Quinn den Reißverschluss des Koffers zu, stand auf und straffte die Schultern.
»Kate wartet schon auf dich, Liebes!«
»Ich kann es kaum erwarten«, hörte sie sich sagen. Seltsamerweise folgte ihr Gefühl dem gesprochenen Wort. Ihre Mum schenkte Quinn ein aufmunterndes Lächeln und nahm ihr den Lederkoffer ab. Auf dem Weg durch den Flur vertrieben die flatternden Insekten langsam das Schweregefühl.
»Hast du deine Papiere? Ich habe dir alles zusammen auf deinen Schreibtisch gelegt.«
Unwillkürlich zog Quinn den Kopf ein. Natürlich hatte sie die Papiere nicht. Sie lief noch einmal zurück in ihr Zimmer und griff sich den Stapel Unterlagen. Dabei fiel ihr Blick auf den Spiegel, der über dem Schreibtisch hing. Ihre Augen wirkten wie die eines verschreckten Rehs, was die große Brille nur noch betonte. Das kurze, schokoladenbraune Haar lag strubbelig und wollte sich auch durch wiederholtes in Form ziehen nicht bändigen lassen. Ein typischer Bad Hair Day. An normalen Tagen lagen ihre Haare brav, wo sie hingehörten, und rahmten ihr ovales Gesicht ein. Heute erinnerte sie ihr eigener Anblick an jemanden, den ein Feueralarm aus dem Bett gerissen hatte und der immer noch nach dem Ausgang suchte.
»Dann eben nicht«, grummelte Quinn und zog trotzig den Lippenstift aus der Tasche ihrer Jacke. Mit einem Hauch Rubinglanz auf den Lippen fühlte sie sich gleich viel wohler.
»Jetzt ist es ein Look!«, erklang Kates Stimme vom Flur und Quinn ertappte ihr Spiegelbild bei einem Schmunzeln.
»Stil ist Konsequenz«, wiederholte sie, was die Freundinnen sich schon so oft gegenseitig vorgehalten hatten. Sie beide liebten es, gut auszusehen, aber keine von ihnen wollte ein Vermögen dafür ausgeben müssen. So hatten sie beschlossen, stets das Beste aus dem zu machen, was sie hatten. »Ist Logan nicht da?«
»Doch, er steht in der Küche und fummelt an seinem Telefon rum«, gab Kate achselzuckend zurück.
»Er weiß nicht, was er verpasst«, entgegnete Quinn kopfschüttelnd. »Habt ihr schon irgendwas verabredet?«
»Ach, wir sehen uns doch zwangsläufig. Du weißt selbst, wie klein dieser Ort ist. Wahrscheinlich begegnen wir uns ständig an den unmöglichsten Orten.«
»Aber das ist doch kein Date. Ihr solltet euch verabreden«, insistierte Quinn. »Sonst wird das nie etwas.«
Sie öffnete das große Fach des Rucksacks und verstaute die Papiere darin, ohne sie übermäßig zu knicken. Gemeinsam durchquerten sie den kurzen Flur und traten in die geräumige Küche des alten Bungalows. Ihre Mum klammerte sich an Logans Arm und versuchte erfolglos, ihre Tränen mit dem Handrücken abzutupfen.
»Oh Ma, jetzt hör doch auf. Es ist niemand gestorben«, grummelte Logan und löste sich aus der Umklammerung seiner Mutter.
»Danke, Brüderchen, du wirst mir auch fehlen.« Grinsend hauchte sie ihrem zwei Jahre älteren Bruder einen Kuss auf die Wange. »Aber er hat Recht, Mum. Ich komme doch wieder.«
Seufzend ließ sie Logan los und zog stattdessen ihre Tochter in den Arm. Das unterdrückte Schluchzen verstummte.
»Du wirst das toll machen, das weiß ich ganz sicher.« Sie schob Quinn auf Armlänge von sich und sah ihr fest in die Augen. »Mach deinen Vater stolz.«
»Ich gebe mein Bestes«, erwiderte Quinn gegen einen dicken Kloß im Hals, der ihre Stimme verzerrte. Das freundliche, runde Gesicht ihrer Mutter zierte ein trauriges Lächeln. Selbst nach so vielen Jahren war der Tod ihres Mannes ein schwieriges Thema für sie und die beiden mittlerweile erwachsenen Kinder. Es war ein Umstand, an den sich niemand von ihnen gewöhnen konnte.
»Kinder, ihr müsst los, sonst verpasst Quinn noch den Flug!«, entschied ihre Mutter. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie keineswegs spät dran waren.
»Okay, macht’s gut.«
Kate schnappte sich den Lederkoffer und marschierte damit durch die Tür. Quinn sah ihr nach. Sie brauchte nur eine Sekunde, um zu entscheiden, ob sie Logan einen Schubs gab oder nicht. Kate würde ihr deshalb nicht ewig böse sein – zumindest nicht, wenn es funktionierte.
Vielleicht war es eine hübsche Anekdote, die sie auf der Hochzeit der beiden eines Tages zum Besten geben konnte, wenn sie sich wegen ihrer Einmischung doch irgendwann fanden.
»Pass bitte für mich auf Kate auf, ja?« Es war nicht ganz der Schlag mit dem Zaunpfahl aber mit etwas Glück eine Aufforderung, die ihn zum Nachdenken brachte. Sein verdutzter Gesichtsausdruck verhieß zumindest, dass er sie gehört hatte und versuchte, die Worte irgendwo in seinem Gehirn einzuordnen. Er war nicht blöd, doch in Bezug auf Kate zeigte er sich reichlich begriffsstutzig. »Falls du eine Gebrauchsanweisung brauchst, ruf mich an.«
Sie griff nach dem Werkzeugkoffer, warf den kleinen Rucksack mit ihrem Handgepäck über die Schulter und lief Kate nach. Der Motor des roten Pickups am Straßenrand lief bereits, als sie hinaus trat.