Böser Geist - Erin J. Steen - E-Book

Böser Geist E-Book

Erin J. Steen

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Beschreibung

Yogalehrerin Emi Moorkamp kehrt mit einem frischen Businesskonzept zurück ins sommerliche Berlin. Kopfüber stürzt sie sich in die Arbeit, um ihrem Liebeskummer zu entfliehen. Während ihre Freundin und Kriminalkommissarin Charlotte in ihrem aktuellen Fall im Trüben fischt, mischt sich neben zahlreichen neuen Klienten auch ein böser Geist in Emis Leben und bringt es gehörig durcheinander. Nicht nur Emi fragt sich, was es mit dem Toten in ihrem Hausflur auf sich hat...

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

1. EINS

2. ZWEI

3. DREI

4. VIER

5. FÜNF

6. SECHS

7. SIEBEN

8. ACHT

9. NEUN

10. ZEHN

11. ELF

12. ZWÖLF

13. DREIZEHN

14. Danksagung

15. Weitere Bücher der Autorin

 

 

Böser Geist

 

Von Erin J. Steen

 

 

 

 

 

Buchbeschreibung:

Yogalehrerin Emi Moorkamp kehrt mit einem frischen Businesskonzept zurück ins sommerliche Berlin. Kopfüber stürzt sie sich in die Arbeit, um ihrem Liebeskummer zu entfliehen. Während ihre Freundin und Kriminalkommissarin Charlotte in ihrem aktuellen Fall im Trüben fischt, mischt sich neben zahlreichen neuen Klienten auch ein böser Geist in Emis Leben und bringt es gehörig durcheinander. Nicht nur Emi fragt sich, was es mit dem Toten in ihrem Hausflur auf sich hat...

 

 

 

 

 

 

 

Über den Autor:

Erin J. Steen wurde im Herbst 1983 in Niedersachsen geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute wieder, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Sie liebt große Städte, möchte aber nicht mehr längere Zeit in einer Großstadt leben. Das Haus teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und und zwei tierischen Gefährten.

Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit Spaziergängen im Wald, der Familie und stetig wechselnden kreativen Hobbys. Sie fotografiert, näht und denkt hin und wieder daran, das Töpfern zu erlernen. Wie die Hauptfigur ihrer Yoga-Krimi-Reihe mag sie Yoga, wird aber voraussichtlich in diesem Leben keine Selfies in akrobatischen Posen veröffentlichen.

 

 

 

 

 

 

Böser Geist

 

Moorkamps dritter Fall

 

Von Erin J. Steen

 

 

 

Erin J. Steen

c/o

Papyrus Autoren-Club,

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

 

 

 

 

[email protected]

www.erinjsteen.com

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, 2020

© Erin J. Steen – alle Rechte vorbehalten.

Erin J. Steen

c/o

Papyrus Autoren-Club,

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

 

[email protected]

www.erinjsteen.com

 

Umschlaggestaltung: Jasmin Whiscy (www.whiscy.de)

Lektorat: Anita Ehlers

 

 

 

 

Für alle, die lieber das Gute in allem sehen.

 

 

 

 

1. EINS

EMI

 

»Meinst du nicht, es wird Zeit, uns zu erzählen, warum wir alle hier sind?«, drängte Miriam. Der Geräuschpegel war auf ein beachtliches Niveau angeschwollen seit Emi und ihre Freunde vor einer Stunde in der Bar angekommen waren. Nun sollte sie langsam mit der Sprache rausrücken, bevor es noch lauter wurde. Ihre beste Freundin sah sie herausfordernd an. Unbefriedigte Neugier ertrug die Journalistin nicht.

»Reicht es nicht, dass ich euch sehen wollte?«

Emi schmunzelte. Seit ihrer Rückkehr aus Nordamerika hatte sie ihre Freunde nicht mehr in so großer Zahl um sich versammelt. Es tat gut, die Menschen, die ihr so wichtig waren, wieder in ihrer Nähe zu wissen. Die Auszeit war in vielerlei Hinsicht atemberaubend gewesen, doch es war irgendwann an der Zeit nach Hause zurückzukehren.

»Irgendwie nehme ich dir nicht ab, dass du deshalb Sekt trinkst.« Miriam zog die Brauen in die Höhe und musterte sie skeptisch. Normalerweise trank Emi keinen Alkohol. Nur zu hohen Feiertagen und besonderen Anlässen gönnte sie sich einen Schluck. Grund genug für ihre Freundin, zu vermuten, dass sich hinter der Zusammenkunft eine entscheidende Neuigkeit versteckte.

Die Gespräche am Tisch erstarben und alle Augen richteten sich auf Emi. So viel Aufmerksamkeit würde sie wohl lange nicht mehr bekommen, also konnte sie wirklich mit dem Vorspiel aufhören.

»Na gut, Miriam hat natürlich recht. Wir sind heute nicht nur deshalb zusammen, weil ich Sehnsucht nach euch hatte.« Sie hatte ihren Aufenthalt in Kanada ein ums andere Mal verlängert und den Rückflug hinausgezögert, so lange es nur ging. Gemeinsam mit ihren neuen kanadischen Freunden hatte sie sich gründlich Gedanken darüber gemacht, wie es für sie weitergehen sollte. »Ich habe euch hierher gebeten, weil ich eure Unterstützung brauche. In Kürze starte ich noch einmal voll durch und das wird ohne euch nichts. Liam setzt mir gerade eine Homepage auf, damit auch ich endlich im Internetzeitalter ankomme. Und dann geht es richtig rund. Ich werde komplett ohne feste Basis arbeiten und mein ganz eigenes Ding machen. Keine Fitnessstudios, keine Gastspiele – nur 100% Emi Moorkamp.«

Charlotte, die zurückhaltende Polizistin, die sie im vergangenen Herbst kennengelernt hatte, saß mit weit aufgerissenen Augen neben ihr. Sie war neben Johanna, einer Kollegin aus dem Medizinstudium, die einzige im Raum, die mit ihrer Rolle als Angestellte wirklich zufrieden wirkte. Alle anderen hatten mehr oder weniger starke Bestrebungen, sich selbstständig zu machen oder diesen Schritt bereits hinter sich. Maris, die eine kleine Werbeagentur betrieb, war an diesem Abend dabei, obwohl sie sonst nur selten Zeit fand, sich mit ihrer alten Schulfreundin zu treffen. Sonja war selbst gerade vollauf mit ihrer Selbstständigkeit als Köchin beschäftigt. Eigentlich hätte sie ihrer Freundin in dieser Zeit nicht zur Last fallen sollen, aber möglicherweise konnten sie sich füreinander zu einer Art Motor entwickeln. So jedenfalls Emis Plan. Miriam arbeitete selbstständig in der Redaktion eines Frauenmagazins und konnte für die Zeitschrift schreiben, was sie wollte. Und dann war da noch Isa, die sich gleich zu Beginn des gemeinsamen Medizinstudiums umorientiert hatte und nun Trainingspläne für Leistungssportler mit vorübergehenden oder langfristigen Einschränkungen konzipierte. Sie gab zwar gelegentlich Unterricht in Fitnessstudios, aber das diente im Wesentlichen der Rekrutierung neuer Privatklienten.

In ihrer Runde fehlte eigentlich nur einer. Der einzige Mann in der Clique. Liam, Miriams Freund, hatte an diesem Abend nicht kommen können, weil er länger arbeitete. Deshalb hatte sie ihn schon vor einigen Tagen an Bord geholt und ihn gebeten, über ihre Pläne zu schweigen. Sie wollte die große Bombe gern selbst platzen lassen.

Natürlich hatten ihre Freunde damit rechnen müssen, dass sie mit neuen Ideen von dem Seminar aus Quebec zurückkehrte, deshalb war sie schließlich auch dorthin geflogen. Dass diese Fortbildung etwas anders verlaufen war als geplant, wusste allerdings nur Miriam. Gespannt sah die versammelte Runde sie an. Sie waren hungrig auf Details.

»In zwei Wochen möchte ich eine große Eröffnungsparty machen – auf dem Tempelhofer Feld. Mit einer kostenlosen offenen Stunde und Snacks. Da sollen natürlich möglichst viele Leute kommen und ich brauche eure Hilfe bei der Organisation und der Durchführung… und… ach ihr wisst schon, es wird irre viel zu tun sein.«

Sie machte eine Pause, um ihre Gedanken zu sortieren. Allein die Genehmigung für diese kleine Feier zu bekommen hatte ihr beinahe die ersten grauen Haare beschert, aber inzwischen hatte sie sie bekommen.

»Ich werde anschließend Privatunterricht anbieten und an wechselnden Orten freie Klassen unterrichten. Ohne festen Kursplan und ohne Mitgliedschaften – Pop-Up-Yoga! Wer Zeit und Lust hat, kommt dazu und bezahlt wird an Ort und Stelle. Auf diese Weise bekommt jeder genau das, was er auch nutzt. Niemand hat ein schlechtes Gefühl, weil er bezahlte Stunden verpasst oder irgendwelche Verpflichtungen eingeht.«

»Das klingt cool«, unterbrach Sonja ihren Monolog. »Die Snacks gehen natürlich auf mich – damit kann ich dann gleich für meine Eröffnung werben!«

Darauf hatte Emi zwar gehofft, aber sie hätte niemals direkt darum gebeten. Sie wusste, wie viel für Sonja von ihrem eigenen Unternehmenserfolg abhing. Die vegane Köchin mit den asiatischen Wurzeln hatte in den vergangenen fünf Jahren daraufhin gespart, sich diesen Traum erfüllen zu können. Sämtliche Reserven waren zusammengekratzt und nun setzte sie alles auf eine Karte. Wenn ein veganes Restaurant irgendwo funktionieren konnte, dann in Berlin – davon war auch Emi fest überzeugt. Die Veganerszene in der Hauptstadt war groß und bunt. Wenn Standort und Konzept zusammenpassten, würde Sonja Erfolg haben, aber es gab keine Garantien. Natürlich hatte Emi sich bereits als Aushilfskellnerin beworben und wollte nicht einmal Geld dafür, aber davon wollte Sonja nichts wissen.

»Ja, natürlich!«, stimmte Emi begeistert zu. »Vielleicht können wir bei der Gelegenheit auch Gutscheine oder Flyer für deine Eröffnung verteilen?«

»Gute Idee, eventuell einen Rabatt-Coupon für die Eröffnungswoche. Das passt zeitlich gut.«

»Ich kann dir Werbematerial gestalten, wenn du mir erzählst, was du für Vorstellungen hast,« bot sich Maris für diese knifflige Aufgabe an. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Mit Gestaltungsdingen kannte sie sich überhaupt nicht aus und da hatte sogar Liam die Segel streichen müssen. Webseiten waren genau sein Ding, aber im Bereich Design hielt er sich für eine Niete. Sie mochte den Lotus, der bei vielen Yogalabels Verwendung fand. Durfte sie den ebenfalls verwenden? All diese Dinge würde sie mit Maris klären müssen. »Komm doch einfach morgen früh bei mir in der Agentur vorbei und wir besprechen alles!«

»Wow, ihr seid klasse. Ich liebe euch, Mädels.« Nichts von dem, was ihre Freunde für sie aufboten, war selbstverständlich. Es waren Geschenke. Wertvolle Geschenke. Natürlich gab Emi etwas zurück, wann immer sie konnte, aber sie hatte nie das Gefühl, dass es aufwiegen konnte, was ihr gegeben wurde.

»Wenn du irgendwelche Texte zu schreiben hast, helfe ich dir gerne«, flüsterte ihr Miriam zu. Dass sie sich auf ihre beste Freundin verlassen konnte, war ihr von Anfang an klar gewesen. Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ihre Dankbarkeit für Freunde wie diese war in diesem Augenblick grenzenlos. Charlotte und Johanna sahen sich über den Tisch hinweg an und zuckten mit den Schultern.

»Ich weiß nicht, wie ich dich unterstützen kann, aber ich würde wirklich gerne etwas für dich tun«, gestand die Kommissarin leise.

»Ich brauche zum Beispiel jemanden, der mich vor Ort unterstützt und ganz viel Hilfe bei der Werbung online und offline. Ich wollte Flyer verteilen und Leute ansprechen. Vielleicht ist da ja irgendwas für dich dabei und wenn nicht, ist das auch nicht schlimm.«

»Gib mir auf jeden Fall ein paar Flyer mit, ich wüsste da ein paar Locations, wo ich welche auslegen könnte. Und online mache ich auch was für dich!« Isa konnte als Fitnesstrainerin einige ihrer früheren Kursteilnehmerinnen erreichen. Aber auch andere Leute, die sie kannte, waren für Emi von großem Wert. Es war erstaunlich, wie sich Yoga auch unter Spitzensportlern als Ausgleichstätigkeit durchgesetzt hatte. Der Multiplikatoreffekt, den Isa über ihre Klienten erzielte, konnte sich für Emi zu einem entscheidenden Erfolgsfaktor entwickeln.

»Oh ja, machst du Poster? Wir könnten eins in die Ladentür hängen!« Sonja klatschte begeistert in die Hände. Noch war der Laden zwar nicht geöffnet, aber die Werbefläche befand sich im relevanten Einzugsbereich ihres Angebots und wurde täglich von hunderten oder gar tausenden Menschen gesehen. Die Idee gefiel Emi. Sie warf einen Seitenblick zu Maris, die zustimmend nickte. Ein Poster war also kein Problem.

»Ich helfe dir beim Flyerverteilen!«, bot Johanna schließlich an. Charlotte und Miriam stimmten ebenfalls mit ein.

»Super, dann sind wir ja schon zu viert«, erklärte Isa. »Wollen wir zwei Teams bilden?«

Das Ganze entwickelte eine wunderbare Eigendynamik. Emi staunte über das Engagement ihrer Freunde für ihren Plan. Ohne diese schlagkräftige Truppe hätte sie das Projekt niemals auch nur in Erwägung gezogen, doch sie wusste, dass sie sich auf ihre Freunde jederzeit verlassen konnte. Aber dass sie so sehr zu ihrem Erfolg beitragen wollten, erstaunte selbst sie.

»Wollen wir zusammen losziehen?«, fragte Miriam an Johanna gewandt. »Ich kann allerdings nächste Woche nur am Freitag.«

»Mist, ausgerechnet da kann ich nicht«, gab Johanna enttäuscht zurück.

»Du hast in letzter Zeit wirklich immer was vor«, beklagte sich Miriam bei der Ärztin und Johanna sah betroffen zu Boden.

»Aber ich könnte Freitag, wenn du auch mit mir vorliebnehmen würdest?«, bot sich Charlotte unsicher an.

»Es gibt da etwas, das passt möglicherweise jetzt nicht hierher, aber ich wollte es euch trotzdem erzählen.« Johanna sah von Emi zu Miriam und wartete, bis sie die Aufmerksamkeit aller hatte. »Clemens und ich werden heiraten und ich wünsche mir, dass ihr an diesem Tag an meiner Seite steht!«

»Das sind ja tolle Neuigkeiten.« Die beiden Ärzte hatten sich vor einigen Jahren im Medizinstudium über Emi kennengelernt und waren seitdem so ziemlich das undramatischste Paar der Geschichte. Manchmal glaubte sie, einem von ihnen würde es irgendwann zu langweilig werden. Höhen und Tiefen erlebte fast jedes Paar dann und wann, nur Clemens und Johanna standen wie zwei Felsen nebeneinander in der Brandung und ließen das Wasser toben.

Miriam sah weniger enthusiastisch aus, aber auch sie gratulierte der gemeinsamen Freundin. Dann wandte sie sich wieder an Charlotte, die wie ein Häufchen Elend auf ihrem Stuhl hockte. »Ich gehe gerne mit dir.«

Emi griff nach Charlottes Hand und drückte sie. Ihr war nicht entgangen, dass die stille Kommissarin sich weniger einbrachte als üblich. Der Freundeskreis bestand größtenteils aus Menschen, die sich einfach nahmen, was sie haben wollten, während Charlotte eher der Typ war, der wartete, welche Karten ausgeteilt wurden.

»Ist alles okay mit dir?«

»Ja, natürlich«, versicherte die Polizistin und schenkte ihr ein Lächeln. »Hochzeiten machen mich nur immer so wehmütig.«

Dieses Gefühl verstand Emi im Augenblick nur zu gut. Irgendwo in Kanada war dieser eine Mann, dem sie gern ihr Herz schenken würde, aber die Entfernung schien unüberbrückbar. Rick war ein wundervoller Freund und mit Sicherheit ein ebenso wundervoller Partner, aber solange sie in Berlin lebte und er auf einem weit entfernten Kontinent, würde aus ihnen kein Paar werden. Und selbst wenn sich einer von ihnen entschied, dem anderen zuliebe seine Heimat zu verlassen, gab es keine Garantien.

 

***

 

»Puh, das war ein Abend«, stöhnte Miriam erschöpft, als sie sich auf den Beifahrersitz von Liams dunkler Limousine älteren Baujahrs fallen ließ. Emi stieg hinter ihr ein und legte den Gurt an. Auch sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Das weiche Polster verhieß baldige Erholung. Der Abend war lang gewesen und für sie nicht weniger anstrengend als für Miriam. Sie hatte die ganze Zeit unter Strom gestanden und war mit den Gedanken an so vielen Orten zugleich, dass sie nun dringend ins Bett gehörte.

»Danke, dass du uns abholst.« Miriam hauchte ihrem Freund einen Kuss auf die Wange. »Ich bin hundemüde.«

Liam warf erst ihr und dann Emi über den Rückspiegel ein Lächeln zu. »Ist doch kein Problem, ich war ohnehin noch unterwegs.«

Das schlechte Gewissen nagte an Emi. War er ihretwegen so lange beschäftigt gewesen? Sie wusste, dass er ohnehin im Job stark eingebunden war. Die Arbeit an ihrem Internetauftritt verlangte ihm den Rest seiner Ressourcen ab. Irgendetwas Schönes würde sie sich für ihn als Belohnung einfallen lassen müssen. Eventuell konnte sie von ihren ersten Einnahmen ein Wellness-Wochenende an der Ostsee für ihre beiden Freunde organisieren. Auf diese Weise konnte das junge Paar mal wieder etwas Zeit miteinander verbringen. Das würde ihnen sicher guttun.

»Du arbeitest in letzter Zeit echt ganz schön lange. Wann können wir denn mal wieder etwas Schönes unternehmen?«, fragte Miriam in leicht nörgelndem Tonfall und nahm damit Emis Idee den Wind aus den Segeln. Das Prickeln des Anfangs war abgeklungen und ihre beste Freundin fand sich mit Liam in einer Findungsphase, in der sich entscheiden würde, ob die Beziehung langfristiger Art war oder ob sie zukünftig wieder getrennte Wege gehen würden. Emi hoffte, dass sie diese Klärung in ihrer Abwesenheit fortsetzen würden. Sie fühlte sich überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, in Kürze Zeugin eines elementaren Beziehungsstreits zu werden.

Sie ließ das Fenster herunter. Es war ein warmer Maiabend, der den Sommer bereits vorsichtig ankündigte. Die Gruppe hatte an diesem Abend viel zu feiern gehabt und noch mehr Gründe zum Anstoßen. Eine Hochzeit und zwei Eröffnungen waren Anlass genug, um etwas mehr zu trinken, als gewohnt. Da Emi normalerweise von Alkohol einen Sicherheitsabstand von einem Meter hielt, war sie es zudem nicht gewohnt, dass die Welt um sie herum, ihre Bezugspunkte änderte, wie es ihr beliebte. Sie mochte dieses nebelige Gefühl in ihrem Kopf nicht und war fast sicher, sich zuhause übergeben zu müssen. Miriam hatte deutlich mehr getrunken, aber sie vertrug es erheblich besser.

Liam ging nicht auf Miriams provokante Frage ein. Wahrscheinlich war das auch klüger als ein Versuch der Verteidigung, da Miriam ohnehin nicht in der Stimmung für versöhnliche Worte schien. Sie schaute trotzig aus dem Fenster und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Emi wusste, dass Johannas Verlobung auch sie mitnahm. Miriam hatte immer heiraten wollen. Aber ob Liam dafür der richtige Mann war? Er war immer hilfsbereit und ein netter Kerl, doch Miriam klang in letzter Zeit häufiger unzufrieden mit ihrer Beziehung. Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit waren zweifellos gute Charaktereigenschaften, nur nicht unbedingt die, die einen Mann begehrenswert machten.

Ihre Gedanken schweiften über den Ozean und den Sankt-Lorenz-Strom hinauf. Dort gab es einen Mann, der auch hilfsbereit und manchmal sogar freundlich war, aber Rick hatte viel mehr zu bieten. In seinen Armen konnte sie den Rest der Welt vergessen. Sie hatte mit ihm den Kopf verloren und ihr Herz gefunden – und doch war sie nun wieder in Berlin und er in Kanada. Ende der Geschichte.

Auch Verliebtsein allein reichte nicht für eine Beziehung, wenn die Umstände widrig genug waren. Er fehlte ihr furchtbar, aber sie musste sich konzentrieren und ihre Existenz auf zwei solide Beine stellen. Das war wichtiger als eine potenziell flüchtige Liebschaft.

»Hey, hörst du mir überhaupt zu?«, beschwerte sich Miriam vollkommen berechtigt. Natürlich hatte Emi kein Wort davon mitbekommen, was ihre Freundin erzählt hatte. Sie blinzelte die Erinnerungen fort. Eine einsame Träne löste sich dabei aus ihrem Augenwinkel und rann ihre Wange hinab. Entschlossen wischte sie sie fort. Zu spät. Miriam war es nicht entgangen.

»Was ist los? Denkst du etwa wieder an deinen Ranger?«, fragte sie einfühlsam. »Oder Mountie oder was auch immer?«

»Er ist kein Ranger und auch kein Mountie. Er … ach, ist doch egal.« Sie war es leid das immer wieder zu erklären. Das Polizeisystem Kanadas war kompliziert. Sogar für jemandem, der es von einem Insider erklärt bekam. Außerdem ging es in Miriams Frage gar nicht darum, welcher Behörde er angehörte oder wie man seinen Beruf bezeichnete. Es ging um Gefühle. Diese mistigen Dinger, die sich im Herzen einnisteten und Chaos stifteten.

»Du bist ja so unfassbar unromantisch! Da triffst du endlich deinen Prinzen und reitest ihm einfach davon!« Miriam hatte ihr von Anfang an einreden wollen, wenigstens einer Fernbeziehung eine Chance zu geben. Aber Rick und sie waren sich einig, dass das keinen Sinn hatte. Emi war dankbar für die Erfahrung, die sie mit ihm hatte machen dürfen. Er hatte ihr gezeigt, dass es sich lohnte, ihr Herz für einen Mann zu öffnen. Doch es tat leider auch verdammt weh, wenn sie es wieder schloss.

Der Wagen stoppte. Als Emi aus dem Fenster sah, stellte sie fest, dass sie bei Miriam gelandet waren.

»Oh, dann schläfst du wohl nicht bei mir?« Die Journalistin klang verwundert. Eigentlich hatte auch Emi stillschweigend angenommen, dass Liam die Nacht bei Miriam verbrachte.

»Nein, du hast doch gesagt, dass du müde bist. Da dachte ich mir, ich bringe dich schnell rum. Emis Wohnung liegt auf dem Weg zu meiner und…« Seine Stimme verlor sich in dem Satz, als er erkannte, dass er ihn nicht beenden musste, damit sie verstand, worauf er hinaus wollte.

»Ja, klar, ich hatte nur gedacht… Na ja, vergiss es. Ist nicht schlimm.«

Emi hörte an ihrer Stimme, dass es sehr wohl schlimm war, aber sie mischte sich nicht ein. Das würde alles nur schlimmer machen. Deshalb tat sie, als wäre sie nicht da und strengte sich an, im Polster zu verschwinden. Erfolglos. Ihre Tarnfähigkeiten reichten nicht aus, um Miriam ihre Anwesenheit vergessen zu lassen. »Mach‘s gut, Süße. Wir quatschen die Tage, ja?!«

»Klar, schlaf gut!«, rief sie ihr hinterher, ehe die Tür satt hinter ihr zufiel. Plötzlich war es still im Wagen. Ihr war bis eben gar nicht aufgefallen, dass nicht einmal das Radio lief.

»Hörst du gar keine Musik, während du fährst?«

»Nein, meistens genieße ich die Ruhe. Bei der Arbeit habe ich häufig laute Musik an, um den Rest der Welt auszublenden, aber den Effekt will ich beim Fahren nicht unbedingt erzielen.« Er lachte unbefangen und sie stimmte ein. Möglicherweise war Liam einer dieser Männer, die die Dinge wörtlich nahm und nicht zwischen den Zeilen las. Emi konnte sich nicht vorstellen, wie das funktionierte. Sie war oft viel zu empfänglich für die Stimmungen ihrer Mitmenschen, aber er registrierte die schlechte Stimmung seiner Freundin offenbar nicht einmal.

»Ja, das wäre wohl nicht so klug«, stimmte sie ihm zu.

Es waren nur wenige Minuten Fahrt bis zu ihrer Wohnung, doch sie wusste nicht, mit welchem Gesprächsthema sie die Stille füllen sollte. Darum schwieg sie, bis der Wagen vor ihrer Tür zum Stehen kam.

»Danke für alles, Liam«, bedankte sie sich aufrichtig. »Du weißt gar nicht, was du mir für eine riesige Hilfe bist. Ich werde mich bei Gelegenheit revanchieren, versprochen.«

Er nickte unverbindlich und winkte ihr zum Abschied durch die Seitenscheibe zu. Sie überquerte den Fußweg und fühlte, dass der Alkohol sie wacklig auf den Beinen machte. Emi schob den Schlüssel ins Schloss der Haustür und betätigte den Lichtschalter, doch nichts geschah. Die Tür schwang auf, aber im Treppenhaus blieb es stockfinster. Das war gruselig. Eine ähnliche Situation hatte sie in den Jahren, die sie hier wohnte, noch nie erlebt. Unsicher sah sie sich um.

»Ist alles okay?«, rief Liam ihr vom Wagen aus zu.

»Ja, ich glaube schon, aber irgendwas stimmt mit dem Licht nicht.« Sie drückte ein weiteres Mal. Vielleicht hatte sie beim ersten Mal nicht kräftig genug gedrückt. Doch auch dieses Mal blieben die Lampen aus. Ihr Blick glitt an der Fassade empor. Auch bei den Nachbarn war nirgends Licht zu sehen. Ob es einen Stromausfall im Haus gab? Andererseits war es spät. Wahrscheinlich schliefen sie schon.

»Warte, ich komme und sehe nach«, erbot sich Liam und ließ den Wagen in zweiter Reihe stehen. Im Laufschritt sprintete er zu ihr. Wo sie sich wackelig auf den Beinen fühlte, wirkte er stabil und sicher. Irgendwie männlich und selbstbewusst.

»Lass nur, ich komme schon klar«, winkte sie ab, als der Engländer sich an ihr vorbei in den Hausflur schob. Die plötzliche Nähe ließ sie erschaudern. Was war bloß mit ihr los? Die Emotionen, der Alkohol, all das war zu viel für sie. Mit Liam hatte ihre Reaktion nichts zu tun, da war sie sich sicher.

»Ach, stell dich nicht so mädchenhaft an, ich will doch nur schauen, dass alles okay ist!«, brummte er belustigt. Er bot ihr seinen Arm an, um sie die Treppe hinaufzuführen, deren Stufen sie im Dunkeln kaum erkennen konnte. Wohl oder übel musste sie dieses Angebot annehmen, wenn sie nicht stürzen wollte. Als sie vor ihrer Wohnungstür standen, schaltete er das Display seines Handys ein, um ihr zu helfen, das Schlüsselloch zu finden. Gar nicht so einfach, während die Erde unberechenbar schlingerte.

Schließlich klappte es. Automatisch griff sie nach dem Lichtschalter. Hektisch blinzelnd versuchte sie, sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen. Aber das verstärkte gleichzeitig das Schwindelgefühl. Nicht gut. Sie stützte sich mit dem Rücken an der Wand ab.

»Danke, Liam«, wiederholte sie ihre Abschiedsworte. Insgeheim hoffte sie, dass er nun endlich ging, sie die Tür schließen und ihren unerwünschten Rausch ausschlafen konnte. Seine braunen Augen lagen tief in den Höhlen. Sogar seine Haut sah müde aus.

»Kein Problem, wirklich. Gute Nacht, Emi«, flüsterte er matt.

»Gute Nacht«, erwiderte sie.

Er drehte sich auf dem Absatz und setzte sich schwerfällig in Bewegung. Das Licht aus ihrem Flur erleuchtete das Treppenhaus, während sie ihm nachsah. Erst als er um die Kurve ins Untergeschoss verschwand, schloss sie die Tür und sackte leise seufzend daran zu Boden. Alkohol und Emi passten wirklich nicht zusammen. Sie zog die Schuhe von ihren Füßen und warf sie halbherzig in Richtung der Garderobe. Was für ein sonderbarer Abschluss dieses Abends, dachte sie kopfschüttelnd.

 

***

 

CHARLOTTE

 

»Charlotte, es gibt Arbeit für uns«, erklärte Peter Stelter, als er in inniger Umarmung mit seinem Kaffeebecher das Büro betrat.

Sie sah hoffnungsvoll von ihrem Papierberg auf. Das konnte nur eins bedeuten. Jemand war tot. Kein Grund für positive Gedanken. Doch alles erschien ihr in diesem Augenblick besser als ein weiterer Tag mit diesen Akten.

Seit Wochen mussten ihre Kollegen und sie ihre Fallakten in einem neuen IT-System organisieren. Eigentlich hätte alles problemlos vom alten System ins neue übertragen werden sollen, aber leider hatte es bei einigen Unterlagen aus der jüngeren Vergangenheit Probleme gegeben.

»Was gibt‘s denn?«, fragte sie neugierig und rieb sich den Kopf. Ganz ohne Kater war sie aus dem Vorabend nicht herausgekommen, aber die Tablette hatte den Kopfschmerz ziemlich gut eingedämmt.

»Ein älterer Mann lag tot in seinem Hausflur in Kreuzberg. Platzwunde am Hinterkopf. Eine Nachbarin hat ihn am Morgen gefunden«, fasste ihr erfahrener Partner zusammen. »Die Umstände sind etwas merkwürdig. Wir müssen uns das mal ansehen.«

»Könnte er gestürzt sein?« Charlotte sah sich schon wieder ohne Fall an die verhasste Schreibtischarbeit zurückkehren. Dennoch stand sie auf und griff nach ihrer Jacke. Es war erst kurz vor acht und in den Morgenstunden relativ kühl.

»Komm, wir fahren erstmal hin. Das Papier läuft uns nicht weg.«

»Ich nehme mir noch einen Kaffee mit«, erklärte sie und beeilte sich, ihren Abstecher in die Teeküche zu absolvieren, ehe Stelter ungemütlich wurde. Zu ihrer Verwunderung folgte er ihr. Sie warf einen Blick in seinen Becher. Halbvoll. »Du hast noch.«

»Das ist doch nur eine Pfütze. Außerdem nehme ich heute, was ich kriegen kann.« Er zuckte die Achseln und füllte sich nach, ehe er ihr die Kanne überließ. »Sybille hat mich daheim auf Entzug gesetzt. Ich kriege nur noch Kräutertee.«

»Wie kommt sie denn darauf?« Charlotte war der Meinung, dass Kaffee eine vollkommen legitime Droge war. Lebensnotwendig. Und viele Menschen stimmten ihr zu. Wenn sie jemanden traf, der keinen Kaffee trank, war dieser ihr bis zum Beweis des Gegenteils suspekt. Sicher konnte man darüber diskutieren, wann jemand zu viel Kaffee trank, aber ihn generell zu verbannen, fand sie völlig übertrieben. Wie mit allem im Leben ging es um das richtige Maß.

»Ach, irgend ein New Age Mist. Sie meint, ich müsste endlich mal mehr auf meine Gesundheit achten.« Kopfschüttelnd ging er im Treppenhaus voran und versuchte, den randvollen Becher nicht zum Überlaufen zu bringen.

»Da hat sie sicher nicht Unrecht, aber solltest du dafür nicht möglicherweise beim Rauchen anfangen?« Seit dem ersten Tag war ihr sein ständiges Gequalme ein Dorn im Auge. Natürlich war er alt genug, selbst zu wissen, was gut für ihn war, aber sie konnte sich dennoch die eine oder andere Spitze in diese Richtung nicht verkneifen.

»Bring sie bloß nicht auf solche Ideen«, wehrte er energisch ab. Charlotte folgte ihm schmunzelnd und nahm wie gewohnt auf dem Beifahrersitz platz.

 

»Krieg jetzt keinen Schreck, okay?«, bat ihr Kollege sie, während er durch die belebte Urbanstraße fuhr und den Blinker setzte, um die Spur zu wechseln.

»Wieso?«, fragte sie, weil sie keine Ahnung hatte, worauf er hinaus wollte.

»An der Adresse waren wir schon mal. Du wahrscheinlich öfter als ich«, deutete er an. Wie viel öfter, registrierte sie erst, als der Wagen direkt vor Emis Wohnhaus zum Halten kam. Vor einigen Monaten hatten sie gemeinsam in einem Fall ermittelt, bei dem die junge Yogalehrerin unverschuldet in den Fokus der Ermittlungen geraten war, und Stelter wusste, dass sie inzwischen gut mit der damaligen Hauptverdächtigen befreundet war.

»Hier wurde der Tote gefunden?«, fragte sie ungläubig. Stelter hatte einen merkwürdigen Sinn für Humor, weshalb sie vermutete, er könnte sie bloß hochnehmen.

Stelter nickte und stieg aus. Charlotte begann zu akzeptieren, dass er offenbar nicht scherzte. Ein Toter in Emis Hausflur – was sollte das denn nun bedeuten?

Zum Glück war der Tote ein Mann. So musste sie sich wenigstens nicht um ihre Freundin sorgen, aber sie würde im Rahmen der Anwohnerbefragung auf jeden Fall bei ihr vorbeischauen. Am Eingang begrüßte sie eine junge Beamtin. Ihr Partner hatte bereits seinen Ausweis vorgezeigt und hielt ihr die Tür zum Flur auf. Sie marschierte voraus und ließ Stelter weit hinter sich. Treppauf hatte er erhebliche Probleme mit seiner Ausdauer, das kannte Charlotte bereits gut. Aber sie würde sich hüten, ihn schon wieder auf seinen übermäßigen Zigarettenkonsum hinzuweisen. In der zweiten Etage trieben sich bereits mehr Menschen herum. Eine schaulustige Nachbarin im Morgenmantel versuchte, sich in ihrem Windschatten an einem Beamten vorbei die Treppe hoch zu mogeln. Doch er hielt sie auf,

»Gehen Sie bitte zurück in Ihre Wohnung«, forderte er nachdrücklich.

»Aber ich wollte doch nur…«, begann die ältere Dame zaghaft zu erklären und hielt dann inne, weil sie erkannte, dass ihre Bemühungen zwecklos waren.

Auf Emis Treppenabsatz waren alle Türen geschlossen. Ein Team Rettungsassistenten kam ihr entgegen. Sie erkannte unter ihnen ein bekanntes Gesicht. Wenn sie sich recht erinnerte, hieß der größere der beiden Sanitäter Pascal, aber sicher war sie sich nicht mehr. Vor einigen Wochen hatten sie bei einem Einsatz miteinander zu tun.

»Hi Charlotte«, grüßte er souverän. Er erinnerte sich also an ihren Namen. Wenn sie sich doch bloß ähnlich sicher bei seinem wäre.

»Hi«, gab sie unbeholfen zurück. »Schön dich zu treffen.«

Sie versuchte, den fehlenden Namen mit etwas freundlichem Smalltalk wieder wettzumachen, denn sie fand ihn nett und wollte nicht, dass er sie für eine unnahbare Zicke hielt. Er zwinkerte ihr freundlich zu und setzte seinen Weg nach unten fort.

Auf der Treppe zur nächsten Etage lag schließlich das Opfer. Ihr fiel auf den ersten Blick auf, dass der Mann einen Schlafanzug trug. Jeweils graubraun gemustert passten Hemd und Hose zusammen. Das Hemd war jedoch hochgerutscht und entblößte ein Stück seines käsig weißen Rückens, was die Durchgängigkeit des Karomusters unterbrach. Die Beine des Toten zeigten nach unten. Es sah aus, als wäre er beim Hinaufgehen gestürzt. Ein Notarzt stand neben ihm und hob zwei Finger zum Gruß an die Stirn.

»Guten Morgen, Charlotte Rothenburg von der Kriminalpolizei«, stellte sie sich vor. »Gibt es schon Erkenntnisse?«

»Moin, Oliver Kubicki«, meldete er zurück. »Sieht auf den ersten Blick nach einem kräftigen Schlag auf den Hinterkopf aus. Als wir hier ankamen, war nichts mehr zu machen.« Er zuckte mit den Schultern und griff nach seinem Koffer.

»Danke. Gibt es noch irgendwas?«, hakte sie nach. Bislang war offenbar kein Rechtsmediziner zu seiner Ablösung erschienen. Deshalb versuchte sie, von ihm alle Informationen zu bekommen, die sie brauchte, damit sie mit den Ermittlungen loslegen konnte.

»Nein, mehr kann ich dazu nicht sagen. Der Rechtsmediziner wurde bereits angefordert.« Erneut zuckte er die Schultern. »Ich müsste dann auch wieder los, oder braucht ihr mich noch?«

»Nein, nein, schon okay.«

Charlotte ließ ihn ziehen. Inzwischen war auch Stelter auf ihrer Höhe angekommen und schnappte nach Luft. Charlotte warf einen intensiven Blick auf die Leiche, während sie Stelter Zeit ließ, wieder zu Atmen zu kommen. Der Hinterkopf des Mannes trug klare Spuren eines kräftigen Schlages. Genau wie der Arzt gesagt hatte. Blut und Haare hatten eine Kruste gebildet. Seine Arme sahen aus, als hätte er versucht, seinen Sturz abzufangen.

»Und?«, japste Peter Stelter.

»Bislang nichts. Aber schau mal, das ist merkwürdig. Er hat eine Platzwunde am Hinterkopf, liegt aber mit dem Gesicht nach unten. Da kann er ihn sich kaum bei dem Sturz selbst aufgeschlagen haben, oder was meinst du?«

Sie wusste, dass es wenig brachte, sich ungesicherten Vermutungen hinzugeben, aber irgendeine Annahme mussten sie treffen, wenn sie mit den Ermittlungen zielgerichtet beginnen wollten. So ging sie vorerst von der Beteiligung einer zweiten Person aus, die es zu ermitteln galt. Stelter zuckte die Achseln und nickte, als wolle er sie in ihrem Ansatz bestätigen. Er wusste, dass sie genau das brauchte. Ohne ein Feedback funktionierte sie nur eingeschränkt. Vielleicht gab es auch eine ganz andere Erklärung, aber mit irgendwas mussten sie anfangen.

Weil er weiterhin nach Atem rang, wandte sich Charlotte zum oberen Treppenabsatz, wo sich ein weiterer Sanitäter um eine Frau kümmerte. Sie schob sich vorsichtig zwischen Wand und Opfer ins Dachgeschoss nach oben und versuchte dabei keine Spuren zu zerstören. Nachdem bereits ein halbes Dutzend Menschen hier herumspaziert war wie auf einem Jahrmarkt, gab es vermutlich nicht mehr viel, was sie zerstören konnte. Trotzdem wollte sie nicht für verwischte Spuren verantwortlich gemacht werden, denn sie konnte sich keine weiteren Minuspunkte bei ihrem Chef leisten.

»Gibt es irgendjemanden, den wir für Sie anrufen können, damit Sie jetzt nicht allein sein müssen?«, fragte der Sanitäter einfühlsam. In sich zusammengesunken lehnte die Frau an der cremeweiß gestrichenen Wand des Treppenhauses. Neben ihr stand eine Wohnungstür auf.

»Ich habe doch nur meinen Manfred«, gab die Frau weinerlich zurück und deutete auf die Treppe. Charlotte zählte eins und eins zusammen.

»Guten Tag«, mischte sie sich in gemäßigter Lautstärke in das intime Zwiegespräch ein. »Ich bin von der Polizei und müsste Ihnen einige Fragen stellen, wenn das möglich ist.«

Die Frau sah sie aus großen Augen an, blieb aber stumm wie ein Fisch. Der Sanitäter nickte ihr knapp zu und schob die Frau mit sanftem Druck in Richtung der Wohnungstür. Charlotte warf einen unauffälligen Blick auf das Namensschild an der Klingel, folgte der Frau hinein und entschied, das Gespräch auch ohne aktive Zustimmung zu beginnen.

»Frau Kreutzer, haben Sie Tee im Haus? Sicher würde es Ihnen ganz gut tun, erstmal eine Tasse zu trinken. Sagen Sie mir einfach, wo ich alles finden kann und setzen Sie sich.«

Die Wohnung hatte einen ähnlichen Schnitt wie die ihrer Freundin eine Etage tiefer. Die ältere Dame ging mit kleinen schlurfenden Schritten voran und zeigte ihr den Weg in die Küche. Sie deutete auf einen Hängeschrank und ließ sich schlaff auf einen Stuhl mit Metallgestell und Kunstlederbezug fallen. Das Polster gab einen zarten Pufflaut von sich, doch auch das schien sie kaum zu registrieren. Vollkommen in ihre Fassungslosigkeit versunken kapselte sie sich von ihrer Umwelt ab. Charlotte stellte den Wasserkocher auf und öffnete den Hängeschrank, in dem sie Instantkaffee und einige Beuteltees vom Discounter fand. Sie entschied sich für Kamille und griff nach zwei Tassen aus dem Fach darüber.

»Lassen Sie uns doch zunächst die Formalien abhandeln. Wie ist denn Ihr vollständiger Name?« Sie zückte ihren Notizblock und zog die Kappe von der Spitze ihres Stiftes.

»Regina Kreutzer«, gab die Angesprochene monoton zurück.

»In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Opfer?«

Charlotte lehnte an der Küchenzeile und notierte sich die Eckdaten, während sich das Wasser im Kocher erhitzte.

»Manfred war mein Mann.« Sie schniefte leise, als ihr bewusst wurde, dass sie gerade selbst ebenfalls zur Vergangenheitsform übergegangen war. Die Erkenntnis schlich sich langsam ein.

Nach einigen weiteren formalen Fragen pausierte Charlotte, um den Tee aufzugießen. Sie reichte der Frau eine Tasse und ließ sich ihr gegenüber nieder, um ihr auf Augenhöhe zu begegnen.

»Frau Kreutzer, ich kann mir vorstellen, dass diese Situation für Sie im Moment nur schwer zu ertragen ist.« Sie machte eine kurze Pause und wartete auf eine Reaktion der Frau. Erst als die ältere Dame zu ihr aufsah, fuhr sie fort. »Wir müssen natürlich schnellstmöglich herausfinden, was Ihrem Mann widerfahren ist. Sicher können Sie uns dabei jetzt am besten helfen. Entschuldigen Sie deshalb bitte, wenn ich Sie mit meinen Fragen in Ihrer Trauer störe.«

Die Witwe nickte nur und rieb ihre Hände an der Tasse.

»Wann haben Sie bemerkt, dass Ihr Mann nicht im Bett war?«

»Er war nicht in seinem Zimmer, als ich aufstand, um den Kaffee zu machen«, begann sie. Regina Kreutzer wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Wange. »Das war nicht ungewöhnlich. Manchmal schlief er schlecht und ging schon früh aus dem Haus. Aber dann habe ich von draußen Geräusche gehört. Erst dachte ich, die Nachbarn streiten sich mal wieder lautstark. Trotzdem habe ich nachgesehen, warum im Treppenhaus ein solcher Aufruhr herrschte, und da lag er dann.«

»Was war denn im Treppenhaus?«, hakte Charlotte ein.

»Das wusste ich ja zu dem Zeitpunkt auch nicht. Es war einfach unruhig. Erst als ich dann selbst hinausgegangen bin, habe ich es verstanden.« Die Atmung der Frau ging zitternd. Jeden Moment rechnete Charlotte damit, dass sie doch noch einmal die Hilfe der Sanitäter brauchen würde, weil Frau Kreutzer der Situation nicht gewachsen war. Wer war das schon?

»Was verstanden?«, fragte sie dennoch weiter. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen und dafür war es von großer Bedeutung, dass sie alles erfuhr, was sie für ihre Ermittlungen brauchte. Übermäßige Nachsicht bei der Befragung von Angehörigen war zwar menschlich, konnte aber dazu führen, dass ihr Informationen vorenthalten wurden, die unbeabsichtigt den Täter mit seiner Tat davonkommen ließen. Das durfte Charlotte nicht riskieren.

»Dass die Nachbarn meinen Manfred gefunden hatten. Aber zu dem Zeitpunkt war das Treppenhaus schon voller Menschen. Die Sanitäter standen um meinen Mann und es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass er es war.« Die trauernde Witwe schüttelte verständnislos den Kopf. Charlotte ließ ihr einige Sekunden, sich wieder zu sammeln, ehe sie ihre Befragung fortsetzte.

»Wenn Sie sagen, er war nicht in seinem Zimmer, meinen Sie dann, Sie schlafen getrennt?«

»Ja, schon seit Jahren. Er hat immer gesagt, ich würde so laut schnarchen, dass es neben mir niemand aushielte.« Sie lachte schnaubend. Aus der Tasse stieg eine Dampfwolke auf. »Dabei wusste ich genau, dass er eigentlich nur bis zum Einschlafen fernsehen wollte. Ich wollte nie einen Fernseher im Schlafzimmer und so zog er ins Wohnzimmer.«

»Sie können also nicht sagen, wann Ihr Mann die Wohnung verlassen hat?«

Die Witwe schüttelte den Kopf und senkte den Blick auf die Oberfläche des kleinen Küchentisches. Regungslos starrte sie auf den zerkratzten Kunststoff. Stumme Tränen tropften auf die Platte und verliefen in den Gebrauchsspuren.

---ENDE DER LESEPROBE---