Sündenfeuer - Erin J. Steen - E-Book

Sündenfeuer E-Book

Erin J. Steen

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Beschreibung

Yoga könnte so entspannend sein, wenn da nicht ständig diese Leichen wären... Eine Leiche im Feuer stellt Emi vor ein Rätsel Klappentext: Die Yogalehrerin Emi Moorkamp möchte sich nicht mehr verbiegen. Von einem Seminar in ländlicher Idylle erhofft sie sich Impulse, wie sie ihre Berufung mit der Notwendigkeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen vereinbaren kann, ohne fortwährend faule Kompromisse zu machen. Als mitten in der Nacht ein Feuer im Gästehaus ausbricht, findet sie statt der erhofften Erleuchtung eine Leiche und schnell ist ihr klar: Es handelt sich um Mord! Mit Hilfe ihrer neuen Freundin Ella will Emi dem Täter auf die Spur kommen. Denn sie ist sicher, dass er sich in ihrem direkten Umfeld befindet. Gemeinsam suchen sie nach der Nadel im Aschehaufen und stoßen dabei auf mehr Geheimnisse als erwartet. Leserstimmen "Der Roman enthält durch das Brandopfer ein bisschen Krimi und durch die Konstellation der Personen ganz viel zwischenmenschliche Gefühle." "Erin zaubert einzigartige Charaktere." "Ein toller Cosy-Crime, der einen völlig mitnimmt. Spannend bis zum Schluss, Rätselfreude bis zum Schluss." Die bisherigen Bände der Reihe im Überblick: 1. Unter Verdacht: Moorkamps erster Fall 2. Sündenfeuer: Moorkamps zweiter Fall 3. Böser Geist: Moorkamps dritter Fall

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhaltsverzeichnis

1. EINS

2. ZWEI

3. DREI

4. VIER

5. FÜNF

6. SECHS

7. SIEBEN

8. ACHT

9. NEUN

10. ZEHN

11. ELF

12. ZWÖLF

13. DREIZEHN

14. VIERZEHN

15. FÜNFZEHN

16. SECHZEHN

17. Danksagung

18. Weitere Bücher der Autorin

 

Sündenfeuer

 

Von Erin J. Steen

 

 

 

 

 

Buchbeschreibung:

Die Yogalehrerin Emi Moorkamp möchte sich nicht mehr verbiegen.

 

Von einem Seminar in ländlicher Idylle erhofft sie sich Impulse, wie sie ihre Berufung mit der Notwendigkeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen vereinbaren kann, ohne fortwährend faule Kompromisse zu machen. Als mitten in der Nacht ein Feuer im Gästehaus ausbricht, findet sie statt der erhofften Erleuchtung eine Leiche und schnell ist ihr klar: Es handelt sich um Mord!

 

Mit Hilfe ihrer neuen Freundin Ella will Emi dem Täter auf die Spur kommen. Denn sie ist sicher, dass er sich in ihrem direkten Umfeld befindet. Gemeinsam suchen sie nach der Nadel im Aschehaufen und stoßen dabei auf mehr Geheimnisse als erwartet.

 

 

 

 

Über den Autor:

Erin J. Steen wurde im Herbst 1983 in Niedersachsen geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute wieder, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Sie liebt große Städte, möchte aber nicht mehr längere Zeit in einer Großstadt leben. Das Haus teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und und zwei tierischen Gefährten.

Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit Spaziergängen im Wald, der Familie und stetig wechselnden kreativen Hobbys. Sie fotografiert, näht und denkt hin und wieder daran, das Töpfern zu erlernen. Wie die Hauptfigur ihrer Yoga-Krimi-Reihe mag sie Yoga, wird aber voraussichtlich in diesem Leben keine Selfies in akrobatischen Posen veröffentlichen.

 

 

 

 

 

 

Sündenfeuer

 

Moorkamps zweiter Fall

 

Von Erin J. Steen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage, 2018

© Erin J. Steen – alle Rechte vorbehalten.

 

 

Impressum:

Erin J. Steen

c/o

Papyrus Autoren-Club,

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

 

Email: [email protected]

Website: www.erinjsteen.com

 

Umschlaggestaltung: Jasmin Whiscy (www.whiscy.de)

Lektorat: Anita Ehlers

 

 

 

 

 

 

Für Niko, meinen Hafen

 

1. EINS

 

Emi

 

In ein abgewetztes Ledersofa gekuschelt genoss Emi Moorkamp die Stille des Waldes rund um das Institut. Mächtige Bäume umstanden den Parkplatz und kündigten an, welche Naturgewalten jenseits der Gebäude auf die Besucher warteten. Sobald das Wetter, die Zeit und ihre körperliche Verfassung es zuließen, musste sie raus und erkunden, was die entlegene Gegend zu bieten hatte.

Nach der anstrengenden Reise wollte sie gleich etwas gegen den drohenden Jetlag unternehmen. Deshalb gab sie ihrem Drang nicht nach, sich schon am frühen Nachmittag ins Bett zu legen. Gefühlt hatte der Trip in das Dorf einige Kilometer nördlich der Stadtgrenze von Trois-Rivières im kanadischen Bundesstaat Quebec sie Wochen ihres Lebens gekostet.

Emi blätterte in einem Buch, das sie in einem Laden neben der Busstation in Montreal erstanden hatte. Ihre mitgebrachte Reiselektüre hatte sie schon im Flugzeug aufgebraucht. Wer hätte gedacht, dass sie für diese Reise mehr als einen durchschnittlichen Roman brauchte?

Normalerweise beschäftigte sie sich mit anderen Tätigkeiten, doch wenn sie an einen Sitz gefesselt war, brauchte sie ein Buch oder zumindest eine Zeitschrift. In den Bus zu steigen und die rund zweistündige Fahrt nach Trois-Rivières anzutreten, ohne weiteren Lesestoff zu besorgen, war also ein Ding der Unmöglichkeit. Zu ihrem Glück verfügte das Geschäft neben französischsprachigen Büchern auch über eine Ecke mit Romanen in englischer Sprache. Das Eckregal war schmal und bot nur eine eingeschränkte Auswahl, doch ein Buch fiel ihr sofort ins Auge. Es war bunt und strahlte Kreativität und Neuanfang aus.

Dann waren ihr im Bus jedoch so schnell die Augen zugefallen, dass sie nicht zum Lesen kam. An der Haltestelle in der kanadischen Stadt am Zusammenfluss des Sankt Lorenzstroms mit dem Saint Maurice wurde sie von einer kommunikationsfreudigen Kanadierin abgeholt. Sie hieß Ella und schien ein wahrer Quell positiver Energie zu sein. Mit jedem ihrer Worte versprühte sie gute Laune und Zuversicht. Bereits auf ihrer ersten gemeinsamen Autofahrt hatte sie Ella ins Herz geschlossen. Die Kanadierin war ein paar Jahre jünger als Emi und arbeitete als Mädchen für alles in dem Institut, an dem Emi ein einwöchiges Seminar besuchte.

Dort hatte sich Emi sofort wohl gefühlt, als sie das urige Holzhaus am Waldrand zum ersten Mal betrat. Der Holzfußboden lud dazu ein, ihn auf dicken Socken zu erkunden. Also hatte sie ihre Schuhe im Zimmer ausgezogen und an der kleinen Garderobe neben der Zimmertür abgestellt. Es war ein Raum, der gerade genug Platz für das Bett und ihren Koffer bot. Doch das war genug, weil es ein gemütliches Foyer gab, in dem sie sich aufhalten konnte. Direkt nebenan wohnte Ella und noch hatten sie das ganze Haus für sich. Erst am nächsten Tag ging der Trubel so richtig los. In weiser Voraussicht hatte Emi ihre Ankunft um einen Tag vorgezogen, denn sie hatte geahnt, dass sie nach der Reise um den halben Erdball nicht in der Lage wäre, den Ausführungen ihres Seminarleiters zu folgen. Ella erwartete noch einen weiteren Gast, der ebenfalls einen Tag früher anreiste, doch bislang war von dem nichts zu sehen.

Draußen hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt, der den verbliebenen Schneematsch langsam aufweichte. Die Temperaturen sanken auf den Gefrierpunkt. Emi war froh, dass sie nicht mehr mit dem Auto unterwegs waren. Sicher gefror das Wasser auf den freien Straßen zu einer Eisschicht. Der Winter war in diesem Teil der Welt Mitte März noch nicht ganz vorbei. Die Dachbalken über ihrem Kopf knirschten unheimlich, aber das Holzhaus stand seit vielen Jahren und würde sicher auch diesem Winter standhalten. Sie warf einen Blick auf den Eingang. Der Parkplatz davor war noch immer so leer wie bei ihrer Ankunft.

Emi zog die Füße auf die Polster und umfasste die Tasse mit dampfendem Kakao. Ella hatte ihr sofort gezeigt, wo alles stand, und ihr gesagt, sie dürfe sich jederzeit an allem bedienen. Im Augenblick wuselte die junge Kanadierin durch das Haus und erledigte die letzten Vorbereitungen auf die Seminarwoche. Deshalb hatte sie von dem Angebot gleich Gebrauch gemacht und sich eine heiße Schokolade zubereitet. Der Umstand, den manche als mangelnden Service empfinden mochte, gab Emi ein wenig mehr das Gefühl, hier zuhause zu sein. Ein Ort so weit weg von daheim und doch bewahrte sie sich dadurch ein Stück Eigenständigkeit. Weder musste sie auf jemanden warten noch darum bitten, ihr etwas zu bringen. Sie konnte sich selbst nehmen, was sie wollte und wann immer sie es wollte. Für Emi war das genau die richtige Art zu reisen.

Das süße Schokoladenaroma stieg ihr in die Nase und verlockte sie, an der Tasse zu nippen. Noch zu heiß. Stattdessen nahm sie ihr Buch zur Hand und tauchte erneut in die Seiten ab.

»Was liest du denn da?«

»Oh, das ist ‚Big magic‘.« Emi klappte das Buch zu und sah zu der jungen Blondine auf. Ella hatte ein ausgesprochen hübsches Gesicht. In Hollywood wäre sie unter den amerikanischen Schönheitsköniginnen nicht aufgefallen, hier in der Wildnis strahlte sie hingegen wie ein Stern.

»Ein Zaubererhandbuch?«, fragte Ella mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen.

»Sowas in der Art«, gab Emi schmunzelnd zurück. »Aber eigentlich ein Leitfaden für Menschen, die sich mit einer kreativen Arbeit selbstständig machen wollen.«

»Aha, was machst du denn beruflich?«

»Nichts Kreatives, glaube ich«, erwiderte Emi plötzlich unsicher. Nachdem sie die ersten Seiten des Buches gelesen hatte, schwand ihre Überzeugung, dass ihr Beruf kein Kreativer war. Die Beschreibungen der Autorin schienen einfach zu gut auf sie zu passen. »Ich unterrichte Yoga, aber eigentlich habe ich vorher Medizin studiert.«

»Verdient man in Deutschland nicht eine Menge Geld als Arzt? Warum gibst du das auf?«

»Ich habe es nicht wirklich aufgegeben. Ich versuche nur, mir meinen Traum zu erfüllen, und der ist es, mein Lebensgefühl an andere Menschen weiterzugeben. Yoga hat mir selbst so viel gegeben, dass ich gerne etwas zurückgeben würde, verstehst du?«

»Hm, ja irgendwie schon.« Ella richtete ihren Blick in die Ferne. »Aber verdienst man damit denn auch was? Du musst doch von irgendwas leben.«

Damit traf sie den Nagel auf den Kopf. Genau aus diesem Grund war Emi zu dem Seminar gereist. Sie wollte dabei lernen, welche Veränderungen sie an ihrem Businessmodell vornehmen musste, um davon auch leben zu können. Für sich selbst brauchte sie nicht viel, aber wenigstens das Geld für Miete, Essen und ab und zu ein paar Kleidungsstücke oder eine Reise wollte sie mit ihrer Arbeit verdienen. Bislang reichte es nicht einmal regelmäßig für die komplette Monatsmiete. Ohne die Unterstützung ihrer Eltern hätte sie ihren Traum niemals verwirklichen können. Sie war den Beiden unendlich dankbar, dass sie ihr nun auch noch dieses Seminar finanzierten, aber danach sollte mit der elterlichen Finanzierung endgültig Schluss sein.

Wenn es nach dem Coaching nicht funktionierte, würde sie zurück in die Klinik gehen und ihre Facharztausbildung absolvieren. Das hatte sie ihren Eltern versprochen, obwohl weder ihr Vater noch ihre Mutter davon etwas hören wollten.

***

Ella

 

Sie hatte das Ausräumen des Trucks bis zur letzten Minute aufgeschoben. Aber wenn sie die Sachen noch länger draußen ließ, riskierte sie, dass die Bananen einen Frostschaden bekamen. Der Regen hatte die Stufen vor dem Hintereingang glitschig werden lassen. Ella war jedoch umsichtig genug, deshalb nicht zu stolpern. Ein unverkennbares Knirschen kündigte ein Fahrzeug an, das auf den Parkplatz des Seminarhauses einbog. Das war bestimmt der zweite Gast, der an diesem Tag noch kommen sollte, denn normalerweise verirrte sich sonst niemand hierher. Das Gebäude lag am nördlichen Ende des Dorfes. Es war hinter einer Reihe Bäume so gut versteckt, dass man es von der Straße aus nicht sehen konnte, wenn man nicht aktiv danach suchte.

Sie schnappte sich die letzte Kiste, balancierte sie auf einem Knie und schlug mit der freien Hand die Kofferraumklappe zu. Um rechtzeitig an der Rezeption zu sein, ließ sie den Stapel Kisten zunächst mitten in der Küche stehen und huschte hinaus ins Foyer.

Eine kleine Frau mit aschblondem Haar trat genau in dem Augenblick durch den Eingang. Sie zog einen unhandlichen Koffer hinter sich her, der wie ein ungestümer Hengst bockte. Ella eilte herbei, um der Blondine zu helfen, den Koffer zu zähmen, und erntete für ihr Engagement ein breites Lächeln.

»Vielen Dank, das ist sehr lieb. Das Ding hat eine kaputte Rolle und hier in dem Schnee, kann ich ihn nur hinter mir her schleifen,« klagte sie.

»Ja, es ist wirklich noch ziemlich verschneit bei uns,« stimmte Ella ihr zu. Für Gäste, die aus weiterer Entfernung anreisten, war es manchmal unvorstellbar, dass in Quebec tiefster Winter herrschte, während anderenorts bereits der Frühling in vollem Gang war. »Vielleicht habt ihr Glück und der restliche Schnee ist bis morgen Geschichte.«

Mit dem Finger zeigte sie nach draußen. Der andauernde Regen ließ die Schneeschicht porös werden. Wenn es lange genug so blieb, würde alles schmelzen. Im Augenblick war es noch zu kalt, aber möglicherweise gab es am nächsten Tag richtiges Tauwetter. Ella konnte es gar nicht erwarten, dass der Winter endlich das Land aus seinen Fängen entließ.

»Na, das wäre doch etwas«, gab die Frau mit dem störrischen Koffer zurück.

Ella bat sie um ihre Unterlagen, damit sie schon einmal mit den Formalitäten beginnen konnte. In ihrer übergroßen Handtasche wühlend fluchte die Amerikanerin leise. Doch schließlich beförderte sie die beiden Dokumente zutage.

Emi kletterte flink von dem Podest, auf dem die Sofalandschaft stand, und trat zu ihnen. »Soweit ich gehört habe, sind wir bis morgen allein hier, deshalb wollte ich mich kurz vorstellen.« Mit einem offenen Lächeln verwickelte sie die Neue schnell in ein Gespräch. Ella nutzte die Chance und verzog sich hinter die Theke, die den Rezeptionsbereich vom Gemeinschaftsbereich trennte. Erst dort warf sie einen Blick auf den Ausweis und verglich die Frau vor ihr mit den Daten.

Das Dokument wies die Blondine als die 24-jährige Sara Walker aus, doch sie wirkte deutlich älter. Da sie bei ihrer Arbeit täglich mit Menschen zu tun hatte, kannte sie sich mit Gesichtern aus. Auf der Stirn bildeten sich bei ihr Sorgenfalten und sogar an den Augen waren erste Fältchen erkennbar. Ein paar harte Jahre hatte sie sicher hinter sich, um vorzeitig so sehr zu altern.

»Du bist also Sara. Freut mich, dich kennenzulernen.« Sie reichte ihr die Hand über die Theke hinweg, die Sara begeistert schüttelte. »Ich bin Ella und kümmere mich hier um alles, was Essen, Zimmer und Organisation betrifft. Wenn du irgendwelche Fragen hast, kannst du dich jederzeit an mich wenden.«

Die Amerikanerin lächelte noch einmal breit. »Ich bin so froh, dass ich endlich hier bin. Ich kann es kaum erwarten.«

Sie zeigte Sara ihr Zimmer, das wie ihr eigenes im Erdgeschoss lag. Gerade als sie wieder im Haupthaus ankam, ertönte aus der Küche ein ohrenbetäubendes Scheppern. Ella ahnte Böses. Es konnte nur eine Erklärung für einen solchen Tumult geben. Sie warf einen Blick hinüber zu Emi, die ebenfalls von den Geräuschen aufgeschreckt vom Sofa gesprungen war. Mit den Händen signalisierte sie ihr, dass sie sich wieder setzen sollte, und trat den unvermeidlichen Weg in die Küche alleine an. Die ersten lautstarken Flüche donnerten ihr entgegen, noch ehe sie die Tür ganz geöffnet hatte. Genau wie erwartet, waren ihre Einkäufe umgekippt und dutzende Tomaten rollten über die Fliesen. Mitten in dem Chaos stand ihr Chef und funkelte sie böse an.

»Kannst du nicht aufpassen, wo du deinen Scheiß hinstellst?«, moserte Jacob Gordon. Sie seufzte schwer und ersparte sich eine vorlaute Antwort. In den Monaten, die sie jetzt bei ihm arbeitete, hatte sie ihn mehr als einmal schlecht gelaunt erlebt. Er war ein Mann, der seine Emotionen nur auf der Bühne im Griff hatte. In letzter Zeit fuhr er immer häufiger ohne erkennbaren Grund aus der Haut. Woran das liegen mochte, konnte Ella nur raten. Mangelnde sexuelle Auslastung war es sicher nicht. Das junge Mädchen aus dem Ort war so oft in Jacobs kleiner Hütte zu Gast, dass er ausreichend Sex hatte, wenn er es nicht komplett falsch anstellte.

»Entschuldige, ich bin noch nicht dazu gekommen, alles wegzuräumen.«

Ella kniete sich zwischen die Kisten, um die verstreuten Tomaten aufzusammeln. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten. Wenn sie den Essensplan etwas anpasste und schon heute die für den nächsten Tag angedachte Tomatensuppe kochte, entstand durch das Missgeschick vielleicht kein Schaden. Leider waren die Mengen eher für die große Gruppe zum Seminarstart geplant, aber wenn sie die angestoßenen Früchte nicht schnell verarbeitete, konnte sie gleich wegwerfen. Das bedeutete aber, dass sie sich für den nächsten Tag etwas Neues einfallen lassen und noch einmal zum Großmarkt fahren musste.

»Wo zur Hölle warst du überhaupt so lange?«

Sie hatte wirklich genug von seiner miesen Laune, aber er war immerhin ihr Chef. Falls er meinte, er fände an der nächsten Ecke eine Bessere für den Job, würde er sie bedenkenlos vor die Tür setzen und sie konnte zusehen, womit sie in Zukunft ihr Geld verdiente. Sie wollte ihrem großen Bruder nicht schon wieder monatelang auf der Tasche liegen.

»Tut mir leid, es hat alles etwas länger gedauert in der Stadt. Ich musste noch zu einem zweiten Supermarkt, weil ich im Ersten nicht alles bekommen habe.«

Viel lieber hätte sie natürlich gesagt, er solle seinen faulen Arsch selbst mal bewegen, statt immer nur sie arbeiten zu lassen, aber sie riss sich am Riemen, um den Frieden zu wahren.

»Ach, lass mich doch mit diesem Quatsch in Ruhe. Du kannst die Gäste hier nicht ewig warten lassen.«

Langsam war es aber genug. Sie ließ sich zwar viel sagen, aber irgendwann riss sogar ihr der Geduldsfaden. Die Gäste mussten bei ihr nie unnötig warten. Sie trödelte nicht und überhaupt machte sie in diesem Haus die Arbeit von mindestens drei Mitarbeitern.

»Es war doch noch niemand hier, jetzt reg dich nicht so künstlich auf!«

Es hätte leicht sein können. Er hätte nun nachgeben können, aber er wäre nicht Jacob Gordon, wenn er sich von seiner Mitarbeiterin etwas sagen ließe. Sie sah in seinen Augen, wie er nach irgendetwas suchte, dass er ihr vorwerfen konnte.

»Ich rege mich auf, wann es mir passt. Wenn du so klug wärst, hättest du ja selbst einen Uniabschluss machen können, anstatt hier für ein paar Kröten zu jobben.«

Ihr Unterkiefer schmerzte, als hätte er ihr einen Haken versetzt, dabei waren seine Worte eigentlich ein Tiefschlag. Er hatte genau die Stelle erwischt, die ihr wirklich weh tat. Sein besonderes Talent war es, die Menschen zu durchschauen. So verkaufte er zwar einerseits seine Seminare, aber er vergraulte auf diese Weise auch jeden Menschen in seinem Umfeld. Sie war 26 und wusste immer noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Ihr fehlten eine fundierte Ausbildung und vor allem ein Ziel. Mit Sicherheit hatte sie nicht vor, ewig für einen Pascha zu arbeiten, der erwartete, dass sie sich ein zweites Paar Arme wachsen ließ, während er sich den Hintern platt saß.

 

***

Emi

 

Der Duft nach reifen Tomaten erfüllte das ganze Haus. Emi schlug die Augen auf. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder vollständig orientiert hatte. Sie befand sich im Foyer des Instituts. Vor den Fenstern war es dunkel geworden, doch im Inneren des Hauses herrschte eine behagliche Beleuchtung. Ganz leise erklangen fremde Melodien über die Lautsprecher. Der Rücken tat ihr weh. Das Sofa war für einen erholsamen Schlaf offenbar nicht geeignet. Trotzdem waren ihr beim Lesen irgendwann die Augen zugefallen. Auf ihrer Brust lag noch immer das Buch, das ihre Träume durcheinandergewirbelt hatte. Es war inspirierend. Vieles geriet in ihr dadurch in Bewegung. Der Ratgeber stellte Dinge in Frage, die sie für unumstößlich gehalten hatte. Im Traum hatte sie begonnen, ihr Leben gründlich zu entrümpeln. Und dann gab es da einen Streit. Hatte sie das auch geträumt oder war es wirklich passiert?

Sie folgte dem Lockruf des Gemüses in die Küche. Während Ella das Essen abschmeckte, erkundete Sara die Funktionen der Kaffeemaschine.

»Willst du auch was trinken?«, fragte die Amerikanerin mit einem Fingerzeig auf das Gerät. »Ich kenne mich jetzt super damit aus.«

Ella schmunzelte, sagte jedoch nichts. Sara winkte ab und lachte.

»Ja, ja, ich habe mich vorher zweimal verdrückt und musste dann das ganze Programm über Satzbehälter leeren, Düsen spülen und Bohnen nachfüllen absolvieren.« Sie machte eine abwägende Handbewegung und zuckte schließlich mit den Schultern. »Wahrscheinlich erkennt die Maschine, dass ich hier neu bin!«

Emi musste ebenfalls über die aufgedrehte Amerikanerin grinsen und tat ihr den Gefallen. »Dann nehme ich bitte noch einen Kakao.«

 

Zehn Minuten später saßen die drei Frauen zusammen im Speisesaal, der viel zu groß für sie wirkte. Emi hatte sich beim Eindecken viel Mühe gegeben, den Raum gemütlich zu gestalten, doch ihre Möglichkeiten waren begrenzt. Ein paar Kerzen hier und da mussten genügen.

»Mhh, echt lecker«, lobte Emi Ellas Kochkünste aufrichtig. Die gewählten Gewürze ließen den Tomatengeschmack intensiv in den Vordergrund treten. Wann immer sie zuhause Suppe aus holländischen Tomaten kochte, wurde sie fade und wässrig. Sie musste sich unbedingt das Rezept von Ella geben lassen. »Was hat dich eigentlich in diesen Laden hier verschlagen?«

Ella legte den Kopf schief und zog einen Mundwinkel hoch.

»Göttliche Fügung? Nein, wahrscheinlich nicht. Es gab eine Anzeige und ich habe mich beworben. Ende der Geschichte.«

»Hast du hier in der Gegend gelernt?«, schaltete sich nun auch Sara ein.

»Nein, ich habe nichts Richtiges gelernt. Ich bin noch immer auf der Suche nach mir selbst.« Ihre Worte begleitete ein Lächeln, aber das nahm ihnen nicht das Gewicht. Emi verstand, was es hieß, ziellos zu treiben, obwohl sie mittlerweile wusste, was sie vom Leben wollte.

»Du wirst bestimmt bald fündig, aber vielleicht solltest du nicht unbedingt hier suchen«, riet sie der jungen Kanadierin. »Es klang vorhin nicht so, als wüsste dein Chef dich zu schätzen.«

Sie konnte nun wieder klar Traum von Realität trennen und war sich sicher, dass es den Streit tatsächlich gegeben hatte. Den genauen Wortlaut bekam sie zwar nicht mehr zusammen, aber dass es hier nicht besonders freundlich zuging, hatte sie sehr wohl gespürt.

»Ach, das war doch nichts.« Ella winkte ab und schien plötzlich dringend darauf bedacht, das Thema zu wechseln. »Was verschlägt euch denn beide hierher?«

Emi lehnte sich zurück und ließ Sara den Vortritt. Einerseits war sie selbst neugierig auf die Geschichte der anderen Teilnehmer und freute sich, dass sie so schon vorab die Gelegenheit hatte, etwas über eine von ihnen zu erfahren. Andererseits hinterließen Ellas Worte und die Erinnerung an den Streit bei ihr ein Bauchgefühl, das sie nicht so recht einzuordnen wusste. Sie beobachtete das Mädchen, das ihr von Anfang an so extrem positiv vorgekommen war. Mit einem Mal überzeugt, dass es Geheimnisse gab, die sie vor ihr verbarg. Natürlich war Emi eine vollkommen fremde Person für Ella, doch sie hatte geglaubt, sie schwangen auf der gleichen Wellenlänge.

»Ich habe einen Job, der mir keinen Spaß macht, und eine Tochter, der ich nicht vorleben möchte, dass man keine Träume haben darf. Deshalb versuche ich jetzt, herauszufinden, was mein großer Traum ist und wie ich ihn verwirklichen kann. Meine Kayla soll sehen, dass es sich lohnt, nach den Sternen zu greifen«, schloss Sara ihre Vorstellung ab.

»Das klingt doch toll.« Ella mied Emis Blick und konzentrierte sich darauf, Sara am Reden zu halten. »Darf ich fragen, warum du nicht weißt, was dein großer Traum ist? Ich meine, ich sehe hier so viele Leute, die alle genau zu wissen scheinen, was sie erreichen wollen. Da kommt es selten vor, dass jemand - genau wie ich - einfach keinen Schimmer hat.«

Sara kaute auf ihrer Unterlippe und grübelte. »Es ist nicht so, dass ich nie einen Traum hatte. Aber der Traum ist Geschichte. Jetzt brauche ich einen Neuen.«

»Was ist denn mit deinem alten Traum passiert?«, fragte Emi vorsichtig. In Saras Augen konnte sie Traurigkeit und Enttäuschung erkennen.

»Ich wurde schwanger«, antwortete sie knapp.

»Aber das ist doch kein Grund, seine Träume aufzugeben«, wandte nun Ella ein.

Schwer atmend blickte Sara zwischen ihnen hin und her. »Ich hatte gerade mit meinem Studium angefangen, als ich schwanger wurde. Meine Eltern haben mich rausgeschmissen und zu meiner Tante nach Boston geschickt. Damit konnte ich mein Studium erstmal vergessen.« Sie stützte den Kopf auf die Hände und schaute verträumt in ihre Suppe. »Wisst ihr, ich bin in einer strengen Gemeinde aufgewachsen. Es gehörte sich einfach nicht für ein Mädchen, schwanger zu werden, ohne dass es einen Vater gab, der Verantwortung übernahm. Und so musste ich eben weg, ehe ich meinen Eltern Schande machen konnte.«

Kopfschüttelnd schwiegen Ella und sie über die traurige Geschichte der jungen Frau. Kaum zu glauben, was ihr widerfahren war. Wie ungerecht es in ihrer Welt zuging. Als nächste erzählte Emi, wie sie zu diesem Seminar kam. Viel weniger dramatisch war ihr eigenes Schicksal. Deshalb berichtete sie auch deutlich zurückhaltender von den Dingen, die Ella bereits grob kannte: Medizinstudium, Yoga, Selbstständigkeit, Versagen. Sie warf einen Blick auf die Uhr ihres Telefons.

»Hey, wenn ihr möchtet, gebe ich euch gerne sofort eine Probestunde.«

Etwas Bewegung konnte sie vor dem Einschlafen wirklich gut gebrauchen und es wäre schön, wenn sie den Beiden etwas von ihrem Können zeigen dürfte. »Danke für das Angebot, aber ich gehe lieber gleich ins Bett. Vielleicht morgen«, lehnte Sara sofort ab. Auch Ella schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das ist nichts für mich.«

Die Zurückhaltung enttäuschte Emi, doch sie war Profi genug, es sich nicht anmerken zu lassen. Solche Ausreden und weit Schlimmeres hatte sie im letzten Jahr oft genug gehört, um es verkraften zu können. Ihr Entschluss, noch etwas zu tun, geriet dadurch nicht ins Wanken.

»Kann ich trotzdem irgendwo einen Raum benutzen, der etwas größer ist als mein Zimmer?«

»Ja, klar, komm mit.« Ella sprang vom Tisch auf und zog Emi mit sich. Sie durchquerten das Haupthaus, bis sie schließlich vor einer geschlossenen Tür im Foyer stehen blieben. Mit dem Schlüsselbund an ihrer Hüfte öffnete Ella sie und bat Emi hinein.

»Das ist der Raum, in dem euer Seminar stattfinden wird. Weil hier der Beamer und der Laptop stehen, ist meistens abgeschlossen, aber natürlich darfst du hier trainieren.«

»Danke, das ist lieb.«

»Willst du mich vielleicht morgen früh in die Stadt begleiten? Ich muss noch etwas einkaufen und wir könnten irgendwo nett frühstücken.«

Überrascht von der unvermittelten Rückkehr zur anfänglichen Vertrautheit, nickte Emi wortlos. Vielleicht hatte sie sie doch nicht falsch eingeschätzt, sondern nur ein Thema berührt, das ihr unangenehm war.

»Super. Ich wecke dich dann rechtzeitig.«

Mit diesen Worten verschwand sie wieder in Richtung des Speisesaals und ließ Emi in dem Raum zurück, der nur von dem aus dem Foyer einfallenden Licht erhellt wurde. Die schummrige Beleuchtung gefiel ihr. Sie überlegte, die Matte aus ihrem Zimmer zu holen, entschied sich aber dagegen. Ein paar Dehnübungen für den Pranafluss würden für den Abend reichen, dafür brauchte sie keine Unterlage.

Sie hockte sich im Schneidersitz vor die tiefen Fenster. Ihr Nacken gab knackende Laute von sich, als sie ihren Kopf in alle Richtungen bewegte. Für ein paar Minuten schloss sie die Augen, um zu erspüren, in welchen Körperregionen ihre Blockaden von der Reise lagen und mit welchen Übungen sie sich austreiben ließen. Ihr Atem floss ruhig dahin und sie genoss den leisen Wind, der durch die Bäume strich. Noch immer fielen Regentropfen durch die Äste und gefroren auf dem Schnee zu einer zarten Eisdecke.

Als sie glaubte, zu wissen, was ihr Körper brauchte, begann sie mit ihren Übungen. Energie strömte durch sämtliche Gliedmaßen. Sie dehnte die Flanken und spürte in einer tiefen Vorbeuge ihre rückseitigen Faszien. Jenseits der Fenster hörte sie ein Knacken. Es war so ruhig um das Haus herum, dass sie mit ihren geschärften Sinnen sogar das Brechen eines Astes hören konnte. Sie schüttelte den Kopf und besann sich wieder auf ihre Haltung. Da war es erneut. Dieses Mal schien es näher zu sein. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus zog sie sich hinter die Wand zurück und spähte durch das Fenster. Was oder wer auch immer da draußen war, sollte sie auf keinen Fall sehen. Zwischen den Bäumen drang ein Leuchten hindurch. Sie sah genauer hin. Dort hinten stand gut versteckt eine Hütte, deren Tür sich öffnete. Der Lichtstrahl wurde größer und eine schlanke Gestalt huschte durch den Spalt. Dann schloss sich die Tür und das Licht verschwand.

***

2. ZWEI

Der alte Geländewagen schnurrte wie eine Katze, die es sich vor dem Ofen gemütlich gemacht hatte und rollte mitsamt seiner Ladung sanft auf die Rue des Prairies. Die Einkäufe waren endlich erledigt. Sie war es so leid, alle Besorgungen für einen ganzen Hotelbetrieb in einem Supermarkt zu erledigen. Doch Jacob weigerte sich strikt, für Lieferungen aufs Land extra zu bezahlen. Er zahlte lieber für Ellas Zeit und das Benzin und motzte sie anschließend dafür an, dass sie so lange unterwegs war. Nach seinen Beleidigungen vom Vortag hatte sie sich vorgenommen, mit ihm in Zukunft nur das Nötigste zu besprechen. Er verdiente weder ihre Freundschaft noch ihre Loyalität. Wenn sie in der Woche nach dem Seminar wieder ein paar Tage frei hatte, wollte sie sich einen anderen Job suchen. Sie mochte die Arbeit in einem kleinen Hotelbetrieb und die Gäste, aber seine Launen hielt sie einfach nicht mehr aus.

Sie durchquerten das nordwestliche Ende der Stadt, wo die Station der Sûreté du Québec lag, bei der ihr Bruder Rick arbeitete. Sein Haus, in dem sie ebenfalls wohnte, lag auch in diesem Teil von Trois-Rivières. Zur Belohnung für den stressigen Einkauf steuerte Ella als nächstes die Boulangerie Manette an. Bei Manette gab es nicht nur die besten Croissants der Stadt, sondern genau die friedvolle Atmosphäre, die sie nach jedem Streit zu schätzen wusste. Mit Emi an ihrer Seite war alles gleich viel leichter zu ertragen. Sie warf ihr einen kurzen Blick zu und schmunzelte.

»Hast du Hunger?« Ella bog auf den Parkplatz ein, der neben dem freistehenden Haus der Bäckerei für Gäste vorgesehen war. Ricks weißer Pick-up stand ebenfalls dort. Wie sie liebte auch ihr großer Bruder den Laden heiß und innig.

»Auf jeden Fall«, gab Emi ohne Umschweife zurück. Es war bereits kurz nach zehn. Für Sara, die am Vormittag zu einer kleinen Spritztour aufgebrochen war, hatte Ella ein Carepaket gepackt, doch Emi und sie hatten noch immer kein Frühstück im Magen.

Ella stellte den Wagen ab und kletterte hinaus. Wie der Zufall es wollte, fuhr ihr Bruder genau in diesem Augenblick aus der Parklücke neben ihr. Er hob kurz durch die Scheibe die Hand zu einem Gruß und rollte auf die vielbefahrene Verbindungsstraße. Emi trat neben sie, als sie ihm nachsah.

»Wer war das?«

»Mein großer Bruder«, erklärte sie. Doch in ihrer Stimme schwang unbeabsichtigt ein wenig Enttäuschung darüber mit, dass sie ihn so knapp verpasst hatten. »Was ist?« Emis blaue Augen musterten sie aufmerksam. Vor ihr konnte man wirklich nicht viel verbergen. Sie hatte ein feines Gespür für ihre Umwelt. Ob das von diesem Yoga-Kram kam?

»Ach, es ist nichts«, wehrte sie ab, nur um sich gleich darauf selbst zu korrigieren. »Ich finde es nur ein bisschen schade, dass ich euch nicht vorstellen konnte.« Sie konnte es nicht an etwas Bestimmten festmachen, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass eine Frau wie Emi gut für ihren Bruder wäre. Er hatte für die Auswahl leider selbst bislang kein so gutes Händchen bewiesen, aber vielleicht sollte sie dem Schicksal auch nicht hineinpfuschen. Wenn es so kommen sollte, würden die Zwei sich schon früher oder später über den Weg laufen. Sie zuckte mit den Schultern, um den Gedanken abzuschütteln, und marschierte mit Emi am Arm auf den Eingang zu.

»Ihr versteht euch also gut, dein Bruder und du?«, fragte sie.

»Ja, er ist doch alles, was ich noch habe«, erklärte sie wahrheitsgemäß. »Seit unsere Eltern damals gestorben sind, gibt es nur noch ihn und mich.«

»Oh, das tut mir leid, das wusste ich nicht.«

»Woher solltest du auch?« Es war schon so lange her, dass es kaum noch weh tat, darüber zu sprechen. »Sie sind bei einem Bootsunglück vor Halifax ertrunken. Jedenfalls nimmt man das an. Sie wurden nie gefunden.«

Emi wurde ganz blass um die Nase. Vielleicht hätte sie nicht so mit der Tür ins Haus fallen sollen, aber nun war es zu spät. Sie öffnete die Glastür und wurde von einem betörenden Duft nach frischem Backwerk gefangen genommen. Manette, eine pummelige Frau in den Vierzigern, stand wie immer selbst hinter dem Tresen und bediente ihre Gäste. »Ella, ma cherie, que puis-je faire pour toi?«, in feinstem kanadischen Französisch begrüßte Manette ihre Stammkundin herzlich. Ella schaltete ebenfalls schnell um und verließ ihre kleine Insel der Anglophonie. In diesem Teil Kanadas sprach nun einmal fast jeder französisch, viele verstanden kein englisch oder wollten es nicht verstehen. Bei Jacob im Institut wurde hingegen ausschließlich englisch gesprochen, denn er beherrschte die Sprache der Region kaum. Das kam zwar Ella sehr entgegen. Sie war in Halifax aufgewachsen, wo englisch nun einmal die Amtssprache war, doch es isolierte Jacob von seiner Umgebung. Die Bewohner des kleinen Ortes am Fluss waren dem Amerikaner gegenüber ohnehin von Anfang an skeptisch gewesen, dass sie nicht miteinander sprechen konnten, errichtete schließlich eine unüberwindbare Mauer zwischen ihm und den Dörflern.

Ellas Blick glitt über die angebotenen Waren, doch dort, wo ein Schild die Croissants anpries, gab es nur noch das blanke Metall der Auslage. »Sind sie etwa schon alle?« Sie hätte es wissen müssen. Wer zu spät kam, hatte keine Chance, sich eines von den begehrten Teilchen zu sichern.

»Dein Bruder hatte gerade das Letzte, tut mir leid«, antwortete Manette geknickt. »Hach, der Glückliche«, seufzte Ella darauf theatralisch. »Aber da kann man nichts machen.«

Emi trat neben sie und warf ebenfalls einen Blick auf die belegten Brote und Sandwiches. Da der Laden an einer Einfallstraße zur Stadt lag, hatte Manette auch immer ein paar Angebote zum Mitnehmen für die Pendler. Belegte Brote, Salate und Joghurt mit Müsli, hier fand jeder etwas Passendes.

»Was möchtest du?«, fragte sie Emi, damit sie für beide gemeinsam bestellen konnte.

»Das da sieht toll aus.« Sie zeigte auf ein Sandwich mit Currycreme und Falafel, das von einem grünen Band zusammengehalten wurde. Ella entschied sich für ein belegtes Baguette mit luftgetrocknetem Schinken und würzigem Käse.

 

»Bist du Vegetarierin?«, fragte sie Emi, nachdem sie mit den Tellern an einem freien Tisch Platz genommen hatten. Vielleicht hätte es sie nicht wundern sollen, dass die Yogalehrerin nicht zu einem Wurstbrot griff. Für ihre Essenspläne im Institut wollte Ella es jedoch genau wissen.

»Ja, irgendwie schon. Ich esse meistens vegan, aber ich nehme das nicht so streng. Fleisch mag ich allerdings gar nicht.«

Sie überkam ein leichtes Schuldgefühl, weil sie den Mund voller Schinken hatte. Man musste nicht in allem gleich sein, um Freundschaft zu schließen, oder? Am liebsten hätte sie den Bissen endlich runtergeschluckt, doch er schien sich zu vermehren und wollte einfach nicht verschwinden. Plötzlich schmeckte das vormals köstliche Baguette überhaupt nicht mehr.

»Iss du ruhig, was du magst. Ich bekehre gewiss niemanden.« Emi biss herzhaft in ihr Sandwich, wobei ihre Wangen eine gehörige Portion Currycreme abbekamen. »Ich finde es schlimm, wie es immer in Diskussionen ausartet, wenn jemand irgendwas nicht isst oder nicht trinkt. Das kann man sich doch alles sparen. Es macht am Ende sowieso jeder, wie er es für richtig hält.«

Das Baguette in ihrem Mund verschwand wie von Zauberhand und machte einer entspannten Leichtigkeit Platz. Ihr war bis zu jenem Augenblick nicht bewusst gewesen, wie viel ihr Emis Urteil bedeutete. Rick kritisierte immer, dass sie sich zu schnell an neue Menschen band und genau das tat sie schon wieder. Doch es fühlte sich eben für sie richtig an. Vielleicht hatte er recht und es verschreckte die Leute mehr, als es ihnen schmeichelte, aber so war sie nun einmal. Wer damit nicht umgehen konnte, gehörte nicht in ihr Leben.

Leider war es nur in den Augenblicken so einfach, in denen es ihr gut ging. Viel öfter jedoch, wenn sie erneut von einem vermeintlichen Freund oder einer vermeintlichen Freundin sitzengelassen wurde, zweifelte sie an sich selbst. Das sollte sie nicht tun. Natürlich nicht, aber es war nun einmal so.

»Schön, dass du es so siehst. Manche Leute sind da ganz anders drauf!«

Emi lächelte sie an. Noch immer war sie über und über mit gelber Currycreme beschmiert, ein belustigtes Funkeln in ihren Augen verriet Ella, dass sie genau wusste, wie sie aussah.

***

Es blieb ausreichend Zeit, die Umgebung und den Ort ein wenig zu erkunden, bevor das offizielle Programm startete. Während nach und nach die anderen Teilnehmer eintrafen, wusste sie im Haus sowieso nichts Vernünftiges mit sich anzufangen. Also schnürte Emi ihre gepolsterten Wanderstiefel und schlüpfte in den schlammgrünen Parka, den sie so sehr liebte.

Im Foyer traf sie auf eine schnatternde Meute aus Damen mittleren Alters, die sofort durch ihren außergewöhnlichen Modegeschmack auffielen. Keine von ihnen war schlank, doch sie wussten ihre Körper gut in Szene zu setzen, was Emi neidlos mit einem Nicken quittierte. Sie grüßte knapp, aber freundlich und marschierte durch die Eingangstür hinaus in den angetauten Schnee. Die Temperaturen erreichten wie am Vortag nur knapp den Plusbereich, sodass der Matsch weder taute, noch die Feuchtigkeit wirklich zu einer Gefahr wurde. Trotzdem tastete sie sich besonders vorsichtig voran, bis sie sich an die Beschaffenheit des Untergrunds gewöhnt hatte.

Sie folgte der Auffahrt hinunter zur Hauptstraße durch den Ort. Bäume säumten dicht gedrängt die Straße und ließen kaum einen Blick auf das private Institut zu, wenn man nicht bereits in die Zuwegung eingebogen war. Ausgeschlossen, dass sich jemand zufällig hierher verirrte. Am Ende der Zufahrt angekommen hielt sie einen Moment inne und genoss die kalte Luft.

Ein Röhren zerriss kurz darauf die behagliche Stille. Einige hundert Meter weiter knickte die Straße ab und genau dort tauchten in diesem Augenblick zwei teure SUVs auf, deren Fahrer sich eine Art Rennen lieferten. An der Abzweigung bremste der Erste scharf und schlingerte ein wenig, bevor er in die Auffahrt einbog. Auch der Fahrer des zweiten Fahrzeugs ließ die Bremsen quietschen, um einen Auffahrunfall zu vermeiden. Wenn das die typische Gesellschaft für dieses Seminar war, hätte Emi ihren Urlaub lieber woanders verbracht. Sie setzte sich nach einer Schrecksekunde wieder in Bewegung. Vom Parkplatz erklang hysterisches Gekreische. »Dir mag es ja egal sein, aber ich hänge an meinem Leben, du verdammtes Arschloch!« Eine Tür wurde zugeschlagen. Die Antwort des Fahrers war nicht zu verstehen.

Emi schüttelte den Kopf und nahm Kurs auf das Zentrum des Ortes. Mehrmals glitt ihr Blick hinauf zu den riesigen Nadelbäumen, die nicht nur in einigem Abstand die Straße säumten, sondern auch überall hinter den Dächern zum Vorschein kamen, als hielten sie den Ort fest umklammert. Nur in einer Richtung gab es keine derartige Baumumarmung. Dorthin marschierte Emi, da musste sich der Fluss befinden.

Hin und wieder fuhr in gemächlichem Tempo ein Auto an ihr vorbei, aber die meiste Zeit war es erstaunlich ruhig, seit sie das Institut hinter sich gelassen hatte. Vor einem unscheinbaren Gebäude parkten einige Fahrzeuge. Erst als sie näher kam, fiel ihr das »Diner«-Schild im Fenster auf. Es erinnerte an die USA in den 60ern. Irgendwie erwartete sie im Inneren des Restaurants Teile alter Autos und eine echte Jukebox, die Platten aus dieser Zeit auflegte. Doch als sie die verglaste Eingangstür passierte, musste sie einsehen, dass die Besonderheiten beim Reklameschild schon aufhörten. Es gab Plätze am Fenster, die ganz normale Sitzbänke hatten, eine Theke mit Hockern davor und ein paar freistehende Tische mit gewöhnlichen Stühlen. Ein winziger Kaufmannsladen schloss sich an.

Ein paar Gebäude weiter sah sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Kirchturm. Die Kirche selbst war der Größe der Ortschaft angemessen. Damit hatte sie den Kern der Siedlung bereits hinter sich gelassen. Sie bog von der Durchgangsstraße ab und sah endlich das Wasser. Der Fluss war so breit, dass man ihn für einen See halten konnte. In der Ferne erkannte sie am anderen Ufer ebenfalls Bäume. Der Saum war unbebaut. Emi vermutete, dass der Fluss sich bei Tauwetter noch einmal verbreiterte. Kein Wunder, dass die Ortschaft auf ansteigendem Gelände gebaut war. Wenn der Saint Maurice im Frühjahr wegen der Schneeschmelze über die Ufer trat, wollte Emi dennoch keins der Häuser in der Nähe bewohnen. So groß und mächtig wie der Fluss war, legte man sich besser nicht mit ihm an.

Alle Häuser hielten respektvollen Abstand. Nur ein hölzernes Bootshaus ragte ins Wasser hinein. Der letzte Anstrich war schon eine Weile her. Die rote Farbe blätterte an vielen Stellen ab. Auf Stelzen stehend war der einzige Zugang zum Gebäude ein unsicherer Steg ohne Geländer, auf den sich Emi nicht im Traum gewagt hätte. Sie hatte zwar keine Angst vor dem Fall, aber das Wasser musste furchtbar kalt sein, wenn man hineinfiel. Nicht auszudenken, was passierte, wenn sie dann auch noch in eine Strömung geriet, die sie vom Ufer wegzog. Keine zehn Pferde würden sie dort hinüber kriegen.

Und dennoch könnte das Haus, so wie es dort stand, auch in einem Reiseführer für diese Region werben. Die Idee, im Sommer mit einem Boot hinauszufahren, war durchaus verlockend. Dann war es schließlich auch in Quebec einige Grad wärmer. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und kehrte zur Hauptstraße zurück. In weniger als einer Stunde begann das Seminar und sie wollte vorher noch duschen, um den Rest der Müdigkeit abzuschütteln.

 

Das Foyer lag verlassen da. Entweder waren alle schon wieder auf ihren Zimmern oder Emi hatte den Beginn bereits verpasst. Mit einem erneuten Blick auf ihr Mobiltelefon vergewisserte sie sich, dass sie nicht zu spät war. Vielleicht hatte Ella sie zu einem kleinen Snack im Speisesaal zusammengetrommelt, das sähe ihr ähnlich.

Nach der wärmenden Dusche war auch sie bereit für das erste Kennenlernen der anderen Gäste und für ein Zusammentreffen mit Jacob Gordon. Nach dem Wortgefecht zwischen ihm und Ella am Vortag wusste sie noch immer nicht, was sie von ihm halten sollte.

Das Seminarhaus war angenehm beheizt, weshalb Emi in einer einfarbigen Yogahose, einem Oversize-T-Shirt und einer Sweatjacke dem Gemurmel von Stimmen folgend in den Unterrichtsraum schlurfte.

---ENDE DER LESEPROBE---