Indie.Pop.Liebe - Erin J. Steen - E-Book
SONDERANGEBOT

Indie.Pop.Liebe E-Book

Erin J. Steen

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Vielleicht bist du der Richtige für mich, nur mein Herz weiß das noch nicht." Das absolut Letzte, was Studentin Jana in ihrer Lebenskrise sucht, ist ein unwiderstehlicher Musiker mit einem Hang zur Selbstaufopferung. Trotzdem taucht Finn in ihrem Leben auf und ist nicht gewillt, freiwillig wieder zu verschwinden. Dass sie seine Hilfe braucht und er der erste Mensch seit Ewigkeiten ist, mit dem sie wirklich reden kann, macht ihr den notwendigen Abschied nicht leichter. Der große Durchbruch ist greifbar, als Finn am Rande eines Festivals auf jemanden trifft, der ihn seine Ziele in Frage stellen lässt. Zum ersten Mal schmilzt eine Frau nicht wie Wachs in seinen Händen, was Jana für ihn nur noch reizvoller macht. Bei diesem Teil der Stadt.Land.Kuss-Reihe handelt sich um einen abgeschlossenen Liebesroman, der ohne Vorkenntnisse gelesen werden kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INDIE.POP.LIEBE
(Jana & Finn)
1. AM ENDE BLEIBE NUR ICH
2. FÜR REUE IST SPÄTER NOCH ZEIT
3. KEINE ZWEITEN CHANCEN
4. DU MUSST EINFACH MEHR TANZEN
5. AUCH NIRGENDWO MUSS IRGENDWO SEIN
6. ICH BIN DEIN KARMA, BABY
7. WEGEN DIR WERDE ICH ZUM STALKER
8. LASS KEINE DRECKIGEN DETAILS AUS
9. FRAG MICH ALLES, WAS DU WILLST
10. DA IST NOCH LUFT NACH OBEN
11. SCHENK UNS NUR DREI MINUTEN EWIGKEIT
12. NUR GUCKEN, NICHT ANFASSEN
13. NUR DU UND ICH UND DIE UNENDLICHKEIT DES MOMENTS
14. UND WENN DIE ZEIT KOMMT, WIRD ALLES RICHTIG SEIN
15. EIN KLUGER VOGEL FLIEHT
16. WER EINMAL LÜGT, DEM KANN MAN NICHT VERZEIHEN
17. BITTE GEH NICHT
18. HALT STILL, ES GEHT AUCH GANZ SCHNELL
19. AM ENDE BLEIBEN NUR WIR
20. DANKSAGUNG
21. Weitere Bücher der Autorin

Buchbeschreibung:

Als die Studentin Jana Fellner ihren Freund beim Fremdgehen erwischt, sieht sie rot und flüchtet sich zu ihrer Tante, die eine Ferienanlage in der holsteinischen Schweiz betreibt. Die Sanierung der maroden Häuser erscheint ihr wie die perfekte Ablenkung von ihrem gebrochenen Herzen. Bereitwillig ergreift sie die Initiative und stürzt sich in das aufwendige Projekt.

Am Rande eines Festivals lernt sie den Musiker Finn kennen, dem es dank seiner offenen Art und seiner eindrucksvollen Hilfsbereitschaft gelingt, Janas Abwehr zu durchbrechen. Aber kann er auch ihren Seelenschmerz heilen?

Über die Autorin:

Erin J. Steen wurde im Herbst 1983 in Niedersachsen geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute wieder, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Sie liebt große Städte, möchte aber nicht mehr längere Zeit in einer Großstadt leben. Das Haus teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und und zwei tierischen Gefährten.

Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit Spaziergängen im Wald, der Familie und stetig wechselnden kreativen Hobbys. Sie fotografiert, näht und denkt hin und wieder daran, das Töpfern zu erlernen.

Bereits erschienen:

Unter Verdacht: Moorkamps erster Fall

Sündenfeuer: Moorkamps zweiter Fall

Indie.Pop.Liebe

Von Erin J. Steen

1. Auflage, 2020

© Erin J. Steen – alle Rechte vorbehalten.

INDIE.POP.LIEBE

(Jana & Finn)

Am Ende meiner Straße steht ein Fahrrad.

Beide Reifen platt.

1. AM ENDE BLEIBE NUR ICH

Zwölf harte Wochen lagen hinter mir. Zwölf Wochen voller Schneematsch, Schinderei und Selbstaufgabe. Was sich anfühlte wie ein zu lang geratener Schulausflug in ein sibirisches Arbeitslager, sollte eigentlich das Finale meines Betriebswirtschaftsstudiums sein. Ich hatte es mir irgendwie glorreicher vorgestellt, aber am Ende war ich nur noch froh, dass es vorbei war. Meine Bachelorarbeit lag endlich auf dem Tisch meines Dozenten und ich war wieder frei.

Dieses gleichermaßen freudige wie bedeutsame Ereignis verdiente eine angemessene Würdigung. Die zwölf Wochen waren nicht nur für mich eine Belastung gewesen. Sie hatten auch Raubbau an der Beziehung zu meinem Freund Marco betrieben. Er war in den letzten Wochen ebenso zu kurz gekommen wie ich. Aber dafür hatte ich mir heute eine ganz besondere Wiedergutmachung überlegt.

Ich hatte auf meinem Heimweg von der Uni beim Friseur Halt gemacht, der mit einer Kur und minimalem Schereneinsatz wieder eine Frisur aus meiner vernachlässigten dunkelblonden Mähne machte. Zumindest am Kopf fühlte ich mich damit wieder vorzeigbar. Für den Rest hatte ich jedoch auch schon Pläne.

Vor dem dringend notwendigen Lebensmitteleinkauf hatte ich eine kleine Boutique für Unterwäsche besucht. In einer unscheinbaren braunen Tüte an meinem Arm versteckten sich seitdem zwei sündhaft teure Stofffetzen mit Spitzenbesatz, die ich heute Abend einweihen wollte. Marco würde lange arbeiten müssen wie an jedem Freitag in den vergangenen Monaten. So blieb mir Zeit, mich im Badezimmer ausgiebig auf den Abend vorzubereiten und ein leckeres Abendessen auf den Tisch zu bringen.

Ein gutes Essen und das, was ich danach plante, hatten wir uns beide redlich verdient. Auch Marco musste mal wieder den Kopf von der Arbeit frei bekommen. Vor etwas mehr als einem halben Jahr hatte er diesen anspruchsvollen, neuen Job bei einer Unternehmensberatung begonnen und gearbeitet wie ein Besessener. Überstunden, Dienstreisen und hoher Leistungsdruck zehrten an seinen Nerven, auch wenn er das nur selten zugab. Marco jammerte nicht. Er wusste, dass ich mit meinem Abschluss zu kämpfen hatte und mit den Gedanken genau da sein musste. Trotzdem machte ich mir natürlich Sorgen um ihn. Ich wollte nicht, dass der Job ihn auffraß.

Vor allem aber zeigte mir seine Situation, dass ich einen Job wollte, der mir auch Zeit zum Leben ließ. Ich wollte atmen und all die Dinge tun, die mir Freude machten. Jetzt hatte ich also meinen Bachelor, aber keinen Schimmer, was ich damit eigentlich anfangen wollte. Marco sagte jedoch immer wieder, dass sich schon irgendetwas finden würde, wenn ich meine Augen aufhielt. Er hatte in den letzten Jahren so oft recht behalten, dass ich nun genau das tun würde. Die Augen aufhalten und meine Chance ergreifen, wenn ich sie kommen sah.

Vor den Briefkästen in unserem Hausflur balancierte ich meine Einkäufe kunstvoll auf dem angezogenen Oberschenkel, während ich verzweifelt versuchte, dem übervollen Briefkasten seinen Inhalt zu entlocken. Als sich der widerspenstige Blechkasten öffnete und seinen Inhalt freigab, quoll mir ein ganzer Batzen Werbesendungen, Rechnungen und wer weiß was noch entgegen. Irgendwo in meinen Beuteln fand ich für das ganze Papier einen Platz und stopfte es unbesehen hinein.

Ich erklomm die Treppen des Altbaus zu unserer Wohnungstür im zweiten Stock und begann dabei endgültig unter der dicken Winterjacke zu schwitzen. Oben angekommen vollführte ich einen erneuten Tanz mit dem Schlüsselbund und den Einkäufen, bis schließlich die Tür zur Wohnung aufschwang. Dass die Tür nur zugezogen war, kam mir merkwürdig vor. Ich war sicher, ich hätte am Morgen abgeschlossen. Das tat ich immer. So sehr durch den Wind war ich nicht gewesen. Ich war nicht einmal in Eile gewesen. Die Arbeit hatte ich schon am Vortag ausgedruckt und musste sie nur noch bis 12 Uhr im Prüfungsamt abgeben. So hatte ich keinen Stress. Ich hatte sicher abgeschlossen, aber das bedeutete, jemand anders musste hier gewesen sein.

Vielleicht war Marco irgendwann im Laufe des Tages vorbeigekommen, um sich ein frisches Hemd anzuziehen oder irgendwas in der Art. Für seinen Feierabend war es eindeutig zu früh. Er arbeitete freitags immer lange, weil irgendwer aus der Chefetage seiner Firma es für eine gute Idee hielt, die Mitarbeiter auf diese Weise zu quälen. So eine Stelle würde ich niemals annehmen. Beim ersten Anzeichen derartiger Praktiken würde ich meine Sachen packen und gehen. Dass ein Studium in Betriebswirtschaftslehre die richtige Entscheidung für mich gewesen war, bezweifelte ich nicht zum ersten Mal. Diejenigen meiner früheren Studienfreunde, die bereits im Beruf waren, hatten sich erheblich verändert. Sie brüsteten sich damit, wie viel sie arbeiteten und wie bedeutend sie für den Erfolg ihrer Firmen waren. Ich saß jedes Mal ungläubig daneben und wunderte mich darüber, wie verblendet sie waren. Die meisten dieser Firmen verfolgten nur den Zweck möglichst viel Geld zu verdienen. Niemand leistete irgendeinen echten Dienst an der Gesellschaft. Ein solcher Job konnte mich nicht zufrieden stellen, ganz egal, wie viel man mir dafür zahlte.

Der Anblick der Küche entlockte mir ein gequältes Stöhnen. Wir hatten beide in den letzten Tagen nicht viel in die Hausarbeit investiert und so waren eine Menge dreckiges Geschirr, eine volle Spülmaschine und ein leerer Kühlschrank die Folge. Ich schob eine Ecke der Arbeitsfläche frei und stellte die Einkäufe darauf ab. Wir waren keine kompletten Messis. Deshalb würde es reichen, die Spülmaschine neu zu beladen und alle Flächen einmal gründlich abzuwischen, bevor ich mit dem Kochen beginnen konnte. Aber erstmal würde ich mir eine heiße Dusche gönnen, um in Stimmung zu kommen. Ich hängte die wattierte Jacke an den Haken neben der Haustür und folgte dem Flur in Richtung Bad.

Bereits auf dem Weg dorthin kam mir erneut die unverschlossene Eingangstür in den Sinn. Normalerweise hielten wir unsere Schlafzimmertür immer mit einem kleinen Keil geöffnet, weil so mehr Licht in den fensterlosen Flur drang, aber jetzt war sie geschlossen. Als ich mich näherte, hörte ich Geräusche. Stimmen. Meine Finger legten sich auf den Knauf, aber ich wagte nicht, daran zu drehen, weil sich mir auch so schon der Magen zusammenzog. Ausweichen war jedoch keine Option, die zu mir passte. Also öffnete ich sie mit einem Ruck. Genauso wie man ein zu fest klebendes Pflaster abriss.

Meine Augen sahen, was mein Hirn nicht begreifen wollte. Eine spindeldürre Blondine saß rittlings auf meinem Freund und warf den Kopf lustvoll in den Nacken, während sich ihr Körper auf und ab bewegte. In diesem Moment setzte irgendetwas in mir aus.

»Sofort raus hier, beide!«, brüllte ich dem Betrüger und seiner Schlampe entgegen. Erst da bemerkten sie, dass sie nicht mehr allein waren. Marco starrte mich mit einer Mischung aus Erregung, Scham und blankem Entsetzen im Gesicht an. Seine Wangen waren gerötet, sein Mund stand offen und doch drang kein Geräusch mehr heraus.

Die Blondine reagierte zuerst und schwang sich vom Körper meines Freundes. Exfreundes, sollte ich wohl sagen, denn hier endete diese Beziehung für mich völlig unerwartet. Meine Pläne für den Rest des Abends waren hinfällig, aber an Essen und Zweisamkeit war ich in diesem Moment sowieso nicht mehr interessiert. Höchstens vielleicht an einer Grillparty mit Betrügerschwein am Spieß.

»Beweg dich, ich will dich nicht mehr sehen«, schrie ich Marco entgegen, der immer noch keine Anstalten machte, seinen nackten Körper aus unserem Bett zu bewegen.

»Jana, es ist nicht...«, stammelte er hilflos.

»Untersteh dich!«, drohte ich, ohne den Satz zu beenden. Die nackte Tussi warf sich in Windeseile in ihre Klamotten, während Marco endlich den Anstand besaß, aus unserem Bett aufzustehen. Er griff nach einigen Kleidungsstücken auf dem Boden und ich begann, ihn seiner Gespielin hinterher aus dem Zimmer zu schieben. Er leistete kaum Widerstand.

»Aber, Schatz, ich...«, brachte er kraftlos hervor, als ahnte er, dass alles zwecklos war. Ich war nicht in der Verfassung seinen Ausreden zuzuhören. Noch weniger war ich willens, das zu tun. Erst an der Tür begann er, sich auch körperlich gegen mich einzusetzen, denn er schien zu begreifen, dass ich ihn allen Ernstes nackt vor die Haustür schob. Dennoch war es fast zu leicht ihn hinauszutreiben.

Ich konnte es nicht fassen. Dieses Schwein hatte mich tatsächlich betrogen. Er tat es sogar in unserem gemeinsamen Schlafzimmer mit ihr. Ich wollte wissen, wie lange das schon ging und was er sich dabei dachte. Aber im gleichen Moment wollte ich all das auch überhaupt nicht mehr erklärt bekommen. Nicht jetzt, nicht hier. Gefangen in meinem inneren Monolog schüttelte ich immer wieder den Kopf. Es war unglaublich.

»Jana, lass das. Hör mir doch zu«, flehte er. Er griff nach dem Türrahmen, um wenigstens die Fingerspitzen in der Wohnung zu behalten.

»Spar dir das, ich will nichts hören«, erklärte ich nun schon deutlich ruhiger, weil die Erkenntnis langsam mein Bewusstsein erreichte. Marco hatte mit anderen Frauen geschlafen, während ich alles gab, um für ihn wieder attraktiv und spannend zu sein. »Mich interessieren keine Ausreden, Beteuerungen oder deine Bedürfnisse. Verschwinde und lass mich allein. Und wenn du deine Finger behalten willst, nimm sie da weg.«

Mit diesen Worten warf ich die Tür hinter ihm ins Schloss. Das Ausbleiben eines Schmerzensschreis bewies, dass Marco meinen Ratschlag beherzigt hatte. Ich sank am Türblatt auf den Boden. Dieser Tag stellte alles auf den Kopf. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Draußen wurde leise gemurmelt, es folgte ein leiser Fluch. Dann klackerten Absätze zügig die Treppe hinab.

Endlich waren sie weg, dachte ich erleichtert. Der Alptraum war vorbei. Ein Ende mit Schrecken... Kopfschüttelnd erinnerte ich mich an die Worte meiner Großmutter, die immer der Meinung war, dass Erkenntnis besser war als ein Leben mit einer Lüge. Wahrscheinlich hatte sie damit nicht Unrecht, aber es war alles andere als angenehm. Ich fühlte mich, als wäre ich kopfüber in ein Eisbecken gesprungen. Mein Körper begriff nicht, was geschehen war. Mein Verstand hatte sowieso gerade einen Aussetzer. Ein Poltern in meinem Rücken brachte die hässliche Realität zurück.

»Jana, bitte mach auf.«

Er erdreistete sich wirklich, wieder Eintritt in die Wohnung zu fordern? Das konnte er vergessen. In den nächsten Stunden kam er nicht mehr in diese Wohnung, dafür würde ich sorgen.

»Jana, bitte, ich habe nicht mal eine Hose.«

Trotz der ausweglosen Situation musste ich lachen. Eine sadistische Ader in mir fand an der Sache immerhin noch etwas Komisches.

»Das geschieht dir recht!«

Es war mir egal, ob er auf der Suche nach einer Unterkunft in Unterhose und T-Shirt durch die eisigen Straßen Münchens irrte. Sollte er sich doch eine Erkältung einfangen. Er würde es überstehen. Und ich auch. Irgendwie.

***

Das hatte gesessen. Auch eine Stunde nach Marcos widerwilligem Abgang hatte ich mich noch nicht davon erholt, welcher Abgrund sich da vor mir aufgetan hatte. Dennoch zwang ich mich, wenigstens meinen Posten auf dem Fußboden vor der Wohnungstür aufzugeben und irgendetwas halbwegs Produktives zu tun, damit ich nicht vollkommen den Verstand verlor. Vielleicht die Post sortieren und sehen, ob ich irgendwelche wichtigen Briefe für den Betrüger vernichten konnte, um ihm Schaden zuzufügen. Aber ich bezweifelte einerseits, dass ich dazu in der Lage war, und andererseits, dass es irgendwas in der Post gab, was für ihn ausreichend Bedeutung gehabt hätte. Vermutlich hätte er sich in solch einem Fall bereits in den vergangenen Tagen mal bemüht, den Briefkasten zu leeren. Dennoch gab mir diese Aufgabe das Gefühl, irgendwas im Griff zu haben.

Werbung, Telefonrechnung, Werbung, Kreditangebote, Karte der Wasserwerke, Werbung, Postkarte von meiner Tante Sabine, Werbung und noch eine Rechnung. All das sprach mich nicht wirklich an, aber ich schmiss die vollkommen unwichtigen Dinge in den Müll und wandte mich der Postkarte zu. Sie war wie jedes Jahr liebevoll von der jüngeren Schwester meiner Mutter in ihrer etwas eigenwilligen Handschrift verfasst. Und wie in jedem Jahr enthielt sie die vermutlich nicht ganz ernstgemeinte Aufforderung, sie doch endlich mal wieder zu besuchen.

Sabine vermietete einige Ferienhäuser in einem winzigen Dorf im Herzen Schleswig-Holsteins. Inzwischen hatte sie wohl alle Häuser dort aufgekauft und lebte dort allein mit ihren wechselnden Feriengästen. Ich stellte mir das ganze ziemlich einsam vor, aber für sie schien dieses Arrangement seit Jahren zu funktionieren. Alle Jahre wieder lud sie mich für den kommenden Sommer ein, sie zu besuchen. Ich mochte meine Tante wirklich gern, aber der Ort, gehörte nicht gerade zu meinen bevorzugten Ferienzielen, seit ich die Pubertät erreicht hatte. Inzwischen war ich 23 und verbrachte meinen Urlaub meist in Italien, Spanien oder Südfrankreich, was von meinem Wohnort meist sogar besser zu erreichen war, als dieses winzige Örtchen im kühlen Norden. Also danke, aber nein danke, Sabine.

Ich hatte eine ausgeprägte Vorliebe für Sonne, Strand und Parties, wenn ich mich mal für eine Woche vom Schreibtisch losriss. Da ging es mir wohl wie den meisten jungen Menschen. Es musste nicht unbedingt Mallorca sein. Es gab auch Orte mit mehr Stil und cooleren Parties. Davon hatte Sabines Feriensiedlung nur leider nichts zu bieten. Als Kind fand ich es traumhaft bei ihr. Es gab einen See vor der Haustür und unendliche Abenteuer in den lichten Waldstücken zu erleben, die das Örtchen umrahmten. Doch das alles reichte meinem 23-jährigen Ich nicht mehr.

Die Karte fand mit Hilfe einer Stecknadel ihren Platz an der Wand, wo auch all die anderen Karten von Freunden und Familienmitgliedern landeten. Während ich so darauf starrte, ging mir auf, dass mein Verhalten vollkommener Quatsch war.

Ich musste mich in dieser Wohnung weder um den Haushalt kümmern, noch meine Postkarten an unsere Wand hängen, denn dieses Wir war Geschichte. Marcos Verhalten war respektlos und verletzend gewesen und ich wollte auf keinen Fall mit jemandem zusammenbleiben, der meine Gefühle mit Füßen trat. Eine Wiederbelebung unserer Beziehung war absolut indiskutabel. Da dies seine Wohnung war, würde ich es sein, die auszog. Das war auch klar. Und zwar lieber heute als morgen.

Aber wo sollte ich hin? Zu meinen Eltern? An und für sich wären die beiden meine erste Wahl gewesen. Doch sie hatten sich vor wenigen Wochen in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet und machten nun eine Reise um die Welt. Etwas, von dem sie ihr ganzes Leben lang geträumt hatten. Nachdem mein Vater im vergangenen Jahr einen leichten Herzinfarkt erlitten hatte, hatte er einen harten Kurswechsel vorgenommen. Er stellte einen Geschäftsführer für seine Firma ein und beendete seine aktive Laufbahn im Management des Betriebs, um sich den schönen Dingen des Lebens zu widmen. Eine Entscheidung, für die ich ihn aufrichtig bewunderte.

Allerdings gab es seitdem auch mein Elternhaus nicht mehr, denn das hatten die beiden ebenfalls verkauft, um sich nicht zu belasten. Wo auch immer es ihnen auf ihrer Reise gefiel, wollten sie bleiben, bis sie der Wind in eine neue Richtung trieb. Ich hatte keine Ahnung, ob sie jemals in die Region zurückkehrten, in der ich aufgewachsen war und normalerweise wäre es mir egal gewesen, aber im Augenblick konnte ich einen sicheren Hafen wirklich gebrauchen.

Natürlich konnte ich meine Eltern zu jeder Zeit anrufen, aber was erwartete ich davon? Sie würden sich Sorgen machen, wenn ich ihnen erzählte, dass es mir nicht gut ging, und dass ich Kummer hatte, weil mein mich vermeintlich liebender Freund ein solcher Idiot war. Meine Mutter würde meinem Vater in den Ohren liegen, dass ich noch nicht so weit war, dass sie sich auf ihre Reise machen konnten, dass sie zurückkehren wollte. Ich würde ihnen die Reise ihres Lebens versauen und wer wusste schon, ob sie es jemals wieder wagen würden, dieses Abenteuer anzutreten. Nein, ich wollte nicht, dass sie sich meinetwegen sorgten. Ich würde schon irgendwie klar kommen. Auch ohne Mamas Rockzipfel und ihre Kekse. Ich grübelte weiter nach einer Lösung meines akuten Problems. Wo sollte ich für die nächsten Tage unterkommen?

Meine Studienfreunde hatten sich in den vergangenen Monaten in alle Winde verstreut. Ich hing wie in so vielem im Leben mit meinem Abschluss hinterher und war die Letzte aus unserer einstigen Clique, die es hinter sich brachte.

Unser gemeinsamer Freundeskreis beschränkte sich in letzter Zeit im Wesentlichen auf ein paar Kollegen von Marco und meine Fachbücher. Mit beiden wollte ich im Augenblick nichts zu tun haben und niemand von ihnen würde mir vorübergehend Obdach gewähren. Am Ende blieb nur ich.

Ein Hotel oder eine Pension konnte ich mir momentan auch nicht leisten, weil ich blöde Kuh meine Rücklagen vor einigen Wochen ausgerechnet Marco geliehen hatte, weil er für den Job eine neue Garderobe brauchte. Wer hätte damals auch ahnen können, dass alles so enden würde?

2. FÜR REUE IST SPÄTER NOCH ZEIT

Nach einem erfrischend unkomplizierten Telefonat mit Sabine, bei dem ich mir alle Mühe gab, unbeschwert zu klingen, fand ich mich am nächsten Morgen im ICE nach Hamburg wieder. Der Automatenausdruck des Fahrplans in meinem Rucksack besagte, dass ich lediglich in Lüneburg einmal umsteigen müsste und dann am Nachmittag meinen Zielbahnhof Plön erreichte. Dort wollte mich meine Tante abholen.

Neben meinem Rucksack und einem riesigen Koffer, der fast meine komplette Garderobe und einige wichtige persönliche Dinge enthielt, die ich nicht bei Marco zurücklassen wollte, hatte ich sehr viele Zweifel im Gepäck. War es richtig, ohne ein klärendes Gespräch aus München zu verschwinden? Ich hatte keine Ahnung.

Ich wusste nur, dass ich das im Moment nicht ertragen hätte. Marco zu treffen, ihm in die Augen zu sehen und mir seine Ausreden anzuhören, hätte mich zerbrochen. Wir waren seit drei Jahren ein Paar. Davon die meiste Zeit ausgesprochen glücklich. Nur im letzten halben Jahr war irgendwie der Wurm drin gewesen. Sein neuer Job und mein Abschluss hatten uns viel abgefordert. Die Arbeitszeiten und die Anforderungen bei der Firma, die Marco einstellte, waren heftig. Ich haderte damit, dass ich nicht wusste, wie es für mich nach dem Bachelor weitergehen sollte - eine Frage, die ich immer noch nicht geklärt hatte. Der Stoff an der Uni war nicht unbedingt schwer zu begreifen, aber mir fehlte die Motivation, mich richtig dahinter zu klemmen. Eigentlich hätte uns die schwere Zeit enger zusammenschweißen sollen. Sagte man nicht, dass sowas ein Paar stärkte? Na ja, bei uns war es offensichtlich nicht so gewesen. Wir lebten getrennte Leben in der gleichen Wohnung. Nein, wir hetzten getrennte Wege entlang. Leben konnte man diesen Zustand nicht nennen.

Inzwischen ärgerte ich mich, dass ich nach zwei Semestern Kommunikationswissenschaft zu BWL gewechselt hatte. Mit einem Abschluss in Kommunikationswissenschaft hätte ich nun wenigstens ein Zielbild vor Augen. Bei Betriebswirtschaft konnte ich alles und nichts machen. Wenigstens wusste ich nun schon einmal, was ich nicht wollte. Denn definitiv wollte ich nicht als Sklave in einer Firma arbeiten, die meine Verfügbarkeit Tag und Nacht einforderte und mich zwang in uniformen Kostümchen herumzulaufen. So wie es Marco erging, der nach einigen Wochen sogar Gefallen daran gefunden hatte - oder vielleicht die Blondine kennengelernt hatte, wollte ich nicht enden.

Im Grunde hatte ich auch mit München abgeschlossen. Nur noch Marco hatte mich in der Stadt gehalten. Alle meine Freunde waren fortgezogen – einige ins Ausland, andere zu den Firmen, die ihnen gute Jobangebote machten. Wir hatten uns voneinander entfremdet. Aus Freunden wurden Bekannte und am Ende sprachen sie alle mehr mit Marco als mit mir, weil sie mit ihm mehr gemeinsam hatten. In der bayrischen Metropole hielt mich nichts mehr. Je weiter ich von dort fortkam, desto besser.

Die Sorgen und Zweifel blieben jedoch ganz nah bei mir, egal wie weit sich der Zug von München entfernte. Unsere Liebe war gescheitert und ich war allein. Marco war in den vergangenen drei Jahren immer mein Rückhalt gewesen. Er war der Mann, der mich in der Idee bestärkte, den Studiengang zu wechseln. Er war es, der mir half Anschluss im neuen Umfeld zu finden. Und schließlich war auch er es gewesen, der die Entscheidung traf, die unsere Beziehung beendete. Ich war nur diejenige, die es irgendwann herausfand. Wer wusste schon, wie lange das schon so ging?

Ich hätte mir noch jahrelang vormachen können, diese Beziehung sei perfekt genug. Nicht im absoluten Sinn, natürlich nicht. Nichts konnte jemals absolut perfekt sein, aber es war gut genug für mich. Er behandelte mich mit Respekt und … Na ja, irgendwie war es das in letzter Zeit dann auch gewesen. Zwischen uns gab es nicht mehr diesen Zauber des Neubeginns. Es fehlte die Spannung, weil wir beide so sehr mit anderen Dingen beschäftigt waren und uns nicht mehr so sehr auf die Zweisamkeit konzentrierten. Jedenfalls hatte ich das als Ursache für die Flaute der letzten Wochen angenommen. Aber nun musste ich mir eingestehen, dass es vielleicht auch einen blonderen Grund dafür geben mochte. Offenbar lebte er seine Bedürfnisse anderweitig aus und ich blieb auf der Strecke. Natürlich wusste ich das nicht mit Sicherheit. Es mochte genauso gut das erste Mal gewesen sein, aber statistisch gesehen war das nicht sehr wahrscheinlich.

Und wieder kreisten meine Gedanken nur um ihn. Dabei war das vollkommen zwecklos. Es verringerte weder den Schmerz noch half es mir beim Aufsammeln der Scherben. Ich streute damit nur immer wieder Salz in die offene Wunde.

Zu meiner unbändigen Freude setzte sich in Berlin ein weiterer Fahrgast an meinen Tisch, den ich bislang mit einem dauertelefonierenden Consulter geteilt hatte. Ein Typ, wie Marco einer geworden war. Nur die Arbeit im Kopf. Ständig wichtig und sendebereit. Natürlich nervte er mich, aber ich war eine ebenso miese Gesellschaft. Schließlich hätte ich auch keine Lust gehabt, mich mit ihm zu unterhalten oder eine Partie Halma zu spielen. Sollte er doch telefonieren und sich für den Nabel der Welt halten. Aber in Berlin stieg er aus und ich sollte ihn noch schmerzlich vermissen, denn sein Ersatzmann hatte statt eines Laptops einen durchgematschten Döner im Gepäck.

Der Geruch erinnerte mich daran, dass ich seit über 24 Stunden nichts gegessen hatte und ich daran auch so schnell nichts ändern wollte. Sein Schmatzen und die Saucenflecken auf dem Tisch hätten mich nach wenigen Minuten beinahe vertrieben. Sehnlich wünschte ich mir den Businessmann zurück. Er hatte gut gerochen und sein ständiges Gequatsche hatte ich mit meinen kreisenden Gedanken locker übertönt.

Eine andere Mitfahrerin intervenierte gerade noch rechtzeitig, indem sie den hungrigen Mitreisenden daran erinnerte, dass er nicht allein auf der Welt war. Das waren zwar nicht genau ihre Worte, aber zumindest der grobe Inhalt ihrer kurzen Ansprache. Daraufhin war ich wieder allein an meinem Platz. Von dem Dönermann blieben nur drei Flecken auf dem Tisch und eine schmutzige Serviette.

Ich versuchte, etwas zu lesen, aber ich gab es schnell wieder auf. Die Worte vor meinen Augen verschwammen und ich dachte wieder und wieder die gleichen Gedanken. Vom Text auf den Seiten fand nichts Eingang in meinen Kopf. Ich hätte nicht sagen können, wie die Hauptfigur hieß oder was ihr geschah. Es blieb einfach nichts hängen.

Als mit Lüneburg endlich meine Station kam, war ich dankbar dafür, ein paar Minuten frische Luft schnappen zu können, bevor ich in den Zug nach Plön steigen musste. Meine Augen wanderten über Bahnsteige, Schienen und fremde Gebäude, die für mich keinerlei Bedeutung hatten. Der Himmel war grau und diesig. Die Luft fühlte sich feucht auf meiner Haut an, aber alles war besser, als weiterhin in dem Zug eingesperrt zu sein. Hatte ich mich den ganzen Vormittag danach gesehnt, noch schneller davonzulaufen, konnte ich es nun kaum erwarten, endlich irgendwo anzukommen. Ganz gleich, wo - doch bloß nicht wieder an meinem Ausgangspunkt.

Gegen fünf Uhr am Nachmittag traf ich in Plön ein. Ich konnte kaum noch sitzen. Mein Hintern tat weh, mein Rücken knackte verdächtig, wann immer ich mich bewegte. Ein Spaziergang hätte mein Leid gelindert, doch wie erwartet regnete es.

»Ich freue mich ja so, dass du endlich mal wieder hier bist. Wie lange bleibst du?«, ereiferte sich meine Tante, während sie mich an sich drückte wie eine Fünfjährige. Aber ich konnte es ihr nicht übel nehmen und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, brauchte ich eine Umarmung dringender als alles andere. Anstatt mich also zu sträuben, fügte ich mich in mein Schicksal und erlaubte mir, das Gefühl der Nähe zu genießen. Den dunkelroten Wollmantel mit den dicken schwarzen Knöpfen, den sie trug, erkannte ich noch von früher. Unglaublich, dass sich dieses Stück so lange in ihrem Kleiderschrank hielt.

»Das weiß ich noch gar nicht genau«, erklärte ich. Doch meine Stimme drang nur gedämpft durch die Stoffschichten, die sich zwischen uns auftürmten. Sabine löste ihren Klammergriff um mich und sah mich eindringlich an.

»Wie geht’s dir? Du siehst irgendwie käsig aus.« Charmant wie eh und je, aber sie hatte absolut recht. Ich sah aus wie ein ausgespuckter Kaugummi. Es mangelte mir an Farbe und Esprit. Mein frisch geschnittenes Haar hatte ich zu einem funktionalen Knoten auf den Kopf gedreht. Das Kämmen hatte ich mir vor der Abfahrt gespart. Die verheulten Stunden der Nacht zeichneten sich ebenfalls als dunkle Ringe unter meinen Augen ab. Sogar das Augenbrauenzupfen hatte ich vernachlässigt. Meine Haut war gerötet und die Lippen rissig, weil ich in der Nacht und auf der Fahrt immer wieder darauf herumgekaut hatte. Alles in allem war ich eine ausgesprochen blasse Version meiner selbst.

»Ach, ich muss mich einfach mal neu sortieren«, erwiderte ich vage. Ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen: Obdachlos, orientierungslos und betrogen. Nein, wenn ich ihr das erzählte, hatte sie in fünf Minuten meine Mama am Telefon und sie brach ihre Reise ab.

»Ist irgendwas passiert? Ich meine, ich freue mich ja, dass du hier bist, aber in den letzten Jahren hatte ich nicht den Eindruck, dass es dich besonders zu mir zieht.«

Die jüngere Schwester meiner Mutter hatte vor rund 20 Jahren der Liebe wegen den Weg nach Schleswig-Holstein angetreten und war auch nach dem Ende dieser Beziehung nicht zurückgekehrt. Warum sie trotzdem blieb, verstand in der Familie niemand, aber Sabine hatte wohl schon immer ihren eigenen Kopf, wenn man meiner Mutter glauben durfte.

»Ach, Sabine, nimm das bitte nicht persönlich.« Vorwürfe konnte ich nicht gebrauchen, aber ich verstand schon, dass es sie wunderte, dass ich so plötzlich auf der Matte stand. Der Regen sprühte als feine Gischt unablässig auf uns nieder, während wir auf dem zugigen Bahnsteig standen. Ich wischte mir einige Tropfen von den Augenbrauen und schüttelte mich. »Ich war einfach eher im Süden unterwegs und da liegt deine Feriensiedlung wirklich nicht gerade auf dem Weg.«

»Stimmt schon, ich nehme es dir auch nicht krumm. Ganz im Gegenteil, aber davon erzähle ich dir später. Willst du mir nicht erstmal erzählen, was mit dir los ist?«

Sie griff nach meinem riesigen Koffer und ich bemerkte, dass der Zug hinter mir längst abgefahren war. Dort wo eben noch die blauen Wagons standen, bot sich nun ein wunderschöner Ausblick auf einen See. Er war riesig und lag mitten in der Kleinstadt. Auch Regen und der wolkenverhangene Himmel konnten dieses beeindruckende Bild kaum schmälern.

Ich suchte nach einer hübschen Verpackung für die Wahrheit, die mir auf der Zunge lag, doch das Panorama nahm mich völlig ein. Schließlich platzte unkatalysiert aus mir heraus, was ich eigentlich beschönigen wollte. »Mein Freund hat mich betrogen und ich musste einfach weg.«

»Das verstehe ich gut«, erklärte meine Tante gelassener als erwartet und wandte sich nickend zum Gehen. »Da hilft es sehr, mal Abstand zu nehmen und alles sacken zu lassen.«

Sabine zog meinen Koffer den Bahnsteig entlang und trat schließlich auf die Schienen. Entgeistert starrte ich sie an. Sie meinte doch wohl nicht, dass ich ihrem Vorbild folgen und mich vor den nächsten Zug werfen sollte. Andererseits war weit und breit kein Zug zu sehen. »Kommst du mit oder willst du hier Wurzeln schlagen?«

»Sicher, dass ich auf die Schienen treten darf? Ist das nicht verboten, oder so?« Gab es nicht irgendein Gesetz, dass man Bahnanlagen nicht betreten durfte. Es musste doch auch einen anderen Weg geben. Ich sah mich um.

»Ganz sicher, jetzt komm schon. Ich wollte noch mit dir Essen gehen, ehe du unter eine heiße Dusche musst.« Es regnete stetig, aber nicht besonders stark. Eigentlich ließ es sich mit den hauchzarten Tropfen ganz gut aushalten. Ich sah zum Himmel hinauf und musste schmunzeln. Es war eigentlich ganz bezeichnend, dass ich im Regen stand.

Seufzend setzte ich mich in Bewegung und überquerte die Schienen, so wie meine Tante es mir vormachte und tatsächlich schien das der offizielle Weg zum landseitigen Ausgang zu sein. Auf der anderen Seite des Bahnhofs führte ein Spazierweg am Wasser entlang. Der Anblick erinnerte mich ein wenig an Zürich, wo ebenfalls ein riesiger See mitten in der Stadt lag. Nur dass Plön keine so beeindruckende Kulisse zur Stadtseite zu bieten hatte. Parkplätze, eine Imbissbude und Gewerbeimmobilien fanden sich auf der anderen Seite der Bahnanlagen.

Sabine brachte mein Gepäck zu einem alten Transporter und schleppte mich dann weiter in Richtung des Sees. Auf einer Art schwimmendem Holzdeck befand sich ein verglastes Restaurant mit riesiger Terrasse, auf der bei diesem Wetter natürlich niemand saß. Eingeklappte Sonnenschirme und an den Tisch geklappte Stühle, die mit Ketten festgemacht waren, ergaben ein trauriges Bild. Nur das beleuchtete Gebäude im Zentrum des Decks erweckte überhaupt den Eindruck, dass der Laden geöffnet hatte. Im Sommer war es hier wahrscheinlich schwer, einen Platz zu ergattern, doch abseits der Saison musste das Restaurant wohl um jeden Gast kämpfen. Tourismus ist ein launisches Geschäft, dachte ich kopfschüttelnd.

»Die Burger sind gut«, erklärte sie mir auf dem Weg zu einem freien Tisch am Fenster. Getrennt durch einen etwa zwei Meter breiten Steg und eine hüfthohe Brüstung erstreckte sich vor der Glaswand der See. In weiter Ferne konnte ich in einem etwas dunkleren Grauton eine Landmasse erkennen. So hatte ich das alles gar nicht mehr in Erinnerung.

»Ich habe eigentlich keinen Hunger«, gestand ich etwas beschämt. Da gab sich jemand Mühe, mich zu unterhalten, und ich war ein wirklich undankbarer Gast.

»Du musst doch aber etwas essen, Schätzchen«, erklärte Sabine besorgt, dabei war sie als Hippie im Schafspelz sonst so gar keine mütterliche Figur. Sie sah nicht danach aus, aber im Geiste hatte sie immer sehr frei und flexibel auf mich gewirkt. Optisch hatte sie sich der Region und ihrem Alter angepasst, doch das änderte nichts daran, dass sich in ihr ein freier Geist entfaltete. »Aber ich verstehe schon. Jeder von uns geht ein bisschen anders mit Kummer und Stress um. Wenn du nichts essen möchtest, ist das okay für mich. Ich hoffe, ich darf trotzdem gnadenlos zuschlagen?«

»Natürlich darfst du. Vielleicht finde ich ja auch eine Kleinigkeit.« Verdammt, hatte sie mich eben manipuliert oder vermutete ich das nur, weil ich zu viel Zeit mit Marco verbrachte, dessen liebstes Hobby es war, mir die Gedanken im Kopf zu verquirlen? Er war ein Meister darin, mich dazu zu bringen, etwas anderes zu tun als geplant. Wie genau er das machte, hatte ich immer noch nicht ergründet. Meistens hatte es mich auch nicht gestört, aber inzwischen fragte ich mich, wie sehr mich diese Manipulationen verändert hatten. War ich eigentlich noch ich selbst? Welche Wünsche und Träume verbarg ich tief in mir, weil sie nicht in sein Weltbild gepasst hatten?

All diesen Fragen musste ich dringend auf den Grund gehen, aber nicht mehr an diesem Abend. Mit diesem Vorsatz lehnte ich mich zurück und genoss den Ausblick in die Ferne. Überall nur Wasser und Bäume, die das Ufer säumten.

Ich bestellte mir aus Solidarität ein paar frittierte Kartoffelspalten mit Knoblauch-Dip und Sabine fragte mich behutsam nach meiner Situation aus. Dank ihrer verständnisvollen unaufgeregten Reaktion hatte ich nun weniger Hemmungen, ihr die Wahrheit zu sagen, die mich nach Schleswig-Holstein getrieben hatte. Wahrscheinlich würde sie nicht gleich meine Eltern anrufen. Außerdem war ich erwachsen. Ich konnte damit zurechtkommen. Auch ohne Mama und Papa.

»Du bist mir auf jeden Fall herzlich willkommen und du kannst bleiben, so lange du willst«, erklärte sie mir schließlich und ich glaubte ihr jedes Wort.

***

Als ich am nächsten Morgen aus dem Sprossenfenster meines Schlafzimmers sah, ließ ich den Blick in die Ferne schweifen. Unten lag der See. Wie ich jetzt erkannte, war es nicht der gleiche See, wie der, an dem wir am Vorabend gegessen hatten. Das erklärte auch, warum in meiner Erinnerung alles deutlich kleiner gewesen war. Die Sonne ließ das Wasser verlockend glitzern und ein schmaler Holzsteg am Ende des Gartens ermöglichte einen gefahrlosen Sprung in das glasklare Gewässer.

Natürlich war es Mitte März noch viel zu kalt zum Anbaden. Vor allem für eine Mittelmeernixe wie mich. Aber viel zu lange hatte ich nicht mehr auf meinen Bauch gehört und einfach etwas Spontanes und vielleicht vollkommen Bescheuertes getan. Für Reue war später noch Zeit. Mich überkam das Bedürfnis, irgendeiner Laune zu folgen und mich von ihr leiten zu lassen. Ohne Plan einfach tun, was mir in den Sinn kam. Ich konnte es kaum erwarten, dass der Sommer kam, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo ich dann sein würde.

Sabine hatte mir am Abend klar gemacht, dass ich bei ihr bleiben konnte, so lange ich wollte. Allerdings spürte ich, dass sie ihre eigenen Dämonen umtrieben. Nachdem ich ihr eröffnet hatte, was ich erlebt hatte, ging sie bezüglich ihres Themas nicht mehr in die Tiefe. Aber sie deutete an, dass sie selbst mit dem Gedanken an einen Tapetenwechsel spielte. Wie das mit ihrem Angebot zu bleiben zusammenpasste, konnte ich nur raten, doch selbst das überforderte mich. Ich würde es einfach auf mich zukommen lassen. Irgendwas würde schon passieren.

Es war bereits nach neun, als ich endlich das Zimmer verließ. Das Ausschlafen hatte ich dringend nötig gehabt. Nachdem ich mich am frühen Abend hingelegt hatte, war ich in einen tiefen traumlosen Schlaf gefallen und erst nach acht wieder aufgewacht. Die feuchtkalte Luft, die durch das gekippte Fenster hineinströmte, schien meine Gedanken zu reinigen. Ja, ich fühlte mich schon viel besser, obwohl sich nichts an meiner Lage geändert hatte. Wahrscheinlich war das eine vorübergehende Besserung, aber ich nahm sie dankbar an.

Auf meiner Etage lag außer meinem Gästeschlafzimmer ein kleines Gästebad, das in Gelb- und Fliedertönen gehalten war. Es war nicht groß und keine komplette Wohneinheit, aber ich hatte meine Privatsphäre und mehr brauchte ich nicht. Weder würde ich Besucher mitbringen noch wollte ich mich besonders isolieren. Eine schmale Treppe führte hinab ins Erdgeschoss des Reetdachhauses. Dort lag Sabines Reich mit einem gemütlichen Wohnzimmer, in dem eine Couch, eine Wohnwand aus den Neunzigern mit dem wahrscheinlich letzten Röhrenfernseher der Welt ihren ganz eigenen Retrocharme versprühten. Eine niedliche Küche, ein moderneres weißes Bad und ein weiteres Schlafzimmer, in das ich noch keinen Blick geworfen hatte, bildeten den Abschluss der Wohnräume. Außerdem grenzte ihr Büro an die Wohneinheit. Dieses hatte einen eigenen Zugang von außen, damit Gäste und Interessenten hineintreten konnten, ohne durch die Privaträume zu laufen.

In der Küche fand ich an diesem Morgen eine volle Kanne Kaffee und ein paar Brötchen in einer Papiertüte. Sabine selbst war nirgends zu sehen. Ich durchsuchte die Schränke nach einer Tasse, ergänzte meinen Kaffee um einen Schluck Milch und eine Prise Zucker - dann war ich startklar. Ich schlüpfte in Jacke und Stiefel und machte mich mit meinem Kaffee in der Hand zu einem Spaziergang über das Grundstück auf, um meine Erinnerungen an frühere Sommer wieder aufzufrischen.

Als ich die kalte Luft auf dem Gesicht spürte und Sauerstoff meine Lungen flutete, fragte ich mich, wie ich es je in der Großstadt hatte aushalten können. In München gab es das nicht: unverbrauchte Luft, absolute Ruhe und diesen himmlischen Frieden. Auf unserem kleinen Balkon war es ohne Zweifel nett gewesen, mal ein Gläschen Wein zu trinken, aber das hier war anders.

Meine Beine trugen mich kreuz und quer über das Gelände und meine Gedanken begannen zu wandern. Die Welt in meinem Kopf dehnte sich ins Unendliche und kehrte gleichzeitig zu dem Punkt vor meinen Füßen zurück. Auch wenn ich nicht wusste, was genau es war, tat es mir wahnsinnig gut. Ich spürte eine neue Freiheit. Sie kribbelte in meinen Fingerspitzen. Ich konnte alles tun, was ich wollte. Alle Möglichkeiten standen mir offen. Nur zurück führte kein Weg. Dass ich mit Marco meinen Lebensmittelpunkt verloren hatte, tat noch immer sehr weh, aber ich wollte mich auf keinen Fall an jemanden verschwenden, der mich nicht verdiente. Und so hatte mein Unterbewusstsein schon einen Schlussstrich gezogen, ehe ich mich in die Diskussion überhaupt einmischte.

Der Ortswechsel war die einzig richtige Entscheidung gewesen, aber irgendwann würde ich zurückkehren müssen - mindestens um meine restlichen Sachen zu holen. Und davor graute mir. Ich wollte ihn nicht mehr sehen - nicht mehr an ihn erinnert werden und an all die mit ihm verschwendete Zeit.

Vor dem Haus lag noch immer die einsame Straße, die durch den kleinen Ort führte. Ort war fast schon zu viel gesagt. Die Siedlung bestand schließlich nur aus ein paar Häusern, die Sabine damals noch mit ihrem Exfreund Robert gemeinsam nach und nach aufgekauft hatte, um darin Feriendomizile einzurichten. Die einzige Laterne des Ortes lauerte darauf, die einsame Bushaltestelle zu beleuchten, an der ich noch nie einen Bus hatte halten sehen. Aber es hing ein Plan unter dem Haltestellenschild, auf dem vehement behauptet wurde, es gäbe eine Buslinie. Natürlich verkehrte sie nicht halbstündlich oder stündlich. Es gab nur wenige Fahrten pro Tag und das auch nur an Schultagen, aber Schüler gab es hier keine.

Ich pilgerte hinüber zu der großen Scheune, die am Rand eines Spazierwegs stand, an den ich mich noch gut erinnerte. Von hier aus war ich in meiner Kindheit oft ins Unterholz gestürmt und hatte darin nach Herzenslust herumgetollt. Auf der anderen Seite des Weges war eine große Weidefläche eingezäunt.

Der Blick in die Weite war wie ein Jungbrunnen für meine vom vielen Lesen geschundenen Augen. Statt dem Weg weiter zu folgen, kehrte ich zurück zu Sabines Haus, weil mein Kaffee leer war. Doch ich wollte mich bewegen. Vielleicht noch einen Becher trinken und dann einen großen Spaziergang machen, überlegte ich.

Aus dem Büro hörte ich Gemurmel und hielt mich dezent im Hintergrund. Ich wollte nicht in ein Gespräch platzen, das nicht für meine Ohren bestimmt war. Aber aus meinem Plan wurde nichts, denn ich verstand die durchdringende Männerstimme sehr viel besser als erhofft.

»Das kann ich wirklich nicht akzeptieren«, erklärte er nachdrücklich. »Wir sind in den letzten Jahren immer gern zu Ihnen gekommen, aber wenn das so weitergeht, müssen wir uns in Zukunft etwas anderes suchen. Sie können doch nicht erwarten, dass wir zugige Wohnungen bei diesen Außentemperaturen einfach hinnehmen. Entweder Sie rüsten für den nächsten Winter auf oder wir werden nicht zurückkommen.«

Sabine antwortete etwas, das ich nicht klar verstehen konnte. Vermutlich gab es an seiner Beanstandung nichts wegzudiskutieren. Die Häuser waren alt, eine Renovierung kostete viel Geld - ganz besonders, falls mehr als eins der Häuser eine Frischzellenkur nötig hatte. Meine Mutter hatte ihrer Schwester mehr als einmal mit Geld ausgeholfen, deshalb glaubte ich nicht, dass Sabine selbst große Reserven besaß. Wie ich gestern bereits in Plön gesehen hatte, war der Tourismus hier ein Saisongeschäft. In einem guten Sommer kam sicherlich ausreichend Geld in die Kasse, aber reichte es auch, um alles gut in Stand zu halten und für schlechte Sommer vorzusorgen? Sabine war mehr der Typ Mensch, der in den Tag hinein lebte. Eine bewundernswerte Einstellung, aber eben schwierig für langfristiges Investitionsmanagement. Solche Finanzanlagen mussten gepflegt werden, damit sie ihren Wert behielten.

Die Tür des Büros wurde kräftig zugezogen. Es klang nicht wie ein emotionaler Ausbruch, sondern eher wie eine reine Notwendigkeit. Als hätte auch diese Tür schon bessere Tage hinter sich. Arme Sabine, dachte ich seufzend, während ich nach der Kaffeekanne griff.

»Guten Morgen, du bist aber früh auf«, flötete Sabine mit einer Fröhlichkeit in der Stimme, die nach diesem Gespräch nur aufgesetzt sein konnte.

»Findest du? Für meine Verhältnisse habe ich ganz schön lange geschlafen.«

Sie sah an mir hinab. Die Stiefel, die offene Winterjacke, die Strickmütze - all das sprach Bände.

»Warst du etwa auch schon draußen?«, fragte sie dennoch.

»Ja, ich bin mit meinem ersten Kaffee kurz rüber zum Waldweg gegangen. Es ist wirklich traumhaft hier. So ruhig und friedlich.«

Ich spürte die Ruhe noch immer in meinem Inneren und war unglaublich dankbar, dass ihre Karte genau im richtigen Augenblick in meinem Briefkasten gelandet war.

»Das stimmt.« Sabine trat neben mich und füllte auch ihre Kaffeetasse noch einmal.

»Was war denn das eben?«, kam es über meine Lippen, ehe ich die Worte aufhalten konnte.

»Das? Ach, die Häuser kommen langsam in die Jahre. An seinem Fenster pfeift der Wind hinein, wenn die Wetterlage ungünstig ist. Ich weiß davon, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, etwas dagegen zu tun.« Dass es ihr hier an Zeit mangelte, konnte ich kaum glauben. Viel eher vermutete ich das Problem im finanziellen Bereich, aber das würde ich ihr nicht auf die Nase binden, solange ich keine Lösung dafür hatte.

»Falls du eine helfende Hand brauchst oder sogar zwei, stehe ich parat. Ich habe sonst nichts zu tun und würde mich freuen, wenn ich etwas Sinnvolles beisteuern kann.«

Mir war nicht nach Lesen und ich konnte nicht tagelang durch die Gegend spazieren, ohne irgendeinem Ziel zu folgen. Irgendwie bezweifelte ich, dass ich bei Sabine einen modernen Internetanschluss finden würde, der es mir ermöglichte, all die verpassten Netflix-Serien auf einmal aufzuholen. Mein Handy zeigte hier zumindest kein Netz an.

»Das ist lieb, wir können uns das Problem ja mal aus der Nähe anschauen, wenn die Gäste ausgezogen sind.«

Ich nickte eifrig, um mein Angebot noch einmal zu unterstreichen.

»Kann ich sonst irgendwas für dich tun? Gibt es Besorgungen zu erledigen oder irgendwas?«

»Vielleicht später, Liebes. Aber im Augenblick haben wir alles, was wir brauchen. Genieß erstmal ein bisschen deine neue Freiheit.« Sabine strich mir sanft über den dick eingepackten Arm.

»Wollen wir vielleicht zusammen frühstücken? Ich habe Brötchen mitgebracht«, erklärte Sabine. Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin überhaupt noch nicht hungrig. Ich möchte lieber eine Runde spazierengehen, bevor es wieder anfängt zu regnen.«

»Verstehe. Soll ich dir eine Karte mitgeben oder kommst du allein zurecht?«

»Ich glaube, das kriege ich gerade noch hin. Zur Not sendest du heute Abend Rauchzeichen.«

Ich kicherte vor mich hin. Ein Leben ohne mobiles Internet erforderte vermutlich solche Maßnahmen. Mein Smartphone war mir da draußen keine all zu große Hilfe, aber irgendwo würde ich schon zwischendurch mal ein bisschen Netz finden, um mich mit meiner Navigationsapp zu orientieren.

»Mach dir keine Sorgen.«

»In Ordnung, ich muss mir immer wieder sagen, wie groß du schon bist. In meiner Erinnerung steckst du immer noch mitten in der Pubertät, aber das hast du ja schon lange hinter dir. Du bist jetzt eine erwachsene Frau. Das heißt wohl, dass ich langsam alt werde. Ob ich das will oder nicht. Aber die Zeit schreitet für uns alle gleichermaßen voran.«

»Ach, so darfst du das aber nicht sehen«, erwiderte ich, weil ich nicht wollte, dass sie sich alt fühlte. Außerdem mochte ich es selbst kaum glauben. Sie war nicht mal doppelt so alt wie ich. Wenn sie damit schon als alt galt, würde ich das auch bald sein. »Natürlich wirst du auch älter, aber deshalb bist du doch noch lange nicht alt. Ich wünschte, ich wäre in deinem Alter noch so jung wie du.«

»Es ist lieb, dass du das sagst, aber ich trage mich schon einige Wochen mit dem Gedanken, in meinem Leben noch einmal entscheidende Weichen neu zu stellen. Aber vielleicht bin ich inzwischen zu alt, um mich noch einmal richtig verlieben oder ein richtiges Abenteuer erleben.«

»Auf keinen Fall. Woran denkst du? Panama?« Irgendwie fiel mir bei Abenteuern immer Mittel- und Südamerika ein. Für mich waren die Länder dort der Inbegriff von aufregendem Leben und großer Veränderung. Gleichermaßen unentdeckt wie gefährlich. Jemand, der dorthin zog, - selbst wenn es nur auf Zeit geschah - war für mich wie Alexander von Humboldt ein Abenteurer mit einem leicht lädierten Sinn für die persönliche Sicherheit. Ob ich es jemals wagen würde, selbst dorthin zu gehen? Keine Ahnung. Im Augenblick war für mich schon die Aufgabe meines Traums von einem Leben mit Marco in München aufregend genug.

»Sowas Ähnliches. Ich erzähle dir später beim Essen davon. Lass dich jetzt nicht von mir aufhalten. Es soll heute Nachmittag tatsächlich wieder regnen, also sieh zu, dass du rechtzeitig zurückkommst.«

So lange wollte ich mich nicht draußen herumtreiben, aber da ich ohne großen Plan loslief, würde ich ihre Mahnung im Hinterkopf behalten.

***

Mir war warm. Wirklich warm. Ich hatte inzwischen meine Jacke geöffnet und ließ den Wind hineinfahren, um mich etwas abzukühlen. Die viele Bewegung - ich war sicher schon über ein dutzend Kilometer herumgelaufen - brachte mich ins Schwitzen und meinen Stoffwechsel in den Saunamodus. Eine Flasche Wasser im Rucksack wäre eine clevere Idee gewesen, aber beim Aufbruch hatte ich daran keinen Gedanken verschwendet. Als nun der kleine Ort am See wieder in Sicht kam, übermannte mich ein sonderbares Gefühl. Heimat, aber das war verrückt. Ich kannte diesen Ort kaum, war nur wenige Male dort gewesen. Wieso fühlte sich das nach Heimat an? Vielleicht weil ich keine andere mehr hatte?

Ich war einmal um den See hinter dem Haus gelaufen. Mein Zimmer lag wenige Meter von der Nordspitze des Sees entfernt. Ich war durch das schmale Waldstück an der Ostseite gelaufen und war dann an der alten Ziegelei entlang dem Weg um den See gefolgt. Wo er nicht direkt am Wasser entlang führte, nahm ich Umwege in Kauf. Ich war durch zwei Dörfer gelaufen, die deutlich größer waren, als das unsere. Dort hatte ich sogar ein bisschen Internetempfang gehabt, um eine Karte meines Standorts aufzurufen. Nun lief ich auf der Straße, die sich durch die kleine Ansiedlung bohrte. Links und rechts von mir erhoben sich mächtige Bäume, durch die das Sonnenlicht auf das am Boden liegende Laub des letzten Herbstes fiel.

Inzwischen war ich fest überzeugt, dass ich in den nächsten Wochen kräftig mit anpacken wollte, um den Ferienhäusern zu neuem Glanz zu verhelfen. Wenn ich für die notwendigen finanziellen Mittel irgendwo einen Aushilfsjob annehmen musste, würde ich das tun. Eine Aufgabe brauchte ich so oder so. Der Gedanke an Urlaub war für ein paar Tage sicherlich reizvoll, aber über Wochen oder gar Monate hinweg käme ich damit nicht zurecht. Ziellos umherzutreiben lag mir einfach nicht.

Ich war weder ein Blatt im Wind noch ein Stein, der in die Tiefe sank. Viel eher wollte ich ein Segelboot sein. Ich würde meine Segel neu am Wind ausrichten, wenn sich die Windrichtung änderte. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, welchen Kurs ich fahren wollte. Mein Unterbewusstsein wusste sicher längst die Antwort, aber auf den vergangenen zehn, fünfzehn Kilometern hatte es mir seinen Plan für mein neues Leben noch nicht verraten. Vielleicht morgen. Oder irgendwann mitten in der Nacht. Oder nächste Woche. Hauptsache, es wartete damit nicht ewig.

»Tante Bine?«, rief ich euphorisch ins Haus. »Ich habe ungefähr eine Million Ideen. Wo steckst du?«

Unterwegs hatte ich mir überlegt, wir könnten den Garten zum See hin eventuell als Eventlocation nutzen. Lesungen anbieten oder ihn für Hochzeiten zur Verfügung stellen. Irgendwie sowas. Wir könnten auch ein Gartencafé einrichten oder eine Art Kiosk für vorbeifahrende Ausflugsgruppen aufbauen. Flexible Möglichkeiten, in der guten Saison etwas Geld dazu zu verdienen. Das war sicher alle Mal besser, als wenn ich im Supermarkt zum Mindestlohn Regale bepackte.

Ich hörte schon wieder Gemurmel und folgte ihm ins Büro. Hier schien doch mehr los zu sein, als es von außen den Anschein hatte, wenn meine Tante schon wieder mit jemandem sprach. Vielleicht gab es doch mehr Gäste oder zumindest verbindliche Anfragen in der Nebensaison. Ich wollte nicht schon wieder der Lauscher hinter der Wand sein, also klopfte ich einfach an und wappnete mich, freundlich Hallo zu sagen, doch da war niemand.

»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, versprach Sabine ihrem Gesprächspartner am Telefon. Mir warf sie ein Lächeln zu, das mich beruhigte und zugleich verunsicherte, ohne dass ich genau sagen konnte, warum. »Meine Nichte ist gerade wieder reingekommen, ich muss jetzt wirklich Schluss machen.«

Sie legte den Hörer beiseite und seufzte. Ich lehnte mich mit dem Rücken an den Türrahmen und legte den Kopf schief.

»Was willst du dir durch den Kopf gehen lassen?«, fragte ich sie genauso distanzlos, wie sie mich am Vortag beim Abendessen über die Sache mit Marco ausgequetscht hatte. Wenn sie erwartete, dass ich offen zu ihr war, konnte ich sicherlich das Gleiche von ihr erwarten.

»Ein Angebot, das auszuschlagen mir wirklich schwerfällt«, gab sie zerknirscht zu.

»Steckt ein Mann dahinter?«, mutmaßte ich grinsend, doch Sabine schüttelte den Kopf.

»Nein, eine alte Schulfreundin. Sie hat ein Ressort an der Algarve geerbt und weil sie weiß, dass ich mit Tourismus zu tun habe, möchte sie, dass ich es mir mit ihr mal ansehe und vielleicht sogar ihre Partnerin werde. Aber ich bin mir unsicher. Was soll ich denn in der Zwischenzeit mit dem hier machen?« Mit einer Armbewegung deutete sie auf Wände und Fenster, aber mir war klar, was sie meinte. Sie konnte nicht einfach mal ein paar Wochen wegfahren und die ganze Anlage sich selbst überlassen. So eine Aufgabe ganz allein zu meistern schränkt einen Menschen stark ein. Mehr als mir bislang bewusst war.

»Wer hält dich hier?«, fragte ich sie. Es war die gleiche Frage, die ich mir über München gestellt hatte, bevor ich den Entschluss fasste, dass ich es hinter mir lassen würde.

»Niemand. Es gibt niemanden, mit dem ich hier gern Zeit verbringe. Das ist auch mein größtes Problem. Mit den Jahren wird es hier ziemlich einsam.«

»Dann wirst du dich von ein paar aufeinandergestapelten Steinen doch wohl nicht aufhalten lassen, oder?«

Ich war der festen Überzeugung, man sollte sich niemals an materielle Güter binden. Alles war vergänglich und wir hatten nur eine begrenzte Zeit, unser Leben so zu leben, wie es uns gefiel. Deshalb würde ich mich niemals an Dinge binden. Natürlich hatte ich Lieblingskleidung und ein paar andere Sachen, die ich gern mit mir nahm, aber Gebäude oder Fahrzeuge dienten ausschließlich ihren Funktionen und durften nach Gebrauch wieder ihrer Wege gehen. Menschen waren das, was wirklich zählte, und selbst die verließen einen bisweilen unerwartet.

»So wie du es formulierst, klingt es ziemlich blöd von mir, aber das hier war jahrelang meine ganze Welt.«

»Das verstehe ich, aber du sagst doch selbst, dass dir hier etwas fehlt«, gab ich zurück. Ich wollte sie auf keinen Fall zu etwas überreden, was ihr schaden könnte, aber ich sah einfach keine Argumente, warum sie bleiben sollte.

»Vielleicht sind meine Bedenken nicht rational, das gebe ich gerne zu. Aber was mache ich, wenn es mit Andrea nicht klappt? Wir haben schon viele Jahre nur noch sporadischen Kontakt. Vielleicht gehen wir uns nach zwei Wochen furchtbar auf die Nerven.«

»Und wenn ich erstmal für dich die Stellung halte?«, sprudelte es aus mir heraus, weil ich sie unbedingt ermutigen wollte, diesen Schritt ins Neue zu gehen.

»Das würdest du für mich tun?« Sabine schaute mich vollkommen entgeistert an.

»Eigentlich wollte ich mit dir eine Weile hier bleiben, aber ich kann natürlich auch etwas Sinnvolles tun und stattdessen für dich einspringen, während du dich in Portugal orientierst. Wenn es dir dort gefällt, schauen wir, wie es hier weitergeht. Sicherlich kannst du die Häuser dann auch verkaufen. So wie Mama und Papa es gemacht haben. Wer sagt denn, dass man ein Haus braucht, um glücklich zu sein? Vielleicht tut es auch ein Zelt oder ein Leben auf Reisen? Wenn es dir mit deiner Freundin nicht gefällt, kannst du jederzeit zurückkehren und deinen Platz wieder einnehmen.«

»Das klingt eigentlich nach dem perfekten Plan.« Ihre Worte sagten etwas anderes als ihr Gesicht. Zerknirscht sah sie mich an. Ihre Augen waren genauso braun wie meine. Vielleicht lag in ihnen mehr Weisheit, aber ich konnte den Zweifel darin sehen und in ihnen lesen wie in meinen eigenen. Da kam noch ein fettes Aber auf mich zu. »Das kann ich nicht annehmen. Ich will dich nicht auf unbestimmte Zeit hier festketten.«

»Ich bin doch hier nicht festgekettet«, widersprach ich matt. Vielleicht hatte ich sie mit meinem Vorschlag überfahren. Und vielleicht wollte sie gar nicht, dass ausgerechnet ich ihre Geschäfte in ihrer Abwesenheit weiterführte. Das hatte ich bei meinem Vorschlag nicht bedacht. Vielleicht traute sie mir den Job nicht zu. Ich war schließlich gerade mal 23 Jahre alt und als Unternehmerin vollkommen grün hinter den Ohren. Ganz sicher war ich ohne Erfahrung und finanzielle Mittel nicht unbedingt ihre Wunschkandidatin.

»Wenn wir das wirklich machen wollen, brauchen wir einen anständigen Vertrag und eine Laufzeit«, erklärte sie zaghaft.

»Okay, dann sagen wir, unser Arrangement läuft über den Sommer. Bis Oktober solltest du doch wissen, ob es dir dort gefällt und ob du mit Andrea zurechtkommst, oder ob du zurückkommen möchtest, oder?«

Was den Vertrag betraf, war ich fast sicher, dass mich gleich eine fette Kröte erwartete, die ich ihr zuliebe schlucken würde. Ich wollte, dass sie ihr Abenteuer bekam. Sie hatte es verdient, noch einmal komplett neu durchzustarten und vielleicht winkte ihr unter der Sonne Südeuropas auch noch einmal die ersehnte Liebe. Da ich die im Augenblick nicht gebrauchen konnte, fand ich mich an diesem einsamen Flecken Erde in den nächsten Monaten sicher auch allein zurecht. Irgendwie würde ich mir die Langeweile schon vertreiben.

»Ein paar Kredite für die Häuser laufen noch, aber mit 50% des Umsatzes der Wohnungsmieten kann ich die bedienen und mich ein wenig über Wasser halten. Den Rest kannst du einsetzen, wie du möchtest. Du wirst ja sicher auch ein wenig Geld zum Leben brauchen und den Wagen lasse ich dir über den Sommer auch hier. Benutz ihn, wann immer du möchtest.«

Sie atmete noch einmal schwer und sah mich ernst an.

»Die Lage ist nicht besonders rosig, wie du heute morgen schon mitbekommen hast. Ich verlange dir wirklich viel ab und weiß wirklich nicht, ob ich das mit meinem Gewissen vereinbaren kann. Die Auslastung der Wohnungen ist nicht besonders hoch. Weite Sprünge kannst du dir mit diesen 50% nicht leisten. Ein paar Buchungen sind bereits angezahlt und einige Gäste kommen jedes Jahr recht spontan über die langen Wochenenden. In den Ferien sind bislang rund die Hälfte der Wohnungen belegt. Es geht sicherlich noch mehr. Wenn du es schaffst, die zusätzlichen Zimmer zu belegen, darfst du davon gern das ganze Geld behalten.«

»Sabine, das ist viel zu viel. Ich werde jeden Cent, den ich nicht zum Leben brauche, sofort reinvestieren. Dein Business-Baby soll es bei mir gut haben und meine persönlichen Ansprüche sind deutlich bodenständiger, als du glaubst«, erklärte ich unter beschwichtigenden Gesten.

Meine Eltern waren finanziell gut gepolstert, was nicht zuletzt dem unternehmerischen Geschick meines Vaters zu verdanken war. Aber ich war weder mit goldenen Löffeln noch mit überzogenen Wünschen groß geworden. Im Studium hatte ich es gut gehabt, denn meine Eltern wollten nicht, dass meine Leistungen darunter litten, dass ich arbeiten gehen musste. So hatte ich anders als viele meiner Kommilitonen keinen Studentenjob annehmen müssen. Aber ich wusste, dass es ein absoluter Luxus war, und hätte niemals von mir aus darauf bestanden. Es war mir peinlich, dass Sabine glaubte, sie müsse mich mit Geld locken, damit ich etwas für sie tat.

»Gut, dann sind wir uns also einig?«

»Ja, ich denke schon.«

Ich hatte eine Aufgabe. So schnell konnten Wünsche Wirklichkeit werden. Ob es das Richtige für mich war, würden die nächsten Wochen und Monate zeigen, aber ich war fest entschlossen, mein Bestes zu geben - für Sabine.

Wenn sie sich entschied, die Anlage im Herbst zu verkaufen, sollte sie für Kaufinteressenten so gut wie möglich dastehen. Und falls sie zurückkehrte, sollte sie mit zugigen Fenstern und unglücklichen Gästen keine Sorgen mehr haben.

3. KEINE ZWEITEN CHANCEN

»Und dann haben wir hier noch das Holzlager. Du bist bestimmt schon mal daran vorbeigelaufen, aber es ist wirklich wichtig, dass wir hier in den kalten Monaten immer genug trockenes Brennholz haben.«

Sabine hatte mir bei einer ausführlichen Führung über das Grundstück schon so vieles erklärt, dass mir der Kopf schwirrte. Jede Information für sich war einfach zu verstehen und leicht zu behalten, aber in der Summe richtete es ein wildes Chaos in meinem Kopf an. Zum Glück würde sie noch nicht heute oder morgen abreisen. Ein paar Tage hatte ich also noch, um ihr alle Fragen zu stellen, die mir in den Sinn kamen. Die Euphorie, mit der sie erzählte, war jedoch ansteckend. Hatte ich anfangs noch das Gefühl, dass ich all das für sie tat, glaubte ich inzwischen, es könnte mir sogar Freude machen, mich in dieses Geschäft hineinzustürzen.

»Hast du deinen Eltern eigentlich schon erzählt, worauf du dich eingelassen hast?«

»Nein, aber wahrscheinlich sollte ich ihnen davon erzählen, bevor sie die Münchener Polizei nach mir suchen lassen.« Sie würden gewiss nicht übereilt die Polizei rufen, weil ich mal ein paar Tage aus München verschwand, aber natürlich sollte ich ihnen erzählen, was in meinem Leben los war und welche Pläne ich schmiedete. Die Ablenkung tat mir wirklich gut und manchmal dachte ich stundenweise überhaupt nicht mehr an Marco. Aber die drei Jahre mit ihm konnte ich nicht einfach wegwischen, deshalb kamen die Gedanken doch irgendwann zurück. Es machte mich traurig, dass ich ihm zum Ende hin so wenig bedeutet hatte, und ich fühlte mich einsam.

Nach unserer großen Runde durch die Gebäude und Anlagen griff ich mir mein Mobiltelefon. Ich wusste inzwischen, dass ich im Haus keinen Empfang haben würde, aber drüben bei der Scheune gab es immerhin Netz zum Telefonieren. Eingepackt in Jacke und Stiefel huschte ich über die kaum befahrene Straße auf den Waldweg. Das Display und die Anzahl der Striche fest im Auge lief ich auf dem Platz vor der Scheune umher, bis ich meinte, den optimalen Ort gefunden zu haben, und drückte schließlich den Anrufbutton. Es klingelte dreimal, ehe meine Mutter abnahm.

»Guten Morgen, Kleines«, flötete sie fröhlich in den Hörer. Ich warf mit meinem inneren Auge einen Blick auf die Weltzeituhr und nahm an, dass sie sich entweder gerade irgendwo deutlich westlich von mir befand oder sich im Osten in der Zeit vertan hatte.

»Hey Ma, wie geht‘s euch?«, begann ich ganz unverfänglich.