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Studentin Rachel findet einen Brief mit unbekanntem Absender in ihrer Handtasche. Wer dahinter steckt und was er von ihr will, ist ihr ein Rätsel, aber ihr mysteriöser Brieffreund verspricht ihr Geld, das sie dringender braucht, als sie je zugeben würde. Der zweite Sammelband der Serie enthält die Folgen 4-6 Gold & Höhlenstaub Tanz mit dem Teufel Rubinrote Asche
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Veröffentlichungsjahr: 2023
»Hüte deine Geheimnisse, sonst werden sie dein Leben zum Einsturz bringen.«
Die Fairfield Fashion Week beginnt und hält die Stadt und ihre Bewohner in Atem. Madison, Novalee, Yasmine und ihre Helfer richten unter Strom die einzelnen Events aus und auch Delias alte Clique trifft sich auf der Veranstaltung des Jahres. Nur Polizist Tyler bekommt davon nichts mit, weil ihn ein familiärer Notfall zurück in seine alte Heimat gezwungen hat.
Olivia kommt endlich wieder zu Kräften und kann sich mit vollem Elan in ihre ganz private Recherche stürzen, denn sie will herausfinden, was es mit Delias geheimer Ablage auf sich hat. Doch trotz des ärztlichen Verbots kann sie die Fashion Week nicht unbesucht lassen.
Erin J. Steen wurde im Herbst 1983 in Niedersachsen geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute wieder, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Sie liebt große Städte, möchte aber nicht mehr längere Zeit in einer Großstadt leben. Das Haus teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und zwei tierischen Gefährten.
Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit Spaziergängen im Wald, der Familie und stetig wechselnden kreativen Hobbys. Sie fotografiert, näht und denkt hin und wieder daran, das Töpfern zu erlernen.
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BAD HABITS
Gold & Höhlenstaub
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Tanz mit dem Teufel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Rubinrote Asche
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
1. Auflage, 2023
© Erin J. Steen – alle Rechte vorbehalten.
Erin J. Steen
Zum Fuhrenkamp 12
38448 Wolfsburg
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, unterliegen der Zustimmung des Rechteinhabers.
Personen und Handlungen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Abgehetzt erreichte sie den Coffeeshop am anderen Ende des Campus. Trotz ihrer Bemühungen brachte sie immer noch eine stattliche Verspätung von rund fünfzehn Minuten mit. Dennoch winkte ihr Jonah fröhlich aus der Ecke zu, in der er mit Ethan und Ben hockte. Die beiden anderen Teammitglieder sahen leider weniger erfreut über ihre Ankunft aus.
Jonah hob seine Tasche von dem letzten Stuhl am Tisch, um ihn für sie frei zu räumen. Ihr Blick glitt über die Tafel, auf der die Getränke angeschlagen waren. Doch dann fiel ihr wieder ein, wie hart das letzte Monatsende gewesen war, bis endlich wieder Geld auf ihrem Konto eingegangen war. Diesen Monat musste sie mit ihrem knappen Budget besser haushalten. Seit sie den Job bei der Telefonhotline zugunsten des Studiums hatte aufgeben müssen, war jeder Monat ein Kampf. Aber sie brauchte die Zeit zum Lernen, sonst würde sie ihren Abschluss nie schaffen. Ihren Kaffee konnte sie deshalb nur noch zuhause trinken.
Das Studium war fordernder als alles, was sie je zuvor gemacht hatte. Der Luxus, nebenher Zeit zum Arbeiten zur Verfügung zu haben, gehörte der Vergangenheit an. Damit leider aber auch jeglicher anderer Luxus. Doch ein abgeschlossenes Studium war den Preis wert, sprach sie sich fortwährend Mut zu - so wie in jenem Augenblick, in dem sie ein Latte Macchiato und ein Blaubeermuffin anlachten. Am Tisch der Jungs standen bereits mehrere leere Gläser und Tassen, aber sie widerstand dem Drang, sie fortzuräumen. Sie war schließlich nicht die Putzfrau der Drei.
»Hey, sorry, dass ich zu spät bin. Ich saß noch in Eriksons Seminar fest.« Sie hängte ihre Umhängetasche an den Stuhl und warf den Jungs ein entschuldigendes Lächeln zu. Dass sie eigentlich vielmehr versucht hatte, mit ihrem attraktiven Professor ins Gespräch zu kommen, verschwieg sie ihnen lieber. Dafür hätte sicher keiner von ihnen Verständnis.
Thore Erikson war ein schwedischer Gastprofessor an der Uni, den sie einfach zum niederknien fand. Sein Akzent war der Hammer und sein nordisches Aussehen erinnerte sie immer wieder an einen stattlichen Wikinger. Zudem hatte er echt etwas auf dem Kasten, was ihn noch viel anziehender machte. Er forschte an einem neuen IT-Security-Konzept, was genau in Rachels Spezialisierungsgebiet fiel. Nicht nur seinetwegen hätte sie gern in diesem Programm eine Chance ihre Abschlussarbeit zu schreiben. Aber Erikson schien weder ihr Interesse an sich noch an seinem Fachgebiet nennenswert zu honorieren. Dabei stellte sie in jeder Unterrichtseinheit Fragen, von denen sie hoffte, dass sie klug genug waren, um seine Aufmerksamkeit zu erreichen. Damit kam sie nach dem Unterricht zu ihm und versuchte, ihm nahe zu sein. Vergebens. Er schenkte ihr nicht mehr Aufmerksamkeit als allen anderen Studentinnen. Doch heute hatte sie geglaubt, in seinen kühlen Augen einen Funken von Interesse zu erspähen.
»Kein Problem. Wir haben mit den Neuigkeiten auf dich gewartet«, leitete Jonah ein.
»Was er eigentlich meint ist, du bist schuld, dass wir auf heißen Kohlen sitzen«, grummelte Ben. »Ich habe echt noch viel vor und es wäre cool, wenn wir langsam mal zur Sache kommen könnten.«
»Ben, reiß dich zusammen. Rachel lässt uns doch nicht absichtlich warten«, verteidigte Jonah sie heldenhaft doch leider zu unrecht. Sie zog den Kopf ein und ließ den Disput der Beiden vorbeiziehen. Ethan saß wie so oft unbeteiligt neben ihnen und verschwand in seinen eigenen Gedanken. Hätte sie ihn nicht gekannt, wäre er ihr in der Ecke wohl nicht einmal aufgefallen, weil er eigentlich gar nicht da war.
»Ist alles klar mit dir?«, sprach sie ihn an, nachdem sie ihn eine Weile beobachtet hatte.
Er tauchte aus seinen Gedanken auf wie von einem langen Tauchgang, holte kurz Luft, um »Klar« zu sagen und verschwand wieder unter der mentalen Wasseroberfläche.
»Okay, ich habe hier den Umschlag mit unseren Ergebnissen, aber ich wollte mit dem Öffnen warten, bis wir alle zusammen sind. Seid ihr bereit?«, fragte Jonah noch einmal unnötigerweise. Ethan würde nie bereit sein und Ben war bereit genug für sie alle zusammen.
Rachel erwartete von der Note einen herben Rückschlag auf ihrem Weg zum Abschluss, weil sie die Arbeit mit heißer Nadel in einer Nacht hatten stricken müssen, nachdem die erste Version auf mysteriöse Weise verschwunden war. Jonah gab wahlweise Ethan oder seiner Mitbewohnerin daran die Schuld, aber Rachel konnte sich nicht vorstellen, dass einer von Beiden absichtlich ihre Arbeit sabotierte. Ethan brauchte den Abschluss doch sicher genauso wie sie alle und Quinn selbst hatte überhaupt nichts mit der Sache zu tun.
Ben nickte und hob ungeduldig die Hände, um den Brief an sich zu reißen, wenn Jonah ihn nicht von selbst öffnete. Doch Jonah kam ihm zuvor und zog den Zettel heraus. Seine Augen huschten über die Zeilen.
»Eine Drei«, verkündete er. Streber Ben ließ den Kopf hängen, als hätte er nach all den Pannen wirklich noch auf mehr gehofft. Sie war froh, dass es nicht schlechter für sie ausgegangen war. So hatten sie immerhin noch eine Chance auf eine Zwei im Durchschnitt für das Projekt. Sie mussten nur in den nächsten Teilaufgaben richtig punkten.
»Tut mir echt leid, Leute. Das ist alles meine Schuld. Ich kann mir noch immer nicht erklären, wie das passiert ist«, gab Ethan kleinlaut zu.
»Hier steht auch, was als Nächstes kommt«, überging Jonah die Entschuldigung seines Kollegen. »Wir brauchen einen funktionstüchtigen Prototypen. Das wird eine ganz schön heftige Herausforderung.«
»Oh ja«, stimmte Rachel zu. »Wir brauchen ein festgelegtes Design, alle Maße, die optischen Sensoren und auch sonst ziemlich viel Zeug, das ich nicht unbedingt zuhause habe. Wie viel Zeit haben wir?«
»Bis zum 7. November«, las Jonah erneut ab.
»Sollte zu machen sein, aber ich muss gestehen, ich bin echt knapp bei Kasse«, gab sie zu. »Ich kann es mir diesen Monat nicht leisten, viel Geld für diese Sachen auszugeben.« Eigentlich konnte sie es sich in keinem Monat leisten und einen Antrag bei der Unterstützungskasse würde sie so schnell nicht bewilligt bekommen.
»Bei mir ist auch gerade Ebbe«, stimmte Jonah ein, der sonst immer genug Geld besaß.
»Ist kein Problem, das geht auf mich«, bot sich Ethan großzügig an. »Vielleicht kann ich so ein bisschen von dem angerichteten Schaden wieder gut machen.«
»Das ist ja auch das Mindeste«, grummelte Jonah halblaut.
Ben saß noch immer schmollend mit vor der Brust verschränkten Armen auf seinem Stuhl und schwieg eisern.
»Okay, verteilen wir die Aufgaben. Ben hat es schließlich eilig«, forderte Rachel sie auf, ehe erneut Streit unter den Jungs ausbrach. Irgendwie waren sie an diesem Tag alle ziemlich angespannt. »Wir brauchen eine Einkaufsliste für Ethan. Das sollte der erste Schritt sein.«
»Die Konstruktion selbst ist dann wohl meine Aufgabe.« Jonah zuckte die Achseln, als wäre das immer klar gewesen. »Ben, willst du das Lastenheft machen, damit wir alle am gleichen Produkt arbeiten?«
»Ähm, ja, okay. Kann ich machen. Das muss ich ja nur aus dem Konzept ableiten.«
»Und wir brauchen ein paar User Stories für die Programmierung. Die Software übernehme ich, wenn wir uns über die Stories verständigt haben«, sprang Rachel dazwischen. »Ethan du machst doch bestimmt das Design, oder?«
Ethan nickte wie selbstverständlich. Endlich konnten sie ihre unterschiedlichen Studiengänge mal für etwas nutzen, das sich ergänzte, statt immer nur mit den unsichtbaren Geweihen gegeneinander zu hauen wie vier Widder. Sie hatte zwar das Gefühl, sich meistens aus den Streitereien herauszuhalten, merkte aber immer wieder, dass sogar sie sich in einzelnen Aspekten durchsetzte. Das überraschte sie angesichts des ständigen Kompetenzgerangels der drei Jungs an diesem Tag sehr. Oft kam sie sich neben ihnen vor wie das unnütze fünfte Rad am Wagen. Sie konnte weder etwas konstruieren noch hatte sie besonders kreative Ideen. Alles, was sie konnte war es, Funktionen in Software abzubilden. Mit Hilfe von einem geschickt geschriebenen Code konnte sie fast alles umsetzen, was andere sich vorstellten.
»Okay, dann hätten wir es für heute?«, wollte Ben ungeduldig wissen und sprang bereits von seinem Stuhl auf.
»Ja, kannst du mir die Stories bis Mitte nächster Woche geben?«
Ben nickte Rachels Bitte ab und eilte aus dem Coffeeshop. Ethan wandte sich an Jonah.
»Sagst du mir, was du brauchst und welche Maße ich annehmen kann?«
Wie immer, wenn Ethan ihn direkt ansprach, grummelte er irgendwas Unverständliches. Dann verschwand auch Ethan und ließ Jonah und Rachel allein zurück.
»Sag mal, kannst du demnächst mal bei mir vorbei kommen? Es gibt da etwas, das ich mal mit dir allein besprechen will«, wandte er sich leise an sie. Die Geheimniskrämerei ließ sie aufhorchen, aber sie kannten sich seit Jahren und wenn es etwas gab, dass er nur mit ihr alleine besprechen wollte, sollte es ihr recht sein.
»Klar, kein Problem. Wann passt es dir?« Sie verabredeten einen Tag und schließlich machte sich auch Jonah auf den Weg in seinen nächsten Kurs. Wenn sie nicht gleich notierte, was sie besprochen hatten, würde sie wieder die Hälfte vergessen.
Sie zog ihre Tasche auf den Schoß und kramte nach Zettel und Stift, als ihr ein Umschlag auffiel, den sie bestimmt nicht dort hinein gesteckt hatte. Das dicke weiße Papier war viel teurer als das, was sie gelegentlich im Studiensekretariat mitgehen ließ, wenn sie mal wieder um einen Aufschub ihrer Gebühren bettelte. Wie er in ihre Tasche kam, war ihr ein Rätsel.
Ein einzelnes Blatt steckte in dem verklebten Umschlag, den sie vorsichtig öffnete, um das Papier möglichst wenig zu beschädigen. Vielleicht konnte sie es noch einmal verwenden.
HEY RACHEL,
WENN DU INTERESSE AN EINEM JOB HAST, DER DEINEN FÄHIGKEITEN ENTSPRICHT, MELDE DICH UNTER [email protected]
WIR KENNEN DEINEN WERT UND DER LIEGT WEIT JENSEITS VON 20 DOLLAR PRO STUNDE.
X
Sie stutzte und sah sich in dem Coffeeshop um. Hatte diesen Umschlag jemand in ihre Tasche geschmuggelt, während sie mit den Jungs hier gesessen hatte? Oder war es schon im Seminar bei Erikson passiert? Zweifellos würde sie keine dubiosen Angebote dieser Art annehmen. Zumindest nicht, wenn sie nicht wusste, wer ihr dieses Angebot machte. Neugierig war sie trotzdem. Und wenn sie ehrlich war, konnte sie das Geld wirklich gut gebrauchen, aber 20 Dollar mehr oder weniger würden vermutlich an ihrem Schicksal nur wenig ändern.
Zwar hatten sie dutzende merkwürdige Hinweise im Zusammenhang mit Delias Verschwinden bekommen, doch das einzig brauchbare Motiv hatte der Designer, den sie in ihrem Artikel beschuldigt hatte, seine Models schlecht zu behandeln. Das reichte zwar aus Tylers Sicht immer noch nicht aus, um der Journalistin etwas anzutun, aber irgendjemand hatte sie angegriffen oder angreifen lassen, um sie einzuschüchtern. Zumindest so lange sie der Aussage der Mädchen glaubten, denn einen Beleg dafür gab es nirgends.
Vielleicht war es der gleiche Mensch, der ihr die Drohbriefe geschickt hatte, von denen sich ebenfalls kein einziger auffinden ließ. Beides waren - wie Will nicht müde wurde zu betonen - bloße Berichte aus zweiter Hand. Trotzdem hatte er sich für diesen Nachmittag bei dem Designer Fred Loyd angekündigt und war mit seinem Partner auf dem Weg in dessen Studio.
Ein verglastes Treppenhaus führte in dem am Rande der Innenstadt gelegenen Bürogebäude zu einem weitläufigen Atelier. Lange bevor sie ihn sahen, hörten sie Fred Loyd wüten.
»So nicht. Das sieht aus wie Taubendreck«, schimpfte die raue Männerstimme. »Mach es noch mal und geb dir verdammt noch mal endlich Mühe, sonst schmeiße ich dich raus.«
Eine verheulte junge Frau eilte die Treppe herunter an ihnen vorbei, ohne Notiz von den beiden Polizisten zu nehmen.
»Guten Tag. Mr. Loyd nehme ich an«, kündigte Tyler sich an.
»Nehmen Sie doch an, was Sie wollen.« Das zerknitterte Gesicht unter den zusammengezogenen Augenbrauen zeigte nichts als Verachtung. Seine blassblauen Augen musterten zuerst ihn und dann seinen Kollegen. »Was wollen Sie?«
»Wir sind von der Polizei. Detectives Ducharme und Evans«, erklärte er mit der Geduld, die er sich in den ersten Jahren seiner Dienstzeit bei der Polizei in Detroit antrainiert hatte. Es brachte nichts, wenn er den Leuten mit der gleichen Aggression begegnete wie sie ihm.
»Sie sind Polizisten?« Ungläubig musterte er sie noch einmal und stieß ein freudloses Lachen aus. »Der Schokoriegel und der Milchbubi. Ist ja zum Schießen.«
»Wir würden es begrüßen, wenn Sie Ihre Wortwahl noch einmal überdenken würden. Schließlich sind wir alle kultivierte Menschen«, erwiderte Tyler, dessen Gesichtszüge sich als Reaktion auf die rassistische Beleidigung verhärteten. Dass dieser Typ genau das Arschloch war, das in dem Artikel von Delia gezeichnet wurde, glaubte er inzwischen ohne jeden Zweifel.
»Sonst was?«, wollte der verkniffen dreinblickende Künstler wissen. »Wollt ihr mir den Arsch versohlen?«
Tyler setzte zu einer weniger höflichen Erwiderung an, doch Will hielt ihn sachte am Arm zurück. »Lass es, der Idiot ist es nicht wert«, flüsterte er.
Er hatte ja so verdammt recht, doch manchmal ging es mit ihm durch. In manche Gesichter wollte er am liebsten mit der Faust hineinschlagen, bis kein Müll mehr zwischen den Lippen hervorquoll. Dass er ihn Milchbubi nannte, konnte Tyler verkraften, aber Rassismus und das, was er mit den Mädchen gemacht hatte, war einfach zu viel, um es stillschweigend hinzunehmen.
»Wir haben Hinweise darauf, dass Sie in Zusammenhang mit der Bedrohung und eines tätlichen Angriffs zu Lasten von Delia Gupta stehen. Was können Sie uns darüber sagen?«, fragte er, während er mit der bloßen Kraft seiner Gedanken die Gewaltfantasien gegen den Mann unterdrückte.
»Was?«, fragte der Alte dümmlich. »Wer soll das sein?«
Sein Mund stand offen. Eine echte Einladung für einen schmerzvollen Haken.
»Eine Journalistin, die vor einigen Monaten einen Artikel über Sie geschrieben hat«, sprang Will ihm unerwartet bei.
»Es schreiben ständig irgendwelche Miezen über mich«, kommentierte Loyd selbstgerecht.
»In diesem Artikel sind Sie nicht so gut weggekommen, wie sie es vielleicht gewohnt sind«, setzte Will nach und half Loyds Erinnerung auf die Sprünge.
»Ach, die Schnepfe. Ja, die war hier. Aber bedroht habe ich sie nicht. Ich habe ihr nur gesagt, dass ich ihrer Karriere ein zügiges Ende bereiten könnte, wenn sie ihre spitze Zunge nicht im Zaum hält.« Achselzuckend wandte Fred Loyd sich von ihnen ab und marschierte auf einen Tisch zu, der von Papieren übersäht war. »Ist sonst noch was?«
»Vielen Dank für Ihre Kooperationsbereitschaft. Wenn Ihnen noch etwas Sachdienliches einfällt, melden Sie sich bitte bei uns«, beendete Tyler das Gespräch ohne die gewünschten Einsichten. Er hatte die Schnauze gestrichen voll von diesem Egomanen. Wie gern hätte er ihn dafür verhaftet, dass er ein Arschloch war, nur war das leider nicht strafbar. Bis er etwas Belastendes gegen ihn in der Hand hatte, konnte er sich weiter so asozial benehmen, wie er wollte. Aber er würde ihn nicht vom Haken lassen und alles daran setzen, ihm etwas nachzuweisen.
»So ein unglaubliches Stück Dreck«, schimpfte er lauthals, als er mit Will zurück in das gemeinsame Büro im vierten Stock des Präsidiums marschierte. Irma zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern. Selbst Mason blickte von seinen Akten auf.
»Was ist denn los?«, wollte der Chef der Truppe wissen.
Tyler war rasend vor Wut und hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden.
»Nichts, Boss. Wir hatten nur eine Begegnung der dritten Art«, erklärte Will an seiner Stelle. »Der Kerl hat sogar unserem sanftmütigen Wolf zugesetzt.«
Etwas zu kräftig heftete er das Foto von Loyd mit einem Magneten an die Ermittlungswand, die sie im Büro aufgebaut hatten, und umkreiste es mit einem roten Marker. Fotos aller Freundinnen von Delia sowie das Bild von ihr selbst zierten bereits die Tafel.
»Ich bin weder sanftmütig noch ein Wolf«, grummelte Tyler vor sich hin.
»Super, dass ihr schon wieder hier seid. Ich wollte euch heute zum Mittagessen einladen«, kündigte Mason an und unterbrach sein Gemurmel. »Will, kannst du mir helfen, die Sachen abzuholen?«
»An wie viel hast du gedacht?«, fragte er skeptisch, folgte seinem Chef aber dennoch in den Flur. Tyler blieb allein mit Irma zurück und nahm sich ein Wasser aus dem Kühlschrank.
»Möchtest du auch etwas?«, fragte er in Richtung seiner hübschen Kollegin. Irma sah aus ihrer geduckten Haltung auf und begann ihre Schultern wieder zu entspannen. Er erkannte, dass er sie erschreckt hatte, auch wenn sich sein Zorn nicht gegen sie richtete. »Tut mir leid, dass ich gerade so ausgerastet bin. Ich bin sonst nicht so.«
»Wie bist du denn dann?«, wollte sie leise wissen.
Vielleicht, so grübelte er weiter, war er doch ein kleines bisschen sauer auf sie. Warum hatte sie nicht auf seine Frage geantwortet wie jeder normale Mensch? Warum hatte sie nicht einfach gesagt, dass sie nicht mit ihm ausgehen wollte? Sollte er sich für sie noch mehr zum Affen machen, als er es ohnehin jeden Tag tat? Jeden Tag, den er mit ihr arbeitete und sie anschmachtete wie einen frischen Donut, während selbst seine Kollegen mitbekommen mussten, dass er auf sie stand. Jeden Abend, wenn er nach Hause kam, berichtete er Simon von seinem Liebeskummer und ließ sich gute Ratschläge geben, die bei ihr einfach nichts ausrichteten.
»Finde es raus«, forderte er sie auf und nahm seinen Mut noch einmal zusammen. Ein letztes Mal, schwor er sich. »Geh mit mir aus und bilde dir deine eigene Meinung.«
»Ich kann nicht«, gab sie zurück und senkte den Blick auf ihren Bildschirm.
»Warum kannst du nicht?«, hakte er nach.
Er hatte schließlich nichts mehr zu verlieren. Sie wusste es, er wusste es und sonst war niemand hier, der ihn für einen Waschlappen halten könnte, weil er einen Korb kassierte.
»Ich hatte den Eindruck, du wärst sehr wohl interessiert. Doch seit wir in einem Team arbeiten, bist du abweisend und tust, als hätten wir uns nie zuvor gesehen.«
»Genau deshalb«, erklärte sie, ohne dass Tyler auch nur ein Stückchen schlauer aus ihren Worten wurde. »Du bist mein Kollege und ich gehe grundsätzlich nicht mit Kollegen aus.«
»Was ist das denn für eine blöde Regel? Erst willst du, dass uns das Schicksal dreimal zusammenführt, und wenn es das dann tut, ist es der Dame auch nicht recht.«
Ja, okay, er war sauer auf sie.
Diese Nachtschicht hatte ihm alles abverlangt. Er hatte sich nur für einen Augenblick auf die kleine Treppe am Seiteneinstieg des Wagens gesetzt und wollte nun am liebsten nie wieder aufstehen. Die nächste Crew stand jedoch schon bereit und sobald es einen Einsatzbefehl gab, musste er aufspringen, wenn er nicht noch eine weitere Schicht dranhängen wollte.
All das Grauen auf den Straßen kroch ihm unter die Haut. Der betrunkene Mann, den sie am Morgen am Straßenrand aufgelesen hatten, als er beinahe an seinem eigenen Erbrochen erstickt war und sich keiner der Passanten erbarmt hatte, ihn in die stabile Seitenlage zu drehen, um genau das zu verhindern.
Sie waren gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um Schlimmeres zu verhindern. Die Gaffer hatten ihn und seine Kollegen angestarrt und ihnen im Weg herumgestanden, aber niemand von ihnen hatte dem armen Kerl geholfen. Dann waren sie zu dem Autounfall rausgefahren, wo er dem Teddy des kleinen Mädchens die Glassplitter aus dem Fell operieren musste, während der begleitende Notarzt nur noch den Tod seiner Mutter feststellen konnte. An manchen Tagen wurde ihm das alles zu viel.
Er wusste, er durfte das alles nicht so nah an sich heranlassen, aber er wusste auch, dass es ohne Rücksicht über ihn kommen konnte - ganz egal, ob er das Schicksal anderer sah oder nicht. Irgendwann kam auch seine Zeit.
»Hey Simon, hast du nicht noch ein Date?«, fragte ihn Kenny, einer der beiden Sanitäter, die ihn heute im Einsatz begleitet hatten.
Er hatte recht. Eigentlich hätte er ein Date gehabt. Den Kerl, mit dem er sich heute zum ersten Mal treffen wollte, hatte er im Internet kennengelernt. Allerdings war Simon absolut nicht mehr in der Stimmung dazu, fröhlich jemand neues kennenzulernen.
»Ich weiß nicht. Vielleicht sage ich einfach ab.«
Kenny reichte ihm die Hand und zog ihn in eine stehende Position.
»Das wirst du nicht tun. Du wirst nach Hause gehen, duschen, dich umziehen und einen schönen Abend haben. Morgen kannst du mir dann erzählen wie es war. Verstanden?«
Simon schmunzelte und spürte, wie gut es tat, zu lachen und an andere Dinge zu denken. Vielleicht wurde aus dem Internetdate etwas, vielleicht auch nicht, aber es konnte ihn zumindest für eine Weile ablenken.
Er hatte noch nie ein erstes Date in einem Sportstudio gehabt. Das war mal etwas Neues. Sie hatten sich zum Squash verabredet. Eine Sportart, die sie beide gerne mal ausprobieren wollten. Die Lust auf neue Dinge war eine der vielen Gemeinsamkeiten, die sie bereits in dem kurzen Chat gefunden hatten.
Simon hatte sich in seinem Profil auf der Datingseite viel Mühe gegeben, klar zu kommunizieren, wer er war und was er suchte. Zu oft hatte jemand, den er kennenlernte, Erwartungen an ihm gehabt, die er nicht erfüllen konnte. Eigentlich war alles recht vielversprechend. Wenn da nur nicht diese belastenden Gedanken an den Tag wären, die ihn einfach nicht loslassen wollten. Die Augen des verzweifelten kleinen Mädchens, als er sie mit der Behandlung ihres Stofftiers von der grausamen Realität ablenkte, die es noch früh genug einholen würde. Er liebte Kinder und hätte gerne selbst irgendwann mal eins gehabt, doch das schien unmöglich.
Trotzdem ging er, wie sein Kollege ihm geraten hatte, eineinhalb Stunden später frisch geduscht zu dem Treffpunkt vor der Squashanlage. Auf dem Parkplatz erwartete ihn bereits ein hinreißender Kerl mit karibischen Wurzeln, kurzem schwarzem Haar und einem ebenso dunklen Dreitagebart, der dem Mann von den Fotos auf der Partnerbörse verdächtig ähnlich sah. Er schulterte seine Sporttasche und ging mit einem unverbindlichen Lächeln auf den Lippen auf ihn zu.
»Hi, bist du Tajo?«, wollte Simon wissen.
»Ähm, ja, der bin ich«, gab der Dunkelhaarige zögerlich zurück und zwinkerte hektisch.
»Klasse, dann sind wir wohl zum Spielen verabredet. Ich bin Simon.« Er hob die Hand zu einem unverbindlichen Gruß.
»Schön dich kennenzulernen«, erwiderte Tajo steif.
»Dein erstes Blind-Sport-Date?«, fragte Simon, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. »Entspann dich. Ich erwarte gar nichts. Lass uns einfach ein bisschen Squash spielen, okay?«
Tajo entließ einen tiefen Seufzer.
»Das ist gut. Ich habe in sowas echt keine Erfahrung und bin hyper nervös«, gestand er mit gesenktem Blick.
»Alles gut«, beruhigte Simon ihn weiter. »Ich bin einer von den Guten.«
Sie meldeten sich am Empfang der Anlage an und bekamen einen Court zugewiesen. Die gläsernen Boxen waren an einer langen Wand aufgereiht und boten rundum Einblick. Simon konnte zwei weitere besetzte Boxen sehen, in denen sich Zweierteams die Bälle um die Ohren hauten. Das Quietschen ihrer Schuhe und ihr Ächzen war bisweilen lauter als die Hintergrundmusik, die den Barbereich beschallte.
Tajo entschuldigte sich und verschwand in die Umkleidekabine, um seine Kleidung zu wechseln. Simon war bereits sportlich angezogen und musste vor Ort lediglich in seine Trainingsschuhe schlüpfen. Etwas zum Wechseln hatte er in der Tasche, falls sich aus dem Match mehr ergeben sollte und sie beschlossen, noch etwas Essen oder Trinken zu gehen, aber danach sah es bislang nicht aus. Der hübsche Tajo war ein nervliches Wrack.
Nach wenigen Minuten kehrte sein Date zu ihm zurück. Simon ließ den Blick über seine herannahende Gestalt wandern und nickte ihm anerkennend zu. Ihm gefiel, was er sah, und er hoffte, Tajo sah das ähnlich. Im Augenblick bezweifelte er jedoch, dass Tajo einen Kopf zum Flirten hatte. Hoffentlich entspannte er sich beim Spielen ein wenig. Er reichte seinem Partner einen der beiden Schläger und hielt den kleinen Ball in die Höhe.
»Willst du oder soll ich?« Er hegte die Hoffnung, dass der Gedanke an den Sport Tajo entspannen würde. Simon selbst war überhaupt nicht mehr nervös. Schließlich musste er ausgleichen, was Tajo an Nervosität zu viel mitbrachte.
»Ähm, du hast auch noch nie gespielt, oder?«, versicherte sich sein Spielpartner, als erinnerte er sich nicht an das Gespräch in dem Chat. Vielleicht tat er das wirklich nicht mehr im Detail, weil er auf der Plattform aktiver war als Simon und entsprechend mit mehr Männern chattete.
»Nö, aber wir kriegen das schon hin.«
Simon bemühte sich, die Zweifel und Sorgen hinter sich zu lassen, die immer wieder an die Oberfläche zu kriechen versuchten. Doch wenn sich Tajo nicht langsam ein wenig locker machte, würde ihm bald die Lust daran vergehen, ihm ständig Mut zuzusprechen. Er wollte das alles nicht mehr. Nicht mehr heute. Simon war auf der Suche nach einem ebenbürtigen Partner, der auch in der Lage war, ihn selbst in schwachen Momenten aufzufangen. Er wollte nicht immer stark sein müssen.
»Mach du«, entschied Tajo unvermittelt.
Simon schloss die Tür zu dem Plexiglaskubus, der den Spielbereich vom übrigen Gelände abgrenzte und sie positionierten sich auf dem Spielfeld. Mit wohldosierter Kraft schlug er den kleinen Gummiball gegen die Wand, sodass er sanft in Tajos Teil des Spielfelds landete. Tajo machte einen Schritt auf den Ball zu und schlug ihn kräftig zurück.
»Ein bisschen lockerer, wir wollen uns doch nicht umbringen«, bat Simon, während er den Ball mit seinem nächsten Schlag wieder ausbremste. Tajo entschuldigte sich mit einem Handzeichen und sie spielten eine Weile locker hin und her. Simon hatte Erfahrungen mit Tennis und Badminton, was er beides zu Schulzeiten ausprobiert hatte.
Zwischen den Schlägen warfen sie sich einzelne Sätze zu und begannen, sich ein bisschen besser kennenzulernen. Tajo war zweifellos ein netter Kerl und attraktiv war er auch, aber Simon war sicher, dass er nicht der Richtige für ihn war.
Ein wenig zu lange hing sein Blick an Tajos knackigem Hintern fest. Dass er auf dem Spielfeld noch eine wichtigere Aufgabe hatte, als herauszufinden, ob sie zusammen passten, bemerkte er erst, als der Ball ihn mit Wucht am Kopf traf. Wie ein Stein fiel er zu Boden.
»Oh, das tut mir leid. Wie konnte das denn passieren?«, vernahm er Tajos Stimme wie durch einen langen Tunnel. Eine Hand betastete die schmerzende Stelle an seinem Kopf. Die Berührung war sanft und unsicher, wie Tajos gesamtes Auftreten. »Brauchst du einen Arzt?«
»Ich glaube nicht.« Zärtlich strich Tajo ihm durch das kurz geschorene Haar. Seine Sicht klarte langsam wieder auf und die glitzernden Sternchen verschwanden. »Ich muss dir wohl zu lange nachgesehen haben. Zu meiner Verteidigung muss ich anmerken, dass du aber auch eine beeindruckende Rückhand hast.«
Sein Partner bedachte ihn mit einem mitfühlenden Blick und konnte sich ein Schmunzeln dennoch nicht verkneifen. »Du hast bestimmt jetzt keine Lust mehr, noch weiterzuspielen, oder?«
»Ich glaube, das macht mein Kopf nicht mehr mit«, gab Simon zu, während er sich langsam in eine sitzende Position begab. Alles fühlte sich noch ein wenig dumpf an, aber er spürte schon, wie das Pochen in den Schläfen begann. Vorsichtig tastete er sich mit seinen Fingern in Richtung der schmerzhaften Stelle, an der ihn der kleine Gummiball getroffen hatte, und untersuchte die Fingerspitzen anschließend auf Blutspuren. »Tut mir leid.«
»Schade, ich bin gerade in Schwung gekommen.« Tajo schob seine Hände in die Taschen seiner Sporthose. »Vielleicht können wir uns ja bei Gelegenheit noch einmal treffen.«
Obwohl kein Blut aus seinem Kopf hervorquoll, betäubten die Schmerzen in ihm jeden Wunsch auf ein weiteres Date oder mehr. Tajo konnte nichts für seinen Zustand, aber im Augenblick wollte er gar nichts entscheiden.
»Ich denke, ich gehe besser mal nach Hause«, kündigte er an und rieb sich die anschwellende Beule. Er konnte von Glück reden, wenn er keine Gehirnerschütterung erlitten hatte. So ein Ende hatte er sich für diesen Tag nicht gewünscht, aber kein anderes hätte passender sein können. Irgendwie hatte er gewusst, dass nach den Ereignissen seiner Schicht nichts Gutes bei diesem Treffen herauskommen konnte.
Er schulterte seine Tasche, während Tajo sich zum Umziehen wieder in die Kabine verzog. Mit den beiden ausgeliehenen Schlägern und dem Ball in den Händen ging er zurück zum Empfang, wo ihn der gleiche Mitarbeiter erwartete, der ihm eine knappe Stunde zuvor die Sachen ausgehändigt hatte. Der Mann blickte ihn schlecht gelaunt an. Seine Mundwinkel zuckten, als Simon an der Theke ankam.
»Wir wollen hier keine Leute wie Sie«, kündigte er an, als er mit spitzen Fingern die Schläger annahm. »Die Gäste beschweren sich.«
»Worüber?«, fragte Simon verdutzt, weil sein schmerzender Kopf einfach nicht begreifen wollte, was diesen Mann störte. »Was haben wir denn falsch gemacht?«
»Mit Ihren Neigungen sollten Sie sich andere Orte suchen. Unsere Gäste möchten von Ihresgleichen nicht belästigt werden«, konkretisierte der blasse Mann noch einmal seine Ablehnung, ohne ihm genau zu sagen, was er falsch gemacht hatte. Er legte die Schläger beiseite und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir können hier alles sehen, was sie auf dem Court treiben.«
Simon begriff immer noch nicht, was der Mann meinte. Regte er sich darüber auf, dass sie sich unterhalten hatten, wie zwei Menschen, die sich gerade erst kennenlernten? Störte es ihn, dass Tajo sich um ihn gekümmert hatte als er zu Boden gegangen war? Wenn sie doch alles sahen, warum war ihm dann niemand zur Hilfe gekommen, statt nur zu gaffen?
»Ich hoffe, dass Sie niemals in die Lage kommen, eine Blutspende von unseresgleichen annehmen zu müssen. Wer weiß schon, ob das nicht sogar ansteckend ist.« Entrüstet schüttelte Simon den Kopf und ignorierte, welchen Schmerz das im Inneren verursachte, aber seinen Zorn konnte er einfach nicht beherrschen. Was bildete sich dieser Kerl überhaupt ein?
Der Stoff des frisch gewaschenen Sweatshirts schmiegte sich kuschelig an ihre empfindliche Haut. In den letzten Tagen hatte sie sowohl körperlich als auch psychisch mehr Stress erlebt als jemals zuvor. Die Sorge, ihre Familie könnte sie aufgrund ihrer jüngst entwickelten Neigungen verstoßen, machte sie tief betroffen. Sollte sie alles leugnen und behaupten, es hätte sich um einen Übergriff gehandelt? Ihr Vater würde ihr gewiss glauben, doch dann müsste sie allem abschwören, was ihr in den letzten Wochen auf sonderbare Weise wichtig geworden war. Es war vollkommen absurd, aber ein Teil von ihr, wollte Drew wiedersehen.
Wenn sie schon so etwas dachte, musste sie mental noch viel aufgelöster sein als angenommen. Dieser verfluchte Barkeeper hatte ihre Welt erschüttert. Sie hatte ihn Unaussprechliches mit ihrem Körper anstellen lassen. Seinetwegen hatte sie den ersten Einbruch ihres Lebens begangen und war dabei fast erwischt worden.
Hinter einem Vorhang hatte sie sich versteckt, um dabei nicht erwischt zu werden. Jede Sekunde hatte sie damit gerechnet, dass die fremde Frau, die die Wohnung betreten hatte, sie mit ihrem Fehlverhalten konfrontierte. Die souveränen Schritte waren näher gekommen. Dann war es plötzlich still gewesen.
Die Frau war ebenfalls im Schlafzimmer gewesen. Sie hatte sich in der Wohnung bewegt, als wäre sie dort zuhause. Keine Zurückhaltung, keine Orientierungsprobleme. Sie hatte genau gewusst, wo sie hinging und was sie wollte. Hatte sie den zitternden Vorhang beim Eintreten angesehen oder war sie mit etwas ganz anderem beschäftigt gewesen?
Die Unsicherheit und der Mangel an Kontrolle über die Situation hatten ihre Akkus blitzschnell entleert. Als die Frau die Wohnungstür hinter sich zu gezogen hatte, war sie einfach auf den Boden geplumpst und hatte sich einige Minuten sammeln müssen. Sienna war unter dem Bett hervorgeklettert und hatte ebenso blass ausgesehen wie Novalee sich gefühlt hatte. Eine ähnliche Anspannung hatte sie noch nie erlebt - und sie strebte auch nicht nach einer Wiederholung. Das war ihr erster und letzter Einbruch. Aber war es auch das letzte Mal, dass sie mit Drew zu tun hatte?
»Kannst du glauben, dass wir da heile rausgekommen sind?«, fragte Sienna, als sie aus dem Badezimmer trat. Novalee hatte heiß geduscht und versucht, sich den Stress von der Haut zu schrubben. Ohne Erfolg. Sie fühlte sich noch immer genauso falsch.
Den Einbruch in Drews Privatsphäre hatte sie vor sich selbst mit dem höheren Zweck gerechtfertigt, dem ihre Maßnahme dienen sollte, aber diesen Zweck hatte sie nicht erreicht. Sie hatten kein Video gefunden. Allerdings hatte sie einen unverzeihlichen Vertrauensbruch begangen, indem sie ungebeten seine Wohnung betreten hatte. Sie hatte in seinen Sachen gewühlt und in seine geheime Schublade gesehen. Das würde sie sich nie verzeihen. Konnte sie ihm jemals wieder unter die Augen treten?
»Die hat echt den ganzen Karton mitgenommen. Ich fasse es nicht. Was hast du dir da bloß für einen Kerl angelacht und was will er ausgerechnet mit dir?« Skeptisch schüttelte Sienna den Kopf. Auch Novalee hatte keine Ahnung, was Drew an ihr fand. Sie war nicht besonders aufregend oder gutaussehend. Hatte sie seine Aufmerksamkeit mit ihrer bloßen Verzweiflung an jenem Abend auf sich gelenkt und in ihm irgendeinen schlummernden Drang erweckt – so wie er schließlich in ihr?
»Ich kann noch nicht einmal glauben, dass wir so blöd gewesen sind, es überhaupt zu versuchen«, grummelte Novalee. Das Sexvideo könnte sie endgültig von ihrer Familie entzweien, wenn es jemals an die Öffentlichkeit geriet. Nur deshalb hatte sie es gewagt.
»Zugegeben es hat nicht so funktioniert, wie ich mir das vorgestellt habe, aber wir haben es immerhin versucht.« Sienna zuckte die Achseln, als sei ihre Aktion nicht hochgradig gefährlich und obendrein illegal gewesen. »Und wir wissen jetzt, dass er zumindest keine DVD von euren Spielchen in seinem Player hat.«
»Das ist aber leider auch so ziemlich das Einzige, was wir wissen.«
»Mach dir nichts draus, wir kriegen das schon irgendwie hin«, versuchte die unverbesserliche Optimistin, sie aufzumuntern, obwohl es zur Zuversicht wirklich keinen äußeren Anlass gab. Wenn es das Video gab, wie Drew Sienna gegenüber behauptet hatte, war das ihr Ende. »Sieht nicht so aus, als wäre mit dir heute noch irgendwas anzufangen. Oder kann ich dich vom Ausgehen begeistern?«
Kokett klimperte Sienna mit den Wimpern und stemmte die Hände in die Seite, um ihr Outfit zu betonen. Der schwarze Minirock und das neonpinke Trägershirt bettelten geradezu um Aufmerksamkeit. Dazu trug sie die Augen dunkel geschminkt und sah verboten gut aus.
»Auf keinen Fall«, erwiderte Novalee entschieden und verwies mit einem Fingerzeig auf ihre kuschelige Bekleidung und die Decke, die bereits auf dem Sofa lag. »Ich werde mir einen friedlichen Film reinziehen und dabei auf dem Sofa einschlafen. So viel ist sicher.«
»Na gut, dann ziehe ich alleine los«, gab sich Sienna geschlagen und stieg in ihre Stiefel.
Novalee machte es sich unter der Decke gemütlich und zappte noch eine Weile unschlüssig durch die TV-Programme, bis sie etwas fand, das ihren Wünschen nach ruhiger Unterhaltung entsprach. Von Drama und Action hatte sie für die nächste Zeit definitiv genug. Sie musste in den nächsten Tagen ihren Rückstand bei der Arbeit aufholen und wieder zu ihrer alten Energie zurückfinden. Am besten fing sie gleich am nächsten Morgen damit an. Aber vorher würde sie ihre Seele ein bisschen streicheln.
* * *
Der Film lief seit einer halben Stunde, als ihr zum wiederholten Mal die Augen zufielen und sie ernsthaft überlegte, ob sie schon ins Bett umziehen sollte. Was sie davon abhielt, waren die Bilder, die vor ihrem inneren Auge abliefen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie Drews geheime Schublade. Nun ja, so wie sie Drew kannte, war diese Schublade vielleicht nicht einmal ein Geheimnis. Wenn sie nur gefragt hätte, hätte er gewiss bereitwillig davon erzählt und ihren Inhalt mit ihr geteilt, aber das war so ziemlich das Letzte, wonach ihr der Sinn stand. Andererseits…
Nein, verbot sie sich den Gedanken, der in dieser Spirale jedes Mal folgte. Es war vollkommen paradox, dass es sie einerseits zu ihm zog und sie gleichermaßen so abstieß. Mit diesem inneren Konflikt kämpfte sie seit ihrer ersten Begegnung. Das angebliche Sextape, von dem Sienna ihr erzählt hatte, hatte vorübergehend jegliche Lust abgetötet, die in ihr aufkeimte, wenn sie an ihn dachte. Doch sie hatte kein solches Video gefunden.
Was, wenn Sienna nur etwas falsch verstanden hatte? Wenn es eine Aufzeichnung gegeben hatte, die er längst gelöscht hatte, um ihr Probleme zu ersparen? Sienna dramatisierte gerne mal und wenn sie bereits ein paar Bier getrunken hatte, als sie bei ihm aufschlug, war es mehr als wahrscheinlich, dass sie etwas in den falschen Hals bekommen hatte. Sollte sie ihr Urteil über ihn dann wirklich darauf beruhen lassen?
Das Vibrieren ihres Telefons war ihre Rettung. Plötzlich hellwach griff sie danach und schaute, wer etwas von ihr wollte.
22:37 DREW
ICH MUSSTE GERADE AN DICH DENKEN. WORAN DENKST DU?
Sie stutzte. Ihm zu antworten, war sicher keine kluge Idee, doch als sie diese Erkenntnis richtig zu fassen bekam, hatte sie bereits auf Senden gedrückt.
ICH CHILLE AUF DEM SOFA, SCHAUE EINEN FILM UND VERSUCHE, GAR NICHT ZU DENKEN.
Hm, so schlimm war der Text nicht. Nichts Verfängliches. Nur eine neutrale Antwort voller sauberer Fakten. Und was sollte auch so schlimm an einer Kurznachricht sein?
Er antwortete nicht.
Also hatte sie auch keinen Fehler begangen, befand sie nach fünf Minuten und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem großen Bildschirm zu. Dummerweise hatte sie sich ausgerechnet eine Liebesschnulze ausgesucht, in der eine brave junge Frau von einem erfahreneren Gentleman verführt wurde und die sich dann unsterblich in ihn verliebte. Blöd gelaufen. Bei ihr lag die Sache komplett anders. Sie war zwar verhältnismäßig unschuldig, aber Drew war gewiss kein Gentleman. Und sie war nicht verliebt. Er sprach nur irgendetwas in ihrem Unterbewusstsein an, dem sie sich schwer entziehen konnte.
22:45 DREW
ICH HABE HEUTE FREI. WOLLEN WIR ZUSAMMEN AN NICHTS DENKEN?
Sie überlegte hin und her. Wollte sie das? Drew hatte bislang nie etwas getan, bei dem sie nicht eingewilligt hatte. Nicht jedes Mal hatte sie gewusst, welcher Sache genau sie zugestimmt hatte, aber er hatte nichts gegen ihren ausdrücklichen Willen mit ihr angestellt. So viel war klar.
22:47 DREW
WILLST DU ZU MIR KOMMEN? ICH HABE AUCH FILME.
Das stimmte wohl. Einige seiner Filme hatte sie gesehen und die Auswahl war gar nicht einmal übel gewesen. Allerdings bezweifelte sie, dass sie einem Film lange folgen würden. Drew war nicht der Typ, mit dem man aufs Sofa gekuschelt einen Film ansah. Er war der Kerl mit der Schublade voller Sexspielzeuge, Handschellen und Gleitgel.
WO WOHNST DU?
Huch, wer hatte das denn geschrieben? Ein bisschen verlogen kam sie sich nach der Nachricht dennoch vor, schließlich wusste sie genau, wo er wohnte. Aber wollte sie wirklich zu ihm rüber gehen? Zumindest ein Teil von ihr wollte und dieser Teil grinste diabolisch.
Mit einer reichlich verlebt aussehenden Novalee an seiner Seite, saß Jasper im Konferenzraum der FU.Ture Eventagentur. Ihnen gegenüber die liebreizende aber deutlich abgekühlte Madison Holland und in ihrem Gefolge ein Mann, ein jüngerer Kerl und eine zweite Frau mit betörenden Augen. An dieser Frau jedoch sprach ihn sexuell nichts an. Sie weckte lediglich seine Neugier auf ihre Geschichte. Dass die Fraktion der Auftraggeberseite so stark angewachsen war, zeigte ihm, welche Bedeutung Novalees und seine Arbeit für die Agentur hatten. Wenn er die Lage korrekt einschätzte, war die Fashion Week auch für die mittelgroße Eventagentur ein richtig dicker Fang. Sollten sie sich als Organisatoren beweisen, konnten sie in Zukunft damit rechnen, sich diesen Auftrag künftig zweimal im Jahr zu sichern.
»Dann zeigen Sie mal, was Sie erarbeitet haben«, forderte Madison in knappen Worten.
Novalee stand auf und begann mit der gewohnten Routine ihr Medienkonzept zu erläutern. Während sie das tat, flippte Jasper für sie durch die vorbereiteten Slides der Präsentation. Seine Kollegin hatte wirklich an alles gedacht. Sie berücksichtigte medienspezifische Interessen in den vorbereiteten Presseinformationen und hatte Werbemappen erstellt, die in seinem Design hervorragend zur Geltung kamen. Ein Medien-Care-Paket für alle Vertreter, die die Veranstaltung besuchten, hatte sie ebenfalls entwickelt und kündigte es in der Broschüre in verlockenden Worten an. Wer dieser Einladung widerstehen konnte, war garantiert nicht die richtige Zielgruppe für die Fashion Week. Für jeden der ersten einhundert angemeldeten Medienvertreter sollte es eine exklusive Führung hinter die Kulissen einer zufälligen Veranstaltung geben, die nur er bekam.
Dann war seine Zeit gekommen. Novalee moderierte seinen Abschnitt an und Jasper nahm den Ball auf, um die Designs zu präsentieren. Es waren echte Kunstwerke geworden. Sein Konzept war bestechend und technisch versiert ausgeführt. Bei einem Blick in die Augen des Mannes, der neben Madison saß, wusste er, dass er zumindest diesen voll auf seiner Seite hatte. Madison selbst jedoch wich seinem Blick aus.
»Ich weiß nicht recht. Ist das alles, was Sie zu bieten haben?«, kommentierte sie, als er geendet hatte.
»Welche Wünsche sind denn Ihrerseits offen geblieben?«, fragte er interessiert. Dass jemand seine Arbeit kritisierte, kam nicht oft vor. Er war Perfektionist und gab nichts heraus, was nicht seine persönliche Qualitätskontrolle durchlaufen hatte.
»Ich kann es nicht richtig in Worte fassen, aber es nimmt mich einfach nicht mit«, gab sie unklar zurück. An Novalee musste er sich auf der Suche nach Hilfe nicht wenden, denn er vermutete, dass die Kritik der Auftraggeberin nichts mit seiner Arbeit als solche zu tun hatte. Den Mann hatte er auf seiner Seite und die beiden anderen Mitglieder ihres Teams sahen Madison entgeistert an.
»Wir können gerne noch einmal nacharbeiten, wenn Sie uns einen Hinweis geben, in welche Richtung es gehen soll«, bot er an. »Vielleicht machen wir noch einmal einen gemeinsamen Deep Dive im engeren Kreis und gehen den Problemen auf den Grund.«
Besser konnte er vor den ganzen Unbeteiligten nicht umschreiben, dass es zwischen ihnen offensichtlich Redebedarf gab.
»Ja, meinetwegen«, knickte sie ein, als sie in den Gesichtern ihrer Begleiter geprüft hatte, ob sie ihr beipflichteten.
»Ich finde es ziemlich überzeugend«, sprang ihm nun der erfahrenere Mann bei. »Brauchst du mich bei dem Deep Dive?«
»Nein, lass nur, Colin«, erklärte sie kopfschüttelnd. »Ich schlafe mal eine Nacht darüber und melde mich dann morgen. Sie geben uns doch die Unterlagen direkt mit, oder?«
»Ich denke, das können wir machen, oder?«, fragte er schließlich Novalee. Je nach Vertragsform waren die Bedingungen zur Übergabe der erarbeiteten Konzepte unterschiedlich. Wenn die Bezahlung mit der Umsetzung der Kampagne zusammenhing, gaben sie keine Unterlagen heraus, weil sich sonst der Kunde mit dem erarbeiteten Konzept möglicherweise mit einer Agentur zusammen tat, die die Umsetzung günstiger anbot. In solchen Fällen hätten sie für die geleistete Arbeit kein Geld gesehen. Das Vertragswerk war komplex und überhaupt nicht seine Komfortzone. Novalee behielt diese Dinge für gewöhnlich besser im Kopf als er.
»Sorry, das muss ich nachschlagen«, erwiderte sie zu seiner Überraschung. »Wenn wir das geprüft haben, können wir Ihnen die Unterlagen nachher zuschicken.«
»Gut, wenn das dann alles ist, werde ich mich mit meinem Team wieder der Arbeit zuwenden«, beendete Madison das Meeting ungewohnt schnippisch und drehte sich auf dem Absatz, um durch die Tür zu brausen.
Es brannte ihm auf der Seele, das Problem sofort zu beheben, auch wenn er nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was ihre Stimmung so verhagelt hatte. Doch er konnte schwören, dass es irgendwie mit ihm als Person zusammenhing. Auf keinen Fall wollte er riskieren, dass seine bigotte Kollegin am Ende recht behielt und seine sexuellen Aktivitäten sich auf die Arbeit auswirkten. Reichlich spät bemerkte er, dass er vielleicht beim nächsten Mal der Versuchung durch eine heiße Kundin nicht nachgeben sollte. Doch nun war es nun einmal so, wie es war.
Irgendwie musste er das in Ordnung bringen.
Er packte seine Unterlagen zusammen und folgte dem Geplauder von Novalee mit dem älteren Kollegen von Madison nur am Rande. Durch die gläsernen Wände der Räume, sah er Madison in einem Trakt weiter hinten im Gebäude verschwinden, während die zwei anderen Vertreter der Eventagentur sich in die entgegengesetzte Richtung entfernten. Das war seine Chance und vermutlich würde es seine einzige bleiben, bevor dieser Auftrag in einem Desaster endete.
»Ich muss nochmal kurz auf die Toilette, geh doch schon mal vor. Ich mache anschließend in der Stadt mit einem Kumpel Mittag«, wimmelte er seine Kollegin ab, damit sie nicht mitbekam, was er plante.
»Alles klar«, erwiderte sie matt und hinterfragte nicht einmal, was eben passiert war.
Novalee war auch nicht ganz auf der Höhe, stellte er verwundert fest. Heute Nachmittag würde er sie fragen, was los war. Vielleicht musste sie sich irgendwas von der Seele reden oder brauchte Hilfe, die er zu leisten imstande war. Er hatte immerhin einiges gut zu machen, weil sie ihm neulich ungefragt den Hintern gerettet hatte, als er einfach verschwunden war, ohne sich abzumelden.
Aber zunächst folgte er Madison in den hinteren Teil des Gebäudes und hoffte, irgendwo ihr inzwischen hellbraun schimmerndes Haar wiederzufinden. Er ließ seinen Blick durch die Glaswände und die offene Fläche schweifen. Nichts zu sehen.
Schließlich stand er tatsächlich vor den Toiletten, wo er eigentlich gar nicht hin wollte. Da sie keine Telefonnummern ausgetauscht hatten, konnte er sie nicht einmal anrufen. Vor dem Gebäude auf sie zu warten, würde sicher alles noch viel schlimmer machen. Außerdem konnte er das vor Novalee nicht mehr erklären. Er musste sie einfach hier drinnen aufspüren.
Plötzlich stand der blonde Kerl mit der Brille vor ihm, der bereits im Meetingraum Partei für ihn ergriffen hatte. Wie hieß er noch gleich?
»Entschuldigen Sie, ich suche nach Miss Holland. Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?«
Der Mann schmunzelte, als könnte er seine Gedanken lesen.
»Haben Sie etwas wieder gut zu machen?«, scherzte er locker.
»Nein, eigentlich nicht. Deshalb wüsste ich ja gern, was ihr an den Designs nicht gefällt«, bestritt er - wie er fand - glaubwürdig. Ihre Kollegen mussten ja nun wirklich nicht mitbekommen, dass irgendwas zwischen ihnen vorgefallen war, das auch nur im Entferntesten als privat zu bezeichnen war. Das würde sich weder positiv auf seine noch auf ihre Karriere auswirken. In Zukunft sollte er sich Novalees Ratschläge mehr zu Herzen nehmen, auch wenn sie ihm nicht gefielen. Das hier gefiel ihm noch viel weniger.
»Ihr Büro ist dort die zweite Tür links«, er deutete mit dem Finger seiner gepflegten rechten Hand den Gang entlang, in dem es keine gläsernen Wände mehr gab. »Viel Erfolg. Ich hoffe, Sie müssen nicht zu viel ändern. Mich hat das Konzept wirklich überzeugt.«
Jasper nickte höflich, steckte das Kompliment ein und lief den Flur entlang, bis er vor der Tür ankam. Er klopfte und wartete auf eine Reaktion aus dem Inneren, doch nichts geschah. Fieberhaft überlegte er, was er als nächstes probieren konnte, ohne sich vor aller Augen lächerlich zu machen. Vom entfernten Ende des Ganges hörte er klackernde Schritte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, wie es sonst eher typisch für seine Kollegin gewesen wäre, und fragte sich, ob ihr Verhalten inzwischen etwa auf ihn abgefärbt hatte.
Bitte nicht, flehte er stumm.
Madison kam mit der dunkelhaarigen Kollegin im Schlepptau den Flur entlang. Sie marschierte auf ihn zu und sah ihn kritisch an.
»Was kann ich denn noch für Sie tun?«, wollte sie distanziert und mit einem Unterton in der Stimme wissen, den er nur als gereizt beschreiben konnte. »Yasmine, ich komme gleich bei dir vorbei. Du musst hier nicht warten.«
Als die Kollegin sich abwandte, drückte Madison die Tür zu ihrem Büro auf und schritt an ihm vorbei, ohne ihn hinein zu bitten. Er folgte ihr dennoch, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen.
»Was ist los?«, wollte er ohne Umschweife wissen.
»Was soll denn los sein?«, blaffte sie zurück. »Kommst du mit Kritik nicht klar?«
»Das war keine Kritik. Es gab nicht einen verwertbaren Punkt, den ich mitnehmen könnte. Also kann ich ja nur annehmen, dass es gar nichts mit dem Design zu tun hat.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und war mit einem Mal überzeugt, dass er trotz all ihrer körperlichen Vorzüge nie wieder mit ihr schlafen wollte. Diese Frau bedeutete mehr Ärger, als er im Moment ertragen konnte. Es war schwierig genug, mit Callie und dem vermeintlichen Baby fertig zu werden. Wenn dieser verflixte Dschinn sich endlich melden würde und er Gewissheit hätte, sähe die Sache vielleicht wieder anders aus, aber bis dahin wollte er sich lieber von allem fern halten, was ihn noch mehr stresste.
»Wenn du nun also bitte die Güte hättest, mir zu sagen, was los ist…«
Sein eigener Ton ähnelte nun ihrem. Da sie sich hinter verschlossenen Türen unterhielten, war es ihm egal. Sollte sie doch merken, dass es ihm nicht passte, wie sie mit ihm umsprang.
»Du willst also wissen, was du falsch machst?« Sie stemmte die Hände in die schlanke Taille und funkelte ihn herausfordernd an.
»Ja, bitte. Deshalb bin ich hier.«
»Du rückst mir auf die Pelle und das kann ich nicht leiden«, feuerte sie ihre Anschuldigung auf ihn ab.
»Wie bitte?« Sowas hatte ihm in den letzten Monaten wirklich keine Frau an den Kopf geworfen. »Ich arbeite zufällig an diesem Projekt. Was erwartest du? Dass ich nicht komme, wenn wir einen Termin haben?«
»Das meine ich nicht. Ich meine neulich im Hangar und das, was du gerade hier abziehst.« Madison hatte das Kinn erhoben und kam ihm wie ein vollkommen anderer Mensch vor als die Frau, die ihm vor einigen Wochen auf dem Boot an den Lippen geklebt hatte. Sie war es gewesen, die die Initiative übernommen hatte.
»Das, was ich hier gerade abziehe, wie du es nennst, nennt sich Schadensbegrenzung. Du handelst absolut irrational. Ich habe keinen Schimmer, unter welcher Art Verfolgungswahn du leidest, aber ich komme dir garantiert nicht zu nahe. Ehrlich gesagt will ich dich nicht einmal wiedersehen, aber wir arbeiten nun mal an diesem Projekt und das würde ich gerne auch weiterhin tun, weil ich glaube, dass ich der Beste für den Job bin.«
Er beendete seinen Monolog und hatte damit alles gesagt, was ihm wichtig war. Vielleicht war er ein wenig über das Ziel hinausgeschossen und hatte ihr Ego angekratzt, aber irgendwas stimmte mit dieser Frau sowieso nicht. Ein kleiner Kratzer im Selbstbewusstsein war für sie vielleicht ganz heilsam.
»Du willst mich nicht?«, fragte sie ungläubig.
»Nein, kein bisschen. Die Nacht war nett, aber wiederholen muss ich das nicht.«
»Du stalkst mich also nicht?«
Sie schien noch immer nicht ganz überzeugt, obwohl er so viel Charme wie eine Dampfwalze an den Tag legte und so viel Abstand wie nur irgendwie möglich zwischen ihnen hielt, indem er sich gegen die Tür lehnte. Vor irgendwas musste Madison eine scheußliche Angst haben.
»Wie kommst du auf so einen Mist?«
Hilflos hob er die Hände und fuhr sich durch die Haare, weil er nicht wusste, was er sonst damit tun sollte. Diese Frau raubte ihm - wie so viele andere - den letzten Nerv. Vielleicht brauchte er eine Auszeit von dem ganzen Ding, das da zwischen Männern und Frauen ablief. Keine Frauen mehr, die ihn enttäuschten. Keine Frauen mehr, die ihm sagten, was er zu tun oder zu lassen hatte. Keine Frauen mehr, die ihm hinterher liefen. Keine Frauen mehr, die glaubten, er liefe ihnen hinterher.
»Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich mich neulich von dir beobachtet gefühlt. Das war kein gutes Gefühl. Ich will nichts Festes oder so.« Die Gegenwehr in ihrer Stimme hatte merklich nachgelassen und ihr Körper sah längst nicht mehr so steif aus wie zuvor.
»Ich schwöre, ich habe dich weder beobachtet, noch will ich dich zu irgendwas verpflichten. Ich will doch selbst gar keine Verbindlichkeiten. Das habe ich dir klar genug gesagt, bevor wir zu dir gegangen sind, oder?«
Madison zuckte die Schultern und biss sich verlegen auf die Unterlippe.
»Ich weiß es nicht mehr. Meine Erinnerungen an den Abend sind ein bisschen verschwommen«, gab sie leise zu und Jasper begann zu lachen.
»Verdammt, Mädel, dann red doch mit mir, bevor du dir irgendwas einbildest.« Er warf den Kopf in den Nacken. »Hast du irgendwas an meinem Design auszusetzen? Ich würde es gerne perfekt machen. Also sag mir, was dich stört.«
Stumm schüttelte sie den Kopf und seufzte.
»Super, dann lassen wir euch alles zukommen, wie im Vertrag abgestimmt.« Sie nickte und begann, die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch zu sortieren. »Die neue Haarfarbe steht dir übrigens gar nicht.«
Als er das Büro verließ, warf sie ihm ein Grinsen zu.
»Komm bloß nie wieder.«
»Versprochen«, antwortete er und schloss die Tür hinter sich.
»Quinn, kommen Sie mal, bitte«, rief Jade Shore aus dem Verkaufsbereich des Ladens, den sie sonst während der Öffnungszeiten nie betrat. Quinn saß an einer Auftragsarbeit und blickte von ihrem Werktisch auf. Jede Sekunde verfolgte sie die Angst, ihr Fehler könnte auffliegen. Dann wäre sie ihren Job endgültig los, ehe sie auch nur eine Chance hatte, die beiden Chefs von ihren Fähigkeiten zu überzeugen.
Sie hatte keinen der Rohrubine aus der Versteigerung bekommen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihre Kollektion präsentieren musste, und dann war es vorbei. Ohne den großen Rubin konnte sie nichts zeigen. Nicht ihr Können und nicht ihre Ideen.
Mit eingezogenem Kopf schlich sie zur Verbindungstür und lugte in den Verkaufsraum.
»Was kann ich für Sie tun?«, wollte sie von ihrer Chefin wissen.
»Da draußen lungert ein junger Mann herum, der sagt, er gehört zu Ihnen«, erklärte Jade Shore mit genervtem Blick. »Kümmern Sie sich bitte darum, dass er verschwindet, ja?«
Die erhobene Stimme am Ende des Satzes hätte eine Frage andeuten können, aber ihr Blick ließ Quinn überhaupt keine andere Wahl als folgsam zu nicken. Da sie in dieser Stadt bislang nur wenige Menschen kannte, grübelte sie fieberhaft, wer sich wohl vor dem Geschäft herum trieb.
Vor dem Eingang stand ein Kerl mit breiten Schultern, der zu einem Sicherheitsdienst gehörte. Das eingesetzte Personal wechselte und sie hatte sich immer noch nicht merken können, wer von ihnen wie hieß, während ihre Kollegin Sharon stets eifrig mit den starken Männern flirtete. Sie trat an seine Seite und sah nach rechts die Straße herunter.
»Hey, ich bin’s«, sprach sie eine vertraute Stimme von links an. Quinn fuhr herum und hatte das Lächeln schon auf den Lippen, als Jonah vor ihr stand.
»Was machst du denn hier?«
Ein Besuch von ihm war zwar nett, kam jedoch sehr überraschend.
»Ich habe Neuigkeiten für dich, auf die ich dich nicht bis heute Abend warten lassen wollte.« Seine Augen zwinkerten unter der Nerdbrille verschwörerisch und sie verstand, dass er das Thema nicht unbedingt vor dem Sicherheitsmann erörtern wollte.
»Super, lass uns doch irgendwo einen Kaffee trinken«, schlug sie deshalb vor. Auf einem ihrer Mittagsspaziergänge hatte sie einen charmanten Coffeeshop entdeckt, in dem es bislang jedes Mal zu voll war, wenn sie gerade Pause hatte. Aber vielleicht war am frühen Nachmittag die Lage besser. Als Jonah zustimmend nickte, wandte sie sich noch einmal zur Tür, drückte sie auf und rief ihrer Chefin zu: »Ich mache eine Pause. Alle für morgen fälligen Auftragsarbeiten liegen im Fach.«
Jade Shore nickte nachsichtig und ließ sie ziehen. Sie hätte genug Überstunden gehabt, um einfach Feierabend machen zu können, aber das konnte sie nach ihrer Rückkehr immer noch entscheiden. Erst einmal wollte sie wissen, was Jonah ihr mitzuteilen hatte. Sie hakte sich bei ihm unter und dirigierte ihn in die richtige Richtung.
Über der Eingangstür stand in windschiefen Buchstaben ‚Holy Shot‘. Was gotteslästerlich klang, zog in dieser Stadt täglich hunderte, wenn nicht gar tausende Koffeinsüchtige an. Auch um diese Uhrzeit war der Laden längst nicht leer, aber sie fanden immerhin einen eigenen kleinen Tisch. Sie erklärte Jonah, was sie trinken wollte und blockierte den Tisch, während er für sie beide bestellte.
Um sie herum brannte der Raum vor lauter Leben. Die Gäste wirkten allesamt gut gelaunt und schnatterten munter miteinander. Die kleinen Tischchen waren von Grüppchen besetzt, die kaum genug Platz darauf fanden, um ihre Tassen abzustellen, weshalb viele Gäste ihre Getränke innig umarmten, während sie mit ihren Freunden plauderten.
Der Altersdurchschnitt der Gäste musste bei Ende zwanzig liegen. Nur wenige waren deutlich jünger als Quinn und ebenso wenige waren deutlich älter. In Sachen Kleiderwahl gab es jedoch längst nicht so viel Uniformität. Moderne Hippies waren genauso vertreten wie Frauen im Kostümchen und Hipster jeglicher Gattung. Alles in allem bot der Laden ein sehr buntes Bild, genau wie sie von außen immer gehofft hatte.
Nach einigen Minuten kam Jonah mit dem Kaffee an ihren Tisch und stellte die Tasse vor ihr ab.
»Chai Latte mit Sojamilch war doch richtig, oder?«, fragte er ein wenig überfordert.
»Passt schon«, antwortete sie, obwohl sie eigentlich einen Pumpkin Spice Latte hatte haben wollen. Aber so wichtig war das nun auch wieder nicht. Sie wollte viel lieber wissen, warum Jonah sie an diesem Tag bei der Arbeit besuchen wollte. »Nun erzähl schon. Was gibt es?«
»Ich habe etwas für dich und hoffe sehr, es ist das Richtige«, begann er noch immer genauso unsicher wie zuvor beim Servieren des Kaffeegetränks. Sie betete stumm, er möge es dabei besser getroffen haben, denn sie hasste den kratzigen Geschmack der Sojamilch in ihrem Hals. Zu einer Erwiderung war sie trotzdem vor lauter Spannung nicht fähig. So wartete sie einfach darauf, dass er weiter sprach. Stattdessen kramte er jedoch in seiner Umhängetasche, die eine Größe hatte, dass sie ihren halben Hausstand darin problemlos hätte verlieren können.
»Hier.« Er reichte ihr ein in ein Küchentuch gewickeltes Objekt.
»Du hast doch nicht etwa …«, begann sie, ohne ihre Vermutung vollständig auszusprechen. Wie könnte sie ihm auch an einem öffentlichen Ort wie diesem unterstellen, er habe einen Edelstein gestohlen? Vorsichtig wickelte sie das Etwas aus dem Tuch, um sich zu überzeugen, dass es wirklich ein Rubin war. Als das funkelnde Gestein zum Vorschein kam, riss sie die Augen auf.
Sicher war nur, dass es sich bei diesem Stein um kein Exemplar handelte, das vergangene Woche bei der Auktion erhältlich gewesen war. Dieser Stein war viel schöner und bereits von grobem Unrat befreit. Jemand hatte ihn angeschliffen und seine Schönheit unübersehbar gemacht, um ihn besser verkaufen zu können.
Ihr blieb nur noch die Feinarbeit, um diesen Stein aussehen zu lassen, wie das Stück, das ihr Brooks überlassen hatte. Er würde den Unterschied kaum bemerken, weil er ihr ebenfalls einen Rohstein gegeben hatte, von dem er unmöglich wissen konnte, wie er nach dem Schliff aussehen würde.