Am richtigen Platz - Carolin Schairer - E-Book
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Am richtigen Platz E-Book

Carolin Schairer

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Beschreibung

Denise Martins Start in die Werbebranche fällt bescheiden aus. Dabei ist sie schon Mitte dreißig und sucht noch ihren Platz im Leben. Denise nutzt ihre Chance, sich zu beweisen – prallt aber auf die rechte Hand des Agenturchefs: Kathi. Die ist blond, attraktiv und überaus ehrgeizig. Bereits am ersten Tag geraten die beiden aneinander … und lassen sich so schnell nicht mehr los. Zwei Frauen treffen sich zwischen Nähe und Distanz, Teamwork und Konkurrenz. Finden sie ihre Balance?

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Seitenzahl: 712

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Carolin Schairer

AMRICHTIGENPLATZ

Roman

eISBN 978-3-89741-958-2

© 2018 eBook nach Originalausgabe© 2018 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf b. DarmstadtAlle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: Atelier KatarinaS / NLunter Verwendung des Fotos »Details of minimalistic fashion outfit«© Alena Ozerova / fotolia.de

Ulrike Helmer VerlagBlütenweg 29, 64380 Roßdorf b. DarmstadtE-Mail: [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

Inhalt

Die Agentur

Vater und Tochter

Nachbarinnen

Soziale Kontakte

Familientreffen

In Konkurrenz

Enge Zusammenarbeit

Erkenntnisse

Kontrollverlust

Schlagabtausch

Katastrophen

Tiefschläge

Verzweiflungstat

Troubleshooting

Yoga-Übungen

Eine Abmachung

L-Word

Mitarbeiter des Monats

Trivial Pursuit

Eine Einladung

Sofagespräche

Aufwachen

Valerie

Autoritätsgerangel

Streit

Krankenpflege

Versöhnung

Ein Traum

Vertragsausstieg

Unter Schock

Die ganze Wahrheit

Bibelsprüche

London

Nach London

(K)ein Alleingang

Die Agentur

Kaffee. Schwarz. Am besten intravenös.

Seit Denise vor knapp einer halben Stunde in den kleinen Renault Twingo eingestiegen war, den die Mietwagenfirma ihr als Ersatz für den angeforderten Mercedes A-Klasse angedreht hatte, wuchs ihr Verlangen nach Koffein von Minute zu Minute. In Anbetracht der vielen Autos, die sich um sie herum auf einer der Hauptverkehrsadern Wiens stauten, würde es mit dem Kaffee so schnell nichts werden.

Sie kam zu spät, zweifelsohne. Für ihren ersten Arbeitstag in einer der führenden Werbeagenturen der Stadt sicherlich nicht der allerbeste Einstieg.

Nun, sie konnte es nicht ändern. Aber zumindest sollte sie wohl ihren Vater anrufen.

Die Augen konzentriert auf die auf Grün springende Ampel gerichtet, tastete sie den Beifahrersitz nach ihrer Handtasche ab. Sie griff ins Leere.

Verdutzt schaute sie neben sich. Natürlich, wie konnte es auch anders sein. Offenbar hatte das italienische Designerstück bei der letzten abrupten Bremsung im Stop-and-go-Verkehr einen Salto mortale in Richtung Fußmatte gemacht. Dort lag es jetzt inmitten jener Utensilien, die sich eigentlich in seinem Inneren hätten befinden sollen. Denise entdeckte das Smartphone links neben dem Lippenstift.

Ihr Versuch, es kurzerhand heraufzuangeln, endete mit dem ruckartigen Absterben des Motors. Mist! Wie sie, die seit Jahren an Automatik gewohnt war, dieses sensible Zusammenspiel von Kupplung und Gas doch hasste!

Hinter ihr ertönte ein Hupkonzert. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Verkehr zuwandte, begriff sie, weshalb: Vom Vordermann trennten sie inzwischen mindestens vier Autolängen. Mit einem resignierten Seufzen startete sie den Wagen neu und schloss auf. Die Ampel sprang zurück auf Rot.

Die Gunst der Gelegenheit nutzend, stellte sie sicherheitshalber den Motor ab und lehnte sich quer über den Beifahrersitz. Der Schalthebel drückte unangenehm im Bauch. Von ihrem Handy trennten sie dennoch zwei Zentimeter – zwei Zentimeter, die sich auch nicht überwinden ließen, als sie den Sicherheitsgurt gelöst hatte.

Einen leisen Fluch ausstoßend, riss sie die Autotür auf. Auf hochhackigen Stiefeln stakste sie um den Wagen herum zur Beifahrerseite und stopfte hastig Lippenstift, Mascara, Taschentücher, Kugelschreiber und Handcreme in die Tasche zurück. Mit dem Handy in der Hand ließ sie sich gerade auf den Fahrersitz plumpsen, als erneut wildes Hupen ertönte.

Die Ampel zeigte schon wieder Grün – für die Fahrer hinter ihr anscheinend Grund genug, Stress zu machen, auch wenn es vorne noch immer nicht zügiger voranging. Ihr gestreckter Mittelfinger fuhr impulsiv nach oben. Idioten!

Bei der nächsten roten Ampel rief sie die Nummer ihres Vaters auf. Nach dreimaligem Läuten meldete sich die Mobilbox.

Sie hinterließ eine kurze Nachricht, dann drehte sie das Radio an. Der viel zu fröhliche Moderator von Ö3 zwitscherte etwas von einem herrlichen Skitag mit blauem Himmel in Österreichs Westen. Was wenig half, wenn man wie sie im grautrüben Osten im Stau steckte.

Ein paar Minuten später erfuhr sie zumindest, weshalb: Ein Wasserrohrbruch auf Höhe der Stadtbücherei hatte den Verkehr nahezu lahmgelegt. Na, wunderbar …

Das zweistöckige Gebäude in Wien-Margareten, ein ehemaliges Gutshaus. Der gepflasterte Innenhof mit dem Kastanienbaum. Die schwere, grün lackierte Türe, die direkt in den Empfangsbereich der Agentur führte.

Nichts hat sich hier verändert seit meinem letzten Besuch, dachte Denise noch, während sie die Räumlichkeiten betrat – um ihr Urteil im nächsten Augenblick zu korrigieren.

Denn es war alles anders. Das Entree, das sie als dunkel und gediegen in Erinnerung gehabt hatte, präsentierte sich nun hell und modern. Tageslicht flutete die große, offene Halle, in der eine Palme als botanischer Blickfang diente.

Denises Augen glitten den gigantischen Stamm hinauf. Der Baum füllte den ihm bereitgestellten Raum – bis hinauf unters Dach. Von den Zwischendecken zu den Obergeschossen waren nur verglaste Emporen zurückgeblieben, auf denen ausladende Designersofas bereitstanden. Eine Wendeltreppe, die links neben der Empfangstheke ihren Anfang nahm, führte zu den freischwebenden Besprechungsräumen hinauf.

Nun wurde sie auch des leisen Plätscherns gewahr, das an ihr Ohr drang. Ein Wasserfall ergoss sich rechts hinter der Palme von ganz oben über eine künstliche Felswand bis in ein Becken, in dem sich ein paar Fische tummelten. Koi-Karpfen. Denise kannte die teuren überdimensionierten Goldfische von ihren Besuchen in dem nicht ganz billigen Restaurant in Hamburg, in das Astrid sie zu besonderen Anlässen ausgeführt hatte.

Interessant.

Das alles musste eine Menge Geld gekostet haben.

Sie zweifelte nicht daran, dass der Inhaber einer der führenden Werbeagenturen Österreichs sich derart exklusive innenarchitektonische Spielereien leisten konnte, war aber zutiefst überrascht, dass er es tatsächlich tat. Sie kannte den Gründer und Boss des Unternehmens schließlich gut genug, um zu wissen, wie knausrig er sich gewöhnlich zeigte.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Eine freundliche Frauenstimme riss sie aus den Gedanken. Wie aus dem Nichts war eine Brünette mittleren Alters hinter der Rezeption aufgetaucht. Ihr betont konservativer dunkelblauer Hosenanzug stand im Kontrast zu dem rot-grün gesprenkelten Brillengestell, das sie auf der Nase trug.

»Ich bin …«

Das Schrillen des Telefons und der leicht aufgeschreckte Blick ihres Gegenübers hinderten Denise daran, sich vorzustellen. Die Frau im Hosenanzug warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, dann hob sie ab.

»LOMART ADVERTISING, Sie sprechen mit Gisela Richter. Was kann ich für Sie tun?«

Offensichtlich war dies eine ganze Menge, denn bereits nach kurzer Zeit begann die Rezeptionistin sich Notizen zu machen und nachzufragen. Denise hörte nur mit halbem Ohr zu, während sie die gerahmten Schwarzweiß-Fotografien an der Wand gegenüber betrachtete. Aus interessanten Blickwinkeln abgelichtet, zeigten sie imposante Bauwerke. Die meisten von ihnen erkannte Denise, ohne auf die Hinweisschilder neben den Rahmen schielen zu müssen; einige davon hatte sie selbst schon besucht, beispielsweise den New York Times Tower und das Los Angeles Convention Center.

Als Gisela Richter nach zehn Minuten immer noch am Telefon hing, wurde Denise die Warterei zu dumm. Ihr Verlangen nach Koffein meldete sich mit aller Vehemenz. Sie schlüpfte aus ihrem Mantel, hängte ihn über den Garderobenständer und eilte den Gang entlang in den hinteren Bereich, wo ihrer Erinnerung nach die Kaffeeküche lag – jedenfalls vor dem ominösen Umbau.

Das Großraumbüro, das sie in Erinnerung hatte, war komplett verschwunden, neu eingezogene Wände und Türen ließen auf abgetrennte Büros schließen. Und das in Zeiten, in denen sich die meisten Unternehmen für die entgegengesetzte Lösung entschieden. Denise staunte.

Zugleich gefiel ihr der Gedanke, in einem Einzelbüro zu arbeiten und nicht inmitten von Leuten, die ihr möglicherweise neugierig über die Schulter schauten oder beim Telefonieren zuhörten. In ihrer Position, da war sie sich ziemlich sicher, hätte sie allerdings ohnehin ein eigenes Büro bekommen, schließlich saß der Chef wohl auch nicht inmitten seiner Mitarbeiter.

Die Kaffeeküche befand sich tatsächlich an der alten Stelle. Doch auch hier hatte das Interieur gewechselt. Statt blassgelber Fliesen mit Sprüngen und soliden Küchenmöbeln in Dunkelbraun war auch hier nun alles hell und freundlich gestaltet – und zudem wesentlich größer, als sie es in Erinnerung hatte. Es gab sogar einen modernen Herd in Form einer Kochinsel und eine kleine Frühstücksbar.

Froh, endlich die Kaffeemaschine entdeckt zu haben, legte sie eine Kapsel in das Gerät. Als das dunkle Gebräu in die Tasse strömte, zog sie das kräftige Aroma tief in die Nase.

»Hi, du bist bestimmt die neue Praktikantin.«

Ein salopp wirkender Mittzwanziger betrat die Küche und holte sich eine der bunten Tassen aus dem Schrank. Er trug eine weite Jeans, ein gelbes Sweatshirt und Turnschuhe. Auf Denise wirkte er, als käme er frisch vom Skater-Training.

»Ich bin der Florian, kurz Flo, einer der Grafiker. Und du heißt …?«

»Denise.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Und ich bin nicht die neue Pr…«

»Aber so geht das ja nun nicht!« Gisela Richter war im Türrahmen aufgetaucht. Die Freundlichkeit in ihren Gesichtszügen war offensichtlichem Ärger gewichen. »Wir müssen doch erst mal die Formalitäten klären! Und überhaupt … Sie können nicht einfach hier herumspazieren und sich selbst bedienen!«

Denise quittierte den Ausbruch der Frau mit einem flachen Lächeln.

»Ich war mir nicht sicher, wie lange Sie mich dort vorn noch herumstehen lassen würden.«

Mit leiser Genugtuung stellte sie fest, dass es der guten Gisela offensichtlich die Sprache verschlug. Sie starrte sie ungläubig durch ihre verrückte Brille an. Denise ignorierte den Blick, zumal ihr Kaffee durchgelaufen war. Sie setzte die Tasse an die Lippen und schloss beim ersten Schluck genießerisch die Augen.

»Und überhaupt … Sie sind fast eine Stunde zu spät!« Gisela Richter schien sich wieder von ihrem Schreck erholt zu haben. »Sie waren für spätestens neun Uhr bestellt!«

»Ist doch egal, Gisela, kann ja passieren.« Florian, der zusah, wie sich seine Tasse nun ebenfalls füllte, schien die Rolle des weißen Ritters für sich zu entdecken. »Der Chef ist eh noch nicht da. Der steckt noch im Stau. Heute ist echt ziemlich viel los in der Stadt … der ganze Gürtel steht, hat Kathi gesagt. Die ist deshalb ja auch noch nicht da. Also verschiebt sich die Morgenbesprechung sowieso.«

»Der Chef ist in zehn Minuten hier.« Gisela presste missmutig die Lippen aufeinander. »Er hat gerade angerufen.«

»Na, umso besser! Dann trommle ich die Mannschaft zusammen und nutze die Zeit, um Denise mit allen bekannt zu machen. – Einverstanden, Denise?«

»Klar, warum nicht?« Mit der Kaffeetasse in der Hand folgte sie ihm durch den Gang zurück in Richtung Rezeption.

»Der Chef ist gleich da!«, rief Florian und streckte seinen Kopf in jedes Büro – mit dem Ergebnis, dass sich ihnen immer mehr Leute anschlossen. Angesichts dessen, dass ihre Crew am Ende auf fast zwanzig Leute angewachsen war, realisierte Denise, dass hier wohl doch nicht jeder das Privileg eines Einzelzimmers genoss.

Der sportliche Mittzwanziger stieg behände die Wendeltreppe nach oben, die anderen folgten. Denise fühlte sich ein wenig an den Rattenfänger von Hameln erinnert, der aus Wut über entgangenen Lohn die Kinder des Ortes aus ihren Häusern gelockt und ins Verderben geführt hatte. Doch Florian führte seine Kollegenschar natürlich in keinen Abgrund, sondern in eines der in luftiger Höhe gelegenen Besprechungszimmer, die Denise vom Parterre aus bemerkt hatte. Munterem plaudernd verteilten sich die Mitarbeiter auf den ausladenden Sofas. Wären da nicht die Leinwand und die Vorrichtung für den Beamer gewesen, hätte Denise angesichts der Grünpflanzen und des kleinen Bücherregals fast den Eindruck gewonnen, in einem von einem besonders innovativ gestalteten Wohnzimmer zu stehen.

»Setz dich doch.«

Florian deutete auf den freien Platz rechts von sich.

Noch ehe sie seiner freundlichen Aufforderung Folge leisten konnte, sprang er jedoch wieder auf und rief in die Runde: »Hej, Leute, das ist übrigens Denise, unsere neue Praktikantin!«

»Hi.« – »Hallo.« – »Hi, Denise, willkommen im Team.«

Die Kollegen begrüßten sie offen und freundlich. Niemand schien Florians Witz bemerkt zu haben. Er konnte schließlich nicht ernsthaft glauben, dass eine Praktikantin so selbstbewusst auftrat. Überhaupt musste man ihr doch ansehen … Erstaunt ließ Denise ihren Blick über die Runde schweifen, als sie sich auf dem Sofa niederließ. Lauter junge, frische Gesichter. Hier im Raum war sie vermutlich die Älteste.

Umso mehr verwunderte es sie, dass keinem dieser Jeans tragenden, leger gekleideten Menschen im geschätzten Alter von zwanzig bis dreißig Jahren aufzufallen schien, dass sie komplett aus dem Rahmen fiel. Gut, mochte ja sein, dass sie jünger aussah, als mit sechsunddreißig zu erwarten stand. Tatsächlich war sie oftmals auf höchstens dreißig, eher sogar Ende zwanzig geschätzt worden. Ihre geringe Körpergröße von knappen hundertsechzig Zentimetern mochte ihre jugendliche Ausstrahlung möglicherweise verstärken. Doch, um Himmels willen, welche Praktikantin dieser Welt erschien in teuren Designerklamotten im Büro?

Während ihr bewusst wurde, dass die Kleidung, die sie heute an hatte, preislich sicherlich mehr ausmachte als zwei Nettogehälter von Webdesigner Flo, überkam sie zugleich die Erkenntnis, dass die Leute hier nicht wussten – nicht einmal ahnten –, welch exklusive Stücke sie da am Körper trug. Sie sahen nur das Offensichtliche: eine Frau mit offenem braunen Haar in einem kobaltblauen, körperbetonten Strickkleid, kombiniert mit einer schwarzen Bolero-Jacke.

Die Erkenntnis, dass sie nicht zwangsläufig als das gesehen wurde, was sie war, befremdete Denise.

Sie kam jedoch nicht dazu, sich darüber weiter Gedanken zu machen, denn in diesem Moment betrat Ludwig Martin die Bildfläche – der Mann, der sie gewiss gleich mit wenigen Worten aus dieser merkwürdigen Situation erlösen würde.

In schwarzem Mantel und Hut, mit seinen rund vierzig Kilo Übergewicht bei einer Größe von stattlichen eins zweiundneunzig, gab der Agenturchef eine imposante Erscheinung ab. Imposant war auch sein Auftreten: Schwungvoll warf er den Mantel über die Lehne des Polstersessels, der offensichtlich nur ihm persönlich zustand, und seinen Hut in die Runde.

Er landete auf dem Schoß einer etwas pummeligen Frau mit Pferdeschwanz, die ein wenig erfreutes Gesicht schnitt, während alle anderen in der Runde erleichtert wirkten.

Irgendetwas schien es mit dem Hutwurf auf sich zu haben.

Schon erfüllte die Stimme des Chefs den gläsernen Raum.

»So, Leute, was steht an? Wer beginnt? Irgendein Freiwilliger?«

»Die Anzeigen für die Gesünder leben-Kampagne stehen«, meldete sich eine hagere Frau mit braunem Bubikopf zu Wort. An ihrer Aussprache erkannte Denise sofort ihre Herkunft. Eine Deutsche, dem Akzent nach irgendwo aus dem Osten. »Das Shooting am Donnerstag lief plangemäß; die Models von der Agentur waren extrem professionell.«

»Besser also als diese Kasperlfiguren, die uns VIENNAS FIRST MODELS neulich für das Bettenshooting serviert hat?«

»Kein Vergleich! Die Leute, die 100 FACES uns geschickt hat, waren super! Wir waren innerhalb von drei Stunden fertig, weshalb Nick und ich schon eine Auswahl an Fotos treffen und Sujets erstellen konnten.«

»Und die Sujets sind jetzt wo?«

»Auf deinem Schreibtisch. Wenn du sie absegnest, passt Eni die Texte ein.«

»Und das geschieht bis wann, Eni?«

Ludwig Martin richtete seinen Blick auf eine zarte junge Frau mit fast mädchenhaften Gesichtszügen. Mit ihrem schwarzen, glatten Haar, den zahlreichen kleinen Steckern im Ohr und der auffälligen Tätowierung des griechischen Buchstabens Sigma an ihrem Hals erweckte sie für Denise den Eindruck eines modernen Schneewittchens.

»Die Basistexte sind fertig. Wenn ich dein Okay habe, hast du sie bis heute Mittag in vierund-, nein, pardon, sechsundzwanzig verschiedenen Versionen auf dem Schreibtisch.«

»Und wenn ich tatsächlich unter diesen sechsundzwanzig Versionen vier finde, die perfekt sind, hast du heute Nachmittag frei«, schmunzelte der Chef.

Eni konterte unbeeindruckt: »Da das unwahrscheinlich ist, habe ich mir auch für heute Abend nichts vorgenommen.«

Alle lachten, einschließlich Ludwig Martin selbst, was Denise überraschte. Dass er im Umgang mit seinen Mitarbeitern Humor bewies, hatte sie nicht einmal geahnt.

Weitere Projekte, die für die Agentur derzeit aktuell waren, wurden besprochen. Fast jeder meldete sich zu Wort. Im Gegensatz zum ersten Thema, den Sujets, wurde des Öfteren rege diskutiert. Denise nahm mit stillem Staunen zur Kenntnis, dass der Mann, dessen Wort in seinem familiären Umfeld immer als ungeschriebenes Gesetz gegolten hatte, durchaus zu einer sachlichen, konstruktiven Diskussion fähig war.

Gerade wurde über Ideen für die Bebilderung des Webauftritts einer Bioladen-Kette gesprochen, als die Glastür aufging. Eine mittelgroße Frau betrat beschwingt den Raum. Sie warf ihre großformatige Ledertasche achtlos auf den Boden und strich ihre blonden, kinnlang geschnittenen Locken nach hinten. Dabei ließ sie ihren Blick kurz durch die Runde schweifen. Schließlich setzte sie sich auf die Lehne des Sofas, auf dem das moderne Schneewittchen saß, die Hände vor ihrer grauen, bis zu den Knien reichenden Wolljacke verschränkt.

»Entschuldigt die Verspätung, aber am Gürtel herrscht totales Chaos. Wasserrohrbruch. – Und irgendein Volltrottel hat meinen Hofparkplatz blockiert, weshalb mir nichts anderes übrig blieb, als draußen herumzukurven, bis ich eine freie Lücke gefunden hatte. – Jetzt hoffe ich nur, dass der Abschleppwagen bald da ist, denn ich kann ja wohl kaum den ganzen Tag Parkscheine einlegen!«

»Och Kathilein, ich habe dir schon x-mal gesagt, du sollst auf Handyparken umstellen …!« Bastian, der Projektleiter Fotografie, sandte der Frau, die in Denises Augen ihrer eigenen Altersliga angehörte, einen mitleidigen Blick. »Das ist doch gar nicht so schwierig, und der liebenswerte Bastian richtet dir das gerne ein. Da musst du nur noch auf Send drücken, um das Park-SMS zu schicken!«

Der liebenswerte Bastian, das hatte Denise längst an dessen Gestik und Mimik erkannt, verkörperte offenbar den Quotenschwulen der Agentur.

»Ich pfeife auf Handyparken«, kam es zurück. »Ich will meinen Parkplatz, basta. – Aber jetzt genug davon. Ich habe etwas, was euch freuen wird …« Sie angelte sich ihre zuvor so lässig weggeworfene Ledertasche und zog ein mehrseitiges Dokument hervor. »Voilà, meine Süßen – der Vertrag mit HCC!«

Denise wusste nicht, was sie mehr faszinierte: das begeisterte Funkeln dieser grünen Katzenaugen, das dem auf den ersten Blick wenig spektakulären Gesicht eine gewisse Anziehungskraft verlieh, oder die Reaktion der Kollegen. Die bisher eher diszipliniert wirkende Runde schien von einer Sekunde auf die andere außer Rand und Band. Einige sprangen auf, andere umarmten sich. Alle Gesichter leuchteten wie Weihnachtskerzen.

»Wir-haben-den-Pitch-ge-won-nen,-wir-haben-den-Pitch-ge-won-nen!« Das moderne Schneewittchen hüpfte wie ein Gummiball auf und ab.

»Wir haben es den aalglatten Typen von WIZARD BLUE und den Tussis von der BBDO so richtig gegeben!«, freute sich ein junger Mann, der hinsichtlich seines Stylings und Haarschnitts als Florians Bruder durchgegangen wäre. »Das mit dieser So-oder-So-Kampagne war eine supergeniale Idee von dir, Kathi!«

Die blonde Frau schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, während sie mit zügigen Schritten den Raum durchquerte und Ludwig Martin das Dokument überreichte.

»Hier. Deine Unterschrift wird noch benötigt. Das ist alles.«

Das Grinsen des Chefs war so breit, dass nicht einmal sein grauer Vollbart es verdecken konnte. Dann erhob er sich schwerfällig und tat etwas, was Denise spontan argwöhnisch werden ließ: Er legte seine mächtigen Arme um die Frau, die zwischen ihnen förmlich verschwand.

»Gut gemacht, Kathi!«

Denise konnte sich nicht erinnern, dass er diese Worte jemals zu seiner Tochter gesagt hätte, geschweige denn, sie jemals so herzlich umarmt hätte … Ein neuer Gedanke keimte in ihr auf: Hatten die beiden etwa ein Verhältnis? – Das kokette Lächeln auf dem Gesicht der Frau machte sie einen Moment lang stutzig.

»Entschuldigen Sie die Störung …« Ein Mann in grauem Arbeitsanzug und roter Kappe stand im Türrahmen. »Ich bin vom Abschleppdienst.«

Kathi löste sich aus der Umarmung und trat vor ihn hin. Sie und der Abschleppwagenfahrer standen sich ganz in Denises Nähe gegenüber.

»Sie wissen ja, hier ist Privatgrund, kein öffentlicher Grund, deshalb bräuchte ich Vorauskasse.«

»Von mir?« Kathi hob die Augenbrauen. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Es ist mein Parkplatz, und ich soll dafür blechen, dass sich da irgendwer verbotenerweise abgestellt hat?«

»Na ja.« Sichtlich verlegen trat der Mann von einem Fuß auf den anderen. »Sie kriegen das Geld ja wieder zurück … der Besitzer bekommt den Wagen jedenfalls erst ausgehändigt, wenn er uns eine Bestätigung vorlegt, dass er es an sie überwiesen hat …«

»Noch komplizierter geht es wohl nicht!« Die Frau verdrehte genervt die Augen und kramte ihre Geldbörse aus der Tasche. »Wie viel macht das?«

»Dreihundertzwanzig Euro.«

»Wie bitte?! – Das ist doch Wucher!«

»Soll ja wehtun«, erwiderte der Fahrer. »Dem Abgeschleppten, natürlich.«

»So viel habe ich in bar gar nicht dabei. Da müssen wir wohl zum Bankomat um die Ecke gehen.«

»Kein Problem. Ich wollte der Sicherheit halber sowieso noch nachfragen: Es ist doch dieser rote Twingo, den Sie meinten? – Nicht dass ich das falsche Auto mitnehme!«

»Ja, genau der, links neben dem Kastanienbaum.«

Roter Twingo. Kastanienbaum.

Bisher hatte Denise den Dialog nur teilnahmslos mitverfolgt. Jetzt fuhr ihr der Schreck in die Glieder, und sie sprang auf.

»Nicht abschleppen! Um Himmels willen! Das ist mein Wagen!«

Ihre Stimme war laut genug gewesen, dass sich alle Köpfe in ihre Richtung drehten. Schlagartig wurde es ganz still im Raum.

Zum ersten Mal schien die blonde Frau ihre Existenz überhaupt wahrzunehmen.

»Und wer, bitte schön, sind Sie?! Weshalb blockieren Sie meinen Parkplatz?!«

Denise erhob sich. Höchste Zeit, hier etwas klarzustellen.

Aber gewiss würde sie sich nicht artig einer Frau vorstellen, die es selbst nicht für notwendig hielt, ihren Namen zu nennen!

»Es gibt zwei Agenturparkplätze«, begann sie mit vorgerecktem Kinn. »Da üblicherweise nur der eine von … vom Chef belegt wird, sehe ich kein Problem darin, wenn ich in Zukunft den anderen benütze. – Und überhaupt, wer, bitte schön, sind Sie?«

Die Blonde sah sie ein paar Sekunden lang ungläubig an.

Denise hielt ihrem Blick stand, davon ausgehend, dass diese Person jetzt endlich begriff, wen sie vor sich hatte. Mit was sie nicht rechnete, war das amüsierte Gelächter, in das die Frau nun ausbrach, und in das einige der Kollegen sogar einstimmten.

»Schluss jetzt!« Der dröhnende Bass von Ludwig Martin bereitete dem Schauspiel ein Ende. Mit ein, zwei großen Schritten verringerte er die Distanz zwischen sich und den beiden Frauen.

»Denise Ahrenberg, unsere neue Praktikantin. Ann-Kathrin Mattheis, meine rechte Hand und verantwortlich für alles, um das ich mich nicht persönlich kümmere. – Denise, fahr deinen Wagen in die nächste Tiefgarage und begleiche die Rechnung des Abschleppdienstes.«

»Aaa…aber … w…was?« Denise glaubte, sich verhört zu haben.

»Du hast mich schon verstanden. Tu das jetzt bitte, und danach komm in mein Büro, damit ich dir ein paar grundsätzliche Dinge zu deinem Job hier erklären kann.«

»Aber …!«

»Ich erwarte dich in spätestens fünfzehn Minuten.«

Ein Blick in sein Gesicht sagte ihr, dass jeder weitere Diskussionsversuch an ihm abprallen würde.

Mit einer Mischung aus Verzweiflung und unterdrückter Wut folgte sie dem Fahrer in den Hof. Auch ihr blieb nichts anderes übrig, als erst einmal einen Geldautomaten ausfindig zu machen, ehe er bereit war, sich mit seinem Abschleppwagen zu entfernen. Nicht einmal über einen Nachlass ließ er mit sich reden. Zähneknirschend drückte sie ihm das Geld in die Hand.

Erst als sie im Twingo aus dem Innenhof hinaus auf die Straße fuhr, stieß sie den wütenden Schrei aus, der ihr schon die ganze Zeit im Brustkorb gedrängt hatte.

Zum Erbrechen war das, einfach nur zum Erbrechen!

Während sie über ihr Navi das nächste erreichbare Parkhaus ausfindig machte, fragte sie sich zum x-ten Mal seit ihrer Ankunft in Wien, weshalb sie hierher zurückgekehrt war.

Die Antwort war immer die gleiche: Weil ihr – arbeitslos und ohne Chance, einen Job zu ergattern, der ihr auch nur halbwegs zusagte – einfach keine andere Wahl blieb. Die wenigen Ersparnisse, die sie seit Studierende angelegt hatte, brauchte sie schließlich noch, um ihre neue Wohnung einzurichten.

Natürlich, sie hätte auch in ihrem Elternhaus wohnen können. Angeboten worden war es ihr. Doch darauf, bereits beim Frühstück mit der Selbstgerechtigkeit und Arroganz ihres Vaters konfrontiert zu werden, konnte sie wirklich verzichten. Es reichte völlig, dass sie beides wohl künftig täglich in seiner Agentur zu ertragen hatte.

Vater und Tochter

»Das waren einundzwanzig Minuten, nicht fünfzehn.«

Ihr Vater hob nicht einmal den Blick vom Monitor, als sie sein Büro am Ende des Ganges betrat. Er saß hinter dem alten Vollholzschreibtisch, den sie schon seit ihrer Kindheit kannte. Damals war sein Büro ausschließlich mit Antiquitäten eingerichtet gewesen. Jetzt mischten sich alt und modern auf stilvolle Art und Weise.

»Ja, Entschuldigung, das Parkhaus war nicht gerade um die Ecke! Ich habe mich ohnehin be…«

Denise brach ab. Das war einfach lächerlich!

Weshalb stand sie hier wie ein Schulkind, das eine schlechte Note beichten musste? Sie war sechsunddreißig Jahre alt, eine erwachsene Frau! Und eben nicht die Praktikantin.

»Was sollte das vorhin?« Sie straffte die Schultern, während ihr das Herz heftig in der Brust schlug. Auseinandersetzungen mit ihrem Vater besaßen nun wirklich nicht den geringsten Reiz. Aber da musste sie wohl durch. »Wieso stellst du mich als Praktikantin vor? Warum nennst du mich Ahrenberg? Mein Nachname ist Martin, wenn ich dich erinnern darf!«

»Und wenn ich dich erinnern darf, wolltest du nach der Scheidung doch unbedingt den Namen deiner Mutter annehmen, warum auch immer.« Ihr Vater hielt seinen Blick immer noch auf den Monitor gerichtet. »Vermutlich aus falsch verstandener Solidarität. Aber egal jetzt. Schließ bitte die Tür. Ich denke nicht, dass es in deinem Interesse ist, wenn die ganze Agentur Zeuge unseres unvermeidbaren Zwiegesprächs wird.«

»Ist es dir etwa unangenehm, wenn jemand hört, wie du deine Tochter behandelst?«

»Nicht im Geringsten. Aber für dich wird es unangenehm sein, wenn jemand hört, was ich dir zu sagen habe. Schließlich willst du hier ja zumindest die Chance haben, respektiert zu werden, oder nicht?«

»Ich …«, begann Denise, brach dann aber ab. Sie ahnte dunkel, was nun kommen würde, auch wenn er sie jetzt bereits schier auf die Palme brachte. In trotzigem Schweigen schloss sie die Türe und ließ sich am Schreibtisch nieder, die Beine übergeschlagen, die Arme vor der Brust verschränkt.

Da ihr Vater noch immer konzentriert auf den Bildschirm starrte, offensichtlich nicht willens, ihr sofort seine Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, ließ sie den Blick durchs Zimmer wandern. Lindgrün gestrichene Wände. Ein Ficus nahe dem Fenster, der sich allem Anschein nach prächtig entwickelte. Und an der Wand hinter dem Schreibtisch ein großformatiges PopArt, das sie mühelos Tom Wesselmann zuordnete: Eine Blondine mit blau geschminkten Lidern und bloßen Brüsten rekelte sich unter einem Rosenstrauch.

Wer auch immer ihrem Vater bei der Einrichtung unter die Arme gegriffen hatte: Er hatte Wunder bewirkt und ihn komplett umgedreht.

Sie hatte auch schon einen konkreten Verdacht.

»Hast du ein Verhältnis mit ihr?«, brach es aus ihr heraus.

Ludwig Martin hob den Kopf. Zum ersten Mal seit ihrem Eintreten sah er sie an.

»Mit wem?«

»Mit Ann-Kathrin Was-weiß-ich, mit wem sonst? – Ich meine, für wie dumm hältst du mich? Die Frau schneit mit über einer Stunde Verspätung in ein Meeting, steht sofort im Mittelpunkt und hat einen eigenen Parkplatz! Es ist doch offensichtlich, dass du etwas mit ihr am Laufen hast!«

»Selbst wenn ich es hätte, ginge dich das ja wohl kaum etwas an.« Ihr Vater ließ seinen Blick unbewegt auf ihr ruhen. »Kathi hat sich ihre Position hier hart erarbeitet. Darüber hinaus schätze ich sie als intelligente und charmante Gesprächspartnerin. Das ist mehr, als ich im Augenblick über dich sagen kann, Denise.«

Ja, natürlich.

So war es schon immer gewesen und würde es auch immer sein. Denise, die herbe Enttäuschung im Leben des großen Ludwig Martin. Ihre Verbitterung hinunterschluckend, presste sie die Lippen aufeinander.

»Schon am Samstag, als du bei mir am Gießhübl warst, habe ich dir klarzumachen versucht, wie ich deine Situation und deine Rückkehr nach Wien sehe«, begann er nun ernst. »Aber offensichtlich bin ich nicht deutlich genug geworden. Also werde ich das jetzt nachholen.«

Denise versuchte sich auf die Pop-Art-Nackte zu konzentrieren. Den großen Ludwig Martin anzusehen, während er ihr wieder einmal zu verstehen gab, wie wenig er von ihr hielt, wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Er sollte nicht sehen, wie sehr sie sein Urteil noch immer traf, selbst nun, da sie erwachsen war!

Ihr Vater erhob sich und begann im Zimmer auf und ab zu schreiten. Fünf Schritte nach hinten, fünf Schritte nach vorne, die Hände ineinandergelegt.

»Nach deinem Studium hattest du die Chance, hier einzusteigen«, begann er. »Aber du hast mir gesagt, die Agentur und das alles interessiere dich nicht. Du wolltest die Welt sehen, hast du mir gesagt. In die Staaten gehen, mit deiner Freundin Astrid. Als was, habe ich mich gefragt, aber du hast mich ja nicht lange im Unklaren gelassen, was deine Liaison mit ihr betrifft. Na gut, das war zwar nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, aber wenn es deine Entscheidung ist, fand ich, dann soll es so sein.«

Er bedachte sie mit einem kurzen, prüfenden Seitenblick. »Den Vorwurf, homophob zu sein, wirst du mir jedenfalls nicht machen können. Ich habe Astrid mit offenen Armen in die Familie aufgenommen!«

Ja, weil du in ihr die Powerfrau gesehen hast, die über Leichen geht, um ihre Ziele zu erreichen, ging es Denise durch den Kopf. Vermutlich hatte er sich in Astrid wiedergefunden.

Ihr innerer Vorsatz, ihm allenfalls mit halbem Ohr zuzuhören, um sich selbst zu schützen, ließ sich schwer aufrechterhalten. Das Pop-Art war keines der tiefgründigen Gemälde aus der Zeit der Alten Meister, wie sie in ihrem Elternhaus in Gießhübl hingen. Hier hatte sie sich während ihrer Kindheit und Jugend stets in detailgetreu in Öl wiedergegebene Welten vertiefen können, wenn ihr Vater zu einer seiner Predigten ansetzte. Weder die sexuell so offensive Blondine noch der Rosenstrauch bot genug Finesse, um mental zu flüchten.

»Astrid war im Grunde der Mann, den ich mir für dich erhofft hatte«, fuhr er jetzt fort. Trotz des emotionalen Elends, das in ihr herrschte, musste Denise schmunzeln. Astrid, die während ihrer Studienzeit als Model gearbeitet hatte, mit einem Mann zu vergleichen, war so absurd wie auch typisch für ihren Vater. »Eine, die weiß, wie der Hase läuft. Eine, die das Geld verdient, das du ausgibst.«

»So viel habe ich nicht ausgeben!«, protestierte sie automatisch. Sich hier gegen ihn abzuschirmen, funktionierte ganz und gar nicht. Vermutlich war sie aus der Übung – oder seine Worte gingen ihr einfach wirklich zu sehr unter die Haut.

»Ach nein?« Ihr Vater blieb einen Moment lang stehen und musterte sie von oben bis unten. Ihr war klar, dass er im Gegensatz zu seinen Mitarbeitern sehr wohl erkannte, was sie da am Körper trug … Sie schluckte trocken.

»Wie gesagt, ich dachte, du wärest versorgt. Das hat mich irgendwie beruhigt, denn wenn ich ehrlich bin, habe ich dich hier in der Agentur nie wirklich gesehen. – Wie auch immer, dann warst du also mit Astrid in L.A. und New York, hernach in Madrid und London – und schließlich in Hamburg. Und bei den raren Gelegenheiten, bei denen sich unsere Wege auf mein Zutun hin kreuzten, hast du ja auch immer einen recht zufriedenen Eindruck gemacht, oder irre ich mich da?«

»Ich war zufrieden«, sagte Denise knapp. Zufrieden, aber längst nicht mehr glücklich. Doch danach wurde hier ja ohnehin nicht gefragt.

»Und vor drei Wochen rufst du an und stellst mich vor vollendete Tatsachen. Und erwartest von mir, dass ich dich mit Pauken und Trompeten empfange.«

Der Kloß in ihrer Kehle, der sich während seiner Ansprache gebildet hatte, nahm ihr die Luft für eine Entgegnung. Gleichzeitig kämpfte sie mit den Tränen.

Sie fühlte seine Hand auf der Schulter.

»Du bist meine Tochter, Denise. In meinem Leben ist immer Platz für dich. Aber du kannst nicht erwarten, dass es in meiner Agentur ebenso ist. In Anbetracht deiner kaum vorhandenen Arbeitserfahrung und mangelnden fachlichen Qualifikationen kann ich dich hier unmöglich als Juniorchefin einführen.« Er machte eine kleine Pause, setzte hinzu: »In Zukunft hängt es davon ab, wie stark dich deine andere große Schwäche daran hindert, Leitfunktionen zu übernehmen. Wenn ich ehrlich bin, gehe ich nicht davon aus, dass du jemals an der Unternehmensspitze stehen wirst. Es gibt einfach Grenzen. Leider.«

Er besiegelte seine Worte mit einem Seufzer. Dann setzte er seinen unruhigen Weg durch das Büro fort.

»Mein Angebot, dass du zu mir ziehen kannst, steht. Ich kann dir eine monatliche Apanage überweisen – sagen wir tausend, tausendfünfhundert Euro.« Ihren angewiderten Gesichtsausdruck auf seine Weise interpretierend, fügte er hinzu: »Tja, Armani und Gucci spielt sich dann nicht mehr, da gebe ich dir recht. Aber du bist versorgt. Das Geld ist mehr, als manche hier monatlich netto am Lohnzettel stehen haben!«

Daran zweifelte sie keine Sekunde. Allerdings war das nicht ihr Thema. »Ich will arbeiten«, erklärte sie mit fester Stimme.

»Gut. Dann tu das.«

Wieder blieb er stehen und berührte sie an der Schulter. Die Geste machte ihr Mut, einen neuerlichen Anlauf zu wagen.

»Bitte lass mich hier nicht als anonyme Praktikantin anfangen. Es ist nicht so, dass ich überhaupt nichts kann! Ich bin eine gute Rednerin, auch wenn es um Geschäftliches geht. Astrid hat mich immer wieder zu Geschäftsessen mitgenommen. Ich habe viel Verhandlungsgeschick. Das hat sie mir immer wieder bestätigt. – Ich kann gut mit Kunden, ich kann flüssig und schwungvoll präsentieren. Das ist meine Stärke. Lass mich hier als Kundenberaterin anfangen, bitte.«

Ihr Vater zog seine Hand abrupt zurück und straffte die Schultern.

»Ich muss dich enttäuschen. Die Position gibt es hier nicht. Wenn du dich ein wenig mit diesem Unternehmen vertraut gemacht hättest, wüsstest du das. Bei uns geht fast jeder zum Kunden. Denn was LOMART so stark macht, ist, dass meine Kunden die Leute, die für sie arbeiten werden, von Anfang an persönlich kennen. Nichts ist tödlicher für eine Agentur, als wenn sie nicht hält, was sie verspricht. Würde ich rhetorisch auftrainierte Berater in einen Pitch schicken, so, wie es viele andere tun, hätte ich schon verloren. Mein Wettbewerbsvorteil ist, dass meine Leute mit ihren Ideen, mit ihren Fähigkeiten, mit ihrer Persönlichkeit vor dem Kunden stehen – und der Kunde damit ganz genau weiß, was er einkauft. Also wirst du als Praktikantin beginnen, Denise, so wie jeder Neuling in der Branche. Und ganz sicher nicht als meine Tochter – denn eine Sonderbehandlung musst du dir wahrhaftig erst erarbeiten.«

»Ich sehe das als reine Farce.« Denise sah ihm direkt ins Gesicht – dasselbe unerbittliche Gesicht, das sie durch ihre Kindheit und Jugend begleitet hatte. »Ich soll mich also verstellen und lügen?«

»Es liegt in deinem eigenen Interesse, unsere Verwandtschaft nicht an die große Glocke zu hängen«, kam es zurück. »Niemand wird mit dir offen reden, wenn du sagst, wer du bist. Als Praktikantin hast du dagegen die Chance, Dinge zu erfahren, die gewöhnlich nicht bis zu mir vordringen. Im Übrigen ist es für dich sowieso besser. Von einer Praktikantin erwartet immerhin niemand etwas.«

Die letzte Anmerkung übergehend, sagte sie: »Das ist es also, was du willst? Mich als Spitzel einschleusen, um zu erfahren, was deine Mitarbeiter wirklich treiben, wenn du ihnen einmal nicht auf die Finger schaust?«

Ludwig Martin nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz.

»Lass dir zeigen, was unsere Grafikabteilung macht. Ich bin sicher, da findet sich irgendeine Aufgabe für dich. Florian wird sich um dich kümmern.«

Sie war bereits an der Türe, als er sie noch einmal zurückrief.

»Du willst mich nicht verstehen«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. »Ach, und übrigens, in Wien gibt es ein hervorragendes öffentliches Verkehrsnetz. Auf Dauer dürfte es teuer werden, dein Auto im Parkhaus abzustellen. Aber natürlich liegt es bei dir, was du mit den tausendfünfhundert Euro machst, die ich dir großzügigerweise auch als Praktikantin überweise.«

Denise verzichtete auf eine Erwiderung. Tausendfünfhundert Euro zahlte er also für ihre Mitarbeit in der Agentur. Wenn sie in ihr Kinderzimmer zog und Däumchen drehte, bekäme sie ebenso viel von ihm … Diese Einsicht war verwirrend, doch sie kam nicht dazu, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie war noch keine zehn Schritte den Gang entlangspaziert, als auch schon Florian aus einem der Büros auftauchte.

»Da bist du ja. Du sollst eine Weile bei uns in der Grafik mitarbeiten, hat es geheißen. Komm gleich mit, ich stelle dir meine Kollegen vor!«

»Schon einmal mit Adobe Photoshop gearbeitet?«

»Rote Augen auf Fotos kann ich wegmachen.« Mit keckem Lächeln überspielte Denise ihre Verlegenheit darüber, dass sie bereits die fünfte Frage, die Florian zu ihren Software-Kenntnissen stellte, hätte verneinen müssen. Immerhin lächelte er zurück. Nachsichtig, wie ihr schien, aber auch etwas ratlos.

»Und Bildbearbeitung … äh … mit Illustrator oder so etwas ähnlichem?«

Allmählich schien er immer weniger zu wissen, was er mit ihr anfangen sollte.

»Ich kann in PowerPoint Einladungen designen.«

Automatisch hatte sie Astrids Credo, vorhandene Fähigkeiten in den Vordergrund zu stellen und damit mangelndes Können abzuschwächen, übernommen.

»In PowerPoint …«, wiederholte Florian lahm. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Du könntest unsere fertigen Seiten Korrektur lesen!«, brach es aus ihm heraus. »Manchmal passiert es leider, dass beim Layouten Buchstaben abhandenkommen oder ganze Wörter verschluckt werden. – Ehrlich, das wäre eine super Hilfe!«

Das war nicht nur keine gute Idee, sondern in der Tat eine der schlechtesten, die er hätte haben können. Denise lächelte ihn dennoch an. Auch diesmal lächelte er zurück. Keine Frage, Florian Sandner war ein sympathischer, unkomplizierter Typ.

»Ich habe eine noch bessere Idee«, ließ sie ihn wissen. »Zeig mir doch einfach, wie die Software, mit der ihr arbeitet, funktioniert. Ich bin sicher, wenn ich euch eine Weile über die Schulter schaue, bin ich bald einsatzfähig.«

Florian und seine beiden Kollegen, die das Gespräch mitverfolgt hatten, starrten sie an.

»Na ja …«, erwiderte der junge Grafiker zögernd. »Für eine richtige Einschulung fehlt uns eigentlich die Zeit … und es ist nicht ganz so einfach, wie du es dir vielleicht vorstellst.«

Denise vertiefte ihr Lächeln und legte den Kopf schief.

»Bitte«, schickte sie ihren Worten hinterher. »Das wäre ganz, ganz lieb. Ich will doch etwas lernen!«

Nur eine Viertelstunde später dröhnte ihr bereits der Kopf. Das Layout-Programm war tatsächlich komplexer als erwartet, und die meisten Begriffe, die Florian ihr da wie selbstverständlich um die Ohren warf, während er geübt mit Maus und Tastatur hantierte, hatte sie noch nie zuvor gehört. Auch der Notizblock, den er ihr in die Hand gedrückt hatte, war eher hinderlich als zielführend. Seinen Ausführungen zu folgen und gleichzeitig in Stichworten mitzuschreiben, war unmöglich. Sie konzentrierte sich lieber auf das, was er tat. Und das war eine ganze Menge: Auf der leeren Bildschirmseite, die sich ihr anfangs präsentiert hatte, entstand ein kleines Kunstwerk aus freigestellten Fotos von diversen Gemüsesorten und stilvoll adaptierten Text.

»Das ist für die Schulinitiative Gesund in Österreich«, erklärte Florian. »Für die erstellen wir ein Magazin, das regelmäßig an Schuldirektoren und Kantinenköche verschickt wird.«

»Ist das ein großer Kunde?«

Florian hob die Schultern.

»Mittel, würde ich sagen«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Kein Vergleich natürlich zu HCC, deren Pitch wir gerade gewonnen haben! Die bringen einen Etat in Höhe von fünf Komma sechs Millionen mit, kannst du dir das vorstellen? – Da können wir uns richtig austoben!«

Sie hatte keine Vorstellung davon, was dies in Relation zu anderen bedeutete, war aber neugierig darauf, es zu erfahren.

»Das heißt, LOMART hat keinen anderen Kunden dieser Größenordnung?«

»Derzeit sind die größten, die wir betreuen, eine Möbelhauskette und ein Naturkosmetik-Produzent. Die Werbeetats liegen aber deutlich unter dem von HCC.«

»Und HCC steht für?«

»HEALTH CARE COMPANY. Das ist ein Gesamtanbieter für diverse Reha-Kliniken und Spa-Konzepte … Thermen, beispielsweise. Man könnte sagen, eine Art Dachverband.«

Denise sog alles, was er ihr in Folge noch detaillierter erläuterte, in sich auf. Essen, Möbel, Kosmetik und Thermen. Möglicherweise würde sie damit schneller vertraut, als ihr Vater vermutete, schließlich hatte sie sich in den vergangenen Jahren zu einem nicht unerheblichen Teil ihrer Zeit mit genau diesen Dingen befasst.

Während sie noch darüber nachsann, wie gut es ihr gelungen war, in jedem Land, in dem sie in den vergangenen Jahren gelebt hatte, die trendigsten Innenausstatter ausfindig zu machen, hatte Florian bereits mit dem Layout einer neuen Seite begonnen. Seine Erläuterungen, wie er diesen und jenen Textkasten aufzog und welche Ebene er zuerst platzierte, konnte sie längst nicht mehr abspeichern.

Dennoch nickte sie verständig. Sie wollte sich keine Blöße geben.

Der Geruch von würziger Hackfleischsoße war das Erste, was Denise wahrnahm, als sie Florian gegen halb eins in den großen Aufenthaltsraum neben der Küche folgte.

Das gemeinsame Mittagessen am Montag sei hier üblich, hatte der junge Grafiker sie informiert. Einer vom Team übernehme immer das Kochen. Derjenige, der in der morgendlichen Besprechung den Hut vom Chef fing, sei in der Folgewoche dran.

Das erklärte, weshalb die pummelige Frau mit dem Pferdeschwanz in der Früh so wenig begeistert dreingeschaut hatte. Denise konnte es nachvollziehen. Zu kochen, und dann auch noch für eine so große Runde, hörte sich in ihren Ohren wie ein Synonym für ›Alptraum‹ an.

»Wenn du am Montagmittag hier mitessen willst, trägst du dich am Freitag einfach in diese Liste ein.« Florian deutete auf einen Zettel, der in einer an der offenen Türe befestigten Plastikfolie hing. »Falls dir etwas dazwischenkommt, ist es nicht weiter schlimm, aber man braucht eben eine ungefähre Richtlinie, wie viele da sein werden. Das Essen ist sozusagen gratis – ein Geschenk vom Chef an die Mitarbeiter.«

Noch eine Neuerung, die es früher nicht gegeben hatte.

»Und was gibt es heute?«, erkundigte sich Denise.

»Spaghetti Bolognese.« Die Antwort kam nicht von Florian, sondern von einer Kollegin, die soeben mit einem übergroßen, dampfenden Kochtopf an ihr vorbeidrängte. »Flo, kannst du bitte die Pfanne mit der Soße bringen?«

»Klar.«

Am großen Tisch saßen bereits an die zehn Leute. Einige Gesichter waren Denise aus der Morgenbesprechung in Erinnerung geblieben, wie beispielsweise ein auffallend großer, schlaksiger Mittdreißiger mit Nickelbrille und halblangem Haar – Andreas, der EDV-Leiter –, oder die schwarzhaarige Eni mit der Sigma-Tätowierung am Hals. Die Aufmerksamkeit des modernen Schneewittchens wie der meisten anderen Anwesenden galt jedoch nicht dem dampfenden Nudeltopf, der nun auf die Mitte des Tisches gestellt wurde, sondern den beiden Personen, die in seltsam verdrehten Posen auf dem Boden balancierten.

Ann-Kathrin Mattheis war auf dem linken Bein leicht ins Knie gesunken, hatte mit beiden Händen ihren hinter dem Rücken aufragenden rechten Fuß umfasst und dazu den Kopf weit in den Nacken gelegt. Die Pose wirkte elegant und nicht sonderlich herausfordernd. Dass sie es wohl doch war, zeigte sich bei der zweiten Person. Der kahlköpfige, muskelbepackte Mann neben ihr hatte sichtlich Mühe, seine Gliedmaßen zu koordinieren, geschweige denn, das Gleichgewicht zu halten.

Einige hilflose Laute von sich gebend, schwankte er bedrohlich, dann kippte er zur Seite und lag wie eine auf dem Panzer gelandete Schildkröte auf dem Boden.

Sein Publikum lachte erheitert, während sich Ann-Kathrin aufrichtete.

»Mann, oh Mann, Oscar, du verdammtes Weichei!« Sie kniff ihn in den Bauch, was ihn entrüstet quietschen ließ. Denise wurde im selben Moment klar, dass Bastian, den sie bei der Morgenbesprechung kennengelernt hatte, wohl nicht der einzige Schwule im Team war. »Das war der Tänzer! – Wie willst du erst den Skorpion schaffen?«

Oscar hatte sich aufgesetzt und schüttelte sich wie ein begossener Pudel. Stöhnend kam er auf die Beine.

»Kathi, du machst mich fertig mit deinen Yoga-Übungen.«

Sie streckte die Hand aus und half ihm auf die Beine.

»Im Ernst, wie kann jemand, der so viel Muskelmasse hat wie du, gleichzeitig so wenig Körperspannung halten? – Ich verstehe das nicht! Ist in Wahrheit alles Pudding, oder was?«

Sie zwickte ihn spielerisch in den Oberarm.

»Pudding!«, schnaubte der Kahlkopf entrüstet. »Ich zeige dir gleich, was hier Pudding ist!«

Kathi drehte sich mit einem leisen Aufschrei zur Seite, doch er hatte sie bereits um die Taille gefasst. Mit beiden Händen und unter dem Applaus der Anwesenden stemmte er sie wie eine übergroße Hantel hoch über seinen Kopf.

Das Team klatschte und johlte, während die blonde Frau komplett reglos, starr und flach wie ein Brett auf seinen Händen schwebte.

Auf Denise wirkte das Ganze fast wie eine einstudierte Zirkusnummer.

Zwei Menschen, die sich offensichtlich gerne provozierten.

Sie dachte daran, wie selbstbewusst und bühnenreif AnnKathrin Mattheis in der Früh in die Besprechung geplatzt war, und kam zu der Überzeugung, dass diese Frau offensichtlich nur allzu gerne im Mittelpunkt stand. Eine Selbstdarstellerin wie aus dem Buche, die ihren Vater offensichtlich komplett um den Finger gewickelt hatte …

»Essen ist fertig!«, rief die zum Kochen Verdonnerte, als Florian nun mit einer riesigen, köstlich duftenden Pfanne voller Hackfleischsoße ins Zimmer trat.

Der muskulöse Oscar stellte seine lebende Hantel vorsichtig auf die Beine zurück, und Denises Bild von der einstudierten Zirkusnummer bekam feine Risse, als sie die Aufregung in AnnKathrins Gesicht bemerkte. Der Moment währte nur kurz. Schon hatte die Frau ihre Miene wieder unter Kontrolle.

»Mhmmm, was gibt es denn Gutes?« Sie drängte sich zwischen Schneewittchen und dem EDV-Leiter nach vorne zum Tisch und schnupperte demonstrativ, als ihre Nase beinahe über der Pfanne hing. »Oh, Sandra, das riecht köstlich!«

Die Köchin lächelte geschmeichelt, und Denise fragte sich, ob Ann-Kathrins Urteil im Team wohl als eine Art Ritterschlag galt.

Sie nahm neben Florian Platz. Ihre Kollegen fielen wie die Hyänen über das Essen her. Zumindest kam Denise das Ringen um Spaghettizange, Schöpflöffel und Parmesanreibe so vor. Sie hielt sich bewusst zurück. Letztendlich war sie für dieses Essen ja nicht einmal angemeldet gewesen.

»Danke«, sagte sie automatisch, als ihr schließlich die Spaghettizange übergeben wurde.

»Bitte sehr«, kam es zurück, und sie bemerkte erst beim Klang der Stimme, wer ihr das Utensil gereicht hatte.

Ihre Blicke trafen sich kurz.

In den Augen der anderen stand eine gewisse Neugier, aber auch Zurückhaltung. Denise sah bewusst zu den Spaghetti. Sie hatte keine Lust, mit solch einer gnadenlosen Selbstdarstellerin auf Kuschelkurs zu gehen. Es reichte schon, wenn ihr Vater und das gesamte Team dieser Frau aus der Hand fraßen!

»Sag mal, was hast du eigentlich vorher gemacht, Denise … so heißt du doch, oder?«

Schneewittchen alias Eni wandte sich nun direkt an sie.

»BWL studiert«, gab sie zur Antwort, froh darüber, dass sie zumindest eine Qualifikation aufweisen konnte, die sie gewiss von den meisten hier im Raum abhob. Wer von diesen jungen Hüpfern mochte wohl ein Studium absolviert haben? – Wenn sie in diese faltenfreien, unverbrauchten Gesichter sah, ging sich das allein von der Anzahl der Pflichtsemester her nicht aus.

»Und abgeschlossen?«, erkundigte sich die Ostdeutsche, die, wie sie von anderen aufgeschnappt hatte, Anne hieß.

Den Mund voller Spaghetti, beließ es Denise bei einem bestätigenden Nicken.

»Hat wohl ganz schön lange gedauert, dieses BWL-Studium«, kam es nun gedehnt von der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Denises Kopf schnellte nach oben. Oscar, der Muskulöse, grinste sie provokant an. »Ich meine, du siehst zwar nicht aus wie eine verschrumpelte Rübe«, alle lachten bei diesem Ausdruck – alle bis auf Denise, »aber dass du keine zwanzig mehr bist, kann auch das beste Make-up nicht verbergen!«

Wieder lachten einige.

»Ach, Oscar, bist du aber wieder mal charmant«, zwitscherte Bastian.

Denise starrte den Kahlkopf noch immer an, während ihr Verstand auf Hochtouren arbeitete. – Auch wenn sie sich innerlich tief gekränkt fühlte, wusste sie ganz genau, dass ihre Reaktion auf diese bewusste Provokation für ihre zukünftige Azeptanz im Team entscheidend war.

Schließlich strich sie sich eine ihrer losen Haarsträhnen aus dem Gesicht und erwiderte mit mildem Lächeln: »Für jemanden, der dermaßen auf Muskelkraft steht, hast du eine bemerkenswert sensible Wahrnehmung.«

Oscars verdutztes Gesicht auskostend, setzte sie hinzu: »Tatsächlich dürften wir beide uns altersmäßig wohl wenig schenken – den Fakt, dass deine Gesichtscreme nicht allzuviel taugt und du das Wort Hyaluronsäure vermutlich erst googeln musst, bereits berücksichtigt.«

Ein paar Sekunden verstrichen, in denen lediglich das Geklapper des Bestecks zu hören war. Dann löste sich ein glucksender Laut aus der Kehle des Muskelprotzes, der in schallendes Gelächter überging. Einige der Kollegen stimmten ein.

»Ich glaube, wir werden viel Spaß miteinander haben, Prinzessin. Auf den Mund gefallen bist du jedenfalls nicht. – Aber jetzt ernsthaft: Was hast du vorher gemacht, und was hat dich in die Werbebranche getrieben?«

Denise beschloss, möglichst nahe an der Wahrheit zu bleiben. Die Lügengeschichte, zu der ihr Vater sie zwang, war schon unangenehm genug; es musste kein ganzes Märchenbuch daraus erwachsen.

»Ich bin nach Abschluss meines Studiums ins Ausland gegangen und war dort hauptsächlich als Event-Managerin tätig.«

Event-Managerin, das klang gut. Im Grunde war ja wirklich fast jeder Tag mit Astrid ein Event gewesen – so hatte sie gelernt, auf jede Überraschung gefasst zu sein, egal, ob positiv oder negativ. Zudem konnten die Partys, die sie für Astrids Geschäftsfreunde und Arbeitskollegen organisierte, durchaus als Events durchgehen.

»Und wo im Ausland?«, schaltete sich das Schneewittchen neugierig ein.

»L.A., New York, ansonsten Europa.«

»Da bist du ganz schön herumgekommen«, stellte Oscar fest. »Ich bin mir nicht sicher, ob du es in Wien lange aushalten wirst; die Stadt ist ja vergleichsweise eher traditionell und beschaulich.«

Na, da sind wir schon zwei, die sich nicht sicher sind, dachte Denise. Laut sagte sie: »Ich bin hier geboren und aufgewachsen und weiß also, was mich erwartet.«

»Tatsächlich?« Der Muskelmann klang überrascht. »Klingst gar nicht so wienerisch …«

»Tja, weißt du, so ein Auslandsaufenthalt bewirkt auch sprachlich wahre Wunder.« Sie lächelte ihr liebenswürdigstes Lächeln. »Das kann ich nur empfehlen!«

Er quittierte die Anspielung auf seinen deutlichen Tiroler Akzent mit erneutem Gelächter.

»Jenseits von Innsbruck ist für mich Ausland«, bemerkte er dann scherzhaft. »Aber erzähle doch mal von L.A.! Wie lebt es sich da so? Stimmt es, dass man an jeder Ecke auf einen Hollywood-Star trifft?«

Jetzt, da das Eis gebrochen war, ließ sich Denise gerne in ein lockeres Gespräch verwickeln. Als sie ihren Teller geleert hatte, waren mit jedem am Tisch ein paar Worte ausgetauscht – mit fast jedem. Ann-Kathrin oder Kathi, wie sie ja genannt wurde, hatte aus ihrem Desinteresse gegenüber frech parkenden Praktikantinnen kein Hehl gemacht.

Denise war es in diesem Augenblick egal. In den nächsten Wochen würde sie wohl mit Florian und den beiden anderen Grafikern zusammenarbeiten – was kümmerte sie schon Oscars Ersatzhantel?

Dass ihr Vater dieser Frau offensichtlich aus der Hand fraß, war seine Angelegenheit. Sie jedenfalls würde es nicht tun!

Nachbarinnen

Die schwere Türe des Altbaus öffnete sich mit dem üblichen leisen Quietschen. Zum wiederholten Male fragte sich Kathi, wann die Hausverwaltung sich endlich darum kümmern wollte, dass sie geölt wurde. Gemeldet hatte sie es jedenfalls nicht nur einmal, genauso wie die defekte Klingel.

Vor den Briefkästen blieb sie stehen. Um ihr Fach aufschließen zu können, musste sie erst die gefütterten Lederhandschuhe ausziehen. Sie sehnte sich schon jetzt nach der Zeit, in der sie auf Mütze, Schal und Wintermantel verzichten konnte. Der Winter war einfach nicht ihre Jahreszeit. Nicht nur, dass sie ständig fror, sobald sie ihre Wohnung verließ oder aus dem beheizten Auto stieg, auch die so früh hereinbrechende Dunkelheit setzte ihr zu.

Werbung, ein Schreiben ihrer Versicherung, die monatlich erscheinende Zeitschrift der Vinothek, bei der sie Kundin war. Viel war es nicht, was da im Briefkasten auf sie wartete.

Sie steckte die Umschläge in ihre Tasche und wollte gerade den Postkasten schließen, als sie die vertraute Stimme von Bogdana Duric hinter sich hörte.

»Oh, bist du da … so spät von die Arbeit wieder, schon nach acht Uhr …«

Kathi drehte sich zu ihr um, sich innerlich verwünschend, dass sie zu lange im Eingangsbereich des Hauses und damit direkt gegenüber von Bogdanas kleiner Parterrewohnung gestanden hatte. Es war nicht so, dass sie die rund zehn Jahre ältere, etwas füllige Serbin nicht mochte. Bogdana, die sie nicht anders kannte als in einem auffällig gemusterten Hauskleid und mit einem schwarzen Kopftuch, war stets freundlich und hilfsbereit und verfügte darüber hinaus über ein ganzes Netzwerk nützlicher Kontakte zu diversen Handwerkern, die gerne bereit waren, sich nach Feierabend noch ein paar Euro hinzuverdienen, wenn beispielsweise Kathis Abfluss wieder einmal verstopft war oder die Gastherme nicht richtig funktionierte.

»Elena ist verzweifelt, ganz verzweifelt.« Bogdana breitete in einer theatralischen Geste ihre Arme aus. »Sie weiß nicht mehr, was sie soll putzen in deine Wohnung! Sie alles schon gemacht – Fenster, Türen, Badezimmer mit Zahnbürste gereinigt, kannst du jetzt von Boden essen. Montag, Mittwoch, Freitag kommen … das ist zu viel, sagt Elena. Du bist nie da in die Wohnung und machst auch nicht die große Saustall wie andere!«

Auch die Putzfrau Elena hatte Bogdana ihr vermittelt – eine jüngere Cousine aus deren breit gefächerter Verwandtschaft, die vor knapp drei Jahren zu ihrem Mann nach Wien gezogen war und noch immer wenig Deutsch sprach. Bogdana fungierte daher stets als Vermittlerin zwischen Kathi und ihrer Reinigungsdame.

Diesmal, das spürte sie deutlich, dienten Elenas Putzprobleme jedoch nur als Gesprächsvorwand. Schließlich hatte sie bereits mehrmals betont, wie wichtig ihr ein blitzendes Badezimmer und ein glänzender Parkettboden waren. Und selbst wenn Elena hin und wieder nach nur einer Stunde mit der Arbeit fertig war – bezahlt wurde sie regelmäßig für die vereinbarten zweieinhalb Stunden; wo lag also das Problem?

»Irgendetwas wird Elena dann schon einfallen«, erwiderte sie knapp, den Blick zum Lift gerichtet. Sie hoffte, Bogdana auf diese Weise subtil zu vermitteln, dass sie jetzt nicht die Energie aufbrachte, sich mit ihr und ihrem Drama zu beschäftigen.

Seit Kathi vor knapp sieben Jahren hier eingezogen war, hatten sie unzählige Gespräche miteinander geführt. Gleich beim ersten Mal war die vom Schicksal gebeutelte Frau mit ihrer Geschichte herausgerückt: der Sohn, der im Alter von gerade einmal fünf Jahren von einem LKW überrollt worden war, die Tochter, die kurz nach der Geburt an Hirnhautentzündung erkrankt war und nun als Schwerbehinderte in einem Pflegeheim der Caritas versorgt wurde, der Mann, der das alles nicht mehr aushielt und sich schließlich zu Tode soff … Eine Weile war Bogdana dann Hausmeisterin gewesen, ehe die Hausverwaltung eine kostengünstigere Fremdfirma beauftragt hatte.

Kathi hatte Mitgefühl mit der Frau, die inzwischen trotz zweier Bandscheibenvorfälle in einer Großkantine als Abwäscherin arbeitete und der das Schicksal so übel mitgespielt hatte. Besser als wohl jeder andere Bewohner dieses Altbaus im Servitenviertel konnte sie nachvollziehen, mit welchem Frust und welcher Verzweiflung sich Bogdana täglich durchs Leben schleppte. Ein paar Mal war Kathi sogar in Versuchung gewesen, ihr im Gegenzug ihre eigene Geschichte zu erzählen, hatte es letztendlich jedoch immer sein lassen. Schlimmer noch als Bogdanas depressive Verstimmungen wäre das Mitleid zu ertragen, mit dem sie ihr künftig begegnen würde. Kathi wollte nicht bedauert werden, sondern endlich abschließen. Aber das gelang ihr laut Therapeutin gerade erst ansatzweise.

»Geht mir heute gar nicht gut«, begann Bogdana auch schon. »Trüber Himmel macht mich ganz fertig. War ich bei Mann auf Friedhof heute, habe ich ihm Kerze auf Grab gestellt … und mich nachher über mich selbst geärgert, weil ich die Hurensohn noch immer besuche, verstehst du?«

»Es ist halt nicht immer so einfach, loszulassen«, sagte Kathi, während sie hastig den Postkasten abschloss. »Sei mir nicht böse, Bogdana, aber ich bin in Eile. Ich muss in zehn Minuten an einer Telefonkonferenz teilnehmen und will mir vorher zumindest noch die Schuhe ausziehen und Hände waschen.«

Die Enttäuschung stand Bogdana ins Gesicht geschrieben, und Kathi fühlte sich augenblicklich schuldig. Sie hoffte inständig, dass die Frau zumindest jemand anderen fand, der sie über ihre Traurigkeit und Selbstzweifel hinwegtröstete.

Trotzdem war sie erleichtert, sich dem Gespräch entzogen zu haben, als sie Minuten später die Türe zu ihrer Wohnung im dritten Stock aufschloss.

Es roch leicht nach Honig und Bienenwachs – angenehme olfaktorische Begleiterscheinungen des Pflegemittels für den Parkettboden, mit dem sie Elena ausgestattet hatte. Kathi hängte den Mantel auf und entledigte sich ihrer Schuhe, dann ging sie in die Küche.

Mit einem Glas Wasser in der Hand wanderte sie in das geräumige Wohnzimmer und zog als Erstes die dunklen, bis zum Boden reichenden Vorhänge zu, ehe sie sich auf ihr ausladendes Sofa sinken ließ.

Was für ein Tag. Der Vormittag hatte abgesehen von der unliebsamen Parkplatz-Geschichte ja gut angefangen. Dann kam dieses Mittagessen, und spätestens danach war alles drunter und drüber gegangen: Ein aufgebrachter Kunde beschwerte sich wegen eines angeblich ohne seine Zustimmung in einem österreichischen Frauenmagazin platziertes Sujet. Dann beklagte sich eine Jugendliche bitter am Telefon, dass ihr Foto für eine Kampagne gegen Bulimie verwendet worden sei – und wollte trotz Kathis umfangreichen Erläuterungen einfach nicht verstehen, dass sie sich mit ihrer Beschwerde an die Fotoagentur wenden musste, die den Vertrag mit LOMART geschlossen hatte, nicht an LOMART selbst. Dann stürzte ihr Computer ab und mit ihm einer der PR-Texte für HCC, der sie ohnehin schon alle Mühe gekostet hatte.

Gewöhnlich fiel ihr das Texten leicht. Auch wenn es längt nicht mehr ihre Hauptaufgabe war, stammten die ersten Entwürfe für längere Advertorials bei Neukunden stets aus ihrer Feder. Doch an diesem Nachmittag war es ihr schwergefallen, einen knackigen Text zustande zu bringen, der die Vorzüge der in Kürze eröffnenden Therme in der Steiermark anpreisen sollte.

Die Sache mit Oscar lag ihr schwer im Magen. Natürlich, sie war sich bewusst darüber, dass ihr Kollege nichts Böses im Sinne gehabt hatte, als er sie wie ein Gepäckstück in luftige Höhen hob. Doch was ihr Verstand klar erfasste, kam in ihrem Unterbewusstsein noch lange nicht an.

Die Schockstarre, die sie augenblicklich befallen hatte, saß ihr auch jetzt noch tief in den Knochen. Dabei war sie sich so sicher gewesen, dass sie die Phase, in der unvorbereitete Berührungen einem Horrortrip glichen, inzwischen überwunden hatte. Blieb nur zu hoffen, dass die Kollegen ihre Anspannung als bemerkenswerte Körperkontrolle gewertet hatten.

Wieder ein Rückfall, wieder eine Ernüchterung. Die Therapiestunde bei Christa Müller, von der sie seit dem Vorfall von damals betreut wurde, hatte ohnehin auf dem Tagesplan gestanden. Im Grunde war es ihr lästig, zweimal die Woche bei der Müller auf dem Sofa zu sitzen, weil sie längst nicht mehr das Gefühl hatte, dass dieses regelmäßige Herumstochern in der Vergangenheit sie weiterbrachte. Die Müller sah das anders.

Zumindest gab es bei dieser Sitzung etwas zu erzählen. Gewöhnlich musste sie sich mögliche Gesprächsthemen mittlerweile aus den Fingern saugen. Dennoch mündete alles regelmäßig in der Vergangenheit, riss den zarten Schorf von alten Wunden, die nicht zuheilen wollten, und wühlte sie auf.

Sie müsse offener mit Kollegen sein – oder zwischen ihnen und sich klare Grenzen ziehen, so lautete das Fazit der Seelenklempnerin. Auf der einen Seite zu scherzen und selbst körperlich zu werden, andererseits aber die selbst herbeigeführte Nähe nicht zu verkraften, sei nicht zielführend.

Jetzt, in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers, ließ Kathi die Empfehlung erstmals richtig sacken. Das Letzte, was sie wollte, war, die Unnahbare zu mimen. Oscar, Florian und die meisten anderen bei LOMART waren nicht irgendwelche Kollegen, sondern Leute, die sie wirklich mochte. Dennoch mussten sie nicht alles über sie wissen. Warum wollte das die Müller nicht kapieren?

Das Schrillen der Türklingel riss sie aus ihrem Trübsinn.

»Habe ich mich also nicht getäuscht. Du bist zu Hause!« Die Frau mit dem zerzausten blonden Lockenkopf, die in Jogginghose und Schlabberpulli vor ihr stand, strahlte sie an.

»Wie du siehst …«

Anders als zuvor bei Bogdana, besserte sich Kathis Stimmung schlagartig. Lisa hatte seit jeher die Gabe, im richtigen Moment aufzutauchen und sie vor emotionalen Abgründen zu bewahren. Es war fast so, als hätte sie einen siebten Sinn dafür.

»Karen und ich haben gerade eine Flasche Merlot geöffnet, und wir dachten, es wäre nett, wenn du auf einen Sprung zu uns kommst. Es ist schon viel zu lange her, dass wir miteinander geplaudert haben.«

»Ja, genau eine Woche …«

»Sag ich doch!« Der Lockenkopf grinste verschmitzt. »Viel zu lange. – Also, was ist?«

»Gib mir eine Viertelstunde. Ich würde noch gern unter die Dusche und mir etwas Bequemeres anziehen.«

»Fünfzehn Minuten und keine Sekunde später! Und bring eine Packung dieser köstlichen Pralinen mit, wenn du noch hast!«

»Mhmmm, ich könnte mich ausschließlich von diesen Schokodingern ernähren!«

Gerade erst war die Packung auf den Tisch gestellt worden, schon verschwand die dritte Praline in Lisas Mund.

»Lieber nicht«, kam es von rechts. Karen, Lisas Lebensgefährtin, befüllte drei Rotweingläser. »Es reicht ja schon, wenn ich die übergewichtigen Kinder in meiner Schule ständig davon abhalten muss, in den Pausen nur Süßes in sich hineinzustopfen. Von meiner Frau erwarte ich schon mehr Eigenverantwortung, was ihre Gesundheit anbelangt!«

»Mhmmm, aber die sind so guuuuuut! Ich bin süchtig!«

Unbeeindruckt von den Worten der schlanken Brünetten, mit der sie seit über zehn Jahren ihr Leben teilte, schob sich Lisa die nächste Praline in den Mund – und kassierte von Karen einen finsteren Blick.

Kathi, auf deren Schoß bereits Gini, die Perserkatze ihrer Freundinnen, schnurrte, ergriff spontan für die Schokoladenliebhaberin Partei. Sie wusste aus Erfahrung, dass Karens Toleranz für Lisas kleine Ausschweifungen tatsächlich nicht besonders ausgeprägt war.

»Reg dich nicht auf, Karen, es ist ohnehin die letzte Packung. Mein DEMEL-Vorrat ist danach zu Ende.«

Karen reichte den beiden anderen jeweils ein Glas und nahm auf dem Polstersessel gegenüber der Couch Platz.

Der Merlot schmeckte leicht nach Waldbeeren und hinterließ einen interessanten Nachgeschmack. Mokka, tippte Kathi spontan, verzichtete aber darauf, ihre Wahrnehmung kundzutun. Anders als Karen, die auf einem Winzerhof im Burgenland aufgewachsen war, hatte sie keine fundierten Kenntnisse von Wein.

»Ich finde das so cool von DEMEL, dass die euch so großzügig mit Pralinen beliefern, nachdem ihr dieses Sujet für sie entworfen habt. Hätte ich diesem k&k-Zuckerbäcker gar nicht zugetraut.«

Lisa fischte sich die fünfte Praline aus der knisternden Hülle.

»Na, insgesamt hat sie das schon noch mehr gekostet. Wir haben uns aber ziemlich hineingekniet. Die Schokos waren ein zusätzliches Dankeschön, dass sie so eine riesige Publicity bekamen, als wir dafür diesen Werbepreis gewannen«, stellte Kathi klar. »Aber natürlich hast du recht. Es war sehr großzügig.«

»Jedenfalls hast du den allerbesten Job der Welt!«

»Noch dazu einen, der dich wohl in den nächsten Jahren in die Position einer Geschäftsführerin heben wird.«

Anerkennung schwang in Karens Tonfall mit.

Kathi stieß einen leisen Seufzer aus und nahm einen tiefen Schluck Rotwein.

Wenn es doch so einfach wäre …