Die Leben der Elena Silber - Alexander Osang - E-Book
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Die Leben der Elena Silber E-Book

Alexander Osang

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Beschreibung

Fünf Generationen zwischen Deutschland und Russland: Alexander Osang schreibt den Roman des 20. Jahrhunderts. Russland, Anfang des 20. Jahrhunderts. In einer kleinen Provinzstadt östlich von Moskau wird der Revolutionär Viktor Krasnow hingerichtet. Wie eine gewaltige Welle erfasst die Zeit in diesem Moment Viktors Tochter Lena. Sie heiratet den deutschen Textilingenieur Robert Silber und flieht mit diesem 1936 nach Berlin, als die politische Lage in der Sowjetunion gefährlich wird. In Schlesien überleben sie den Zweiten Weltkrieg, aber dann verschwindet Robert in den Wirren der Nachkriegszeit, und Elena muss ihre vier Töchter alleine durchbringen. Sie sollen den Weg weitergehen, den Elena begonnen hat zu gehen – hinaus aus einem zu engen Leben, weg vom Unglück. Doch stimmt diese Geschichte, wie Elena sie ihrer Familie immer wieder erzählt hat? Mehr als zwanzig Jahre nach Elenas Tod, macht sich ihr Enkel, der Filmemacher Konstantin Stein, auf den Weg nach Russland. Er will die Geschichte des Jahrhunderts und seiner Familie verstehen, um sich selbst zu verstehen.

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Seitenzahl: 732

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Alexander Osang

Die Leben der Elena Silber

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]Die MännerDie Frauen1 Gorbatow, Russland2 Berlin, Deutschland3 Gorbatow, Russland4 Berlin, Deutschland5 Rescheticha, Russland6 Berlin7 Moskau8 Berlin9 Leningrad10 Berlin11 Berlin12 Sorau13 Zary, Polen14 Sorau, Schlesien15 Berlin16 Sorau, Schlesien17 Berlin18 Pirna19 Berlin20 Berlin21 Berlin22 Berlin23 Deutschland24 Moskau25 Russland26 Berlin27 Berlin28 Berlin[Stammbaum][Landkarte]

Für Abi und ihre Töchter

Agnes, Charlotte, Anneliese, Claudia und Barbara

Ich habe über mein Leben nachgedacht … Herr Jesus Christus! Wozu habe ich denn eigentlich gelebt! Schläge … Arbeit … Ich sah nichts als nur meinen Mann, kannte nichts als nur Furcht.

Maxim Gorki, Die Mutter

 

Now those memories come back to haunt me

They haunt me like a curse

Is a dream a lie if it don’t come true

Or is it something worse

Bruce Springsteen, The River

 

Nichts ist so unvorhersehbar wie die Vergangenheit.

Sowjetischer Spruch

Die Männer

Viktor Krasnow, Seiler (1877–1905)

 

Robert Friedrich Silber, Ingenieur (1895–?)

 

Egon Barthel, Kellner, Parteisekretär, Kellner (*1933)

 

Claus Stein, Regisseur (*1934)

 

Juri Silber, Sprachkundler, Bürobote (*1962)

 

Konstantin Stein, Filmemacher (*1973)

 

Theodor Luchs, Schüler (*2004)

Die Frauen

Sina Krasnowa, Hausfrau (1879–1960)

 

Elena Silber, Sekretärin, Dolmetscherin (1902–1995)

 

Lara Barthel, Lehrerin (1935–1986)

Vera Silber, Ärztin (*1936)

Maria Stein, Fotografin (*1937)

Katarina Silber, Gärtnerin (*1941)

Anna Silber (1942–1944)

 

Natascha Barthel, Kindergärtnerin (*1967)

 

Felicitas Barthel, Krankenschwester (*1990)

1Gorbatow, Russland

Februar 1905

Sina Krasnowa schob die letzten Scheite in den Ofen, als sie draußen in der Stadt ihrem Mann einen Holzpfahl in die Brust schlugen. Pawel hockte auf der Ofenbank, Jelena stand an der Tür und wartete, dass ihr Vater endlich zurückkam. Sina Krasnowa trat gegen den leeren Korb.

»Mama?«, fragte Pawel.

»Wir haben kein Holz mehr«, sagte sie. »Und keinen Mann im Haus.«

»Ich gehe schon«, sagte der Junge und kletterte vom Ofen.

»Es ist seine Aufgabe«, sagte die Mutter und hob den leeren Korb wie eine Trophäe.

»Papa hat wichtigere Aufgaben«, sagte Pawel und streckte seinen Arm nach dem Korb. Die Mutter hielt den Korb fest, als friere sie lieber, um später überzeugender keifen zu können.

»Gib mir den Korb«, sagte Pawel.

»Es gibt nichts Wichtigeres als die Familie«, sagte Sina Krasnowa, ließ aber den Korb los.

Pawel nahm den Korb und ging zur Tür, vor der seine kleine Schwester stand, um den Vater als Erste begrüßen zu können. Er tippte sie an die Schulter. Aber sie wich nicht.

»Lenotschka«, sagte Pawel.

Sie sah ihn an. Ernst. Er lächelte.

»Ich muss Holz holen«, sagte er.

»Ich helfe«, sagte Jelena.

»Es ist kalt«, sagte Pawel.

»Ich hole meinen Schal«, sagte Jelena.

»Die Mütze, Lena«, rief Sina Krasnowa.

Die beiden Kinder traten auf den kleinen Hof. Die eisige Luft schnitt ihnen ins Gesicht. Die Kälte stieg vom Fluss auf. Pawel war neun, Jelena zweieinhalb. Sie gingen zum Stall, wo das Gestell stand, an dem der Vater seine Seile flocht. Er nannte es: die Maschine. Pawel hielt seine Schwester an der Hand. Seine Hände waren groß und warm. Jelena mochte Paschas Hände, fast so sehr, wie sie die Hände ihres Vaters mochte. Es war kalt, aber sie fühlte sich besser jetzt, hier draußen mit ihrem großen Bruder.

Pawel öffnete die Stalltür. Es war nur ein kleiner Stall, früher hielten ihre Großeltern hier Ziegen und ein Schwein. Diese Zeiten waren vorbei, sagte ihr Vater. Die Mutter dagegen beklagte oft, dass er das Schwein und die Ziegen verkauft hatte, um Platz für die Maschine zu haben. Seile kann man nicht essen, sagte Sina Krasnowa. Es war der Stall ihrer Eltern gewesen. Sie war mit den Tieren groß geworden. Sie glaubte nicht an die neuen Zeiten. Pawel schon, er redete oft mit dem Vater über die Zukunft. Über die führende Rolle, die die Arbeiterschaft dort spielen würde. Die Arbeiter waren wichtiger als die Bauern. Es ging um Maschinen, nicht um Ziegen. In der Zukunft.

Lena mochte die Maschine ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen. Sie saß oft hier, hielt das Seil, half dem Vater. Sie half gern.

In der Ecke gegenüber der Maschine lag das Holz. Pawel füllte den Korb. Er gab auch Lena ein paar Scheite, die sie auf den Haufen legen konnte. Dann nahm er das Beil und spaltete noch ein dickes Stück. Es war nicht nötig, aber er mochte es. Lena legte die kleinen Stücke zu den anderen. Sie hörte den Schuss nicht, mit dem sie den Arzt töteten, der sich vor ihren schwerverletzten Vater stellte. Sie hörte die Schreie des Mobs nicht und sah auch die Fackeln nicht. Gorbatow war keine große Stadt, genau genommen war es die kleinste Stadt Russlands, aber ihr Haus stand ganz am Rand, auf dem Hang, der sich zum Fluss neigte, zur Oka. Die Straße, auf die sie ihren Vater schleiften, wo sie ihn pfählten und in seinem Blut liegen ließen, befand sich in der Mitte der Stadt.

Es war der Vorsprung, den sie hatten.

Als die beiden Kinder zurück auf den Hof traten, spürten sie, dass etwas Schreckliches passiert war. Ihre Mutter stand dort mit Pjotr Iwanow, einem Freund des Vaters. Pjotr Iwanows Brust hob und senkte sich schnell, Atemwolken stoben aus seinem Mund wie aus dem Maul eines erschöpften Pferdes. Sina Krasnowa sah zu ihren Kindern, und in ihrem Gesicht mischte sich Schrecken mit Entschlossenheit. Sie weinte nicht, sie hatte, so erklärte sich Lena das später, keine Zeit für Tränen. Die Mörder würden bald kommen. Sie wollten niemanden zurücklassen, der später den Tod des Vaters rächte.

»Schnell«, rief ihre Mutter. Dann bekreuzigte sie sich. Dreimal.

*

Es war der Moment, in dem eine neue Zeit anbrach. Sie rollte an wie eine dunkle, wütende Welle und riss sie alle mit. Sina Krasnowa, Pawel, am heftigsten aber traf sie Jelena, Lena, Lenotschka. Sie war zweieinhalb Jahre alt. Die Welle trug sie durch ein ganzes Jahrhundert, Jelena ritt ganz oben, dort, wo der Schaum war.

Wenn Jelena später gefragt wurde, was die erste Erinnerung ihres Lebens war, sagte sie: Die Kreuze, die meine Mutter schlug, als mein Vater starb.

Das war eine Lüge, natürlich.

2Berlin, Deutschland

Juni 2017

Seine Mutter hatte in der Stunde, die Konstantin Stein von Wien nach Berlin geflogen war, viermal angerufen. Viermal. Sie hatte keine Nachricht hinterlassen, das machte sie nie. Drei weitere Male rief sie an, als er am Gepäckband auf seinen Rollkoffer wartete. Das Handy summte an seinem Bein, als habe er eine Hummel in der Hosentasche. Er rief sie zurück, als er im Taxi saß.

»Was ist denn?«, fragte er.

»Wo bist du?«, fragte sie.

Zwei Fragen. Die klassische Eröffnung.

»Ich war in Odessa«, sagte er.

»Odessa«, rief seine Mutter. Sie sang es fast. Odääässsa.

Sie sprach kein Russisch, und sie war, soweit er wusste, auch nie in Odessa gewesen. Sie spielte eine Osteuropäerin, weil sie glaubte, es verleihe ihr mehr Seele. Er hätte dieses Fass öffnen können, hatte aber keine Lust und keine Kraft dazu. Er hatte vier Stunden Aufenthalt in Wien gehabt. Er hatte das Finale der French Open auf seinem Handy gesehen. Nadal ließ Wawrinka keine Chance. Wawrinka hatte all seine Kraft im Halbfinale gegen Murray gelassen. Das Halbfinale hatte er noch in Odessa gesehen, wo er sich für vierneunundneunzig ein Monatsabo des Eurosport-Players gekauft hatte. Aus Recherchegründen, wie er sich einredete. Diese hoch abspringenden Topspin-Bälle von Nadal auf die Rückhand zermürbten Wawrinka. Konstantin fühlte, wie er müder und müder wurde. Wie er selbst. Eine Folter eher als ein Tennisspiel.

»Ja«, sagte er.

»Wusstest du, dass Eisenstein dort seinen Panzerkreuzer gedreht hat?«

»Mmmh«, machte Konstantin. Es ärgerte ihn, wie seine Mutter »seinen Panzerkreuzer« sagte, als sei sie bei den Dreharbeiten dabei gewesen. Er war sich nicht mal sicher, dass sie den Film gesehen hatte. Außerdem fragte er sich, ob der Taxifahrer Umwege fuhr.

»Die Studios in Odessa waren weltberühmt. Noch vor Hollywood«, sagte seine Mutter.

»Fahren wir über Torstraße oder Bernauer?«, fragte Konstantin den Fahrer.

»Beides, Scheff«, sagte der Fahrer.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte seine Mutter.

»Ich habe mit dem Fahrer geredet«, sagte Konstantin.

»Du musst lernen, dass auch andere wissen, was sie tun«, sagte seine Mutter. »Stand schon in deiner Zeugnisbeurteilung. Vierte Klasse.«

»Fünfte.«

»Genau das meine ich«, sagte seine Mutter.

Konstantin fiel immer wieder auf sie herein. Dass er sich überhaupt an die Beurteilung erinnern konnte, war bedenklich.

Er sah aus dem Fenster. Männer in Unterhemden und Jogginghosen lehnten an Autos, verschleierte Frauen, Kinder auf Dreirädern, die aussahen wie kleine Formel-eins-Autos. Er wollte nicht Scheff genannt werden. Ein Wunsch, den man schwer aussprechen konnte. Nicht in diesem Taxi, nicht in dieser Gegend, schon gar nicht, wenn seine Mutter zuhörte, die größte proletarische Internationalistin von Berlin-Pankow, wo es vor proletarischen Internationalisten nur so wimmelte. Er sehnte sich nach Odessa zurück. Heute Vormittag hatte er noch im Schwarzen Meer gebadet. Es war klar gewesen und kalt. Die Leute am Strand erinnerten ihn an seine Kindheit.

»Weshalb hast du mich angerufen?«, fragte er.

»Bitte?«

»Ich hatte sieben Anrufe auf meinem Handy.«

»Sieben?«

»Ja.«

»Da siehst du mal, wie wichtig mir das ist.«

»Was?«, fragte Konstantin.

»Dein Vater.«

Draußen erschienen die Bayer-Werke. Hinter der Fabrik gab es am Wasser, am Rande einer dieser Townhaus-Siedlungen, die in Berlin wie Pilze aus dem Boden schossen, eine kleine Tennisanlage, auf der er Bogdan beobachtet hatte, als der einen Direktor der Chemiefabrik trainierte. Eins dieser sechzigjährigen Testosteron-Monster, die Bogdan mit derselben Gelassenheit ertrug wie die verzogenen Kinder am Jahn-Sportpark. Das Taxameter stand bei siebzehn Euro.

»Bist du noch da?«, fragte seine Mutter.

»Ja«, sagte er.

»Wir haben einen Heimplatz gefunden«, sagte sie.

»Ihr geht ins Heim?«, fragte er.

»Dein Vater«, sagte sie. »Wir haben einen Platz in dem Heim gefunden, das wir uns immer gewünscht haben.«

»Ihr?«

»Ja.«

»Aber nur er geht?«

»Es ist ganz in der Nähe. Am Bürgerpark.«

»Babas Heim?«

»Ja, aber es ist nicht wiederzuerkennen. Und er hat ein Einzelzimmer. Mit Blick auf den Park. Ich habe das mit Herrn Breitmann so durchgesprochen«, sagte sie. Sie jubelte, was nie ein gutes Zeichen war.

»Wer ist denn Herr Breitmann?«, fragte er.

»Der Heimleiter. Ein wunderbarer Mann. Papa und er werden sich gut verstehen.«

»War nicht immer der Plan, dass ihr gemeinsam geht?«

»Man kann ein Leben nicht planen. Die Krankheit hat ja kein System. Sie ist nicht gerecht. Man muss handeln, bevor sie uns beide zerstört. Unser Verhältnis. Unsere Beziehung.«

»Wer sagt denn das? Die Apotheken-Rundschau?«

»Diese Plätze in guten Heimen sind Gold wert. Und wenn du uns einen Gefallen tun willst, dann unterstütze uns auf diesem Weg«, sagte seine Mutter.

»Euer Weg?«, sagte er. »Es ist dein Weg. Es ist immer nur dein Weg.«

Der Taxifahrer musterte ihn im Rückspiegel. Wahrscheinlich war er zu laut geworden. Sie fuhren die Chausseestraße entlang. Je wütender er wurde, desto gelassener wurde seine Mutter. So war es immer. Sie redete ihn in seine Wut hinein wie in eine Schuld.

»Das Gute ist, ich kann deinen Vater jeden Tag besuchen. Es ist ja praktisch um die Ecke. Und du hast es auch nicht so weit«, sagte sie.

Er atmete ein. Und aus. Und ein. Und aus.

»Was sagt denn Papa?«

»Ich geb ihn dir mal«, sagte seine Mutter.

»Was gibt’s?«, fragte sein Vater.

»Willst du wirklich in das Heim?«, fragte Konstantin.

»Gute Heime sind Gold wert«, sagte sein Vater. Vielleicht war das ironisch gemeint, vielleicht auch nicht. Im Hintergrund redete seine Mutter weiter. Er verstand nur Breitmann und Parkblick.

»Ja, aber willst du?«, fragte er.

»Darum geht’s doch nicht«, sagte sein Vater.

»Nur darum geht’s.«

»Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit«, sagte sein Vater.

Es war ein Spruch. Er hangelte sich an Sprüchen durch den Nebel. Friedrich-Engels-Zitate waren eher die Ausnahme. Meistens waren es Dinge, die er in der Werbung aufschnappte. Geiz ist geil. Wer wird denn gleich in die Luft gehen. Ich soll Sie schön grüßen. Wenn einem so viel Gutes wird beschert. Er sagte: Wild ist der Wind mit Anna Magnani. Er sagte: Wir haben immer noch Paris. Er sagte: Ich liebte ein Mädchen auf dem Mars. Er sagte: Jeder Mann an jedem Ort, einmal in der Woche Sport.

Konstantin hatte mit seinem Vater seit langem kein ernsthaftes Gespräch geführt. Sie machten Witze. Sie bewarfen sich mit Zitaten. Es war ihre Art, mit dem Vergessen umzugehen, das seine Mutter »die Krankheit« nannte.

Vor etwa zehn Jahren hatte sein Vater angefangen, Dinge zu sehen, die niemand anderes sah. Manchmal erschienen blonde Mädchen im Wald, manchmal fand unter seinem Fenster ein Fußballspiel statt, das nur er wahrnehmen konnte. Vor etwa fünf Jahren begann er, sich zu verfahren. Der Verkehr schien ihn zu überfordern. Es passierten zu viele Dinge gleichzeitig. Seine Frau war eine nervöse Beifahrerin. Er gab seinen Führerschein ab und verkaufte das Auto. In großen Familienrunden schaltete er ab, sein Kinn sackte, sein Mund stand offen, sein Blick wurde trübe. Seine Frau begann, für ihn zu sprechen, Fragen zu beantworten, die ihm gestellt wurden. Sie trat ihn unauffällig unterm Tisch. Sie sagte Einladungen ab. Sie begann, sich für Alzheimerfilme zu interessieren. Es gab da erstaunlich viel. Ein richtiges Genre. Sie sah Christiane Hörbiger, Klaus Maria Brandauer und Didi Hallervorden beim Vertrotteln zu, während ihr Mann aus dem Fenster schaute und die Vögel beobachtete. Sein Vater war ein bekannter Tierfilmer gewesen, sein letzter Film lag fünfzehn Jahre zurück. Er hatte den Weg eines Fuchses nach Berlin beschrieben. »Reineke zieht in die Stadt«. Ein Achtungserfolg. Ein bisschen unkonzentriert, hatten die Kritiker geschrieben, wahrscheinlich hatte »die Krankheit« bereits an ihm genagt.

Seitdem arbeitete er an einem Projekt über die Veränderung der Vogelwelt in Berlin. Was genau das bedeutete, ließ er im Unklaren. Er hatte sich die Haltung bewahrt. Mama sieht ihren Demenzkitsch, sagte er am Telefon, wenn seine Frau nebenan im Wohnzimmer Julianne Moore als alzheimerkranke Professorin bestaunte. Sie schleppte ihn zu Ärzten, die ihn Fragebögen ausfüllen ließen und sein Gehirn scannten. Pausenlos musste er Uhren aufmalen. Es war kein Problem für ihn, eine Uhr aufzumalen. Es gab aber irgendwelche Veränderungen auf seinen Gehirnbildern, weiße Stellen, erklärte seine Frau zu Weihnachten vor der gesamten Familie so stolz, als sei es ihr Verdienst, als hätte sie die weißen Löcher im Kopfkosmos ihres Mannes entdeckt wie eine Astronomin. Ihre Schwester, seine Tante Vera, die Ärztin war, wenn auch Gastroenterologin, nickte ernst.

Sein Vater saß immer mit am Tisch. Nachsichtig lächelnd. Er ertrug es, das ständige Gerede. Er rannte nicht nackt in die Kaufhalle, aber manchmal kehrte er von seinen Vogelbeobachtungen lange nicht zurück. Seine Mutter rief dann Konstantin an, drängelte am Telefon, wollte eine Vermisstenmeldung bei der Polizei aufgeben. Rief immer wieder bei ihm an. Meistens kam sein Vater während eines dieser Telefonanrufe zur Tür herein. Lächelnd, so stellte sich Konstantin das vor. Was gibt’s? Warum so aufgeregt? Seine Mutter legte dann einfach den Hörer auf. Mitten im Gespräch. So beendete sie auch Gespräche mit Kollegen, mit Verehrern, wenn sie das Interesse an ihnen verlor. Sie legte auf. Sie zog sich den Mantel an. Sie schloss die Tür. Sie ging grußlos.

Es gab gute und es gab schlechtere Tage im Leben seines Vaters. Manchmal erzählte er zwei Geschichten in einer. Manchmal wanderte ein Ereignis zwanzig Jahre nach vorn oder zurück. Er hatte Probleme, sich in der Zeit zu orientieren und in der Stadt. Die Leute, die seine Filme verhindert hatten, waren wichtiger als früher, präsenter, gleichzeitig schien er sie nicht mehr so ernst zu nehmen. In den frühen achtziger Jahren hatte er einen Film über Luchse in einem polnischen Naturschutzgebiet gedreht, der verboten wurde, weil er als Solidaritätsbekundung zum Danziger Arbeiteraufstand missverstanden worden war. Er hatte vier Jahre mit polnischen Luchsen gelebt, und manchmal schien es, als habe er sie nie verlassen. Er hatte ihnen Namen gegeben, Pan, Slawa, Wojtek, Tomek. Es waren die Namen, die er am häufigsten nannte, zusammen mit denen des Filmministers und dessen Stellvertreters. Er weinte schnell, und man wusste nicht genau, warum. Aber er vergaß keinen Namen.

»Es gibt nichts Schlimmeres, als das Wort Tisch umschreiben zu müssen«, sagte sein Vater gern. »Weißt du, wer das gesagt hat?«

Die Antwort war: Buñuel. Konstantin hatte sie zigmal gegeben.

Das Leben mit seinen Eltern war ein Film-Quiz. Seine Kindheit und Jugend, die Autofahrten in die Ferien waren wie die anspruchsvolle Variante der Sendung »Kennen Sie Kino?«. Buñuel, Truffaut, Visconti, Lang. Ihm fiel ein, dass die Treppe, die der Kinderwagen in Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« herunterrollt, in Odessa war. Welcher Szene aus »Panzerkreuzer Potemkin« hat Brian de Palma in »Die Unbestechlichen« seine Referenz erwiesen, Kostja? Die berühmte Treppe war er vorgestern zum Meer hinabgestiegen. Zu spät.

»Wann soll das denn passieren?«, fragte Konstantin jetzt seinen Vater am Telefon.

»Maria, der Junge fragt, wann ich umziehe?«

»Donnerstag, Claus«, rief seine Mutter.

»Donnerstag«, sagte sein Vater.

»Das ist übermorgen.«

»Wenn du das sagst«, sagte sein Vater.

»Ich komme sofort vorbei«, sagte Konstantin.

»Musst du aber nicht«, sagte sein Vater.

»In ’ner Viertelstunde bin ich da.«

Er sagte dem Fahrer eine neue Adresse. Am Schlosspark 4.

»Klaro, Scheff«, sagte der Fahrer.

*

Sie fuhren die Schönhauser Allee nordwärts, er dachte an seine Besuche bei seiner Oma Lena. Sie nannten sie Baba, weil es angeblich das erste Wort war, das sein Cousin Juri als Baby in ihren Armen gesprochen hatte. Die S-Bahnfahrten nach Pankow, die Mauerhunde nach der Station Schönhauser Allee, der Eisstand am S-Bahnhof, das weiche Sahneeis, das sie auf die Erdbeerkugel strichen. Der Geruch im Heim, bitter, seifig und alt. Die einzige Farbe, die er vor Augen hatte, war Gelb, ein grünliches Gelb. Seine Großmutter hatte ihr Zimmer teilen müssen. Die Frauen an ihrer Seite waren gestorben oder verrückt geworden, ihre Namen musste man sich nicht merken. Manchmal kam er, und da lag eine neue Frau im Nachbarbett. Es war seine erste Begegnung mit der Vergänglichkeit, auch mit der Vergeblichkeit. Auf dem Nachttisch seiner Oma stand das Bild ihres Mannes, seines Großvaters, den er nie kennengelernt hatte. Ein Mann, um den sich Legenden rankten. Es war seltsam unangemessen, diesen geheimnisvollen, verschwundenen Mann so nah bei den wechselnden Frauen zu sehen, mit denen seine Oma ihr Zimmer teilen musste. Seine Großmutter war eine sehr diskrete Person gewesen, soweit er das einschätzen konnte. Im Heim musste sie ihre Privatsphäre aufgeben. Der einfachste Weg, das zu ertragen, war der Irrsinn. Sie tauchte ins Vergessen wie in ein warmes Bad. Es dauerte nicht lange, da erkannte sie ihn nicht mehr.

»Und wer sind Sie, junger Mann?«, hatte sie ihn dann gefragt.

»Kostja, dein Enkelsohn«, hatte er jedes Mal geantwortet.

Sie lächelte. Er lächelte.

Dann wurde sie ernst, ihr Blick verfinsterte sich, entspannte sich, wurde klarer, wässriger, heller, ihre Augenfarbe veränderte sich wie das Meer bei wechselndem Wind und Licht.

Dann fragte sie: »Und wer sind Sie, junger Mann?«

*

Sein Vater öffnete die Tür. Sein Pullover war bekleckert, seine Frau machte ihn nicht mehr darauf aufmerksam. Jeder Fleck war ein Argument für die Überforderung. Konstantin umarmte seinen Vater, roch sein Rasierwasser, spürte seine Knochen. Er wurde immer dünner, ein vogelhaftes Wesen. Er aß das, was ihm seine Frau vorsetzte. Es waren in letzter Zeit vor allem Salate, Körner, Samen, Kräuter, Tees. Sie hatte »die Krankheit« zunächst mit einer Diät bekämpft, die sie ursprünglich entwickelt hatte, um eine eigene Demenz abzuwehren. Ihre Mutter, seine Oma Lena, Baba, war eine dicke Frau gewesen, spezialisiert auf Speisen, in denen sich viel Mehl und Butter befanden. Die ungesunde Ernährung hatte sie schließlich in den Wahnsinn getrieben, so ging die Theorie seiner Mutter. Als sein Vater vor etwa zehn Jahren den ersten Luchs in ihrer Wohnung sah, Tomek, räumte seine Frau den Kühlschrank aus. Sie hatte verschiedene Kräuterkurse besucht und wohl auch mit dem Gedanken gespielt, Veganerin zu werden, sich aber dagegen entschieden, weil sie nicht das Spiel mitspielen wollte, das die neuen Bewohner ihres Stadtbezirkes spielten. Die Welt seiner Mutter war von widersprüchlichen Dämonen bevölkert. Sie hasste die Grünen, obwohl sie eigentlich eine Grüne war.

Sein Vater schloss die Wohnungstür, wartete im Korridor, unsicher, wohin die Reise von hier aus gehen sollte.

»So«, sagte er schließlich.

»Geht schon mal ins Wohnzimmer«, rief seine Mutter aus der Küche. »Ich mach Kaffee.«

Konstantin schob seinen Vater an der spitzen Schulter den Flur hinunter. Ein Blick ins Zimmer seiner Mutter, das peinlich aufgeräumt war. Zwei schmale Hellerau-Regale, die mit den wenigen Büchern gefüllt waren, die sie noch für wichtig hielt. Camus, Sartre, Miller, Kafka, Faulkner und zur Entspannung Dürrenmatt und B. Traven. In den Büchern hatte sie ihren Namen notiert, den Mädchennamen, Maria Silber, und eine Jahreszahl. Alles vor seiner Zeit. Sie musste in ihrer Jugend eine eifrige Leserin gewesen sein. Konstantin hatte sie kaum lesen sehen. Sie hatte genäht, gemalt und fotografiert, als er ein Kind war. Sie war nie eine Sammlerin gewesen, aber in letzter Zeit verschenkte sie ihren Hausrat, die unwesentlichen Bücher, die Fotoalben, die Bilder, sogar das Geschirr, so als bereite sie sich auf eine Reise vor, die sie nur mit Handgepäck antreten konnte. Nicht nur das Essen sollte leichter werden. Auf dem kleinen Sekretär lag ein Stapel Unterlagen, irgendetwas, was sie durchrechnete. Sie rechnete ihre Finanzen durch, solange er denken konnte. Ein paar Meter weiter lag das Arbeitszimmer seines Vaters, das sich in den letzten Jahren immer mehr in ein Kinderzimmer verwandelt hatte. Tierbilder an der Wand und ein paar Zeichnungen seines Enkelsohnes Theo, ein Mikroskop, ein Fernglas, im Bücherstapel auf dem Nachttisch eine Ausgabe von Urania Tierreich, ein Lexikon, das Konstantin durch seine Kindheit begleitet hatte. Es war der Band »Vögel«. Die Schlafzimmertür war verschlossen, im Wohnzimmer standen nur noch ein Tisch, eine Couch und eine Vitrine, die mit ein paar Gläsern gefüllt war, an der Wand gegenüber der Couch hing ein Flachbildfernseher und über der Couch ein großformatiges Schwarzweißfoto, das seine Mutter vor vielen Jahren im Volkspark Friedrichshain aufgenommen hatte. Ein Junge in einem karierten Pullover, der einen Drachen in einen wolkenverhangenen Berliner Himmel steigen lässt. Konstantin hatte lange geglaubt, dass er der Junge auf dem Foto war, aber es war nur ein Berliner Junge. Es war ein beunruhigendes, trauriges Bild, der Ausreißer, den sich seine Mutter erlaubte, der einzige Hinweis darauf, dass man sich im Wohnzimmer eines Ehepaares aus der Ostberliner Boheme befand, für das Konstantin seine Eltern immer gehalten hatte. Am Tisch standen vier Stühle, seine Eltern erwarteten keinen großen Besuch mehr.

Sie setzten sich und warteten auf den Kaffee.

»So«, sagte sein Vater wieder. Seine Augen leuchteten im Abendlicht, das durch die Balkonfenster ins Zimmer fiel. Grüne Augen. Er war ein gutaussehender Mann, kantiges Kinn, gerade Kieferlinie, volle, weiße Haare. Aber er hatte den Blick eines Kindes, was ihn zusammen mit dem bekleckerten Pullover hilflos aussehen ließ. Konstantin fragte sich, ob er immer noch problemlos eine Uhr malen konnte.

»Du willst also in Babas Heim«, sagte er.

»Von Wollen kann keine Rede sein«, sagte sein Vater.

»Dann bleib doch.«

»Geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Wir haben es so entschieden.«

»Dann denkt ihr eben noch mal neu nach.«

»Wir denken doch die ganze Zeit. Wir denken seit Jahren. Denken ist überbewertet.«

»Wieso habt ihr mich nicht mal teilhaben lassen an euren Überlegungen? Wieso werde ich immer nur vor vollendete Tatsachen gestellt?«

»Weißt du, ich finde den Weg zur Toilette nicht.«

»Sie ist direkt neben deinem Arbeitszimmer.«

»Richtig.«

»Ja und?«

»Ich finde sie trotzdem nicht. Wenn es darauf ankommt.«

Seine grünen Augen füllten sich mit Tränen, sein stolzes Kinn zitterte. Dann kam seine Frau mit dem Kaffee. Zwei Tassen, eine für Konstantin, eine für seinen Vater, türkisch, weil es so bekömmlicher war, wie seine Mutter nicht müde wurde zu erklären, die Oberfläche schillerte wie ein Fliegenauge, er spürte jetzt schon die Krümel zwischen den Zähnen. Seine Mutter trank nur ein Glas Leitungswasser.

»Hast du Hunger?«, fragte sie.

Er schwieg. Er hatte seit Odessa nichts gegessen bis auf den Müsliriegel von Austrian Airlines.

»Wir haben nicht mit Besuch gerechnet.«

»Ist schon gut«, sagte er.

»Ich habe Kekse«, sagte sie und stand wieder auf. Sie holte eine Metallschachtel aus der Vitrine, die mit alten Keksen gefüllt war, die ihn an die Hansa-Kekse seiner Kindheit erinnerten, vielleicht waren es sogar welche.

Sein Vater nahm sich einen Keks und stippte ihn in den Kaffee, er rührte die krümelige Oberfläche auf, unter dem kritischen Blick seiner Frau. Sie schüttelte den Kopf.

»Was hast du da eigentlich gemacht in Odessa?«, fragte sie.

»Du warst in Odessa? Schön«, sagte sein Vater. Er zog den Keks aus dem Kaffee und lutschte daran.

»Ich begleite einen Tennisspieler«, sagte er.

»Einen Tennisspieler«, sagte seine Mutter.

»Ich mochte den Tennissport immer«, sagte sein Vater. »Er wurde nicht gefördert, weil er keine olympische Disziplin war.«

»Er ist Serbe, er hat einst mit Novak Djokovic gespielt, einem der besten Spieler der Welt. Sie sind als Kinder aus Belgrad geflohen. Djokovic ging nach München und wurde ein Weltstar, mein Mann, er heißt Bogdan, zog zu einem Onkel nach Frankfurt und blieb ein Talent. Er war gut genug für ein Tennisstipendium an einem amerikanischen College, er studierte Literaturwissenschaften in Kalifornien, diente ein Jahr lang in der serbischen Armee, schrieb zwei Romane, die niemand veröffentlichen wollte, interessanterweise auf Deutsch, heiratete eine jüdische Bibliothekarin aus Odessa, zog mit ihr nach Berlin und schlägt sich als Tennistrainer durch und als Spielpartner von russischen Oligarchen. Ich will ein Drehbuch schreiben mit einem Helden, der sich an ihm … orientiert. Die Geschichte eines Weltbürgers wider Willen. Die Geschichte einer Flucht. Die Geschichte unserer Zeit.«

»Klingt so, als wolltest du sie mir verkaufen«, sagte seine Mutter.

»Du könntest dir sie nicht leisten«, sagte er.

»Ich will sie auch nicht«, sagte sie.

»Joker«, sagte sein Vater.

»Was?«, fragte seine Mutter.

»Na, der Joker«, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Er meint Djokovic, den besten serbischen Tennisspieler. Sein Spitzname ist Joker«, sagte Konstantin.

»Der Joker«, sagte sein Vater.

»Und für wen ist das Drehbuch?«, fragte seine Mutter.

»Das ist noch nicht klar. Vielleicht für einen der Streamingdienste, die Stoffe suchen. Deutsche Stoffe. Netflix, Amazon und so weiter.«

»Aber warum denn in Odessa?«

»Bogdan verbringt die Ferien dort mit seiner Frau und ihrer Tochter. Er trainiert reiche Ukrainer.«

»Versteh ich alles nicht«, sagte seine Mutter. »Aber viel Glück.«

Er trank einen Schluck, der heiße Kaffee schoss durch die Krümelkruste und verbrannte ihm die Zunge.

»Wisst ihr, wer der erfolgreichste Tennisspieler der DDR war?«, fragte sein Vater. Er war der Mediator in Konstantins Beziehung zu seiner Mutter. Wenn er nicht mehr da wäre, würde es Krieg geben. Offenen Krieg.

»Emmrich«, sagte Konstantin, seine Zungenspitze war taub vom heißen Kaffee.

»Stargate«, sagte sein Vater.

Seine Mutter schüttelte den Kopf.

Konstantin lächelte.

Es war schwer, seinem Vater zu folgen, aber am Ende gab es immer irgendeinen Sinn, irgendeine Verbindung. Thomas Emmrich war ein Ostberliner Tennisspieler, Roland Emmerich war ein Stuttgarter Regisseur, der Actionfilme in Hollywood drehte. Sein erster Erfolgsfilm hieß »Stargate«. Es war zu umständlich, das seiner Mutter zu erklären, und sie hatte auch keine Lust mehr, in die Gedankengänge seines Vaters zu kriechen. Jede Art von Sinn in seinem Wesen gefährdete ihre Diagnose.

»Ich habe Papa gerade gefragt, wieso ihr mich nicht einbezieht in so eine wichtige Entscheidung«, sagte Konstantin.

»Machen wir doch gerade«, sagte seine Mutter.

»Aber die Entscheidung ist doch gefallen«, sagte er.

»Wenn wir uns nicht entschieden hätten, wäre der Platz weg gewesen. Und du warst ja in der Ukraine«, sagte seine Mutter. Es klang, als habe er die Schule geschwänzt. Die romantische Osteuropäerin in ihr schlief. Ukraine klang nicht mehr wie Odessa, nicht mehr nach jüdischem Leben am Meer, sondern nach Nazikollaborateuren.

Sein Vater rührte einen zweiten Keks in den Kaffeebrei.

Konstantin atmete ein und aus und ein und aus. Er konzentrierte sich auf die Atmung, die Schönheit, das Existentielle. Eine Technik, die er bei Sibylle Born gelernt hatte, die er besuchte, weil er sich in seiner Arbeit immer mehr verlor. Sibylle Born war Coach. Sie sollte ihm helfen, Entscheidungen zu treffen. Er konnte nicht Nein sagen, eigentlich konnte er weder Ja noch Nein sagen. Seit Jahren nicht. Und eigentlich war Frau Born nicht sein Coach, sie war seine Psychiaterin. Coach klang nur besser, arbeitsbezogener.

»Die Frage ist doch, ob es ein Heim sein muss«, sagte er. »Es gibt doch andere Möglichkeiten.«

»Ja«, sagte seine Mutter. »Mich.«

»Nein, Leute, die dir im Haushalt helfen, die dir mit Papa helfen. Euch. Du weißt schon«, sagte er.

»Polinnen«, sagte seine Mutter. Die Lippen schmal. Po-lin-nen. Die romantische Osteuropäerin in ihr war nun tot.

»Nicht unbedingt. Aber vielleicht auch Polinnen. Die sollen ja sehr gut sein«, sagte er. »Ungarinnen übrigens auch.«

»Ich möchte niemanden im Haus haben, der mir meine Sachen durcheinanderbringt«, sagte sie.

»Welche Sachen denn?«

»Meine Sachen. Privatsachen«, sagte seine Mutter.

Sein Vater schaute zu, wie sich ein Stück seines Kekses löste und im Kaffee versank. Er schaute so interessiert, als beobachtete er eine Kernspaltung.

»Du hast doch gar keine Privatsachen mehr«, sagte Konstantin. »Nur noch Rechnungen.«

»Das geht dich nichts an«, rief seine Mutter. Sie schrie es.

Konstantin atmete ein und aus.

»Papa könnte auch zu mir ziehen«, sagte er.

»Du weißt doch gar nicht, wovon du redest«, sagte seine Mutter. »Du hast doch nicht mal dein eigenes Leben im Griff.«

Sie stand auf und verließ den Raum. Auf der Schwelle sagte sie, ohne sich umzudrehen: »Phantasiedrehbücher.« Wenig später schlug eine Tür zu, vermutlich die zu ihrem Arbeitszimmer. Sie zog sich zurück. Um sich auszuruhen oder weiter zu rechnen oder was auch immer. Sie würde nicht wiederkommen. Er kannte diese Abgänge seit seiner Kindheit. Stundenlang stand er vor verschlossenen Türen, hinter denen seine Mutter schreiend verschwunden war, starrte auf geriffelte Glasscheiben, auf der Suche nach einer Bewegung dahinter, zurückgelassen, ausgeschlossen, einsam, während sein Vater in irgendeiner osteuropäischen Wildnis versuchte, das Wesen einer Tierfamilie zu ergründen.

»Willst du vielleicht eine Praline?«, fragte sein Vater.

Er schaute ihn an.

»Wir müssen irgendwo noch Pralinen haben. Wir haben immer Pralinen im Haus.«

3Gorbatow, Russland

1918

Es war Mai, aber an den Rändern der Felder, im Schatten der Bäume und in den Gräben lag noch Schnee. Die Sonne warf milchiges Licht auf die Straße. Die Hufe der Pferde schmatzten im Lehm. Neben ihnen lief seit Stunden träge der Fluss. Die Oka. Die dünne Schwester der Wolga. Es würde ihr Fluss werden, dachte Jelena. Es ging nicht anders.

Sie sah ihre Mutter an, die ihr gegenüber auf der Pritsche saß und redete. Der Wagen schaukelte, als treibe er im Meer. Olga, ihre kleine Schwester, schlief auf einem Wäschesack, Alexander Petrowitsch saß vorn bei Wassja, der das Fuhrwerk lenkte. Beide trugen Mützen mit Ohrenklappen aus Schafsfell, obwohl es Frühling war. Alexander Petrowitschs Ohrenklappen waren oben vorschriftsmäßig zusammengeknüpft, Wassjas dagegen baumelten lose wie Hasenohren. Sie mochte Wassja, Alexander Petrowitsch mochte sie nicht so sehr. Das war ärgerlich, weil Alexander Petrowitsch ihr Stiefvater war, und Wassja nur der Mann, der ihnen heute beim Umzug half.

Jelena war fünfzehn. Sie zogen nach Gorbatow zurück, wo sie geboren worden war. Ihr Bruder Pawel lebte schon seit drei Jahren in Petrograd.

Wir kommen als Sieger, sagte ihre Mutter.

Sie hatte sich einen neuen Mantel gekauft, taubenblau, doppelt geknöpft aus weichem Leinenstoff. Der Stoff war zu dünn für die Fahrt, aber die Mutter spürte die Kälte nicht, die aus dem Boden stieg. Sie redete ununterbrochen. Es war die Geschichte ihrer triumphalen Rückkehr. In allen Farben malte sie sie aus.

»Die Dorffrauen werden vor uns in den Staub fallen«, sagte sie. »Die Männer werden uns aus der Hand fressen. Es wird ein Fest geben.«

Der Mund ihrer Mutter bewegte sich unentwegt. Auf und zu ging er. Jelena sah die Metallkronen auf den Schneidezähnen, aber sie hörte nichts. Jelena wäre in Nischni Nowgorod geblieben. Dort lebten ihre Freundinnen, vor allem Nadja und Totka. Und Kawa, der Nachbarjunge mit dem glänzenden Scheitel, der ihm in die Augen fiel, wenn er den Kopf bewegte. Sie hatte keine Angst vor dem Umzug, das nicht. Jelena war nicht glücklich gewesen in Nischni Nowgorod und auch nicht unglücklich, sie war fremd. Immer fremd geblieben. Pawel, ihr Bruder, war früh von dort weggezogen, zuerst nach Sewastopol, zur Matrosenschule. Er lebte jetzt in Petrograd. Vielleicht hörte es auf, dachte sie, die Unruhe, die Verlorenheit, die Sehnsucht. Dort. Am Horizont verschmolzen die blassen Felder mit dem blassen Himmel. Sie schaute auf den Fluss, der, wie sie nun bemerkte, in die andere Richtung trieb. Als würden sie gegen den Strom reiten.

»Der Pope, Andrej Andrejewitsch, ich weiß, dass er noch da ist«, sagte die Mutter. »Er wird sich erinnern. An die Schuld.«

Jelena sah sie an, der Blick blass wie der Himmel. Sie probierte ein Lächeln.

»Er hat dich getauft, Täubchen«, sagte die Mutter.

Jelena nickte. Der Glaube verließ sie wie der Geist die Flasche. All die Reden von Alexander Petrowitsch und Wassja über die Arbeiterklasse und die Bauernschaft klangen in ihrem Kopf. Auch Kawa, der so alt war wie sie, erzählte nur noch von der Revolution. Die Popen, sagten sie, halten euch klein, vertrösten euch auf das Leben nach dem Tod. Aber wir wollen heute leben. Jelena verstand, was sie sagen wollten, aber sie fühlte es nicht. Nicht im Herzen. Da nicht. Sie hatte nach dem Tod ihres Vaters, dem auch die Kirche keinen Sinn verleihen konnte, ein gebrochenes Verhältnis zu Gott. Wozu glauben, wenn es keine Erklärungen gab, keinen Trost? Ein Glaube soll den anderen ersetzen, dachte sie. Die Männer wollten es erzwingen, wie sie immer alles erzwingen wollten. Sie waren so stur, zu hitzig für ihren Geschmack. Zu laut. Warum mussten sie nur immer so laut sein! Oft führte es zu Streit, weil sich jeder von ihnen eine andere Zukunft ausmalte. Jeder hatte eine Vorstellung davon, wie es aussah, das Paradies auf Erden, und welche Rolle die Arbeiterklasse dabei spielen sollte und welche die Bauernschaft. Allein mit dem Streit über die Rolle der Bauern hätte man Bücher füllen können. Kawa zum Beispiel wäre nie nach Gorbatow gegangen, sagte er, weil er die Landbevölkerung für revanchistisch hielt. Er hatte Schwierigkeiten, das Wort revanchistisch richtig auszusprechen. Es klang jedes Mal anders. Vor einem Jahr noch war Kawa an jedem Sonntagmorgen in seinem verschossenen schwarzen Anzug und mit feucht gekämmten Haaren in die Kirche marschiert. Jetzt wollte er sie an ihren Vater erinnern, gerade Kawa, der ihren Vater noch weniger gekannt hatte als sie. Kawa, der nie aus Nischni herausgekommen war. Kawa, dessen Vater ein Trinker war und kein Revolutionär.

Kawa also hatte gesagt: »Viktor Krasnow darf nicht umsonst gestorben sein.«

Dafür hatte er eine Maulschelle von ihr bekommen, dass der schöne Scheitel flog.

Aber das Gerede wirkte in ihrem Kopf wie ein Gift. Der Gottesdienst kam ihr nun altmodisch vor, eine groteske Theatervorstellung, die nichts mit ihrem Leben zu tun hatte. All der Weihrauch, die Kopftücher, die mechanischen Gesänge. Wenn die Küchengespräche der Männer zu konkret waren, zu laut und zu bedrohlich, dann erschien ihr der Pope zu unverbindlich, zu märchenhaft, zu langweilig. Zu alt. Die Kirche spendete keinen Trost. Sie strengte an. Dieses ewige Rumgestehe. Und die Sprache erst. Man verstand ja kein Wort!

Am Horizont tauchten ein paar Häuser auf und mittendrin die Spitze einer weißen Kirche.

Alexander Petrowitsch zeigte auf den Kirchturm. Wassja nickte.

Gorbatow.

Jelena hatte keine Erinnerung an die Stadt. Es fiel ihr schwer, sie überhaupt als Stadt anzuerkennen, nach all den Jahren in Nischni, wo sie bei Alexander Petrowitsch untergeschlüpft waren, einem Kampfgefährten ihres Vaters, den sie Papa nennen sollte. Nischni Nowgorod war gewaltig, die beiden Flüsse endlos wie ein Meer, die Brücken waren Wunderwerke, man brauchte eine Stunde, um sie zu überqueren. Es gab hundert Kirchen, goldene Kuppeln, die schnatternden Märkte, die Restaurants, die langen Schiffe, die über die Wolga glitten wie Träume, und auf dem Dach der Stadt, im Himmel beinahe: der Kreml. Durch Gorbatow führten dagegen nur wenige Straßen, vier oder fünf, sie waren aufgewühlt und schlammig, die Häuser zweistöckig und aus Holz, eines davon war ihres. Die Wände schief, die Fenster klein und blind, als hätte ein Hausgeist von innen dagegengeatmet.

Sie sprangen vom Wagen auf die weiche Erde. Die Pferde schwitzten. Wie still es war! Sie folgte der Mutter in den kleinen Hof des Hauses, an das sie keine Erinnerungen hatte. Sie strich mit der Hand an der Wand entlang wie eine Blinde, die sich eine unbekannte Gegend erschloss.

»Das ist der Garten, in dem du gespielt hast, als du zwei warst, Lenotschka«, sagte ihre Mutter.

Jelena sah der Mutter an, dass sie das Grundstück größer in Erinnerung hatte. Es war dreizehn Jahre her. Der Garten sah struppig aus und leblos, es war ein langer Winter gewesen. Jelena versuchte, interessiert zu gucken, weil sie von ihrer Mutter beobachtet wurde. Die Mutter verband große Erwartungen mit dem Umzug. Jelena ahnte, dass die größte Schwierigkeit darin bestehen würde, den Erwartungen ihrer Mutter gerecht zu werden. Nicht ihren eigenen. Ihre eigenen Erwartungen waren nicht hoch.

»Hier hast du laufen gelernt«, sagte die Mutter, ihre Stimme knackte und knisterte, sie strich Jelena über die Haare, die rot waren und dick. Röter und dicker als damals wahrscheinlich. Ihr Vater hatte sie Feuerköpfchen genannt, hatte ihr Pawel erzählt. Alexander Petrowitsch inspizierte den Stall und die kleine Werkstatt, wo in den Erzählungen die Maschine stand, an der ihr Vater gearbeitet hatte. Viktor Krasnow, Seiler, Revolutionär, Held. Sie hatte oft gehört, wie gern sie bei ihm in der Werkstatt gesessen hatte. Im Winter hielt sie ihm das Seil, hieß es, sie spürte sogar die Kälte in ihren Fingern. Heute noch. Sie hörte die Stimme ihres Vaters. Lenotschka, halt ganz fest, Würmchen.

Sie folgte Alexander Petrowitsch durch den verwahrlosten Garten und schaute in die Werkstatt.

Es war dunkel, sie spürte Alexander Petrowitschs Hand auf dem Rücken, sie mochte nicht, dass er sie berührte. Er roch nach Mann, ohne dass sie hätte sagen können, was genau diesen Geruch ausmachte. Hier, in der Werkstatt ihres Vaters, empfand sie Alexander Petrowitschs Geste besonders unangemessen. Eine Anmaßung. Sie wand sich aus seinem Arm, ihre Augen gewöhnten sich an das dämmrige Licht. Es ist kalt, Lenotschka, ich weiß. Die Werkstatt war winzig. Ein Karren stand da, ein Regal, leer, keine Maschine. Der Raum war ihr fremd. Er entsprach nicht ihren Vorstellungen von dem Raum, in dem sie die ersten kalten Winter ihres Lebens erlebt hatte, die schwarzen Morgenstunden, in denen sie das Seil gehalten hatte. Sie fürchtete, dass die Stimme ihres Vaters hier für immer verstummen würde. Dass sie zusammen mit den Bildern verschwand.

»Es ist natürlich mehr Platz als zu Hause«, sagte Alexander Petrowitsch, wieder die Hand auf ihrer Schulter. Der Geruch. Er stand ganz nah. Er saugte ihren Duft ein, als wolle er sie einatmen.

Sie nickte, den Nacken steif, und dachte: Ich habe kein Zuhause.

Sie vermisste ihren Vater, aber sie wusste nicht, wer er gewesen war. Hatte es nie gewusst. Er war mit den Jahren zu einer Heiligenfigur geworden. Ein Mann, den sie ans Kreuz schlugen wie Jesus. Jemand, den man nicht mehr berühren konnte. Jemand, der nicht roch wie ein Mann. Er stand auf dem Altar ihrer kleinen Familiengeschichte.

Sie fragte sich, was wohl aus der Maschine geworden war.

Das Haus sah aus, als sei es lange unbewohnt gewesen, ausgekühlt, ausgeblichen. Jelena wusste nicht, wer hier gewohnt hatte in den Jahren nach ihrer Flucht. Sie hatte die Leute lange als Feinde betrachtet, Menschen, die von ihrem Leid profitierten. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Die Leute waren geflüchtet, und sie hegte jetzt keinen Groll mehr gegen sie. Es wäre ihr zu einfach vorgekommen und zu ungerecht. Sie kannte die Leute ja nicht, aber sie wusste, wie es war, auf der Flucht zu sein.

Sie sah das kleine Fenster im ersten Stock, das die Häscher des Zaren eingeschlagen hatten damals, die Tür, die sie eintraten. Natürlich waren die Spuren längst verwischt. Ihre Mutter wusste all das nur aus Erzählungen. Sie waren im Wald gewesen, als die Männer kamen, um sie zu töten. Sie, ihre Mutter und Pawel. Der Schnee hüfthoch, sie schlitterten den Berg hinunter zur Oka, die zugefroren war, rutschten auf die andere Seite und von da flussaufwärts nach Nischni Nowgorod, wo die Oka in die Wolga mündete. Den Atem der schwarzen Jäger im Nacken. So ging der Anfang des Märchens, das ihre Mutter immer wieder erzählt hatte. Februar 1905. Jelena war erst zwei Jahre gewesen, so alt wie jetzt Olga, die draußen auf dem Pferdewagen schlief, ihre kleine Halbschwester. Ihre Mutter musste Jelena damals getragen haben. Ihr Vater verblutete auf der Straße. Ein Holzkeil in der Brust. Sie hatte ständig nach ihm gefragt. Sagte ihre Mutter. Papa. Viktor Pawlowitsch Krasnow.

Seine Stimme verließ ihren Kopf, sie entwich wie ein Lebenshauch. Wenn es kälter gewesen wäre, hätte man sie davonfliegen sehen können.

Lena, fürchte dich nicht, Lenotschka, mein Täubchen. Lass nicht los!

In ihren Träumen war der Ofen im Haus grün gewesen, aber er war braun. Sie berührte die Fliesen, die staubig waren und kalt.

Ihr neues Zimmer war klein, ein winziges Fenster in der dicken Wand. Sie schaute auf die Straße, eine Nachbarin stapfte durch den Matsch, ein runzliges Gesicht, verpackt in Tüchern. Die Alte sprach Wassja Simjonowitsch an, der den Wagen fuhr. Wassja war ein Bär. Er machte nicht viele Worte. Er stand vor dem Wagen und rauchte, wartete darauf, die Sachen ausräumen zu können. Die Frau redete, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, halslos, die Hände auf dem Bauch verschränkt. Sie war damals hier gewesen, dachte Jelena. Natürlich war sie hier gewesen, sie hatte Papa gesehen. Und den anderen Mann, Romanow. Auch er ans Kreuz geschlagen. Die Alte hatte sie, Jelena, als Kind gesehen, hatte ihre ersten Schritte beklatscht, sie hatte auch die Familie begrüßt, die ihr Haus bezog, nachdem sie geflohen waren. Sie hatte zugeschaut, wie auch die schließlich fliehen musste. Vor denselben Leuten, die nun einer anderen Idee folgten. Irgendwann wurde jeder ein Feind, man musste nur lange genug warten. Die Nachbarin stand genauso da wie jetzt. Sie blieb immer. Den dicken, unförmigen Leib eingehüllt in erdfarbene Decken und verblichene Tücher, wie eine Mumie, nur die kleinen Augen am Leben. Sie hatte zugeschaut, wie die Leute, die über Nacht zu Feinden geworden waren, auszogen, und war nun wieder da, um zu sehen, was passierte. Sie würde sich nicht in den Staub werfen, wie ihre Mutter hoffte. Jelena verstand das. Sie sah durch das kleine Fenster ihres neuen Zimmers geradewegs in die Zukunft. Menschen änderten sich nicht. Nur die Umstände änderten sich.

Sie trat vom Fenster zurück, schaute sich im Raum um. Er war wirklich klein. Sie würde sich das Zimmer mit Olga teilen müssen, die unten auf dem Wagen schlief. Olga war zwei. Sie zappelte, selbst im Schlaf. Wenn Jelena sie trat oder kniff, fing sie an zu schreien, und es gab Schläge. Aber es war besser, als vom Schnaufen der Erwachsenen wach gehalten zu werden.

Dann fuhr Jelena doch die Wut in den Bauch. All das Unrecht der Welt ballte sich in ihrem Magen zusammen, und sie sprang die Treppen nach unten, lief auf die Straße, wo die Nachbarin immer noch neben Wassja Simjonowitsch stand und quasselte.

»Sie versprechen ja, dass alles besser wird, aber sehen Sie sich die Straßen an, Gevatter, sehen so gute Straßen aus?«, sagte sie gerade.

Wassja blies den Rauch seiner Zigarette in einem geraden Strahl in den Frühlingshimmel.

»Guten Tag«, rief Jelena atemlos. Sie schaute der Alten direkt ins Gesicht.

Die Nachbarin hörte auf zu reden und musterte sie aus ihren kleinen schwarzen Augen. Sie schaut mich an wie ein Ungeziefer, dachte Jelena. Wie eine Maus, die in ihrer Küche aufgetaucht ist.

»Ich bin Jelena Viktorowna Krasnowa. Viktor Pawlowitschs Tochter. Erinnern Sie sich an mich?«, rief sie.

Die Alte sah sie an, ungerührt, aber sie wechselte ganz leicht das Gewicht von einem Bein aufs andere, wie ein Tier, das sich auf die Flucht vorbereitet. Sie ließ Jelena nicht aus dem Auge.

»Ich habe hier Laufen gelernt. Das sagt wenigstens meine Mutter. Ich kann mich leider nicht daran erinnern. Denn wir mussten schnell weg. Aber das wissen Sie ja«, sagte Jelena. Sie redete jetzt sehr laut, sie konnte nicht anders. Die Alte schüttelte den Kopf, fast unmerklich. Dann schob sie das Gewicht ganz auf ihren Hinterfuß und sagte: »Einen schönen Tag noch, Gevatter. Es scheint ja endlich Frühling zu werden.« Sie drehte sich weg und schlurfte durch den Matsch auf die andere Straßenseite.

»Was haben Sie mit unserer Maschine gemacht?«, rief Jelena der Alten hinterher. Sie brüllte jetzt.

»Wo ist die Maschine meines Vaters?«

Sie spürte Wassja Simjonowitschs Hand auf ihrer Schulter. Es war keine unangemessene Berührung wie bei ihrem Stiefvater. Es war die Geste eines Mannes, der sich hinter sie stellte.

»Lena«, rief ihre Mutter vom Gartenzaun. »Lenotschka.«

Jelena drehte sich zu ihr um. Sie wusste nicht, ob ihre Mutter alles mitbekommen hatte, aber sie sah die Tränen in ihren Augen.

Als alles eingeräumt war, fuhr Wassja zurück nach Nischni Nowgorod. Jelena schaute dem Wagen hinterher, der durch die aufgewühlte Straße schaukelte wie ein Boot, die Frühlingssonne weiß und schleimig. Die Vögel klangen, als sängen sie unter Kissen. Jelena fühlte sich zurückgelassen, unterdrückte den Wunsch, dem Wagen hinterherzulaufen, aufzuspringen, zu fliehen. Es wäre ihre zweite Flucht aus Gorbatow gewesen. Sie kam hier nicht weg, dachte sie.

Sie schlief gut, tief, träumte aber nicht.

Schade, dachte sie, als sie aufwachte. Die Mutter hatte gesagt, dass sich der Traum, den man in der ersten Nacht an einem neuen Ort träumte, erfüllen würde.

Kurz darauf dachte sie: Vielleicht ist es gut so. Nicht zu wissen, was passiert.

*

Am Sonntagvormittag gingen sie in die Kirche. Jelena und die Mutter. Olga war noch zu klein für die Messe, und Alexander Petrowitsch, der die kleine Schwester im Arm hätte halten können, weigerte sich, dem überkommenen Brauch zu folgen, wie er sich ausdrückte. Es tat der Mutter weh. Es zerriss sie fast, und das wiederum freute Jelena. Schließlich entschied sich die Mutter für die Kirche und damit für sie. Niemand wusste ja, wie es in Jelenas Kopf aussah, was Gott betraf. Wichtig war, dass sie die Mutter einmal nicht teilen musste. Seit Pawel weggezogen war, fühlte sie sich oft, als sei sie kein Teil der Familie mehr. Beschwingt lief sie neben der Mutter den kleinen Hügel hinauf, auf dem die Kirche thronte. Sie hüpfte beinahe.

Die Kirche war schneeweiß. Man konnte von ihrem Vorplatz bis runter zum Fluss sehen, der breit war und mit vielen kleinen Inseln gespickt. Es standen fünf Türmchen auf dem Kirchendach, das höchste ragte aus der Mitte. Der Innenraum war nicht so geschmückt, wie es Jelena aus Nischni Nowgorod kannte, wo die Kirche bis zur Decke mit Ikonen getäfelt und jede freie Ritze mit Gold verstopft war. Hier in Gorbatow stand in der Kirchenmitte eine halbhohe Holzwand, an der ein paar Ikonen hingen. Der Boden war nicht mit Ornamentfliesen belegt, sondern mit speckigen, ausgetretenen Bohlen. Ein paar Frauen drehten sich um, als Jelena und ihre Mutter das Gotteshaus betraten, aber von einem Empfang konnte nicht die Rede sein. Es waren nicht viele Besucher da für einen Sonntagvormittag, es waren vor allem Frauen und Kinder. Nur am Rande standen zwei Männer. Ein dünner alter und ein dicker junger. Die Mutter stellte sich ganz nach vorn, um dem Popen in die Augen sehen zu können, der noch hinter der hölzernen Trennwand herumfuhrwerkte, über der Weihrauch waberte.

Jelena stellte sich neben ihre Mutter, drückte den Rücken durch, berührte mit den Fingerspitzen das Leinen des neuen blauen Mantels. Sie war so groß wie die Mutter, vielleicht sogar schon größer. Sie sah ihre Mutter an, die 38 Jahre alt war, ein Alter, das jenseits der Vorstellungskraft von Jelena lag. Die Mutter sah müde aus, die Wangen eingefallen, die Augen tief in den Höhlen. Eine alte Frau, zusammengehalten von der Erwartung auf Genugtuung. Jelena würde ihr dabei zur Seite stehen, so gut es ging. Dieses stille Versprechen gab sie Gott an diesem Vormittag. Gott, der hier an der Seite ihrer Mutter, in der fremden Kirche, zwischen den fremden und doch vertrauten Frauen, wieder etwas Boden zurückgewann. Die Mutter drehte sich leicht zu ihr, der Nacken steif und unbeweglich. Sie lächelte, und Jelena lächelte zurück. Dann trat der Pope hinter der Trennwand hervor, die Kieferlinie der Mutter straffte sich, und die Augen traten ein wenig aus den Höhlen.

Es war schwer zu sagen, ob der Pope, Andrej Andrejewitsch, die Mutter wiedererkannte. Es war schwer zu sagen, ob es sich bei dem Mann überhaupt um Andrej Andrejewitsch handelte. Es war kaum etwas von ihm zu sehen. Er trug seinen glänzenden Priesterhut, die Kamilawka, tief im Gesicht, das von einem zotteligen grauen Bart bewachsen war. Der Rest des Körpers war von einem silbrigen, bestickten Umhang verhüllt, der immer wieder in dichten Weihrauchwolken verschwand, die aus den Gefäßen wuchsen, die die beiden Messdiener schwenkten, die links und rechts von ihm durch die Kirche schlurften.

Der Alte murmelte Gebete, taumelte, als sei er nicht ganz sicher auf den Beinen. Ihre Mutter starrte in den Nebel, auf der Suche nach einem Blick des Mannes. Die alte, unverständliche Sprache knarrte wie morsches Gebälk, die Gebete wie Beschwörungsformeln von Regenmachern, die leiernden Gesänge, das alles versetzte Jelena in eine Trance. Die Zeit schien langsamer zu laufen und hielt plötzlich an. Jelena fühlte sich, als schwebe sie ein paar Zentimeter über der Kirchenbank. Als sie zwei Stunden später die Kirche verließen, blendete sie die Wirklichkeit des Maimorgens wie ein Scheinwerfer.

Für eine halbe Stunde standen sie und ihre Mutter im kleinen Kirchengarten wie entfernte Verwandte, die niemand zuordnen konnte. Es gab Tee und süße, mit Quark und Aprikosenkonfitüre gefüllte Piroggen, die Frauen redeten, der Pope schlurfte durch die Reihen und hielt den Kopf schief. Die Sonne brannte den Dunst weg, der vom Fluss aufstieg. Die Stille war unerträglich, dachte Jelena, nur ab und zu bellte ein Hund. Nie hatte sie die Ankunft der neuen Zeiten deutlicher gespürt, als bei diesem sonntäglichen Vormittagstee im Kirchhof von Gorbatow.

Bei der zweiten Runde blieb der Pope vor der Mutter stehen, die unter ihrem Kopftuch errötete wie ein Mädchen, was sie seltsamerweise noch älter aussehen ließ als 38. Jelena sah, dass der Pope wasserblaue, fast durchsichtige Augen hatte, wodurch er, auch wegen der Piroggenkrümel, die in seinem struppigen grauen Bart tanzten, leicht wahnsinnig, zumindest aber zerstreut wirkte.

»Sina Alexandrowna«, sagte der Pope mit einer hohen, knisternden Stimme, eine Stimme, die er offenbar außerhalb der Kirchenmauern einsetzte, seine Gemeindevaterstimme, die Stimme des Hirten. Er reichte der Mutter seine Hand, die klein und dick und fleckig war sowie mit einem Ring geschmückt, einem dicken, goldenen Ring, der einen dunkelroten Stein trug.

Die Mutter küsste den Ring. Sie machte eine höfische Bewegung, eher ein Tanz als ein Knicks, sah dem Alten dann ins Gesicht und sagte: »Eure Exzellenz!« Das Gesicht von Sina Alexandrowna Krasnowa glühte. Die anderen Frauen schienen den Atem anzuhalten.

»Schön, dass Sie wieder den Weg in unsere Kirche finden«, sagte der Pope, die Augen wasserblau und ahnungslos, als seien die Krasnows von einer längeren Ausfahrt in die Heimat zurückgekehrt. Vielleicht kannte er die Einzelheiten ihrer Flucht nicht, dachte Jelena. Sie hoffte es.

»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, sagte die Mutter und lächelte, als habe sie soeben das Welträtsel gelöst.

»So ist es, Sina Alexandrowna, Teuerste, so ist es«, sagte der Pope.

Er umfasste beide Hände der Mutter, als wolle er tanzen. Jelena fürchtete, dass ihre Mutter jeden Moment in Ohnmacht fallen würde. Aber die lächelte nur. Sie lächelte ausdauernd.

»Meine Tochter, Jelena Krasnowa, Sie erinnern sich«, sagte die Mutter irgendwann und nickte zu Jelena.

»Natürlich, natürlich«, sagte der Alte und sah, immer noch die Hände der Mutter haltend, zu Jelena hinüber. Er inspizierte ihre Haare, die in der frühen Sonne leuchteten wie Feuer. Jelena sah im Blick des Popen wie in einem Spiegel, wie rot ihre Haare waren.

»Die heilige Jelena. Wussten Sie, dass sie das Kreuz Jesu gefunden hat?«, sagte der Pope.

Jelena lächelte. Es war nicht klar, ob es ihr zustand, diese Frage zu beantworten, mit Nein zu beantworten. Sie deutete einen Knicks an.

»Sie teilte es in drei Teile«, sagte der Pope.

»Drei«, sagte die Mutter.

»Ja«, sagte der Pope.

»Sie schickte einen Teil nach Rom, ein Teil blieb in Jerusalem und der dritte …« Er sah sich zu seinen Messdienern um.

»Moskau?«, sagte die Mutter.

»Nein, nein«, sagte der Pope.

Einer der Messdiener zuckte mit den Schultern.

»Würden Sie uns die Ehre erweisen und unser Haus segnen, Vater?«, fragte die Mutter in die betretene Stille.

Der Priester nickte, murmelte, löste seinen Griff von der Mutter, winkte seine drei Messdiener heran und flüsterte ihnen etwas zu. Die Mutter warf Jelena einen fiebrigen, freudig aufgeregten Blick zu, den sie nicht erwidern konnte. Denn Jelena dachte, dass eine Haussegnung nur Ärger machen würde, zumindest wenn Alexander Petrowitsch in der Nähe war. Der Pope kraulte sich gütig lächelnd den Bart, seine drei Messdiener verschwanden in der Kirche und kamen mit einem Weihrauchgefäß, einem kleinen hölzernen Weihwassereimer und einer verzierten Kiste zurück. Nach weiterem Gemurmel machte sich der Kirchenvertreter auf den Weg. Offenbar war der Pope ein Freund schneller Entscheidungen. Vielleicht aber hörte auch er die Welle anrollen und wusste, dass nicht mehr viel Zeit blieb.

Der Gang zum Haus, der normalerweise sieben, acht Minuten gedauert hätte, sich aber nun, da der Pope nicht gut zu Fuß war, eine Viertelstunde lang hinzog, sollte dem, was ihre Mutter als triumphale Rückkehr angekündigt hatte, am nächsten kommen. Es war kein Triumphzug, aber es war ein Spaziergang, dessen Ziel und Zweck sie waren, die Familie Krasnow oder das, was davon noch übrig und nach Gorbatow zurückgekehrt war. Die Hälfte der Krasnows, die weibliche Hälfte jener kleinen Gruppe, die in einer Februarnacht vor dreizehn Jahren aus der Stadt vertrieben worden war. Die Mutter, Pawel und sie, Jelena, waren nach Osten gezogen, der Vater in den Himmel. Wenn es denn einen Himmel gab für Revolutionäre. Jelena fragte sich, ob sie jetzt auch den Teil des Weges beschritten, der mit seinem Blut getränkt worden war.

Die Prozession wurde vom schwankenden Popen und seinen drei Ministranten angeführt, dahinter gingen die Mutter und Jelena, danach folgten fünf, sechs Frauen aus dem Ort und deren Kinder. Die Maisonne leckte die Pfützen aus, an den Gartenzäunen standen hier und da Nachbarn und starrten. Manche nickten leicht, zwei oder drei winkten sogar und lächelten, die meisten aber sahen nur zu. Jelena ahnte, dass die Aufmerksamkeit sich jederzeit wieder gegen sie richten konnte, jetzt aber spürte sie den Wind der Revolution in ihrem Rücken.

Er frischte auf.

Ein Ausläufer erfasste Andrej Andrejewitsch, den Popen von Gorbatow, schon jetzt. Auf einem kleinen Holzbänkchen stehend, hatte er den letzten Kreidestrich an den Türsturz der Familie Krasnow gesetzt, die Wasserweihe vollzogen und die hölzerne Kelle mit dem Weihwasser nach unten zu einem der Ministranten gereicht. Es war spät im Jahr für eine Weihe, aber das Haus hatte seit dem letzten Oktober leer gestanden, und so dauerte es bis zum Mai, dass die Hausnummer 24 für das Jahr 1918 bereit war, das erste komplette sozialistische Jahr in der Geschichte des russischen Volkes. Einige der Nachbarn hatten in diesem Jahr nicht mehr den Priester gerufen. Die Zeiten waren nicht so. Es hieß zwar, dass dort draußen im Land immer noch gekämpft wurde, aber es sah nicht so aus, als würden die Weißen noch einmal zurückkommen. Sie hießen ja nicht zufällig Menschewiki und die Roten nicht zufällig Bolschewiki. Die einen waren in der Minderheit, die anderen in der Mehrheit, und wer halbwegs bei Verstand war, hielt sich an die Mehrheit. Sina Alexandrowna aber achtete nicht auf die Nachbarn, die Mehrheit und die Zeiten, mit tränennassen Augen sah sie hinauf zum Popen, als sich plötzlich die Tür öffnete und den heiligen Mann vom Bänkchen stieß.

Alexander Petrowitsch war durch das Getrampel und Gemurmel aus seinem vormittäglichen Nickerchen auf der Ofenbank geweckt worden und wollte in den Vorgarten treten, um nach dem Rechten zu sehen. Zumindest war das später seine Erklärung. Er sei noch vom Schlaf betäubt gewesen und habe überdies nichts von einer Wasserweihe gewusst, der er, hätte er von ihr gewusst, ohnehin nicht zugestimmt hätte. Der Pope jedenfalls verlor, bevor man auch nur die Nasenspitze von Alexander Petrowitsch, dem schlaftrunkenen Heiden, sehen konnte, das Gleichgewicht und stürzte dann, mit den Armen rudernd, auf den immer noch feuchten Boden vor dem Haus, das er soeben geweiht hatte. In seiner kleinen Weihpredigt war er auf eine Begebenheit aus dem Alten Testament eingegangen. Es handelte sich um die Geschichte von Abraham, der auf den Berg Morijah steigt, um seinen Sohn Isaak Gott zu opfern, in letzter Sekunde aber von ihm ablässt. Eine Geschichte von Familie und Loyalität, von Glauben und Prüfung, die man mit viel gutem Willen als Entschuldigung für die Vertreibung der Krasnows aus Gorbatow hätte verstehen können. Genauso gut allerdings auch als Parabel auf die heranrollenden gottlosen Zeiten unter den Petersburger Revolutionären.

Wie auch immer, der Pope, Andrej Andrejewitsch, lag auf dem Rücken wie ein Käfer, ein glänzender Käfer, das silbrige, mit Goldfäden durchwirkte Messgewand funkelte in der Sonntagssonne. Das Mittagslicht tanzte auf seinen wasserblauen, durchsichtigen Augen wie auf einem See. Er schrie nicht, er stöhnte nur leise. Ein alter, bereits angeschlagener Mann, der den neuen Zeiten nicht mehr viel entgegenzusetzen hatte. Alexander Petrowitsch sah auf den hilflosen Popen wie auf einen Hund, den er gerade aus dem Haus gejagt hatte. Die Arme von Sina Alexandrowna aber waren in den Himmel gereckt, sie stieß einen spitzen Schrei aus, in dem sich Entsetzen und Scham mischten. Die Frauen in ihrem Rücken summten wie ein griechischer Chor. Jelena hatte gemischte Gefühle. Der Pope tat ihr leid, ihre Mutter tat ihr leid, aber die Tatsache, dass ihr Stiefvater hier so dumm in der Sonne stand, gefiel ihr schon sehr gut. Sie lächelte schief.

Ihre Mutter gab Alexander Petrowitsch einen Faustschlag in die Nierengegend, woraufhin der zurückwich, dann aber ein paar Schritte auf den Popen zuging, ihn bei den rudernden Armen griff und aus dem Matsch zog. Der heilige Mann seufzte wie ein Korken, den man aus einer Flasche zog. Sina Alexandrowna sprang hinzu und begann, auf dem Rücken des Popen herumzureiben. Der Chor der Nachbarinnen summte zufrieden. Sie hatten es doch immer gewusst. Niemand wurde ohne Grund aus dem Dorf gejagt.

»Was stehst du herum, Lenotschka, bring eine Bürste und Wasser«, rief die Mutter. Jelena sprang ins Haus, suchte nach einer Bürste, fand keine, nahm ein Tuch, ließ Wasser in den Eimer, rannte, spritzte und plemperte, aber als sie wieder auf die Straße trat, war der Pope schon auf dem Weg zurück zur Kirche. Seine Ministranten führten ihn wie einen kranken König. Jelenas Mutter und ihr Stiefvater standen vorm frisch geweihten Haus und sahen der Abordnung hinterher, die abzog wie eine geschlagene Kriegspartei. Mit ihr ging die zarte Hoffnung auf Anerkennung ihrer unheiligen Lebensgemeinschaft. Sina Alexandrowna hatte eine Argumentation vorbereitet, die es dem Popen hätte erleichtern können, den neuen Mann an ihrer Seite zu ertragen, womöglich sogar zu akzeptieren. Schließlich war Viktor Krasnow, der Seiler, der Mann, dem sie vorm Altar des Popen ewige Treue geschworen hatte, auf bestialische Weise umgebracht worden, und Alexander Petrowitsch half ihr, mit dem Verlust zu leben. Das hätte sie dem Popen gern gesagt. Aber die Gelegenheit würde nicht wiederkehren. Dagegen hatte Jelena nichts einzuwenden, die nicht ahnte, dass ihre Mutter wieder schwanger war.

»Du elender, ungeschickter Bär«, sagte die Mutter.

»Geschieht ihm ganz recht, dem alten Heuchler«, sagte Alexander Petrowitsch. Dann ging er ins Haus zurück.

*

Es war die letzte Wasserweihe, die Jelena erleben sollte. Im Herbst, noch vor den Feierlichkeiten zum ersten Revolutionsgeburtstag, schloss die Kirche und stand nun verlassen auf dem Berg, weithin sichtbar. Ein Fanal. Manche sagten, die Roten hätten den alten Popen erschossen wie einen räudigen Hund, andere erzählten, er sei zusammen mit dem Küster Pawel Konstantinowitsch, dem einäugigen Pascha, in den Ural geflohen und lebte als Weltlicher unter Kosaken in Orenburg, das, so ging das Gerücht, von den Weißgardisten zurückerobert worden war. Wieder andere behaupteten, Andrej Andrejewitsch sei mit seiner Kutsche, den beiden Schimmeln Josep und Pjotr, ein paar wertvollen Ikonen und einer Kiste voller Gold nach Süden gefahren, Richtung Don, dort, wo es noch Gottgläubige gab.