Appartement für einen Selbstmörder - Pierre Boileau - E-Book

Appartement für einen Selbstmörder E-Book

Pierre Boileau

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Beschreibung

Georges Saivre läuft wie ein gefangenes Tier durch das elegant möblierte Appartement an der Mittelmeerküste, während Dominique ihn mit halb höhnischen, halb mißtrauischen Blicken verfolgt. Sie glaubt kein Wort von der Geschichte, die er ihr erzählt hat: Wie Méribel, sein Schwager und Compagnon, die Baufirma um enorme Summen betrogen und schließlich Selbstmord begangen hatte; wie er, Saivre, schon das gleiche tun wollte, dann aber den plötzlichen Entschluß gefaßt hatte, mit dem Toten die Rollen zu tauschen, um dem schimpflichen Bankrott zu entgehen und selber als Philippe Méribel nach Südamerika zu fliehen; wie er sich in einem der vielen Appartements versteckt hatte, die von seiner Firma gebaut und verkauft worden sind und die jetzt im Spätherbst alle leer stehen; wie er sich häuslich in einer der Wohnungen eingerichtet hatte, um auf seine Schwester Marie-Laure zu warten, die als einzige in seinen Plan eingeweiht war und ihm Kleider und Geld bringen soll, die er zu seiner Flucht benötigt ... Wie die Geschichte weiterging, weiß Dominique. Sie ist vor ein paar Tagen überraschend in ihr Appartement gekommen und hat diesen Fremden vorgefunden. Zuerst hatte sie an einen Einbrecher gedacht, dann an Schlimmeres, als er die Tür abgeschlossen und den Schlüssel an sich genommen hatte. Aber nichts ist geschehen, und schließlich war er mit dieser unglaubhaften Geschichte herausgerückt. Und nun warten sie gemeinsam auf Marie-Laure – die Saivre den versprochenen Koffer bringen und ihr bestätigen soll, daß sich alles so abgespielt hat. Aber Marie-Laure kommt nicht.

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EPUB

Seitenzahl: 232

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Pierre Boileau • Thomas Narcejac

Appartement für einen Selbstmörder

Aus dem Französischen von Justus Franz Wittkop

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Georges Saivre läuft wie ein gefangenes Tier durch das elegant möblierte Appartement an der Mittelmeerküste, während Dominique ihn mit halb höhnischen, halb mißtrauischen Blicken verfolgt. Sie glaubt kein Wort von der Geschichte, die er ihr erzählt hat: Wie Méribel, sein Schwager und Compagnon, die Baufirma um enorme Summen betrogen und schließlich Selbstmord begangen hatte; wie er, Saivre, schon das gleiche tun wollte, dann aber den plötzlichen Entschluß gefaßt hatte, mit dem Toten die Rollen zu tauschen, um dem schimpflichen Bankrott zu entgehen und selber als Philippe Méribel nach Südamerika zu fliehen; wie er sich in einem der vielen Appartements versteckt hatte, die von seiner Firma gebaut und verkauft worden sind und die jetzt im Spätherbst alle leer stehen; wie er sich häuslich in einer der Wohnungen eingerichtet hatte, um auf seine Schwester Marie-Laure zu warten, die als einzige in seinen Plan eingeweiht war und ihm Kleider und Geld bringen soll, die er zu seiner Flucht benötigt ...

Wie die Geschichte weiterging, weiß Dominique.

Sie ist vor ein paar Tagen überraschend in ihr Appartement gekommen und hat diesen Fremden vorgefunden. Zuerst hatte sie an einen Einbrecher gedacht, dann an Schlimmeres, als er die Tür abgeschlossen und den Schlüssel an sich genommen hatte. Aber nichts ist geschehen, und schließlich war er mit dieser unglaubhaften Geschichte herausgerückt.

Und nun warten sie gemeinsam auf Marie-Laure – die Saivre den versprochenen Koffer bringen und ihr bestätigen soll, daß sich alles so abgespielt hat.

Aber Marie-Laure kommt nicht.

Über Pierre Boileau • Thomas Narcejac

Die beiden französischen Autoren Pierre Boileau (1906–1989) und Thomas Narcejac (1908–1998) haben zusammen zahlreiche Kriminalromane verfasst. Ihre nervenzerreißenden Psychothriller haben viele Regisseure zu spannenden Filmen inspiriert, am bekanntesten sind wohl «Die Teuflischen» und sein amerikanisches Remake «Diabolisch» und «Vertigo – Aus dem Reich der Toten», sicher einer der besten Filme von Alfred Hitchcock.

Inhaltsübersicht

Die Hauptpersonen1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelEpilogNachwort

Die Hauptpersonen

PHILIPPE MÉRIBEL

unterschlägt Geld und zieht die Konsequenzen.

 

 

GEORGES SAIVRE

schaut im Fernsehen seinem eigenen Begräbnis zu.

 

 

MAUPRÉ

will kassieren.

 

 

MARIE-LAURE MÉRIBEL

hält den Mund.

 

 

DOMINIQUE FRÈQUE

muß umdisponieren.

1

„Halt hier an“, sagte Saivre. „Sonst kann ich nicht aussteigen.“

Der Wind rüttelte den kleinen Wagen, dessen gelbliche, im Sturm gleichsam flackernde Scheinwerfer eine Fassade erhellten, die aus huschenden Schatten und Nebelgischt errichtet zu sein schien.

„Ich bitte dich, Georges. Komm mit mir zurück. Du bist ja verrückt!“

Saivre raffte die Griffe des Einkaufsnetzes zwischen seinen Beinen zusammen.

„Sie würden dich bald wieder freilassen“, fuhr sie fort. „Was soll denn aus dir werden?“

Ihre Stimme zitterte. Saivre öffnete den Wagenschlag, den der Wind beinahe seinen Händen entriß. Wie Schrotkugeln traf der schräge Regen schmerzend seine Haut und prasselte auf seine Windjacke. Schon rann ihm das Wasser über die Stirn und tropfte von der Nasenspitze. Er packte das Einkaufsnetz, das sich wie ein an den Ohren ergriffenes Kaninchen sträubte. Er warf den Wagenschlag zu. Seine Schwester beugte sich über den Sitz und rief irgend etwas, das er nicht verstehen konnte. Sie kurbelte die Scheibe ein Stück herunter und reichte ihm die elektrische Stablampe hinaus, die er im Handschuhfach vergessen hatte. Marie-Laure sah ihn an; die Konturen ihres Gesichts verschwammen hinter der beschlagenen Windschutzscheibe. Mehrmals bewegte sie langsam die Lippen, als ob sie mit einem Tauben redete. Er verstand: „Bis Donnerstag“, gab durch ein Nicken zu erkennen, daß er die Botschaft erhalten habe, und winkte, um Schluß zu machen, ungeduldig mit dem freien Arm ab, als ob er ein allzu anhängliches Tier verjage.

Der Wagen fuhr an, in den unsichtbaren Strudeln des Orkans rollend und stampfend. Saivre machte zwei Schritt. Vielleicht war noch Zeit … Sie könnte ihn bei der Polizei absetzen; er würde die Wahrheit sagen … Das rote Schlußlicht verschwand, von den Regenböen ausgewischt, dann tauchte es wieder auf … Einen Augenblick lang glaubte er, Marie-Laure habe angehalten … Nein … Da waren noch die beiden roten Pünktchen, die ihn aus der Finsternis heraus wie die Augen einer streunenden Katze fixierten, dann blieb er allein in einer so dichten Dunkelheit, daß er nicht einmal seine eigenen Hände sehen konnte. Er drehte sich um, und schon peitschte ihm der Regen ins Gesicht. Rund um ihn herum war das ganze All in Aufruhr geraten, der Sturm schüttelte ihn wie einen Baum und drang mit eisigen Fingern durch seine dicke Kleidung bis auf die Haut. Gleichzeitig spürte er in den Beinen das Vibrieren des Bodens, wenn Woge auf Woge sich schäumend und donnernd am Strand überschlug.

Keuchend und zusammengekrümmt strebte er nach der Torhalle, die er zu seiner Linken wie ein Gewölbe voll Brausen und Echos ahnte. Der Strahl der Taschenlampe fiel auf die Spitzen seiner Stiefel und die Regennadeln, dann hatte er den Zementweg erfaßt. Plötzlich war er geborgen, atemlos legte er die Hand auf den Stein. Hier hörte man nur das Sprudeln der Rinnsale, das leise Rauschen der Regenbäche, die ihren Abfluß suchten. Ungeschickt knöpfte er die Windjacke auf, noch ganz betäubt von dem Lärm des Sturms, und suchte nach dem Schlüssel. Der Strahl der Lampe lenkte ihn wie der Stab eines Blinden. Er wandte sich nach rechts, kam an der schrägen Abfahrt zu den Garagen vorbei und erreichte die Haustür; doch seine klammen Finger schafften es nicht, den flachen Schlüssel in das komplizierte Schloß zu stecken. Zorn packte ihn, Zorn auf sich selbst, Zorn auf Méribel, der wohl noch immer hingestreckt zu Füßen seines Sessels lag, Zorn auf alles, was sich seit ein paar Stunden gegen ihn verschworen hatte. Die ganze Katastrophe, und dazu noch dieser Schlüssel, der sich störrisch zeigte und seine Tücke just in dem Augenblick entfaltete, wo Saivre mit den Nerven am Ende war.

Endlich schaffte er es, die Tür ging auf; da lag die luxuriöse Halle. Der Lichtstrahl glitt über Marmor und ließ die Vergoldungen des Aufzugs funkeln. Saivre schloß wieder hinter sich ab, als ob er damit die draußen lauernden Gefahren bannen könne. Morgen … morgen würde er die Beleuchtung einschalten, würde er den Aufzug benutzen, laut sein können und sich sein neues Leben zurechtlegen. Jetzt aber mußte er vor allem schlafen. Vor der Treppe, deren roter Läufer wie neu glänzte, zögerte er. Das Wasser rann ihm immer noch von den Kleidern und würde überall Spuren hinterlassen. Doch egal! Er war allein. Es würde Monate dauern, bis jemand das Haus betrat. Er lauschte. Jenseits der Stille grollte der Zyklon, jedoch weit, weit fort, wie in einem wilden Land, das er im Traum durchquert hatte. Hier aber war es wie feierliche Einkehr, als ob die Dinge ihn beobachtet hätten, ohne ihn wiederzuerkennen. Er stieg die Treppe hinauf und strich dabei liebevoll über das Geländer. Alles hier, die Wände, der Garten, das Bassin, sogar den Lichteinfall auf die beiden Fassaden – die rückwärtige blickte über das Land, und die vordere war dem Meer zugekehrt –, alles hatte er selber berechnet, konstruiert und ausgeführt. Er war Herr über diesen immensen Bau, der andächtig um ihn herumstand und von Treppenabsatz zu Treppenabsatz auf das nasse Schmatzen seiner Stiefel lauschte. Saivre schämte sich seines Aufzugs, und als er das Muster-Appartement betrat, das ein Innenarchitekt aus Paris möbliert und eingerichtet hatte, vermied er es, das Licht auf den großen Spiegel des Vestibüls fallen zu lassen, in dem er einen Mann erblickt haben würde, der direkt von der Jagd zu kommen schien – die Windjacke naß und steif vom Regen, halblange Hosen aus wasserdichtem Leinen, die in den rötlichen Gummistiefeln verschwanden, von denen der linke am Knöchel ein rundes Pflaster trug, wie ein geflickter Fahrradschlauch.

Er trat in die Küche, richtete die Lampe auf den Tisch, dann auf die Wand, und fühlte sich unbehaglich in dieser makellosen Musterküche, die unwirklich wie die aus einem Katalog war. Vorsichtig ließ er sich auf einem dünnbeinigen Stuhl nieder und machte sich daran, die Stiefel auszuziehen, wobei ihm unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf schoß, daß alles in diesen mit soviel erlesenem Geschmack möblierten Räumen unpraktisch und nicht zum Gebrauch geeignet war. Es war ein Irrtum von ihm gewesen, als er den Plan zu diesem Wohnblock entworfen hatte; ein Irrtum, als er ihn erbaute, und zwar gegen den Ratschlag seiner Freunde; Irrtum, Irrtum … Seit Monaten hatte er sich unablässig geirrt. Und nun gar …

In Socken durchquerte er die Küche, um am Wasserhahn zu trinken, aber es kam kein Wasser. Er war umringt von Widrigkeiten. Er begann zu frieren. Was hatte Marie-Laure doch gesagt? „Du bist verrückt!“ Ja, er war verrückt. Nur ein Verrückter konnte in dieser Wahnsinnsnacht flüchten, um eine Zuflucht zu suchen … Vor wem denn? … Vor was? … Er wußte es selbst nicht mehr; doch noch immer gellte ihm der Schuß in den Ohren, der die Wände zum Erzittern gebracht hatte. Méribel hatte seinen Frieden gefunden. Er dagegen lag nun auf den Landstraßen. Man würde Jagd auf ihn machen wie auf einen Verbrecher.

Er ging ins Wohnzimmer hinüber. Der Strahl seiner Stablampe glitt über die Möbel aus hellem Holz, und es fielen ihm die Sätze aus dem Prospekt ein, den er selbst verfaßt hatte. Die schönste Wohngegend der Côte d’Amour, 500 m von Piriac entfernt. Sie erwerben den Himmel und die Lebenslust: Sie legen Ihr Geld in Glück an! – Damals war es ihm nicht bewußt gewesen, daß er eigentlich auf eine noch undefinierbare Art gemogelt hatte. Morgen … übermorgen würde er Zeit finden, nach dem Grund der Katastrophe zu suchen. Aber erst schlafen! Er zog die Windjacke aus und leerte ganz mechanisch die Taschen; er war derart müde, daß er beim Anblick der Pfeife, des Tabakbeutels, des Feuerzeugs und der Brieftasche erst nachdenken mußte: all diese Gegenstände waren seinen Fingern ungewohnt. Sie gehörten Méribel. Der Trauring … er war wohl oder übel gezwungen gewesen, Méribel den Trauring abzuziehen, um ihm seinen eigenen an den Finger zu stecken. Méribels Leichnam war sein eigener Leichnam geworden. Wer hatte behauptet, er sei verrückt? Tot war er. Wenn er nur wie ein Toter schlafen könnte! Er suchte das Schlafzimmer. Der Plan der Wohnung verwirrte sich in seinem Kopf; er geriet wieder ins Vestibül und tastete umher. Das Schlafzimmer ging doch aufs Meer hinaus? Das Brausen leitete ihn. Auf dieser Seite verdichtete sich das Heulen des Windes zu einem schrillen Pfeifton, daß Saivre am Fußende des Bettes mit gebeugter Stirn stehenblieb. Stürme hatte er in diesem Flachland von Brière so manchen heulen gehört. Doch diesmal klang es anders als sonst. Als ob seine eigene Tragödie auf rätselhafte Weise dazu beigetragen habe, den Sturm zu entfesseln. Das Bett war geräumig und mit einer prunkvollen Tagesdecke bedeckt, doch es fehlten Bettzeug und Kopfkissen. Es war nur eine Bettattrappe, um die Besucher zu verführen, die, durch das Licht und die strahlende Harmonie der Farben ein wenig verwirrt, wie in einem Museum von Zimmer zu Zimmer gingen, und sich vorstellten: Hier zu leben!

Saivre zog die Hose aus und warf sie auf einen tiefen Sessel, dessen Bezug weich wie ein Fell war. Die Kälte war unerträglich. Durch die dichtgeschlossenen Fenster strich der Eishauch des Ozeans herein wie ein Atem, der brakig nach toten Algen riecht. Aber die Feuchtigkeit war noch schlimmer als die Kälte. Sie ließ die Stoffe glitschig werden. Die Matratze war klamm. Die Tagesdecke klebte an der Haut. Saivre streckte sich hin und knipste die Taschenlampe aus und rieb die eiskalten Füße aneinander. Die Dunkelheit war vollkommen. Trotzdem schloß er die Augen, um mit seiner Qual allein zu sein, aber in dem Wissen, daß er keinen Schlaf finden würde.

Marie-Laure würde wohl in diesem Moment mit der Polizei telefonieren. Morgen würde der Skandal ausbrechen. Verblüfft würde man lesen, daß Georges Saivre sich umgebracht hatte, Schuß in den Kopf, und sein Schwager, Philippe Méribel, flüchtig war. War es wirklich so? Alles war so unendlich verworren! … Tatsächlich war es Méribel, der sich umgebracht hatte, und Saivre, also er selbst, hatte eine eilige Inszenierung veranstaltet, um glauben zu machen, daß der Tote … Natürlich! Aber es war viel zu überstürzt geschehen, und die Untersuchungsbehörde würde selbstverständlich am Ende die Wahrheit herausbekommen. Und ihn zum Schluß noch beschuldigen, Méribel ermordet zu haben! Zum Glück konnte er den Brief vorweisen, jedoch … Er wollte nicht mehr nachdenken. Er war zu müde. Mit angezogenen Knien, in die Tagesdecke gewickelt, versuchte er sich zu wärmen; vielleicht bestand doch noch ein Fünkchen Hoffnung, die Sache mit heiler Haut zu überstehen. Er dämmerte hinüber, verlor das Bewußtsein. Ein Windstoß peitschte die Hauswand und warf einen Tropfenregen an die Fensterladen, der wie eine Handvoll Kieselsteine dagegenprasselte. Saivre drehte sich stöhnend um … Denise! … Zum erstenmal, seit er um sie trauerte, hatte er vor dem Einschlafen nicht an Denise gedacht. Wenn sie noch neben ihm gewesen wäre … Seine Gedanken trübten sich, er atmete mit offenem Mund, und dann fand er plötzlich jene Klarsicht wieder, die manchmal nachts das Bewußtsein mit der Helligkeit eines Blitzes zu erleuchten pflegt. Und plötzlich ergriff ihn ein Gefühl der Panik. Wenn er jetzt krank würde? Wer sollte ihm helfen? Die ganze Siedlung war über Winter geschlossen und unbewohnt. Im Dezember kamen die Wohnungseigentümer nicht mehr heraus. Sogar Mutter Josse würde sich kaum vor Ostern die Mühe machen, die leerstehenden Appartements zu lüften. Er war hier einsamer als ein Schiffbrüchiger auf einer Insel und beinahe noch mehr preisgegeben! Marie-Laure hatte versprochen: „Bis Donnerstag!“ Aber würde sie all den Leuten entkommen können, die sie pausenlos verhörten? Welch Knüller für die Zeitungen: die tränenüberströmte Frau, deren Bruder tot und deren Gatte auf der Flucht war! Und wenn die Polizei die Wahrheit entdeckte, wäre es noch schlimmer: Marie-Laure wurde dann zur Witwe eines von ihrem eigenen Bruder ermordeten Mannes! Und schwieg sie, kam sie in den Verdacht der Komplicenschaft. Und …

Saivre setzte sich auf und lehnte sich an die Wand. Nein! Es war nicht möglich! Wenn er die Zeit gehabt hätte, die Konsequenzen zu bedenken, hätte er ihnen die Stirn geboten. Noch konnte er es. Er brauchte nur den Telefonhörer abzunehmen. Er stand auf, nahm die Taschenlampe und ging ins Wohnzimmer hinüber. Dort stand das Telefon; auf einem niedrigen Tischchen, weiß wie die Knochen, die man am Strand aufliest, und ebenso tot wie sie, da es nicht angeschlossen war. Es war nur ein Schau-Apparat, eine diskrete Einzelheit des in dem eleganten Raum dargebotenen Komforts. Zwischen der Welt und Saivre lag die grenzenlose Fläche der überschwemmten Felder, der durchtosten Nacht. Er sah nach der Uhr. Der Morgen war noch fern, so fern, daß er fröstelte. Und fünf Tage mußte er durchhalten! Fünf Nächte!

Er hockte sich in einen Sessel und breitete die Windjacke über die Knie. Warum nicht dem Staatsanwalt einen Brief schreiben? Mußte man sich in einem solchen Fall nicht an ihn wenden? Doch wo Schreibpapier, einen Bleistift, Briefmarken finden? Und doch, wenn er sich jetzt alles von der Seele schreiben könnte, solange die Bilder noch frisch, noch wie bei einem Film von Details wimmelnd vor seinen Augen standen! … Die Jagdhütte zum Beispiel. Rechts das viele Schilf, in das der Wind rasche Furchen grub, und die kurzen Wellen auf der Wasserfläche … „Was für ein Hundewetter“, brummte Méribel. „Nicht ein einziges Mal werden wir zum Schuß kommen!“ Damit hatte alles angefangen. Unmöglich, es weiter zurückzuverfolgen. Sonst müßte man bis ins Unendliche den Zufällen der Begegnungen nachspüren, die das Leben bilden, den Verzweigungen der Ereignisse, die sich wie die Schienenstränge verflechten. Welche Weichenstellung hatte ihm Denise zugeführt? Und dann Méribel? Warum hatte er Denise geheiratet? Und Méribel seine, Saivres, Schwester Marie-Laure? Nein, was der Staatsanwalt erfahren mußte, war nur, daß alles mit dem Augenblick begonnen hatte, da Méribel gesagt hatte: „Gehen wir nach Hause?“

Zusammen hatten sie nach dem grauen Himmel ausgeschaut; dann hatte Méribel, die Flinte in der Armbeuge, die Hütte verlassen. Sie waren durch schlammige Erde gewatet, während der andere, der Sendbote des Unheils, bereits auf das kleine Gehöft La Bourrine zurollte, aber das wußten sie nicht. Das war … ja, es war gestern abend gewesen. Die Dunkelheit sank schon. Um wieviel Uhr? Der Staatsanwalt würde die Uhrzeit wissen wollen. Vielleicht halb fünf. „Auch morgen wird’s weiter aus Südwesten blasen“, hatte Méribel noch gesagt, als sie einen weniger schlammigen Weg erreichten. Auf der weiten Fläche des Moors sah man nur ihre beiden Gestalten. Bis nach La Bourrine, an der Straße nach La Roche-Bernard, war es eine gute halbe Stunde. Würde man auch erklären müssen, warum Méribel das Bauernhaus gekauft hatte? Wenn der Staatsanwalt weder etwas für die Jagd noch den Fischfang übrig hatte, würde er Méribel niemals begreifen können. Vielleicht war das dem armen Philippe zum Verhängnis geworden? Er war weder sehr groß noch sehr stark; was dem einen paßte, paßte auch dem anderen; doch in ihm steckte eine ungeheuerliche Vitalität. Immer in Bewegung, immer neue Einfälle im Kopf; Neigungen wie ein Bojar; La Bourrine hatte er eigenhändig umgebaut, denn er war handwerklich sehr geschickt. Sein Standquartier war es geworden. Die Wohnung in Nantes war gut genug für Marie-Laure oder auch für ein paar anreisende Kunden, obwohl er es vorzog, sie im Café zu empfangen. Sobald er von der Reise heimkam, fuhr er sofort nach La Bourrine hinaus, zu seinen Flinten und Angelruten. Selbst das Kochen übernahm er dort; er war ein ausgemachter Feinschmecker und immer wild auf ungewöhnliche Rezepte. Er zwang aller Welt sein Tempo auf. Sogar Denise hatte sich davon mitreißen lassen …

Saivre streckte die eingeschlafenen Beine aus und suchte eine bequemere Lage. Nach der Hofseite hin polterte irgend etwas hinab. Im Frühjahr würden Reparaturen anfallen. Wennschon! Saivre rechnete nicht mehr. Es war schließlich nicht seine Schuld, wenn der Sturm das Dach abdeckte … Es war nicht seine Schuld, wenn Méribel sich eine Ladung Schrot in den Kopf gejagt hatte. Was konnte man ihm überhaupt vorwerfen? Höchstens, nicht rechtzeitig die Augen aufgemacht zu haben. Doch auch Denise, die doch ein sicheres Urteil gehabt hatte, hatte nicht das geringste geahnt. Abermals ein Detail, das der Staatsanwalt nie würde begreifen können. Sollte er Saivre jemals verhören, würde er unweigerlich fragen:

„Warum haben Sie Ihren Schwager nicht überwacht?“

„Er war mein Compagnon.“

„Eben drum! Sie hätten von Zeit zu Zeit Stichproben machen müssen! Einem so abenteuerlichen Burschen läßt man nicht freie Hand.“

Denise dachte im Gegenteil, man dürfe Méribel nicht zu stramm an den Zügel nehmen. Saivre war nicht gewohnt, über die Ansichten Denises zu diskutieren. Und weiter? Würde man von ihm auch verlangen, daß er Denise erklärte? Die Richter, die Anwälte würden Bescheid wissen wollen. Warum hatte er Denise geheiratet? Weil sie Geld hatte? Und ihre Familie einflußreich war? Seine Versicherung, daß er sie geliebt habe, würde man lächelnd übergehen. Wenn ein Witwer von Liebe redet, dann klingt es nicht seriös!

Saivre stand auf. Wo hatte er das Einkaufsnetz abgestellt? Doch Marie-Laure hatte nicht an Aspirin gedacht. Dazu hatte die Zeit gefehlt. Er ließ seine Lampe aufleuchten und kehrte in die Küche zurück. Da lag das Einkaufsnetz, neben einem Bein des Küchentischs. Er erinnerte sich, wie Marie-Laure und er es im letzten Augenblick, in der Verwirrung des Aufbruchs, vollgestopft hatten. Er leerte es und reihte die Konservenbüchsen auf: Krabben, grüne Erbsen … Was sollte er mit grünen Erbsen ohne Kochtopf anfangen? Ohne Feuer? … Schweinspastete, Champignons, ein Paket Zwieback, Gläser mit Konfitüre, ein Fläschchen Ketchup … Natürlich, alle beide hatten sie den Kopf verloren … Und kein einziges Medikament. Ganz am Boden sein elektrischer Rasierapparat. Fünf Tage mußte er mit diesen unbrauchbaren Vorräten durchhalten. Grotesk! Er hatte Kopfschmerzen. Vielleicht hatte er sich erkältet. Wenn er wenigstens hätte rauchen können! Er hatte zwar die Pfeife des Toten, aber soweit war’s dann doch noch nicht mit ihm. Wenigstens jetzt noch nicht. Es war etwas nach fünf. Aber der Wind hatte noch nicht nachgelassen. Saivre löschte seine Lampe. Er mußte sparsam mit der Batterie umgehen.

Tastend kehrte er ins Schlafzimmer zurück. Der Regen trommelte gegen die Hausmauern, und das gewaltige Tosen des Meeres untermalte das Dröhnen eines Basses, eines Orgelgrollens, das zuweilen die Scheiben vibrieren ließ. Er ging wieder ins Bett und breitete die Tagesdecke und die Windjacke über sich. Wo war er doch stehengeblieben? Aha, der Brief an den Staatsanwalt. Der Gedanke war genauso absurd wie alles Übrige, aber er beschäftigte ihn wenigstens. Also alles hatte auf dem Heimweg begonnen. Im Hof von La Bourrine vor der Garage, in der sie ihre Wagen abstellten, stand ein roter Sportwagen, ein Mustang.

„Kennst du ihn?“ fragte Méribel, sofort mißtrauisch, denn er schätzte es nicht, wenn man seine Ruhe in La Bourrine störte.

Sie traten näher und betrachteten das Nummernschild mit den arabischen Schriftzeichen und den beiden Buchstaben MA.

„Ein Wagen aus Marokko? Hier?“

Marie-Laure schlüpfte in die Garage, demütig wie stets, und bereit, sich zu entschuldigen. „Er bestand darauf“, flüsterte sie. „Ich hab ihn in den Rauchsalon geführt.“

„Was kann das bedeuten?“ brummte Méribel. „So spät am Nachmittag?“

Doch keiner von ihnen war beunruhigt. Saivre erinnerte sich sogar, daß er sich prüfend über die Backe gestrichen und gefragt hatte: „Muß ich mich vielleicht rasieren?“ Bei einer gerichtlichen Aussage hat alles seine Wichtigkeit. Und warum zum Beispiel dieses Bedürfnis verhehlen, gepflegt, proper zu sein, um damit der Vorstellung zu entsprechen, die sich die Leute von dem Leiter einer großen Agentur, einem erfolgreichen Unternehmer, machen? Méribel mokierte sich über ihn: „Du siehst wie ein Generaldirektor aus.“ Das war es nicht. Es war Denises wegen, um ihr zu gefallen. Sie war zwar tot, aber es galt noch immer, ihr zu gefallen. Unmöglich, kalten Blutes von ihr zu sprechen. Niemals würde er es fertigbringen, ihnen zu sagen … Er und Denise, das war ein so komplizierter Fall!

Gut! Sie traten also beide in die Küche, stellten ihre Flinten neben der hohen Standuhr ab, und Méribel nahm sich noch die Zeit, den Deckel vom schmurgelnden Ragout abzuheben und den Duft zu schnuppern.

„Vergiß nicht, es genügend zu salzen!“

Marie-Laure schaute sie an; in ihrer Jägerkleidung, auf der die Feuchtigkeit Spuren in den Falten zurückgelassen hatte, sahen sie fast einer wie der andere aus.

„Ihr hättet euch auch umziehen können“, hatte sie bemerkt. „Man weiß gleich, daß nicht ihr sauber zu machen braucht.“

Méribel zuckte die Achseln und stieß die Tür zum Rauchsalon auf. Auf den ersten Blick hatten sie ihn wiedererkannt. Er hatte sich nicht verändert, nur war er elegant geworden und hatte etwas allzu Selbstsicheres.

„Guten Tag, Saivre.“

Früher hatte er stets ‚Monsieur Saivre‘ gesagt.

„Tag, Méribel.“

In dem grauen Anzug, der ihn schlank erscheinen ließ, schien er ein bißchen größer als Méribel zu sein. Aber es schien nur so. Doch schon gleich zu Anfang war er in der Vorhand. Er sah aus, als empfinge er seine Pächter.

„Merkwürdige Jahreszeit, um Urlaub zu machen“, war Méribel zum Angriff vorgegangen.

Es war erstaunlich, daß er jeden Satz, jede Erwiderung, jedes Bild so klar im Gedächtnis behalten hatte. Die Scheite brannten lustig im Kamin; aus den Jagdjoppen, die nach nassem Stoff rochen, stieg Dunst auf.

„Ich bin nicht im Urlaub. Ich bin hergekommen, um Sie aufzusuchen … Seit Sie mich …“ er war vielleicht drauf und dran gewesen zu sagen: ‚vor die Tür gesetzt haben‘, verbesserte sich aber: „Seit wir uns getrennt haben, habe ich in Marokko ein Geschäft aufgezogen … Geht recht gut. Da unten läßt sich mit Bodenspekulationen ein schönes Stück Geld machen … Man darf nur nicht zu engstirnig sein! Aber darüber wissen Sie ja ebensogut Bescheid wie ich, nicht wahr, Méribel?“

Den Satz warf er so hin, daß alle beide sofort hellhörig geworden waren.

„Worauf wollen Sie hinaus, Maupré?“ hatte Méribel geantwortet.

Maupré warf einen Blick auf seine Armbanduhr, griff nach einer Aktentasche, die von beiden unbemerkt gegen den Fuß seines Sessels gelehnt war, und mit dem Reißverschluß spielend, fuhr er fort:

„Einige von meinen Kunden investieren auch in Spanien, zufälligerweise genau in der Gegend, an der Sie interessiert sind. Nun schwirren da merkwürdige Gerüchte herum … und wenn ich Gerüchte sage …“

Méribel erhob sich, um im Kamin Holz nachzulegen. Es sah noch wie ein gemütliches Beisammensein dreier Geschäftsfreunde aus. Doch schon schien die Wahrheit ans Licht zu drängen. Es würde zu einem Eklat kommen. Und da war er schon.

„Appartements zu verkaufen ist schön und gut … Doch dieselben Appartements mehrmals zu verkaufen … ist noch besser. Ganz zu schweigen von dem, was unterm Tisch vor sich geht … Privatabmachungen mit den Unternehmern … Ich habe da ein ganzes Bündel Belege.“ Er klopfte mit dem Knöchel auf die Aktentasche und lächelte freundlich. „Damals, als ich noch für Sie Kunden warb, hatten wir für Harmloseres als das gewisse Ausdrücke.“ Mit einem energischen Ruck zog er den Reißverschluß auf und nahm Papiere, Pläne, Notizen heraus …

„Es sind selbstverständlich nur Abschriften“, betonte er, immer mit demselben ein wenig verkrampften Lächeln. „Die meisten der Kunden wohnen nicht in unmittelbarer Nähe; sie verlassen sich auf den Makler. Es ist ganz klar, daß die Firma Saivre über jeden Zweifel erhaben ist …“

Von diesem Augenblick an schwebte die Tragödie schon im Raum. Méribel betrachtete seine Stiefel, die Ellbogen auf den Knien, die Hände zu Fäusten geballt. Warum verteidigte er sich nicht? Warum fuhr er nicht hoch? So wie er dasaß, wirkte er wie das verkörperte schlechte Gewissen. Saivre durchlebte noch einmal diese Minute, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Kein Mensch, und schon gar nicht das Gericht, würde ihm abnehmen, daß er, Saivre, nichts über die Machenschaften seines Schwagers gewußt hatte. Maupré beachtete Méribel nicht einmal. Er wandte sich an seinen ehemaligen Chef. Er drohte nicht. Er hatte es nicht nötig zu drohen. Die Papiere, die er in der Hand hatte, waren gefährlicher als ein gezückter Revolver.

„Ich werde Ihnen die Akten hierlassen“, endete er. „Noch weiß man nicht, was ich da entdeckt habe. Bis jetzt sind es nur … Unvorsichtigkeiten, die vielleicht zu reparieren sind … Vorausgesetzt, daß schnell gehandelt wird! Geben Sie mir meine Provision, und ich kehre nach Casablanca zurück. Es ist eine Gefälligkeit, die ich Ihnen erweise, ein Wink, sonst nichts … Sagen wir zweihunderttausend Francs. Bar auf die Hand. Das ist doch die Art, in der Sie vorgehen, nicht wahr?“

Selbstzufrieden hatte er sich eine Zigarette angezündet.

2

Wann war er eingeschlafen? Die Dunkelheit war noch immer dicht wie zuvor, nur der Wind schien seine Richtung geändert zu haben und trat jetzt mit voller Wucht gegen die Südfassade, daß die Scheiben klirrten und die Holzrahmen der Fenster ächzten. Saivre suchte nach seiner Stablampe. Schließlich fand er sie unterm Bett. Er beleuchtete seine Uhr: Viertel nach sieben. Es war also schon Morgen? Im Mund hatte er einen merkwürdigen Geschmack, als ob sein Zahnfleisch geblutet hätte, und er fühlte sich steif und zerschlagen.

Er setzte sich auf, massierte die Beine, versuchte die Füße zwischen den klammen Händen zu wärmen; gleichzeitig begannen seine Gedanken wieder zu wandern und waren sofort wieder bei dem alten Thema … La Bourrine