Bruder Judas - Pierre Boileau - E-Book

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Pierre Boileau

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Beschreibung

Paul Anduze, 35, ist ein fanatischer Anhänger des blutigen Mitrakultes, den Professor Bukujian in Reims wieder ins Leben gerufen hat. Da Anduze von Beruf Buchhalter ist, hat er sich – unentgeltlich – der Finanzen der Sekte angenommen. Und das war höchste Zeit gewesen. Ashram, wie das alte Schloß genannt wird und wo die Zusammenkünfte der Sekte stattfinden, hatte schon lange nicht mehr alle Anhänger des Meisters aufnehmen können, so daß dieser den Bau eines Hotels in die Wege geleitet hatte – in schöner Ahnungslosigkeit, was die zu erwartenden Kosten anbelangt. Anduze hat eine Zeitlang vor Sorgen nicht mehr ein noch aus gewußt, Ashram und die Sekte bereits vor dem finanziellen Ruin gesehen, den Meister der Reinen Lehre womöglich gezwungen, sich mit den Widerwärtigkeiten des Alltags herumzuschlagen … Und dann, aus heiterem Himmel, war die Rettung gekommen. Eine Rettung, die sich bedauerlicherweise aus dem Unfalltod zweier Menschen ergab, Ashram aber immerhin eine beträchtliche Geldsumme garantierte. Das heißt, wenn sich Paul bisher um mangelnde Gelder gesorgt hatte, so ist es jetzt etwas anderes, das ihn nicht schlafen läßt. Die Sache mit dem Geld hat nämlich einen Haken, von dem nur Anduze weiß. Doch es gibt vier Menschen, die nicht ahnen, daß sie Mitwisser eines Geheimnisses geworden sind … Vier Menschen auf der einen Seite – und auf der anderen die Glückseligkeit von viertausend oder mehr …

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Pierre Boileau • Thomas Narcejac

Bruder Judas

Aus dem Französischen von Ellenmarie Hesse

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Paul Anduze, 35, ist ein fanatischer Anhänger des blutigen Mitrakultes, den Professor Bukujian in Reims wieder ins Leben gerufen hat. Da Anduze von Beruf Buchhalter ist, hat er sich – unentgeltlich – der Finanzen der Sekte angenommen. Und das war höchste Zeit gewesen. Ashram, wie das alte Schloß genannt wird und wo die Zusammenkünfte der Sekte stattfinden, hatte schon lange nicht mehr alle Anhänger des Meisters aufnehmen können, so daß dieser den Bau eines Hotels in die Wege geleitet hatte – in schöner Ahnungslosigkeit, was die zu erwartenden Kosten anbelangt. Anduze hat eine Zeitlang vor Sorgen nicht mehr ein noch aus gewußt, Ashram und die Sekte bereits vor dem finanziellen Ruin gesehen, den Meister der Reinen Lehre womöglich gezwungen, sich mit den Widerwärtigkeiten des Alltags herumzuschlagen … Und dann, aus heiterem Himmel, war die Rettung gekommen.

Eine Rettung, die sich bedauerlicherweise aus dem Unfalltod zweier Menschen ergab, Ashram aber immerhin eine beträchtliche Geldsumme garantierte.

Das heißt, wenn sich Paul bisher um mangelnde Gelder gesorgt hatte, so ist es jetzt etwas anderes, das ihn nicht schlafen läßt. Die Sache mit dem Geld hat nämlich einen Haken, von dem nur Anduze weiß. Doch es gibt vier Menschen, die nicht ahnen, daß sie Mitwisser eines Geheimnisses geworden sind …

Vier Menschen auf der einen Seite – und auf der anderen die Glückseligkeit von viertausend oder mehr …

Über Pierre Boileau • Thomas Narcejac

Die beiden französischen Autoren Pierre Boileau (1906–1989) und Thomas Narcejac (1908–1998) haben zusammen zahlreiche Kriminalromane verfasst. Ihre nervenzerreißenden Psychothriller haben viele Regisseure zu spannenden Filmen inspiriert, am bekanntesten sind wohl «Die Teuflischen» und sein amerikanisches Remake «Diabolisch» und «Vertigo – Aus dem Reich der Toten», sicher einer der besten Filme von Alfred Hitchcock.

Inhaltsübersicht

Die Hauptpersonen1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel

Die Hauptpersonen

Paul Anduze

kennt nur ein Ziel.

 

 

Patrick Nolan, Chet Nolan

sind durch einen Unfall ums Leben gekommen, was weitere Todesfälle nach sich zieht.

 

 

van den Brouke, Phildar, Blaisot, Léa

sind Augenzeugen und ahnen nicht die Bedeutung dessen, was sie beobachtet haben.

 

 

Bazil Bukujian

betätigt sich messianisch und steht vor der Pleite.

 

 

Virginia Nolan

überreicht ein tödliches Geschenk.

 

 

Karl

wird schuldlos zum Komplizen eines Mörders.

 

 

Inspecteur Mazurier

wird mißtrauisch, wenn sich tödliche Unfälle häufen.

1

Die Jünger standen aufgereiht an den Wänden des großen Saales. Links die Raben, die Okkulten und die Soldaten; rechts die Löwen, die Perser und die Heliodromen; die Patres standen ein paar Schritte hinter dem Meister. Sie trugen Tuniken, die in den sieben Farben des Regenbogens schimmerten. Nur der Meister, mit den höchsten Weihen versehen, trug die weiße Robe, Symbol der wiedererlangten Einheit. Anduze, den Oberkörper entblößt, zitterte vor Erregung, vor Furcht, vor Hoffnung. Mit gebundenen Händen stand er vor dem Meister. Er spürte, daß er etwas lächerlich wirkte, engbrüstig, mit mageren Armen und einem Bart, der wie angeklebt aussah. Aber er wußte, daß sich die Große Kraft auf ihn herabsenken würde und daß er sein Ziel verfolgen würde bis zum Ende.

«Bruder», nahm der Meister das Wort, «nach was verlangest du?»

«Ich verlange nach dem Licht», antwortete Anduse.

«Bist du fähig, deinen dem Tod geweihten Körper aufzugeben, auf alle Begierden zu verzichten, die ihn hienieden fesseln und deinen Geist gefangenhalten?»

«Ich bin es.»

«Dann sprich das Taufgebet.»

«Mithras, der du uns erlösest, der du Herr über unsere Wiedergeburten bist, offenbare deinem Diener Paul die Wahrheit, laß ihn auf deinen Wegen wandeln, gib ihm die Kraft, all sein Handeln in das Wohl der Gemeinschaft zu stellen.»

«Mithras erhöre dich.»

Mit einer Handbewegung rief der Meister einen in Purpur gekleideten Jünger zu sich heran, der ihm einen auf einem Kissen gebetteten Degen überreichte. Anduze streckte seine Hände aus, die mit einer dünnen Kordel gebunden waren, und der Meister trennte die Fessel durch. Ein zweiter Jünger in einer grünen Tunika brachte ein mit Wasser gefülltes silbernes Gefäß. Anduze tauchte die Hände hinein und wusch sie.

Die Gemeinde stimmte langsam und getragen einen lateinischen Choral an, der Meister hatte den Text selbst verfaßt nach einem altsyrischen Dichter, Zacharias, dem Scholastiker. Anduze verstand nicht viel von dem Inhalt, aber der Choral erinnerte ihn an die Litaneien katholischer Gottesdienste zu Ehren der Jungfrau Maria.

«Mithras, der du über die Elemente herrschest, erhöre uns … Mithras, der du die Erde befruchtest, erhöre uns … Mithras, der du …»

Anduze stimmte nicht mit ein, zu groß war seine Bewegung und seine Scheu. Diese Männer hier, diese Frauen, mit denen er jeden Sonntag zusammentraf, deren Vergangenheit er kannte, um deren geheime Schwächen er wußte, der dicke Kagler, Simone Alamine mit ihren Diamanten, Boccara, der heimlich trank … und die vier, die in dem Wagen gesessen hatten, Blaisot, van den Broucke, Phildar, Léa … sie sangen, diese Unglücklichen … sie konnten nicht wissen … und alle anderen, die unter der Woche ein eher alltägliches Leben führten, hier schienen sie auf einmal verwandelt, verklärt.

Anduze hätte so gerne sein altes Ich gesprengt! Gewiß, er war zutiefst erregt, würde doch die Taufe etwas bisher noch Unbekanntes in seinem Inneren bewirken, aber wenn sie nun doch nicht alle Energien freisetzte, die er brauchen würde, um seine Mission bis zum Ende zu erfüllen … doch nein! Der Meister hatte ihm ja versprochen … und außerdem waren alle, die diese Taufe empfangen hatten, mehr oder weniger verwandelt aus ihr hervorgegangen … sogar Castel, der Skeptiker, der sich plötzlich an ein früheres Leben erinnern konnte!

Anduze legte keinen Wert darauf zu wissen, ob auch er schon einmal gelebt hatte. Er wollte nur an das denken, was er vollbringen mußte, und das war so außergewöhnlich, so schwierig, daß er auch in dem Augenblick, als er das Sakrament empfing, seine Zweifel nicht beiseite schieben konnte. Vielleicht träumte er nur? Der Sitzungssaal war am Vorabend in einen Altarraum verwandelt worden. Der Raum war schmal und lang und sollte das Universum symbolisieren. Rechts und links an den Wänden zogen sich die «Podien» hin, erhöhte Bänke, auf denen die Gläubigen niederknieten. An der Stirnseite, die in eine Apsis auslief, hatte der Meister ein Bildnis Mithras’ aufgehängt, von zwei langen, spitzen Hörnern gekrönt und flankiert von zwei fackeltragenden Jünglingsstatuen. Das Bildnis des Gottes hing über einem Kamin, in dem Holzscheite loderten. Auf der linken Wand war ein Tierkreiszeichen aufgemalt; auf der rechten Wand hatte der Meister, der sehr geschickt mit Pinsel und Palette umgehen konnte, den Gott mit einem Löwenkopf dargestellt, und Mithras, wie er aus dem Felsen hervortritt. Der Raum wurde nur von zwei Wandleuchtern zu beiden Seiten der Eingangstür erhellt und von den zuckenden Lichtreflexen des Kaminfeuers. Der Gesang ging zu Ende, und der Meister half Anduze, sich zu erheben.

«Paul», sagte er, «in wenigen Minuten wirst du unser Gefährte für diese Leben und für alle Wiedergeburten geworden sein, denn wie die meisten, die hier unter uns sind, wirst du noch zahlreiche Lebenszyklen zu durchlaufen haben, ehe du in den Frieden des Nicht-mehr-Seins eingehen kannst. Aber ich werde immer bei dir sein, denn schon jetzt bin ich du und du bist ich in dem Einen. Nach und nach werden sich deine Augen öffnen. Du wirst verstehen lernen, daß Leben und Tod nur Scheinbegriffe sind. Wir werden gemeinsam in die Nacht des Anbeginns hinabsteigen, und dann wirst du über die Treppe der sieben Stufen wiedergeboren zum Licht emporsteigen. Das vergossene Blut Mithras’ wird sich wie der Mantel der Ewigkeit um deine Schultern legen. Bist du bereit?»

Anduze schaute den Meister an. Er schien ihn zum erstenmal zu sehen. Der Meister strahlte eine Güte aus, die seine massigen Züge zu verklären schien; die vorstehenden Augen hatten einen etwas starren Ausdruck, aber der Blick war von fast fraulicher Weichheit, die in seltsamem Kontrast zu dem nach Mongolenart glattrasierten Schädel stand.

«Bist du bereit?» fragt der Meister noch einmal.

«Ich bin bereit.»

«Dann komm.»

Die Jünger stellten sich in Zweierreihen auf; die in violette Tuniken Gekleideten standen an der Spitze, dann kamen die blauen Tuniken, gefolgt von den Farben Türkis, Grün, Gelb, Orange und Rot. Anduze schritt dem Meister voran. Der Zug verließ den Altarraum, überquerte den Flur und bewegte sich die Treppe hinab, die zu den Kellerräumen führte. Anduze wußte, daß er auf eine harte Probe gestellt werden würde. Automatisch preßte er die Arme fest an den Körper, ihm war kalt. Konnte er jetzt noch zurück? Er fuhr erschrocken zusammen, als seine Gefährten wieder zu singen begannen. Es war ihm auch jetzt unmöglich, in den Choral einzustimmen, er hatte schon Mühe genug, ein Bein vor das andere zu setzen.

«Die Sonne wird die Finsternis vertreiben … Die Wahrheit wird die Erde erleuchten und die Herzen derer, die bereit sind, sich aufzugeben, um in dir wiedergeboren zu werden, o Mithras, dem Einzigen, Unvergleichlichen, Quelle der Quellen, Mittelpunkt des Mittelpunktes, jenseits alles Jenseitigen …»

Der Gesang pflanzte sich durch die Kellergewölbe fort. Im huschenden Licht der Taschenlampen, das den Weg markierte, schritt die kleine Gruppe voran, begleitet von riesigen Schatten, die über Wände und Decken glitten. Hier und da öffnete sich ein Gang, in dem alte Flaschenregale standen, von denen Spinnweben herunterhingen. Anduze war schon oft in den Kellerräumen gewesen, aber nur in seiner Eigenschaft als Verwalter, der über das Hab und Gut der Gemeinschaft zu wachen hatte. Jetzt wirbelte ihm der Kopf. Das Gefühl seiner Unwürdigkeit war so stark, daß er zu keuchen begann und stehengeblieben wäre, hätte ihn der Meister nicht mit fester Hand vorwärts geschoben. Ja, er mußte das Chaos der Scheinwelt durchschreiten; die Kellerräume waren nur ein Aspekt dieser schillernden Welt, die uns unsere Illusion vorgaukelt. Er stolperte über ein paar im Wege liegende Schienen, die zum Transport von Champagnerkisten gedient hatten, und der Meister packte ihn fest an der Schulter. Zum Glück war der Meister zur Stelle, sein ständig wachsamer Beschützer. Was wäre ich ohne ihn, dachte Anduze. Ein kleiner Buchhalter, ein Nichts, ein Schatten … Ach, wenn ich ihn doch auch beschützen könnte! Aber ich werde ihm beweisen, daß …

Der Zug machte vor der Wand, die den Tunnel abschloß, halt. Zur Rechten gähnte ein Verlies. Anduze konnte nur die Eingangsöffnung erkennen, aber er wußte, was sich dort unten in der Dunkelheit verbarg, und preßte die Hände zusammen, damit sie nicht zitterten. Die Jünger traten schweigend zurück. Der Meister ging an den dunklen Abgrund heran. «Karl?»

«Ja, Meister», antwortete eine Stimme.

«Mach das Licht an.»

Ein roter Schein ergoß sich über die Betonwände. Plötzlich hörten sie ein dumpfes Schnauben und ein trockenes Rascheln, als ob Stroh zerstampft würde. Der Meister wandte sich zu Anduze um. «Die Stunde ist gekommen», murmelte er. «Gehe hin in Frieden. Wenn der Augenblick der Verwandlung kommt, werden wir für dich beten.» Er legte Anduze die Arme um die Schultern und klopfte ihm auf den Rücken. Dann kamen die Jünger, einer nach dem anderen, und küßten Anduze rechts und links auf die Wange … Simone Alamine roch nach teurem Parfum, Kogler nach kaltem Zigarrenrauch. Léa fühlte sich so weich an, daß er sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Er fühlte sich allein, mitten im Kreis der Eingeweihten. Zu seinen Füßen führten Stufen in die Tiefe. Er stieg sie langsam hinab, tastete mit den Händen an der Mauer entlang. Die Treppe beschrieb einen Bogen und endete in einer schmalen Zelle. In die Decke der Zelle waren Löcher gebohrt, durch die ein schwacher Lichtschein fiel. Ein beißender Stallgeruch hing in der Zelle, und Anduze versuchte, möglichst flach zu atmen. Er schwitzte wie in einer Sauna. Ein Schatten, der ins Riesenhafte zu wachsen schien, löschte den Lichtschein aus. Ein mächtiges Stampfen ließ die Decke erdröhnen, direkt über Anduzes Kopf, so daß er sich unwillkürlich duckte und schützend einen Arm vors Gesicht legte. Der Stier des Mithras!

Das gefesselte Tier stieß ein ersticktes Brüllen aus, das in Anduze nachhallte wie ein Echo seiner tödlichen Angst. Vor ihm hatten schon andere diese Probe durchgemacht. Castel behauptete, es sei durchaus erträglich, wenn man seine Phantasie zum Schweigen bringen könne. Aber Jeanne Bellème war ohnmächtig geworden. Man mußte sich eben nur sagen, daß tagtäglich Millionen von Tieren getötet wurden, daß die Erde triefte vom Blut der geopferten Tiere, geopfert, um die Menschen satt zu machen. Man mußte sich ins Gedächtnis rufen, daß es früher die Priester waren, die, um die Zukunft zu befragen oder die Götter zu besänftigen, feierlich Lämmer schlachteten, Schweine, heilige Kühe … Man mußte vor allem daran denken, daß der Tod nichts bedeutete, nichts als eine Übergangsphase, um die Seele zu neuer Bestimmung zu führen. Wenn er, Anduze, den ersten der vier verschwinden lassen würde, mußte er sich vor allem eins mit aller Kraft klarmachen: Der Tod bedeutet nichts.

Die rauhe Oberfläche der Mauer, an die er sich gelehnt hatte, zerkratzte ihm die Haut, und er spürte eine solche Schwäche, daß er sich nicht mehr länger aufrecht halten konnte. Er fiel auf die Knie in dem Augenblick, als ein Beilhieb über seinem Kopf widerhallte. Er wußte plötzlich, was ein Baum unter Axthieben spüren muß, die ihn bis in die Wurzeln erzittern lassen. Bildfetzen explodierten hinter seinen geschlossenen Augenlidern. Er war die Eiche, die sich zur Erde senkte und gleichzeitig der Stier, der unter dem Beilhieb einknickte. Er vernahm das krachende Stürzen des Baumes und das dumpfe Aufschlagen des Körpers. Er öffnete den Mund zu einem Schrei. Etwas Riesenhaftes verstopfte alle Löcher in der Decke, und in Sekundenschnelle war Anduze in die Dunkelheit eines Grabes getaucht. Von weither vernahm er ein Murmeln … die Jünger beteten für ihn, sie wollten ihm helfen, die alte Hülle abzuschütteln, den kläglichen Körper hinter sich zu lassen. Und dann fiel der erste Tropfen. Er fiel auf seinen Rücken. Anduze spürte, wie der Tropfen platzte wie der erste Tropfen eines Gewitterregens. Er war groß und warm, dick wie Speichel. Anduze biß die Zähne zusammen. Er stellte sich vor, daß der Tropfen rot war, blasig. Er segnete die Dunkelheit um ihn her. Der zweite Tropfen fiel auf seinen Nacken und lief ölig langsam an seinem Hals herunter. Und auf einmal waren es hundert Tropfen, tausend Tropfen. Ein schleimiger Sturzbach. Anduze starb fast vor Ekel. Aber er hielt durch trotz der Hitze, des Gestankes, der Erschöpfung.

Er versuchte, sich zu erheben, glitt aus. Seine schmierigen Hände rutschten unter ihm weg, und er fiel schwer auf den Zementboden zurück. Er war am Ende seiner Kraft wie ein alter Kämpfer, der unter seinen Wunden zusammenbricht. Aber plötzlich durchströmte ihn eine trotzige Freude, bahnte sich einen Weg wie ein munter sprudelnder Bach. Die Kraft! Die Kraft würde über ihn kommen! Das vergossene Blut, das noch immer heruntertropfte wie die Wassertropfen, die unterirdische Höhlen befeuchten und das Schweigen der Erde mit einem hellen Klang durchbrechen, dieses Blut bedeutete Kraft! Und diese Kraft würde ihm helfen, Ashram zu retten! Der Meister hatte Recht. Er würde als neuer Mensch zum Licht emporsteigen. Noch immer der alte Anduze vielleicht seiner äußeren Erscheinung nach, aber im Inneren ein Fels des Glaubens, den nichts mehr erschüttern konnte, zum Kamikaze der Treue bereit.

Anduze wagte nicht, sein schweißbedecktes Gesicht abzuwischen, er wollte sich nicht noch mehr besudeln, und vorsichtig versuchte er, sich auf einem Knie aufzurichten. Er konzentrierte sich auf jede einzelne Bewegung, als müsse er sich auf einer Eisfläche vorwärtskämpfen. Das Lichtbündel einer Taschenlampe erfaßte die Treppenstufen.

«Wie geht es?» rief der Meister herunter.

«Gut, ich komme rauf.»

Der Aufstieg war langwierig und mühsam. Der Meister hatte die Taschenlampe auf die oberste Treppenstufe gelegt; die unteren Stufen erhellte nur ein schwacher Widerschein. Anduze sah, daß der schlüpfrige Boden zu seinen Füßen leicht dampfte wie ein Moorboden im Morgengrauen, und als er an sich herabblickte, stellte er fest, daß er völlig besudelt war. Aber er, der sonst fanatisch sauber war, der sich jeden Morgen mit wildem Eifer duschte, abschrubbte, abrieb, der jeden Tag seine Wäsche wechselte, betrachtete jetzt mit einer Art ironischem Vergnügen seine blutbefleckten Arme, seine streifig-verschmierte Brust. Er dachte an den gekreuzigten Christus, der am dritten Tag auferstanden war. Auch ich, sagte sich Anduze, komme aus der Hölle und steige jetzt die sieben symbolischen Stufen empor, durchschreite die sieben Manifestationsphasen des Universums, um mich im Unendlichen zu verlieren, das weder Anfang noch Ende hat!

Er klammerte sich an diese Begriffe, die der Meister so oft im Munde führte, weil der Klang dieser großen Worte ihn mit einer geheimnisvollen, ein wenig kindlichen Freude erfüllte. So viele Existenzen hatte er schon durchschritten; er hatte zu den Katharern gehört, zu den Kamisarden, zu einem mystischen Volk, das methodisch ausgerottet worden war. Er war der letzte in dieser Reihe, und er dürstete am heftigsten nach dem heiligen Wissen. Beinahe wäre Anduze auf der dritten Stufe zusammengebrochen, auf der Stufe, die die esoterischen Eigenschaften des Menschen symbolisierte, seine okkulten Kräfte, seine Fähigkeit, durch Hellsehen und Telepathie er selbst und gleichzeitig ein anderer zu sein. Léa, liebe Léa, warum bist du bloß so ungläubig? Was bedeuten denn schon deine sterilen Erfahrungen? Fürchtest du nicht, den Meister, den geduldigen, großmütigen Meister zu erzürnen? Den Meister, der mich dort oben erwartet wie ein Vater, bereit, mich in seine Arme zu schließen.

«Ich komme», stammelte Anduze.

Er erklomm noch zwei weitere Stufen. Er wußte nicht mehr, was sie bedeuteten. Wie durch einen Nebel sah er den Kreis der vorgeneigten Gesichter, die plötzlich heftig zurückzuckten, als er aus dem Schattenreich auftauchte, wie der graueneinflößende Überlebende einer entsetzlichen Katastrophe. Eine der Frauen stieß einen Schrei aus. Der Meister warf Anduze einen Umhang um. «Schnell», sagte er, «erkälte dich nicht.» Er drehte sich zu den anderen um, die wie erstarrt dastanden. «Wir treffen uns nachher wieder im Eßsaal, wie üblich.» Dann zog er Anduze mit sich fort.

«Das war ein ziemlicher Schock, nicht? Sag jetzt nichts, du bist noch zu erregt. Du brauchst jetzt ein schönes heißes Bad, danach wirst du dich herrlich befreit fühlen. Dem Blut wohnt eine seltsame Tugend inne. Du wirst es merken. Die Alten, die alles wußten, wußten auch das. Aber du mußt erst einmal wieder zu dir kommen und dich ausruhen … Rechnungen und Briefe können warten.»

Anduze lauschte andächtig. Er liebte die ernste, einschmeichelnde Stimme des Meisters, seinen Akzent, der jeden Vokal nach Art der Engländer irgendwie leicht veränderte und jedes «R» nach Art der Russen rollte. Wieviel Sprachen mochte er wohl beherrschen? Manchmal sprach er mit jedem Mitglied der Sekte in dessen eigener Sprache. Anduze hätte alles dafür gegeben, auch nur einen hundertsten Teil dieses Universalwissens zu besitzen; der Meister war nicht nur ein Sprachgenie, er war auch hochgebildet. Im kleinen Kreis stellte er manchmal Kenntnisse auf den verschiedensten Gebieten unter Beweis, in Physik zum Beispiel, in Chemie, in Astrologie, Heraldik, Botanik. Dafür war er aber völlig unfähig, eine Bilanz aufzustellen oder einen Haushaltsplan. Und das war der Grund, weshalb Anduze so an ihm hing, denn Anduze, der keine Ahnung von Mathematik hatte, ging mit Zahlen um wie eine Rechenmaschine, mit der gleichen Präzision und Schnelligkeit. Und was wäre ohne Anduze aus dem Meister geworden bei all den Rechnungen, Schecks, Wechseln, Bankgeschäften der verschiedensten Art, die täglich zu erledigen waren? Anduze konnte sich sagen, daß es schließlich und endlich ihm zu verdanken war, daß sich die Sekte fest etabliert hatte und immer mehr Anhänger zu ihr stießen.

«Wir müssen daran denken, einen neuen Stier zu kaufen», bemerkte er schließlich.

«Laß mal», erwiderte der Meister, «heute ist ein Feiertag. Du fühlst dich doch gut, oder? Ich habe es nämlich schon mal erlebt, daß jemand erst eine Stunde später zusammenbrach.»

«Ja, es ist alles in Ordnung.»

Das Badezimmer war geräumig und mit verschiedenen Massagegeräten ausgestattet. Der Meister drehte die Wasserhähne auf. «Zuerst die Dusche», befahl er. «Ich trockne dich dann selbst ab. Allein schaffst du das nicht.» Er nahm Anduze den Umhang ab. Anduze war von oben bis unten blutbeschmiert. Er zog sich aus, während der Meister die Wassertemperatur regulierte. «Entspanne dich … in einer Minute wirst du äußerlich so gereinigt sein wie du es in deinem Inneren schon bist. Die Taufe hat nämlich eine sofortige Wirkung, sie ist nicht ausschließlich von der inneren Einstellung des Menschen abhängig, der sich der Weihe unterzieht.» Der Meister zog einen Roßhaarhandschuh über. «Beug dich vor. Gut. Die Taufe hat magische Kraft. Das haben die römischen Soldaten, die Mithras anbeteten, wohl begriffen … Heb den Arm hoch … Dann kam das Christentum, es hat Blut durch Wasser ersetzt, aber das Kreuz brauchte es dennoch. Es muß Blut fließen, das ist nicht zu vermeiden. Blut ist das Prinzip der Einheit. Warte mal … auf deinen Knöcheln klebt noch etwas Blut … Ja, Blut ist rot wie das Feuer, voller Leben wie die Luft, flüssig wie Wasser und dennoch klebrig wie Schlamm. Es ist die Weltseele.»

Anduze war glücklich. Weltseele – das war ihm zwar etwas zu hoch, aber der Meister hatte sich vorher noch nie so intensiv mit ihm beschäftigt. Er überließ sich seinen kräftigen Händen, öffnete sich seinen Lehren. Er war der Lieblingsjünger. Die anderen diskutierten zuviel. Die kleine Léa zum Beispiel … sie war so rechthaberisch, sie wollte immer Beweise, Tatsachen … sie wollte einfach nicht glauben, daß ein Guru durch Feuer schreiten kann oder Regen herbeibeschwören. Und was bedeutete das auch schon? Das Wesentliche war doch, in der Nähe des Meisters zu sein, seinen Worten zu lauschen, sich in seinen Dienst zu stellen. Das Dogma war nebensächlich. Nein, doch nicht ganz. Es war selbstverständlich nicht ganz nutzlos, den verborgenen Aufbau des Universums zu kennen, die tausend geheimen Beziehungen, die zwischen den Dingen bestehen. Aber zunächst einmal kam es darauf an, den grauen, bedeutungslosen Alltag zu vergessen, Routinearbeit, Mahlzeiten, Abwasch, Haushalt. Wenn der Meister sagte: «Ihr schlaft. Alle Welt schläft. Eure Existenz ist nur ein Traum», wie recht hatte er damit!

«Jetzt ein Bad. Und dann eine von meinen Spezialmassagen.» Der Meister legte seinen Umhang ab, der naß geworden war, und stand jetzt wieder wie alle Tage in seinem schlecht gebügelten Anzug da mit den ausgebeulten Hosen. Er zog aus seiner Westentasche ein schwarzes, zerdrücktes Zigarillo und zündete es mit einem goldenen Feuerzeug an, das ihm irgendein arabischer Scheich einmal geschenkt hatte. Er hatte sich wieder in den Professor Bukujian zurückverwandelt, dessen Vorträge in Paris so großen Zulauf hatten. Endlich konnte Anduze sich entspannen und sich einem nie zuvor gespürten Wohlbehagen überlassen.

«Vergiß aber nicht», fuhr der Meister fort, «daß du mit deinen Übungen fortfahren mußt, intensiver noch als bisher. Unsere Taufe, wie jede Taufe, leitet den Beginn des wahren Lebens ein. Ihre besondere Stärke im Vergleich zu anderen Taufen liegt darin, daß sie die Konzentration fördert in einem Ausmaß, den du dir jetzt noch gar nicht vorstellen kannst.» Der Meister beugte sich über die Badewanne und prüfte die Wassertemperatur. «Zu heiß. Merk dir in Zukunft … 37 Grad … genau die Körpertemperatur. Du mußt spüren können, wie du deinem Körper entweichst, wie keine Hülle dich mehr umschließt. Du mußt dich gleiten lassen wie eine Qualle im Meer. Die Qualle kennt keine Grenzen. Sie wird vom Urstrom durchpulst, der in ihrem Körper vorübergehend eine festere Form annimmt.» Etwas Zigarrenasche fiel auf seine Weste. Er schnipste sie achtlos fort. «Der Ganges – weißt du, warum er heilig ist? Weil er die Formen auflöst. Aber ein intensives Training kann ihn ersetzen.»

Anduze schloß die Augen. Er wünschte sich so sehnlich, durch einen einfachen Willensakt aus seiner Haut herausschlüpfen zu können! Vielleicht würde er es eines Tages auch schaffen, der Meister hielt es ja für möglich. Zuerst aber mußte er alle vier töten, denn sonst würde vielleicht einer von ihnen reden, und das wäre zweifellos fatal. Es würde das Werk des Meisters zerstören. Zwischen dem Meister und ihm stand jetzt zwar eine Lüge, aber eine Lüge aus Liebe. Er hob die Augenlider ein wenig und sah, wie der Meister ein paar Flaschen und Salbentöpfe aus dem Apothekerschrank nahm. Sein rasierter Schädel glänzte unter dem elektrischen Licht.

«Ich glaube», sagte der Meister, «daß du der Begabteste bist. Die anderen sind zwar nicht schlecht … die kleine Alamine zum Beispiel, wenn sie sich nur etwas Mühe geben würde … aber du bist anders als die anderen: Du liebst dich nicht selbst. Sobald man sich selbst liebt, ist man verloren, weil man sich isoliert … Bereit zur Massage? Dann leg dich hierhin.» Er sprach mit der Zigarre zwischen den Zähnen, seine Stimme klang nuschelig, dumpf, wie die Stimme eines Bauchredners. Anduze streckte sich auf dem Tisch aus.

«Nicht so, du bist verkrampft, du stemmst dich dagegen. Entspanne dich … spiele tot … du kennst doch die Einweihungsformel der Jesuiten: perinde ac cadaver.» Seine kurzen, dicken Finger, mit Ringen geschmückt, auf denen geheimnisvolle Zeichen eingraviert waren, liefen über Anduzes Körper wie über die Tasten eines Klaviers. Ich bin sein Instrument, dachte Anduze. Ich gehöre ihm. Ich werde für ihn tun, was noch niemand je für ihn getan hat und nie wieder tun wird. Und er wird nie etwas davon erfahren! Die Ergriffenheit schnürte ihm die Kehle zu.

«Morgen», bemerkte der Meister, «beim Aufstehen, konzentriere dich ganz auf deine rechte Hand. Das ist das einfachste … Viele von unseren Brüdern können das schon sehr gut.»

«Léa?»

Der Meister lachte, und ein kleines Häufchen Asche fiel auf Anduzes Schulter. «Léa», erwiderte er, «hat den falschen Weg eingeschlagen.» Er drehte Anduze um und kniff ihn mit ein paar schnellen Bewegungen in die Seite. «Man muß die Dinge mit dem Herzen erfassen, nicht mit dem Kopf.»

«Kann ich nicht die Übung mit der Kerze versuchen», schlug Anduze vor.

«Noch zu schwierig. Nein … zuerst die Hand … fang mit dem Daumen an und hör mit dem kleinen Finger auf. Du brauchst dabei aber nicht vor dich hinzusagen: «Ich bin meine Hand … ich bin meine Hand …», das wird zwar manchmal gelehrt, aber es geht ja schließlich nicht darum, zu denken, sondern sich etwas bewußtzumachen … wenn die Übung dir gelingt, spürst du es sofort. Nicht du hast eine Hand, sondern die Hand hat dich, verstehst du? Und schau sie vor allen Dingen nicht an, dann würde sie immer nur ein Objekt für sich bleiben. Tief in deinem Inneren mußt du dir wie eine lebende Hand vorkommen, mit ihren Arterien, Adern, Nerven, mit allem …» Der Meister faßte Anduze um die Schulter und drehte ihn auf die Seite. «Ißt du auch vernünftig? Du bist so mager und schlaff, das ist nicht gut.»

«Mittags gehe ich immer ins Restaurant, oder vielmehr in die Kantine. Die Bank hat eine Kantine, die ist ganz ordentlich. Aber man ißt eben nur das, was gerade da ist. Abends mache ich mir dann selbst was zurecht, irgendwas, das schnell geht, Eier, Nudeln, Reis. Ich interessiere mich nicht besonders fürs Essen.»

«Falsch», bemerkte der Meister. «Rauchst du?»

«Nein.»

«Frauen?»

Anduze wurde rot. «Nein, auch nicht.»

«Keine Bedürfnisse also. Schade! Wer nichts begehrt, versteht auch nicht zu verzichten. Das Leben muß aber kräftig pulsieren, damit man es beherrschen kann, es muß ein Druck da sein, den man in die gewünschte Richtung lenken kann, wie komprimiertes Gas, verstehst du?»

Dieses «verstehst du?» war sein Lieblingsausdruck. Der Meister beschränkte sich in seinen Vorlesungen auf Hinweise und erwartete von seinen Schülern, daß sie ihm auf halbem Weg entgegenkamen.

Anduze nickte heftig mit dem Kopf, das tat er immer, auch wenn er nichts verstand, was häufig vorkam.

«Zieh dich wieder an. Wenn wir uns hier zu lange aufhalten, werden die anderen eifersüchtig.» Der Meister lachte auf, warf den Zigarrenstummel fort und wischte sich die Hände an einem Taschentuch ab. Anduze ließ die alte Hose, die er für die Zeremonie angezogen hatte, liegen und schlüpfte in seinen Straßenanzug, den er sorgfältig auf einen Bügel gehängt hatte. Dann ging er auf den Meister zu und schüttelte ihm ergriffen die Hand. «Meister … ich möchte Ihnen sagen …»

«Na, na, was bildest du dir eigentlich ein! Du bist ein Nichts, Kleiner, ein Nichts!»

Peitsche nach Zuckerbrot – Anduze liebte ihn um so mehr dafür.

2

Als Anduze am nächsten Morgen erwachte, fiel ihm ruckartig ein, daß er ja getauft war, daß er mannhaft eine Probe bestanden hatte, der sich nur wenige freiwillig unterzogen hätten, und er fühlte sich schwer und kraftvoll wie ein mächtig dahinfließender Strom. Nichts konnte ihn mehr aufhalten. Langsam aber unerbittlich würde er seinem Ziel zustreben. Er würde alle vier mit sich fortreißen in einer einzigen starken, ruhigen Bewegung. Und die Gemeinschaft würde gerettet sein, «durch mich, Anduze»!

Er setzte sich im Bett auf, berührte Brust und Rücken mit den Fingerspitzen. Seine Haut fühlte sich trocken und frisch an. Dennoch schien das klebrige Blut noch immer an seinen Fingern zu haften. Würde sich die Erinnerung daran nie verlieren? Desto besser! Es war das Siegel des Meisters. Anduze erhob sich, zog die Vorhänge auf. Es regnete auf die Dächer, auf die Schornsteine; glänzendes Blech unter einem verschwommenen Himmel, hier und da ein paar faulende Blätter – wo kamen sie her? … Grau stand der triste Pariser Herbst vor den Fenstern.

«Aber ich bin getauft!» wiederholte Anduze. Das war inzwischen zu einer magischen Formel geworden, ein Schutzschild gegen die Unbillen des Alltags, die überfüllte Métro, ungeduldige Kunden, alles, was sein Leben zur Qual gemacht hatte, ehe er dem Meister begegnete.