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Zwischen Ermittlungen und Herzklopfen: Kann Liebe über Regeln siegen? Aiden Carlisle ist Detective mit Leib und Seele. Ihr Beruf lässt ihr keine Zeit für private Bindungen, doch als sie gegen ihren Willen auf ein Fortbildungsseminar geschickt wird, bringt die Kursleiterin ihre Prinzipien ins Wanken. Psychologin Dawn Kinsley hat nach einer gescheiterten Beziehung beschlossen, sich nie wieder mit einer Polizistin einzulassen, aber zu Aiden fühlt sie sich von Anfang an hingezogen. Als Dawn selbst einem Verbrechen zum Opfer fällt, wird Aiden mit der Ermittlung betraut – und balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Verpflichtung und Liebe, denn die Dienstvorschriften verbieten eine Beziehung zu einer Zeugin.
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Seitenzahl: 678
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Vollmond über Manhattan
Cabernet und Liebe
Liebe à la Hollywood
Vorsicht, Sternschnuppe
Danksagung
Ein herzliches Dankeschön an Susanne, Kirstin und Kerstin fürs Korrekturlesen!
Widmung
Für alle Überlebenden sexueller Gewalt
Kapitel 1
»Ich muss mich gleich übergeben«, sagte Dawn Kinsley und rieb sich über ihren nervösen Magen.
»Nein, wirst du nicht.« Ihre Freundin und Kollegin Ally grinste. »Komm schon, du bist Psychotherapeutin. Du bist doch daran gewöhnt, mit Leuten zu reden.«
»Aber nicht mit hundert Polizisten, die lieber ganz woanders wären und mir gar nicht richtig zuhören werden.« Dawn wusste genau, was die Polizisten auf der anderen Seite des Vorhangs dachten. Die meisten sahen ihren Vortrag bestimmt als Zeitverschwendung an.
Ally rollte mit den Augen. »Eine Psychologin mit Sprechangst. Ich frage mich, was die APA wohl dazu sagen würde.«
»Ich bin sicher, die American Psychological Association würde sich viel mehr Sorgen über eine Psychologin mit deinem Mangel an Mitgefühl machen«, antwortete Dawn und grinste jetzt auch. Für gewöhnlich hatte sie kein Problem damit, vor Menschen zu sprechen. Sie hatte sich vor Kaugummi kauenden Schulkindern, ernst dreinblickenden Studenten und bekannten Psychologen, die doppelt so alt waren wie sie, bewährt, aber Polizisten waren etwas ganz Besonderes für sie. Es war fast, als erwartete sie, dass ihr Vater in der vordersten Reihe saß, und als versuchte sie, ihn zu beeindrucken. Ach, komm schon. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um damit anzufangen, dich selbst zu analysieren.
»Touché«, sagte Ally.
Beide mussten lachen und Dawn merkte, wie sie sich ein wenig entspannte.
»Es gibt da ein paar Tricks, die in solchen Situationen helfen, weißt du?«, sagte Ally.
»Lass mich raten. Ich soll mir die Zuschauer nackt vorstellen?« Dawn lächelte ihre Freundin an. »Und wie soll das gegen meine Nervosität helfen?«
Ally zuckte mit den Schultern. »Na ja, hilfreich ist es vielleicht nicht.« Sie schielte hinter dem Vorhang hervor und ließ ihren Blick über die Männer in den ersten Reihen gleiten. »Aber es könnte trotzdem Spaß machen.«
»Dir vielleicht, aber mir macht es keinen Spaß, mir einen Raum voller nackter Männer vorzustellen. Hallo?« Dawn wedelte mit der Hand vor Allys Gesicht auf und ab. »Hast du die Rundmail verpasst, die alle im Büro über meine sexuelle Orientierung informiert hat?«
»Rundmail? Nennt man das jetzt so, wenn man dabei erwischt wird, wie man auf dem Parkplatz mit seiner Freundin rummacht?«
»Wie b-bitte?«, stotterte Dawn. »Das habe ich nie getan!«
Ally rieb sich die Stirn und tat so, als müsste sie darüber nachdenken. »Nein? Dann muss das Charlie gewesen sein.« Sie schob den Vorhang erneut ein Stückchen zur Seite. »Da sitzen auch ein paar Polizistinnen. Du könntest die ansehen.«
»Alle beide?«, witzelte Dawn, trat dann aber doch näher, um Allys Blick zu folgen. Es waren mehr als zwei Polizistinnen im Saal, aber nicht viel mehr.
»Such dir eine aus«, sagte Ally.
Dawn stieß sie mit dem Ellenbogen an. »Ich bin hier, um einen Vortrag zu halten, nicht um Frauen aufzureißen, Ally.«
Ally ignorierte ihren Protest. »Such dir eine aus und konzentriere dich während deines Vortrags ganz auf sie. Ignoriere die restlichen Zuschauer. Das wird gegen deine Nervosität helfen. Also?« Sie zeigte auf die Polizistinnen.
Na ja, kann wohl nicht schaden. Dawn reckte den Hals und schielte um die größere Ally herum. Ihr Blick wanderte von Frau zu Frau, ohne lange auf einer zu verweilen, bis … »Die da!«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf die letzte Reihe.
Zwischen einem großen, afroamerikanischen Mann um die vierzig und einem jungen Polizisten, der wie ein Neuling aussah, nahm gerade ein weiblicher Detective in Zivil Platz. Sie hatte kurzes, rabenschwarzes Haar und eine Lederjacke bedeckte ihre große, athletische Gestalt.
»Oho!« Ally stieß einen leisen Pfiff aus. »Gute Wahl! Aber ich wusste gar nicht, dass du auf butche Frauen stehst. Maggie ist nicht mal annähernd …«
»Im Vergleich zu Maggie siehst sogar du butch aus«, sagte Dawn.
»Doktor Kinsley?«
Dawn wandte den Blick von der Polizistin ab und drehte sich um. »Ja?«
Einer der Veranstalter kam auf sie zu. »Hier sind Ihre Handouts.« Er reichte ihr einen Stapel Papier. »Sind Sie bereit, anzufangen?«
Dawn umklammerte die Handouts und schluckte. »Ja.«
»Viel Glück«, sagte Ally. Hinter dem Rücken des Veranstalters flüsterte sie: »Denk dran, sie dir nackt vorzustellen.«
Und wie soll das dabei helfen, meinen Puls zu verlangsamen? Dawn trat hinter dem Vorhang hervor und ging zum Mikrofon, ein Selbstbewusstsein vortäuschend, das sie gar nicht besaß.
Aiden lümmelte sich in den Stuhl zwischen ihrem Partner und Ruben Cartwright. Der Stuhl neben Ruben war verdächtig leer. »Wo ist dein Partner? Hat er schon wieder chronische Rückenschmerzen?« Wenn sie bei diesem blöden Seminar sein musste, dann alle anderen auch, sogar Hypochonder wie Jeff Okada.
Ruben sah von seinem Papierflieger auf, den er eben aus dem Seminarprogramm gefaltet hatte. Er wischte sich eine braune Haarsträhne aus seinem jungenhaften Gesicht und sah von Aiden zu ihrem Partner. »Äh, wie bitte?«
Ray lehnte sich grinsend zu ihm hinüber. »Da gibt es etwas, was du über deinen neuen Partner wissen solltest, Frischling. Jedes Mal, wenn wir zu einer Fortbildungsveranstaltung müssen, hat er’s am Rücken.«
»Ich hab’s am Rücken, wenn ich in diesen Stühlen, die für Erstklässler gebaut wurden, sitzen muss«, sagte Jeff Okada, als er sich zu ihnen gesellte. Vorsichtig ließ er sich auf den Stuhl neben seinem jungen Partner sinken.
Aiden seufzte und sah auf die Uhr. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Berichte und ihre dreißig ungelösten Fälle mussten warten, während sie hier herumsaß. Das Seminar hielt sie auch davon ab, ihre Mittagspause im Gericht zu verbringen und ihrer Lieblingsstaatsanwältin bei der Arbeit zuzusehen. Vielleicht hätte sie heute den Mut aufgebracht, Kade endlich zum Essen einzuladen.
Sie seufzte erneut, stemmte sich in die Höhe und deutete zum anderen Ende des Konferenzraums. »Ich hole mir einen Kaffee.«
»Wenn du lange genug leben willst, um deine schwer verdiente Rente zu genießen, würde ich dir das nicht raten.« Okada hob warnend seinen Zeigefinger. »Ich mache diesen Job jetzt schon seit fünfundzwanzig Jahren, aber ich war noch nie bei einem Weiterbildungsseminar, das auch nur halbwegs trinkbaren Kaffee hatte.«
Ray grinste. »Es liegt vielleicht daran, dass du in den fünfundzwanzig Jahren noch nie bei einem Weiterbildungsseminar warst.«
Über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg warf Okada ihm einen bösen Blick zu, bevor er sich wieder Aiden zuwandte. »Der Mangel an trinkbarem Kaffee ist offensichtlich eine bundesweite Verschwörung unserer Vorgesetzten, um sicherzugehen, dass uns nichts von den Vorträgen ablenkt. Aus demselben Grund wirst du auch nie Donuts oder attraktive weibliche Dozenten bei solchen Weiterbildungsveranstaltungen finden.«
»Oder bequeme Stühle«, sagte Ray.
Okada nickte ihm zu. »So langsam begreifst du es.«
Aiden sank auf ihren Stuhl zurück. Sie gab den Gedanken an eine Dosis Koffein auf und zog das nun zerknitterte Veranstaltungsprogramm unter sich hervor. Das zerknautschte Papier gab Auskunft über den Titel des ersten Vortrags: Besondere Bedürfnisse und Herausforderungen im Umgang mit männlichen, lesbischen und schwulen Überlebenden von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch. Der Dozent war irgendein Doktor namens D. Kinsley.
»Na toll«, murmelte Aiden. Die Veranstalter hatten nicht einmal einen Polizisten dafür angestellt oder sonst jemanden, der beruflich mit Sexualstraftaten zu tun hatte. Stattdessen würde gleich ein antiquierter Freudianer in einem altmodischen Anzug sie mit seinen akademischen Theorien zu Tode langweilen.
Eine junge Frau trat mit einem Stapel Handouts hinter dem Vorhang hervor und ging zum Rednerpult. Vermutlich war sie die Assistentin des Dozenten oder die arme Seele, die die fragwürdige Ehre hatte, den Redner vorzustellen. Die Frau klopfte auf das Mikrofon, um die Lautstärke zu testen, und nickte. »Guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich bin Dawn Kinsley, Ihre Dozentin für den ersten Teil des Seminars.«
Aidens Kopf fuhr herum. Das war D. Kinsley?
Nichts erinnerte an den akademischen Freudianer, den Aiden sich vorgestellt hatte, außer vielleicht die Brille auf der süßen Stupsnase. Statt Anzug und Krawatte trug die Dozentin eine Baumwollhose und eine enge, ärmellose Bluse. Sie war klein, aber nicht zerbrechlich. Ihr honigblondes Haar war nicht zu einem altmodischen Dutt zusammengebunden, sondern fiel in Wellen ihren Rücken hinab.
Sieht so aus, als wäre sie die Doktorin, nicht die Assistentin.Das ist wohl die Strafe für meine Vorurteile. Natürlich ist es nicht gerade eine Strafe, sie statt eines alten Mannes anschauen zu müssen. Egal wie langweilig der Vortrag sein würde, wenigstens hatte sie etwas Nettes zum Ansehen.
Der Vortrag begann und zu ihrer Überraschung stellte Aiden fest, dass sie den Blick von der hübschen Dozentin abwandte, um interessante Details über den Umgang mit männlichen Vergewaltigungsopfern aufzuschreiben. Der Vortrag war informativ, praxisorientiert und spritzig. Sie ertappte sogar Okada dabei, wie er seinen schmerzenden Rücken beugte, um mitzuschreiben. Die Psychologin sprach voller Leidenschaft und Einfühlungsvermögen, ohne je auf ihre Notizen zu sehen.
Stattdessen machte es den Eindruck, als sähe sie Aiden direkt an und konzentrierte sich nur auf sie, als wäre sonst niemand im Raum. Ach, jetzt komm aber. Hör auf zu träumen. Es sind noch ein paar andere Leute hier, weißt du? Aiden hörte sich den Rest des Vortrags aufmerksam an.
Die fünfundvierzig Minuten waren fast zu schnell zu Ende.
»Ich wusste doch, dass ich den Kaffee hätte probieren sollen«, murmelte Ruben, als sie so ziemlich als Letzte zum Ausgang gingen. »Wenn es attraktive weibliche Dozenten gibt, dann ist der Rest deiner Fortbildungsverschwörungstheorie wahrscheinlich genauso Unsinn.«
Okada streckte sich und schüttelte den Kopf. »Darauf würde ich nicht deinen mickrigen Gehaltsscheck verwetten, Partner. Irgendein Regierungsangestellter hat es offensichtlich versäumt, das Bild der Dozentin zu überprüfen, aber niemand würde eine Rechnung für Blue-Hawaii-Kaffeebohnen übersehen, die vierzig Dollar das Pfund kosten.«
Hinter ihnen lachte jemand.
Aiden drehte sich um und sah direkt in die funkelnden graugrünen Augen von Dawn Kinsley, ihrer Dozentin. Die fast unmerklichen Lachfalten an ihren Mundwinkeln zeigten, dass die Psychologin auf die dreißig zuging und damit ein wenig älter war, als Aiden zuerst gedacht hatte.
»Entschuldigung«, sagte Aiden und zeigte auf Okada und Ruben. »Sie sind es nicht gewohnt, in der Öffentlichkeit zu sein. Normalerweise ketten wir sie an ihre Schreibtische.«
Dawn schien nicht beleidigt zu sein. Ihre vollen Lippen formten ein Lächeln, das Grübchen in ihre Wangen zauberte und die Haut über ihrer Stupsnase kräuselte, was die Sommersprossen auf ihrer hellen Haut aussehen ließ, als tanzten sie. »Machen Sie sich keine Sorgen, Detective. Mir ist schon Schlimmeres an den Kopf geworfen worden, als attraktiv zu sein.«
Aiden neigte den Kopf zur Seite. »Woher wissen Sie, dass ich Detective bin?«
»Ach, ich weiß nicht, könnte das mit der Tatsache zu tun haben, dass wir bei einer Weiterbildungsveranstaltung für Polizisten sind?«, sagte Okada.
Dawn lächelte ihn an, aber sie sprach zu Aiden. »Wie Sie stehen, gehen und sprechen schreit geradezu Polizistin. Und Ihre Kleidung deutet darauf hin, dass Sie Detective sind. Abteilung für Sexualverbrechen?«
Aiden nickte. »Aiden Carlisle.« Sie streckte die Hand aus.
»Dawn Kinsley, aber das wussten Sie ja schon.« Die Psychologin nickte in Richtung ihres Namensschildes. Ihr Handschlag war genauso aufrichtig und warm wie ihr Lächeln.
»Hey, Aiden.« Ray, der bereits die Tür erreicht hatte, winkte ihr zu. »Wir gehen schnell zum nächsten Starbucks, bevor der nächste Vortrag beginnt. Willst du mitkommen?«
Noch vor fünfundvierzig Minuten hätte Aiden sofort bereitwillig den Seminarraum verlassen, aber jetzt zögerte sie. »Äh, ja, klar.« Sie blickte zu Dawn. »Möchten Sie mitkommen?«
»Ich trinke keinen Kaffee.« Die Psychologin lachte, als sie Aidens Gesichtsausdruck sah. »Sehen Sie mich nicht so geschockt an, Detective. Ich bevorzuge Tee. Trotzdem würde ich gerne mitkommen, aber ich habe leider noch einen Termin.«
»Dann vielleicht nächstes Mal«, sagte Aiden, wohl wissend, dass sie einander vermutlich nie wiedersehen würden. Nicht mehr ganz so scharf auf eine Dosis Koffein, verabschiedete sie sich und verließ mit ihren Kollegen den Konferenzraum.
Kapitel 2
Aiden klopfte mit den Fingerknöcheln auf die polierte Oberfläche der Melone, um zu testen, ob sie reif war. Dann entschied sie sich für eine Banane. In ihrem Single-Haushalt würde die Melone nur verderben.
Als ein junger Mann zu nahe an sie herantrat, sah sie von dem Obst auf. Jeder, der sich ihr auf drei Meter näherte, versetzte sie sofort in einen Alarmzustand. Ihre Blicke trafen sich und er trat sofort zurück. Stirnrunzelnd beobachtete Aiden, wie er zu einer anderen Einkäuferin hinüberging, die gerade ein paar Äpfel in ihren Einkaufskorb legte.
Hey, das ist doch die Psychologin von letzter Woche! Sie kauft tatsächlich wie wir Normalsterbliche in dem kleinen Laden bei mir um die Ecke ein. Aiden dachte nicht mehr an den seltsamen jungen Mann, als sie Dawn Kinsley beobachtete. In verwaschenen Jeans und einer weißen Hemdbluse sah Dawn mindestens genauso gut aus wie in der eleganten Baumwollhose und der Bluse, die sie während des Seminars getragen hatte. Aiden neigte den Kopf und sah zu, wie Dawn ein paar eigensinnige blonde Strähnen zurückschob, die ihrem Pferdeschwanz entkommen waren. Soll ich hallo sagen? Würde sie sich überhaupt an mich erinnern?
Bevor sie sich entscheiden konnte, griff der junge Mann in Dawns Handtasche und rannte den Gang hinab.
Dawn schien sofort zu begreifen, was passiert war. Sie rannte hinter ihm her in einer Geschwindigkeit, auf die jeder Polizist stolz gewesen wäre, und hielt ihn am Hemd fest, bevor er die Tür erreichen konnte.
Der Dieb wirbelte herum. Er überragte die kleine Frau um Haupteslänge und hob drohend die Faust.
Mist. Aiden rannte auf die beiden zu, bevor die Situation weiter eskalieren konnte. Sie umklammerte seine Faust und drehte ihm mit einer schnellen Bewegung den Arm hinter den Rücken. »Das war ziemlich dumm, Doktor Kinsley«, sagte sie zu der sie anstarrenden Frau. »Mutig, aber dumm. Sie sollten nicht jemandem nachlaufen, der zwanzig Kilo mehr als Sie wiegt und vielleicht bewaffnet ist.«
Dawn hielt ihrem Blick stand. »Er wiegt auch mehr als Sie.«
Aiden richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Aber ich bin bewaffnet und ausgebildete Polizistin.«
»Oh, Scheiße!« Als sie ihren Beruf erwähnte, versuchte der Dieb, sich aus Aidens Griff zu befreien.
Der Besitzer des Ladens eilte den Gang hinab. »Danke, danke, Detective!« Er wollte ihr die Hand schütteln, aber sie hielt noch immer den sich wehrenden Dieb fest, also wandte er sich an Dawn. »Es tut mir furchtbar leid, Doktor Kinsley. Das ist in meinem Laden noch nie passiert. Würden Sie ein wenig Obst als Entschädigung für den Schrecken annehmen?«
»Nein, danke. Das, was ich habe, ist genug, wirklich.« Dawn hob ihren Einkaufskorb mit zwei Äpfeln und einer Banane in die Höhe.
Der Ladenbesitzer seufzte. »Sie ist auch so eine von diesen Eine-Banane-Käuferinnen«, sagte er zu Aiden.
Sie ist Single. Aiden bremste sich, bevor sie sich falsche Hoffnungen machen konnte. Ja, und wahrscheinlich so hetero, wie’s nur geht.
»Vielleicht nehme ich ja nur eine Banane, aber jedes Mal, wenn ich herkomme, kaufe ich zwei Packungen Kekse«, sagte Dawn lächelnd.
Der Ladenbesitzer rief die Polizei. Nachdem zwei uniformierte Beamte Aiden den Dieb abgenommen und Dawn und sie ihre Aussage gemacht hatten, erlaubte sich Aiden, sich ganz auf Dawn zu konzentrieren. »Kommen Sie oft hierher?« Sie zuckte zusammen, als sie feststellte, dass es wie eine lahme Anmache klang.
»Oft genug, um einen Ruf als Eine-Banane-Käuferin zu bekommen, wie’s aussieht.« Dawn zwinkerte ihr zu.
Aiden musste lächeln. Sie mochte Dawns Schlagfertigkeit. »Das kenne ich nur zu gut.«
»Ich wohne ganz in der Nähe. Wollen Sie mit zu mir kommen und dort die Tasse Kaffee trinken, die ich letzte Woche ablehnen musste?« Dawn neigte den Kopf und sah zu Aiden auf.
»Ich dachte, Sie trinken keinen Kaffee?«
»Tu ich auch nicht, aber das heißt nicht, dass ich keinen Kaffee kochen kann. Ich mache ihn genauso, wie ihr Polizisten ihn mögt. Stark genug, um in jedem anderen Beruf als schwarze Farbe bezeichnet zu werden.«
Aiden lachte. »Na, das ist doch mal ein Angebot, dem ich nicht widerstehen kann.« Sie lädt mich zu sich nach Hause ein? Flirtet sie etwa mit mir? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Wunschdenken. Dawn war ganz offensichtlich zu jedem freundlich, dem sie begegnete.
Seite an Seite gingen sie die Treppe zu Dawns Wohnung im ersten Stock hinauf. »Machen Sie es sich bequem«, rief Dawn, während sie in die Küche ging.
Aiden hob eine Augenbraue. Polizistin hin oder her, sie hätte eine Fremde nicht unbeaufsichtigt in ihrem Wohnzimmer gelassen. Zögernd trat sie über einen bunten Teppich, ging vorbei an einigen Topfpflanzen, übervollen Bücherregalen und unzähligen gerahmten Bildern. Orangefarbene Vorhänge tauchten das Wohnzimmer in ein goldenes Licht. In der Ecke stand ein Schreibtisch, auf dem sich Bücher, Akten und Zeitschriften stapelten. Darüber kämpfte eine chaotische Anordnung von Zeichnungen und Postkarten um Platz mit einem Regal voller Muscheln, einem Sparschwein und Plüschtieren. Ein Sessel, ein Schaukelstuhl und zwei Stühle, die nicht so recht zueinander passten, vervollständigten die Einrichtung.
Es war ein wenig chaotisch, aber auf eine charmante und fast beruhigende Weise. Aiden dachte an ihre eigene Wohnung, die aufgeräumt und ohne jegliche persönliche Gegenstände war. Dawns Wohnung hingegen war nicht übermäßig ordentlich, aber sie fühlte sich wie ein Zuhause an, nicht nur wie ein Ort zum Essen und Schlafen.
Ich mag es hier. Aiden sank auf die Couch und betrachtete das Ölbild einer langhaarigen Katze an der gegenüberliegenden Wand. Die Nase der Katze war ein wenig krumm, so als hätte der Künstler sie nicht ganz hinbekommen, aber ansonsten wirkte das Bild sehr lebensnah. Hatte Dawn das gemalt?
Innerhalb weniger Minuten kam ihre Gastgeberin mit einem Tablett voller Kaffee, Tee und Keksen wieder und stellte es auf den Couchtisch. »Schwarz ohne Zucker, richtig?« Dawn setzte sich in den Schaukelstuhl gegenüber von Aiden und nickte hinab auf ihre Tasse.
»Richtig.« Aiden fragte nicht, woher Dawn wusste, wie sie ihren Kaffee trank. Sie schien so eine Art siebten Sinn für Polizisten zu haben.
»Haben Sie sich schon von all den Versuchen erholt, Sie zu Tode zu langweilen?« Dawn sah sie über den Rand ihrer Tasse hinweg an, ein Lächeln in den Augen.
»Wie bitte?«
Dawn hob den Zeigefinger. »Ach, kommen Sie schon, Detective. Mir ist schon bewusst, wie liebend gerne die meisten Polizisten den ganzen Tag herumsitzen und sich von ein paar Akademikern erzählen lassen, wie sie ihren Job zu tun haben.«
»Ja, wir sind ganz verrückt danach«, sagte Aiden grinsend. »Aber Ihr Vortrag war wirklich nicht schlecht. Sie sind nicht nur Akademikerin, oder?«
»Nein. Vielleicht gehe ich eines Tages in die Lehre, aber im Moment bin ich ziemlich zufrieden mit dem, was ich tue.«
»Und das ist?«
»Ich therapiere Überlebende von Vergewaltigungen und sexuellem Missbrauch«, sagte Dawn.
Aiden starrte hinab in ihre Tasse. »Das muss schwer sein.«
Dawn zuckte mit den Schultern. »Genauso schwer wie Ihr Beruf, könnte ich mir vorstellen. Aber manchmal merke ich, dass ich wirklich einen Unterschied im Leben meiner Patientinnen mache, und das ist es wert.«
Aiden nickte. Ihre Berufe hatten viel gemeinsam. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, aber Aiden fand das nicht unangenehm.
»Ich muss zugeben, dass ich Sie nicht ganz ohne Hintergedanken zu mir eingeladen habe, Detective.« Dawn redete nicht lange um den heißen Brei herum.
Aiden schluckte. »Welche Hintergedanken waren das?«
»Ich weiß, dass wir einander eigentlich kaum kennen«, sagte Dawn. »Normalerweise würde ich das auch nicht tun, aber …«
Aiden riss die Augen auf. War das ein eindeutiges Angebot?
»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten«, sagte Dawn schließlich.
Okay, es ist kein eindeutiges Angebot. Aiden musste über sich selbst lachen. Mit einer Frau wie Dawn zu schlafen, kann man nicht gerade einen Gefallen nennen.
»Ich suche nach jemandem, der mit meiner Gruppe reden kann, und ich glaube, ich habe die ideale Person dafür gefunden.« Dawn sah sie erwartungsvoll an.
»Ihre Gruppe?«
Dawn nickte. »Es ist eine Selbsthilfegruppe für Überlebende, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden sind.«
Der Kaffee hinterließ plötzlich einen bitteren Geschmack in ihrem Mund. Zur Abwechslung hatte sie sich wirklich einmal entspannt und nicht an ihren Job gedacht und deshalb hatte die Frage sie überrascht. »Ich bin keineswegs die ideale Person dafür.«
»Natürlich sind Sie das.« Dawn schaukelte nach vorne und berührte Aidens Hand.
Aiden zuckte zusammen und zog die Hand weg. Sie hatte keine Ahnung wie, aber Dawn musste irgendwie von den Umständen ihrer Zeugung erfahren haben. Der Gedanke gefiel ihr nicht. »Nein. Ich kann Frauen in dieser Situation keinen Rat geben. Ich … Ich kann es einfach nicht, okay?«
»Okay.« Dawn blinzelte, versuchte aber nicht, Aiden dazu zu drängen, ihre Meinung zu ändern.
Aiden stellte ihre erst halb geleerte Kaffeetasse auf den Tisch. »Ich muss los.«
Dawn erhob sich ebenfalls. Sie runzelte die Stirn, als sie Aiden zur Tür folgte. »Falls ich Sie irgendwie beleidigt haben sollte …«
»Nein.« Aiden hob eine Hand. »Das haben Sie nicht. Es ist nur … Sie haben mich nicht beleidigt.«
»Na schön.« Zum ersten Mal schien Dawn nicht zu wissen, was sie sagen sollte.
Aiden schob sich an ihr vorbei, ohne einen Blick zurück zu werfen. Das Geräusch der Tür, die sich zwischen ihnen schloss, hallte den Rest des Tages durch ihren Kopf.
Kapitel 3
Aiden fummelte ein paar Augenblicke lang mit dem Schlüssel, weil ihre steifen Hände und müden Augen sich weigerten, zusammenzuarbeiten. Als sie es schließlich schaffte, die Tür zu öffnen, und die Wohnung betrat, war alles dunkel und still. Nur ein Schwall abgestandener Luft, ein Stapel Rechnungen und zwei halb vertrocknete Topfpflanzen begrüßten sie.
Die letzten drei Nächte hatte sie auf einer Pritsche im Revier geschlafen, in einem winzigen Raum, den alle das Verlies nannten und der mehr wie eine Abstellkammer denn wie ein bequemer Ort zum Schlafen aussah. Heute hatte sich all die harte Arbeit endlich ausgezahlt. Portland musste sich um einen Kinderschänder weniger sorgen.
Erschöpft, aber zufrieden warf sie ihre Post auf den Couchtisch und sah zum Anrufbeantworter. Kein rotes Licht blinkte, was bedeutete, dass keine Nachrichten auf sie warteten. Nicht, dass sie das erwartet hatte. Außerhalb der Arbeit hatte sie kaum Freunde.
Weil es vier Uhr morgens war, ignorierte sie die Kaffeemaschine und ging stattdessen zum Kühlschrank. Sie nahm kein Glas, sondern trank den Orangensaft direkt aus dem Karton. Einer der vielen Vorteile des Singlelebens. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie schön es gewesen wäre, wenn zu Hause jemand mit einem offenen Ohr und einer warmen Umarmung auf sie gewartet hätte.
Auf dem Weg zum Badezimmer streifte sie ihre Schuhe ab und zog sich ihr Shirt über den Kopf. Sie lehnte sich gegen das Waschbecken, spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und rieb sich die brennenden Augen. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte zerzauste schwarze Haare und die Erschöpfung auf ihrem Gesicht. Ihre bernsteinfarbenen Augen waren blutunterlaufen. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Zähne. Ihr Mund schmeckte nach kaltem Kaffee und chinesischem Essen, also beschloss sie, dass eine Dusche warten konnte, und griff stattdessen zur Zahnbürste.
Das Wasser, das vom Wasserhahn tropfte, betonte die Stille in ihrer Wohnung. Aus alter Gewohnheit griff sie nach oben, wo bei anderen Menschen das Badradio stand, und schaltete den Polizeifunk ein. Die Funksprüche des Portland Police Bureaus waren so vertraut, dass sie beruhigende Hintergrundgeräusche bildeten, während sie sich die Zähne putzte. Mit halbem Ohr hörte sie zu, wie zwei Trunkenheitsfahrten und ein Fall häuslicher Gewalt durchgegeben wurden.
Statik drang aus dem Funkgerät. »… lautet Northwest Everett Street 228.«
Das erregte Aidens Aufmerksamkeit. Die Adresse war nicht nur in unmittelbarer Nähe, sondern sie klang auch seltsam vertraut. Überzeugt, dass ihr müdes Gehirn ihr nur Streiche spielte, fuhr sie mit dem Zähneputzen fort.
Die Stimme der Frau aus der Zentrale drang erneut aus dem Funkgerät. »Ich wiederhole: Wir haben einen 10-31. Die Adresse lautet Northwest Everett Street 228. Es ist unklar, ob der Verdächtige sich noch am Tatort aufhält. Nähern sie sich mit Code 2.«
Zahnpasta spritzte über Waschbecken und Spiegel, als sie die Adresse erkannte. Jemand in Dawns Wohnkomplex war angegriffen oder sogar vergewaltigt worden. Ein plötzlicher Adrenalinstoß vertrieb ihre Müdigkeit. Sie versuchte, sich zu sagen, dass Dutzende anderer Frauen im selben Haus lebten, dass es wahrscheinlich nicht einmal um eine Vergewaltigung ging, dass sie gar nicht im Dienst war, aber ein ungutes Gefühl in der Magengrube ließ sie dann doch ihre Zahnbürste weglegen und nach ihren zerknitterten Kleidern greifen.
»Zentrale, hier ist Wagen 118«, antwortete ein Streifenwagen über Funk. »Verstanden. Ich bin unterwegs. Geschätzte Ankunft in zwei Minuten.«
Selbst der Gedanke, dass Hilfe unterwegs war, konnte Aiden nicht stoppen. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, auf ihre Instinkte zu hören. Mit den automatischen Bewegungen von jemandem, der schon oft zu unchristlichen Zeiten aus dem Bett geklingelt worden war, zog sie sich wieder an. Innerhalb weniger Minuten war sie auf dem Weg.
Die blau-roten Lichter eines Streifenwagens erhellten die Nacht, als Aiden vor Dawns Haus parkte. Ein Polizist in Uniform stoppte sie, bevor sie die Eingangstür erreichen konnte. »Tut mir leid, Ma’am.« Er versperrte ihr den Weg. »Wohnen Sie hier? Können Sie sich ausweisen?«
Sie brachte ihn zum Schweigen, indem sie ihm ihren Dienstausweis vor die Nase hielt. »Detective Carlisle, Einheit für Sexualstraftaten.«
»Wow, ihr seid ja heute wirklich schnell. Ich bin Officer Trent von Distrikt 28.«
Aiden war nicht in der Stimmung, Höflichkeiten auszutauschen oder zu erklären, warum sie so schnell am Tatort eingetroffen war. »Sie wurden zu einem 10-31 gerufen. Geht es um eine Vergewaltigung?«
»Ja.« Der Polizeibeamte nickte. »Es …«
»Welche Wohnung?«
»2B. Mein Partner ist schon oben.«
Aiden ballte die Hände zu Fäusten. Es war Dawns Wohnung. Ohne auf den Aufzug zu warten, rannte sie die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Vor der Tür mit der Aufschrift 2B kam sie zum Stehen und zögerte. Sie hatte Angst davor, was sie auf der anderen Seite dieser Tür finden würde.
Als sie anklopfte, öffnete ein weiterer uniformierter Polizist die Tür und sah sie fragend an.
»Carlisle, Einheit für Sexualdelikte.«
»Das ging aber schnell«, sagte der junge Beamte und trat beiseite, um sie hereinzulassen. Es war unschwer zu erkennen, wie erleichtert er war, nicht selbst mit dem Opfer sprechen zu müssen. Streifenbeamte waren nicht darin ausgebildet, sich um Vergewaltigungsopfer zu kümmern. Er folgte ihr in die Wohnung und sah auf das Notizbuch in seiner Hand hinab. »Der Name des Opfers ist …«
»Ich kenne ihren Namen.« Aiden nahm sich eine Sekunde, um sich zu sammeln, bevor sie sich umsah.
Durch die halb offene Schlafzimmertür sah sie zerknitterte Laken, eine umgestürzte Lampe und andere Gegenstände am Boden liegen. Der Detective in ihr begann sofort, den Tatort zu analysieren, aber als sie das Wohnzimmer betrat und Dawn sah, kam ihre Professionalität ins Wanken.
Dawn saß auf der Couch, wo sie vor nur sechs Tagen Kaffee und Tee mit Aiden getrunken hatte.
Aiden erkannte sie kaum wieder. Dawn kauerte auf der Couch, mit einer Hand die Decke umklammernd, die ihr jemand umgelegt hatte, um ihre zerrissene Kleidung zu bedecken, während sie mit der anderen Hand über ihr geschwollenes Gesicht tastete. Ihre ohnehin schon helle Hautfarbe schien noch blasser als sonst im Vergleich zum Bluterguss auf ihrer Wange.
Aiden räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen, und setzte sich auf die Kante der Couch, weit weg von Dawn, damit diese sich nicht bedroht fühlte. »Hallo, Doktor Kinsley … Dawn.« Sie versuchte, so sanft wie möglich zu klingen.
Dawns Kopf fuhr herum. »H-hallo. Ich würde ja sagen, es ist schön, Sie wiederzusehen, aber unter den gegebenen Umständen …« Sie sah zu Boden und wischte sich Tränen aus den Augen.
Aiden schluckte. Sie hatte den plötzlichen Wunsch, Dawns Hand zu halten oder den Arm um sie zu legen, aber sie blieb auf Abstand, weil sie wusste, dass sie Dawn damit mehr schaden als nutzen würde. »Können Sie mir sagen, was passiert ist?«
»Jemand ist in meine Wohnung eingebrochen. Ein … ein Mann.« Dawn presste die Lippen aufeinander. »Er hatte eine Waffe und er hat mich geschlagen.« Ihre Finger berührten die Verletzungen auf ihrer rechten Wange.
Aiden nickte ihr ermutigend zu, unterbrach aber nicht.
»Er … er warf mich aufs Bett und dann hat er …« Dawn schloss die Augen. »Er hat mich vergewaltigt«, flüsterte sie. Sie sah verblüfft aus, so als realisierte sie erst jetzt, was passiert war. »Detective, er … er …«
»Ich weiß«, murmelte Aiden. Sie rückte ein wenig näher, aber nicht nah genug, um Dawn zu berühren. »Kannten Sie ihn?«
Dawn schüttelte den Kopf.
»Okay. Können Sie ihn beschreiben?« Aiden wusste, dass sie professionelle Distanz wahren und die Standardfragen stellen musste, aber es fiel ihr schwer.
»Er war groß und muskulös und schwer«, sagte Dawn. Ihre Stimme zitterte. »Schwarzes Haar. Wütende blaue Augen.«
»Gut. Das wird uns helfen, nach ihm zu suchen.« Sie berührte Dawn leicht am Arm. »Ich werde Sie gleich ins Krankenhaus bringen, okay? Kann ich Ihnen irgendetwas bringen oder etwas für Sie tun, bevor wir gehen? Soll ich irgendjemanden anrufen?«
»Nein.« Dawn schüttelte den Kopf.
»Sind Sie sicher?« Aiden mochte den Gedanken nicht, dass niemand für Dawn da sein würde. Natürlich würde sie versuchen, die Untersuchung im Krankenhaus für Dawn so wenig unangenehm wie möglich zu gestalten, aber ihre Rolle war die eines Detectives, nicht die einer Freundin.
»Ich will nicht, dass meine Mutter mich so sieht, und ich will es ihr lieber persönlich erzählen statt am Telefon«, sagte Dawn leise. »Es hat in unserer Familie schon zu viele solcher Anrufe gegeben.«
Aiden nickte, ohne nachzufragen. Sie wollte Dawns Privatsphäre nicht noch mehr verletzen.
»Ich würde mich gerne umziehen.« Dawn sah auf ihr zerrissenes T-Shirt.
Aiden seufzte. »Das dürfen Sie nicht, zumindest jetzt noch nicht. Es tut mir leid, aber Ihre Kleidung ist ein Beweismittel. Wie wäre es, wenn wir frische Sachen mit ins Krankenhaus nehmen, damit Sie sich nach der Untersuchung umziehen können?«
»Ich … ich kann da nicht reingehen.« Mit zitterndem Zeigefinger deutete Dawn auf das Schlafzimmer.
»Ist schon gut. Ich mache das.« Aiden stieg vorsichtig über einen umgefallenen Stuhl, zerbrochene Keramikfiguren, Bücher und einen Zeichenblock mit ausgerissenen Seiten, um dabei keines der Beweismittel zu berühren. Dawns Brille lag auf dem Boden des Schlafzimmers, der Rahmen verbogen und eines der Gläser zerbrochen.
Aiden nahm einen bequem aussehenden Pullover, eine weite Hose und ein Paar warme Socken aus dem Schrank. Als sie eine Unterhose und einen BH hinzufügte, schüttelte sie bitter den Kopf. Sie hatte sich flüchtig vorgestellt, Dawns Unterwäsche zu sehen, aber das hier waren nicht die Umstände, die sie sich erträumt hatte. Selbst harmloses Flirten mit Dawn war nun keine Option mehr. Diese Nacht hatte alles verändert.
Mit dem Bündel Kleider unter dem Arm kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Ihr Herz schmerzte beim Anblick von Dawn, die versuchte, sich die Schuhe anzuziehen, aber deren Finger zu sehr zitterten, um sich die Schuhe zuschnüren zu können. Sie legte die Kleidung beiseite, kniete sich vor Dawn hin und band ihr die Schuhe. »Sonst noch was?«
»Kann ich mir die Zähne putzen?«
Aiden schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, tut mir leid. Das könnte Beweismittel vernichten. Ich muss mal kurz mit dem Polizeibeamten sprechen, okay? Es dauert auch nicht lange.«
Der Polizist, der sich in die Küche zurückgezogen hatte, sah auf, als sie eintrat. »Hat sie uns eine Beschreibung gegeben?«
»Groß, muskulös, schwarzes Haar, blaue Augen. Ich lasse sie später mit einem Polizeizeichner arbeiten, aber geben Sie schon einmal eine Suchmeldung für einen Verdächtigen, auf den diese Beschreibung passt, an alle Bezirke heraus.«
Der Polizist nickte und machte sich ein paar Notizen.
»Gibt es irgendwelche anderen Zeugen oder hat Doktor Kinsley uns angerufen?« Aiden sah zur Couch, um sicherzugehen, dass Dawn okay war.
»Ein Nachbar hat uns angerufen«, sagte der Polizist. »Er hat gesehen, wie sie sich weit aus dem Fenster gebeugt hat, und dachte, sie wollte sich umbringen. Es hat sich herausgestellt, dass sie nur nach ihrem Handy greifen wollte. Der Täter hat es aus dem Fenster geworfen. Es lag auf der Feuerleiter.«
Aiden runzelte die Stirn. In eine Wohnung einzubrechen, das Telefonkabel aus der Wand zu reißen und das einzig andere Mittel, um nach Hilfe zu rufen, wegzuwerfen, klang nach einem geplanten Angriff, aber die blinde Zerstörung im Schlafzimmer schien nicht für einen kontrolliert agierenden Täter zu sprechen. Denk später darüber nach. Im Moment hatte Dawn oberste Priorität. »Sichern Sie den Tatort und nehmen Sie die Aussage des Nachbarn auf«, sagte sie. »Ich bringe sie ins Krankenhaus.«
Sie ging zurück zu Dawn und achtete dabei darauf, laut aufzutreten, um Dawn nicht zu erschrecken. »Sind Sie so weit?«
Dawn stemmte sich in die Höhe, ohne zu antworten.
Aiden saß neben Dawn in einer von einem Vorhang umgebenen Nische der Notaufnahme, in der es auch um fünf Uhr früh noch hektisch zuging. Das medizinische Personal hatte nicht versucht, sie auf dem Flur warten zu lassen, als sie das goldene Abzeichen an Aidens Gürtel und ihre grimmige Miene gesehen hatten.
»Ich schätze, ich hatte Glück, dass Sie heute Nacht Dienst hatten«, sagte Dawn, als die Krankenschwester sie allein ließ, um nach einem Arzt zu suchen.
Als Therapeutin, die mit Vergewaltigungsopfern arbeitete, wusste sie vermutlich genau, dass viele Opfer ohne lebensgefährliche Verletzungen stundenlang auf eine Behandlung warten mussten und oft auf dem Flur über die Vergewaltigung befragt wurden, während Krankenschwestern und Ärzte verletzte Patienten vorbeischoben und besorgte Familienmitglieder in der Nähe auf und ab gingen.
Aiden neigte den Kopf zu einem vagen Nicken. Sie wollte nicht darüber sprechen, warum sie diesen Fall übernommen hatte. Sie zog es vor, Dawn glauben zu lassen, sie hätte heute Nacht Bereitschaft gehabt und wäre nur aus rein beruflichen Gründen hier. »Ich weiß, es ist schwer, darüber zu reden, aber …« Es fiel ihr ungewöhnlich schwer, Dawn nach etwas zu fragen, das schmerzhaft für sie sein würde. »Ich muss Ihnen einige detaillierte Fragen über den Angriff stellen, damit der Arzt weiß, nach welcher Art von Beweisen er suchen muss. Lassen Sie uns mit den einfachen Fragen anfangen. Ich weiß, Sie haben nach dem Angriff nicht geduscht, Ihre Zähne geputzt oder Ihre Kleidung gewechselt, richtig?«
Dawn nickte.
»Ist er … in Sie eingedrungen?«, fragte Aiden leise.
Noch ein Nicken. »Vaginal, nichts anderes, aber er versuchte ständig, mich zu küssen. Ich glaube nicht, dass er ein Kondom benutzt hat.«
Ein Kloß formte sich in Aidens Hals, als sie die sachliche Antwort hörte. Es schien, als versuchte Dawn alles zu überstehen, indem sie so tat, als spräche sie über eine ihrer Patientinnen und nicht über sich selbst.
Die Krankenschwester kam zu ihnen zurück. Sie gab Dawn einen blauen Krankenhauskittel. »Bitte stellen Sie sich auf dieses Stück Papier, während Sie sich ausziehen.« Sie deutete zu Boden. »Legen Sie Ihre Kleidung in die Papiertüte auf dem Tisch.«
Dawn seufzte. »Ich kenne die Prozedur«, sagte sie, immer noch Aiden ansehend. Sie schien fast Angst zu haben, Aiden aus den Augen zu verlieren.
»Ich warte draußen, auf der anderen Seite des Vorhangs, okay?« Aiden trat zurück, sah ihr aber weiterhin in die Augen.
Dawn atmete zittrig aus und schloss den Vorhang zwischen ihnen.
Aiden drehte dem Vorhang den Rücken zu und wippte auf den Fußballen, um nicht ruhelos auf und ab zu laufen. Sie hörte das Rascheln vom Papier und dann, nur ein paar Sekunden lang, leises Schluchzen. Hilflos presste sie die Lippen aufeinander.
Nach ein paar Minuten öffnete Dawn den Vorhang. In dem blauen Krankenhauskittel sah sie noch zerbrechlicher aus als zuvor.
Aiden blickte in Dawns nun grau wirkende Augen. »Alles in Ordnung?«
Dawn nickte.
Die Krankenschwester führte Dawn zur Behandlungsliege.
Schweigend stellte Aiden sich neben sie.
Ein Arzt mit einem Klemmbrett kam herein und begann, Fragen zu stellen, während die Krankenschwester die Blutergüsse auf Dawns Gesicht und Körper fotografierte. »Wann hatten Sie zuletzt Ihre Periode, Ms. Kinsley?«
»Ich bin nicht sicher. Vielleicht vor zwei Wochen. Es können aber auch drei sein. Ich weiß es wirklich nicht.« Dawn zuckte mit den Schultern.
»Hatten Sie vor Kurzem Geschlechtsverkehr?«, fragte der Arzt.
Dawn lachte bitter. »Deshalb bin ich doch hier, oder nicht?«
Aiden berührte Dawns Hand mit einem Finger. »Er meint einvernehmlichen Geschlechtsverkehr.«
»Nein.« Dawn biss sich auf die Lippe. »Nein, hatte ich nicht.«
Der Arzt notierte sich etwas auf seinem Klemmbrett. »Welche Art von Verhütungsmittel benutzen Sie normalerweise?«
Erneut erhellte der Blitz der Kamera den Raum und Dawn schloss die Augen. »Ich benutze keine.«
Als sie den abwehrenden Tonfall hörte, nahm Aiden Dawns Hand in ihre und drückte sie beruhigend. Die sachliche Frage hatte sich wohl wie eine Beschuldigung angehört, so als hätte sich Dawn nicht richtig auf die Möglichkeit einer Vergewaltigung vorbereitet.
»Wir brauchen zwei orale Abstriche für eine DNA-Probe und zwei für den äußeren Bereich des Mundes«, sagte Aiden. »Wollen Sie das selbst machen?« Viele Opfer erlebten die Untersuchung im Krankenhaus wie eine zweite Vergewaltigung. Ihre Körper gehörten noch immer nicht ihnen selbst, sondern waren nur ein Tatort, ein Beweismittel. Aiden versuchte immer, den Opfern so viel Kontrolle wie möglich über die Untersuchung zu lassen.
Dawn nahm die Wattestäbchen vom Arzt entgegen und rieb zwei davon über ihre Lippen und zwei über die Innenseite ihres Mundes. Sie gab sie Aiden, die sie in sterile Glasröhrchen steckte.
Als der Arzt Dawns Hand nahm, zuckte sie zusammen.
Aiden trat näher, sowohl um Dawn zu beruhigen, als auch, um ein Blatt unter ihre Hand zu halten, während der Arzt Dawns Fingernägel auskratzte und sie dann abschnitt. Den Blick immer noch auf Dawn gerichtet, sicherte Aiden die Beweismittel in einem Umschlag und verschloss ihn.
»Okay. Legen Sie sich jetzt bitte hin und spreizen Sie die Beine ein wenig.« Der Arzt schob ein Papiertuch unter Dawns Pobacken und fuhr mit einem Kamm durch ihr Schamhaar, auf der Suche nach fremden Haaren. »Es wird kurz wehtun. Ich muss eine Probe Ihres Schamhaares nehmen.«
Kurz darauf schloss Aiden weitere Probenbehälter und beschriftete sie.
Der Arzt nahm zwei weitere Wattestäbchen und trat zwischen Dawns gespreizte Beine.
Dawn zuckte zusammen.
Aiden umschloss Dawns zitternde Finger sanft mit ihren größeren Händen. Sie hielt den Blick auf Dawns Gesicht gerichtet und sah nicht nach unten auf das, was der Arzt tat.
Dawn schloss die Augen und stöhnte. »Ich kann nicht glauben, dass mir das passiert«, flüsterte sie.
»Nur noch einen Moment. Es ist fast vorbei.« Aiden rieb Dawns Hand. Erleichtert sah sie zu, wie der Arzt zurücktrat.
Er knipste das Licht aus. »Öffnen Sie bitte den Kittel ein wenig.«
Dawn kämpfte mit der Kordel, die den Kittel zusammenhielt.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Aiden. Sie bewegte sich erst, als Dawn nickte. Sanft knotete sie die Kordel auf und trat zurück. Statt auf Dawns halb nackten Körper zu sehen, hielt sie den Blick auf Dawns Gesicht und ihre grauen Augen gerichtet.
Der Arzt schaltete eine UV-Lampe an und bewegte sie über Dawns Bauch und Oberschenkel auf und ab, was hellblaue fluoreszierende Flecken zutage förderte.
Dawn sah auf ihren zerschlagenen Körper hinab. »Ist das …?«
»Samenflüssigkeit«, sagte der Arzt und fuhr mit einem Baumwolltupfer über die Flecken.
Dawn stöhnte.
Der Arzt schaltete die UV-Lampe aus und knipste das Licht wieder an. Er wartete, bis Aiden Dawn geholfen hatte, den Krankenhauskittel wieder zu schließen. »Sind Sie gegen irgendetwas allergisch?«
Dawn schüttelte den Kopf.
Er gab ihr zwei weiße Tabletten und einen kleinen Plastikbecher mit Wasser. »Das ist Plan B, die Notfallpille danach. Sie müssen sie in zwei Dosen nehmen, eine Tablette jetzt und eine in zwölf Stunden. Es könnte sein, dass Ihnen etwas schwindelig oder flau im Magen wird, nachdem Sie sie genommen haben. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen etwas gegen Übelkeit aufschreiben.«
Dawn nahm die erste Tablette und schluckte sie ohne Kommentar.
»Die Schwester wird gleich zurück sein«, sagte der Arzt. »Sie wird Ihnen Antibiotika gegen eventuelle Geschlechtskrankheiten verabreichen und Ihnen etwas Blut abnehmen, damit wir es auf Geschlechtskrankheiten und HIV testen können. Die Laborergebnisse werden in vierundzwanzig Stunden da sein. In drei und in sechs Monaten sollten Sie sich erneut testen lassen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.«
Zitternd nickte Dawn.
»Die Schwester hilft Ihnen gleich beim Anziehen und bringt Sie nach unten, um Ihre Hand zu röntgen«, sagte der Arzt.
Aiden ließ sofort Dawns Hand los. »Ihre Hand ist gebrochen?«
Dawn sah hinab auf ihre linke, dann auf ihre rechte Hand, so als hätte sie gar nicht bemerkt, dass etwas damit nicht stimmte.
»Der Zeigefinger der rechten Hand könnte gebrochen sein«, antwortete der Arzt. »Wegen der Schwellung ist es schwer zu sagen, deshalb möchte ich es röntgen.«
Die Krankenschwester half Dawn in einen Rollstuhl, wie es den Krankenhausvorschriften entsprach, und schob sie zur radiologischen Abteilung. Aiden blieb allein mit dem Arzt zurück. »Worauf lassen die Beweise schließen?«, fragte Aiden, als Dawn außer Reichweite war. Für sie stand bereits fest, dass Dawn die Wahrheit sagte, aber vor Gericht zählten nur Beweise.
Der Arzt verschloss die Proben in einer Beweismittelbox und reichte sie Aiden. »Prellungen auf ihren Armen und Schenkeln, die von zupackenden Händen stammen könnten, sowie im Becken- und Schambereich. Bissspuren auf den Brüsten. Es gibt Anzeichen auf Penetration und Samenflüssigkeit.«
Klassische Anzeichen für eine Vergewaltigung. Aiden schluckte. Sie übergab die Beweismittelbox dem uniformierten Polizisten, der draußen gewartet hatte, und wies ihn an, sie direkt zum kriminaltechnischen Labor zu bringen. Dann machte sie sich auf die Suche nach der radiologischen Abteilung.
Kapitel 4
»Guten Morgen, Aiden«, sagte Ray, als er die Dienststelle im zwölften Stock des Polizeihauptquartiers betrat.
Aiden sah von der Auswahl an Teebeuteln auf. »Morgen, Ray. Tut mir leid, dass ich dich an deinem freien Tag angerufen habe. Ich hoffe, Susan ist nicht sauer, weil du am Wochenende arbeitest?«
»Nein, das ist schon okay. Sie wollte ohnehin mit den Mädchen einkaufen gehen. Also, sag mir, warum ich nicht erleben darf, wie vier jammernde Kinder mich um Hundertfünfzig-Dollar-Schuhe oder ein Bauchnabelpiercing anbetteln.« Ray durchquerte den Raum und schenkte sich einen Kaffee ein. »Warum arbeitest du an einem Fall, obwohl du letzte Nacht keine Bereitschaft hattest?«
»Ich hab’s über Polizeifunk gehört, als ich letzte Nacht nach Hause kam«, sagte Aiden.
Ray hob eine Braue. »Und weil du nichts Besseres zu tun hattest, wie zum Beispiel dich nach drei 20-Stunden-Schichten mal auszuschlafen, dachtest du, du würdest deinen Brüdern in Uniform mal aushelfen? Gibt es Zusatzpunkte, wenn man zwei Vergewaltiger in einer Nacht schnappt?«
Aiden lachte nicht. »Ray, es war Dawn.«
»Dawn?« Er runzelte die Stirn.
Nun erst merkte Aiden, dass sie die Psychologin in Gedanken nicht mehr Ms. Kinsley genannt hatte, seit sie Dawn vor drei Stunden auf der Couch vorgefunden hatte. Drei Stunden. Eine Ewigkeit. »Dawn Kinsley, die Dozentin vom letzten Wochenende.«
»Das Opfer ist eine ihrer Patientinnen?«, fragte Ray.
Aiden presste die Lippen zusammen. »Sie ist das Opfer. Jemand ist letzte Nacht in ihre Wohnung eingebrochen und hat sie vergewaltigt.«
»Oh, das tut mir leid.« Ray drehte sich mit der Kaffeetasse in der Hand zu ihr um. »Hast du Okada und Ruben schon angerufen? Ich bin sicher, Ruben würde es nichts ausmachen, an einem Samstag zu arbeiten, wenn es um die Frau geht, die eine von Okadas Verschwörungstheorien widerlegt hat.«
»Als ich kam, waren sie schon hier und haben gerade den Papierkram im Fall Barclay erledigt. Ich habe ihnen gesagt, wir würden uns in Dawns Wohnung … am Tatort treffen, sobald wir mit der Zeugenaussage fertig sind.« Aiden ging zu einem der Befragungsräume. Ray folgte ihr.
Dawn saß noch genau da, wo Aiden sie vor fünf Minuten verlassen hatte: auf der Stuhlkante, die Hände im Schoß. Einer ihrer Finger war geschient.
Ray hielt respektvollen Abstand. »Hallo, Doktor Kinsley. Ich bin Detective Raymond Bennet.«
»Hallo, Detective.« Dawn sah kurz zu ihm, bevor ihr Blick Aiden suchte. Ihre angespannte Körperhaltung lockerte sich ein wenig, als Aiden hinter ihrem Partner den Raum betrat.
Aiden stellte die Tasse Tee vor Dawn ab. »Tee, kein Kaffee«, sagte sie mit einem halbherzigen Lächeln. »Ich hoffe, Sie mögen Ihren Tee mit ein wenig Zucker.«
Dawn nickte und umklammerte die Tasse mit ihrer unverletzten Hand. Sie atmete tief den beruhigenden Geruch von Pfefferminze ein, trank aber nicht. Sie hielt sich nur an der Tasse fest, so als wäre sie ein Rettungsring.
Aiden lehnte sich gegen den Tisch und betrachtete Dawn. Sie sah genauso erschöpft aus, wie Aiden sich fühlte. »Wir müssen das jetzt nicht machen. Wir können Ihre formale Zeugenaussage auch aufnehmen, nachdem Sie ein paar Stunden geschlafen haben.«
»Nein, das ist schon okay.« Dawn schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass ich jetzt schlafen könnte.«
Aiden setzte sich und rückte ihren Stuhl näher an Dawn heran, während Ray einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches wählte. »Ich weiß, wir haben das schon einmal durchgekaut, aber jetzt müssen wir noch einmal von vorne anfangen«, sagte Aiden.
»Okay. Ich war gerade erst eingeschlafen, ich glaube, das war so gegen drei, als mich ein Geräusch geweckt hat. Ich ging nachsehen, weil ich dachte, das wäre die Katze gewesen, die irgendetwas umgeworfen hatte.«
Aiden nickte, unterbrach sie aber nicht mit neuen Fragen, während Ray schwieg und sich Notizen machte. Vermutlich spürte er, dass das Opfer sich wohler mit Aiden als mit ihm fühlte.
»Ein Mann stand in meinem Wohnzimmer«, sagte Dawn. Ihre Stimme klang atemlos und erschrocken, so als erlebte sie den Moment von Neuem. »Ich öffnete den Mund, um zu schreien, aber er drückte mich gegen die Wand und presste den Unterarm auf meinen Hals. Er hielt mir eine Pistole an den Kopf und sagte, er würde mich töten, wenn ich um Hilfe schreie oder versuche, wegzulaufen.« Dawn zitterte.
»Alles okay. Sie sind jetzt hier. In Sicherheit«, sagte Aiden in einem Versuch, sie in die Gegenwart zurückzuholen. Sie wartete ein paar Augenblicke. »Was ist dann passiert?«
»Er zerrte mich zurück ins Schlafzimmer. Auf dem Weg dahin riss er das Telefonkabel aus der Wand und warf mein Handy aus dem Fenster. Dann … stieß er mich aufs Bett.« Dawn sah auf ihre Hände hinab. »Er war wirklich groß und stark und er hatte eine Waffe. Ich wusste, dass ich keine Chance gegen ihn habe.«
Aiden schluckte schwer. Vor einer Woche hatte sie Dawn gesagt, wie gefährlich es sein konnte, sich auf einen Kampf mit jemandem einzulassen, der schwerer war und bewaffnet sein könnte. Hatte sie Dawn jede Chance genommen, unverletzt zu entkommen, indem sie ihr gesagt hatte, dass jede Gegenwehr dumm war? Ihre Hände zitterten, als sie den Pappbecher nahm und versuchte, den Kloß in ihrem Hals mit einem Schluck lauwarmen Kaffees hinunterzuspülen.
»Ich wusste, dass ich ihn nicht schwer genug verletzen kann, um ihn zu stoppen. Vielleicht hätte ich es versuchen sollen. Wenn ich …« Dawn stoppte sich und rieb ihre geröteten Augen. »Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft ich meinen Patientinnen gesagt habe, sie sollen sich für ihre Vergewaltigung nicht selbst die Schuld geben, und jetzt mache ich dasselbe.« Sie sprach nicht weiter und seufzte. »Wie dem auch sei, ich entschied, dass Gegenwehr nutzlos war, und versuchte, mit ihm zu reden. Immerhin verdiene ich mein Geld mit reden.« Sie lächelte bitter.
»Was haben Sie gesagt?«, fragte Aiden.
»Ich sagte ihm, er müsse das nicht tun, weil er gut aussehend sei und es sicher viele Frauen gebe, die freiwillig mit ihm schlafen würden. Ich habe im Geld angeboten. Ich habe alles gesagt, was mir einfiel. Ich habe sogar gesagt, ich hätte eine ansteckende Krankheit.« Dawn wandte den Blick von Aiden ab und starrte auf den Tisch. »Seine Antwort war, seine Hose zu öffnen, meine Beine zu spreizen und mich zu vergewaltigen.«
Einige Sekunden lang war es still im Raum, selbst Rays Stift kratzte nicht mehr über das Papier.
»Er hielt mich mit einer Hand fest, während er mir mit der anderen die Pistole an den Kopf hielt.« Dawn tippte mit ihrem unverletzten Zeigefinger gegen ihre Schläfe. »Ich schloss die Augen und versuchte, den Kopf wegzudrehen, damit er mich nicht küssen konnte, aber jedes Mal, wenn ich wegsah oder die Augen schloss, schlug er mich. Er wollte, dass ich sah, wer mir das antat. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum er keine Maske trug. Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, meinen Körper zu verlassen, so als sähe ich auf eine Fremde hinab, die gerade vergewaltigt wurde. Ich dissoziierte.«
Es war eine seltsame Erfahrung für Aiden, mit einem Opfer zu sprechen, das den Jargon einer Expertin für Sexualverbrechen verwendete. Sie wollte Dawn trösten, aber sie traute sich nicht, die beruhigenden Worte zu sprechen, die den meisten anderen Opfern halfen, weil sie wusste, dass Dawn sie selbst schon hunderte Male bei ihren Patientinnen verwendet hatte. Jetzt, da Dawn das Opfer war, wusste Aiden nicht, was sie sagen sollte.
»Was ist dann passiert?«, fragte Ray, als das Schweigen anhielt.
Dawn räusperte sich. »Er hatte Probleme … zu kommen. Natürlich gab er mir dafür die Schuld, weil ich nur dalag wie ein toter Fisch. Er drückte mir die Pistole unters Kinn und sagte, ich solle aufhören, so zu tun, als ob ich es nicht genießen würde. Er befahl mir, zu stöhnen und erregt zu tun.« Sie schloss die Augen. Ein paar Tränen tropften auf ihre Wangen hinab. »Ich weiß, dass viele Vergewaltiger, die Probleme haben zu ejakulieren, ihren Opfern die Schuld geben und sie töten, deshalb habe ich getan, was er befohlen hat.«
Oh Gott! Aiden wollte die Augen schließen und schreiend aus dem Raum laufen, aber noch viel mehr wollte sie das Monster erschießen, das Dawn das alles angetan hatte. In ihren sieben Jahren in der Sondereinheit für Sexualverbrechen hatte sie schon viele schreckliche Geschichten gehört, aber aus irgendeinem Grund ging ihr diese besonders nahe.
»Schließlich kam er, aber nicht mal das schien ihn zufriedenzustellen«, sagte Dawn. Sie schien auf Autopilot geschaltet zu haben. »Er schlug mich noch einmal und ging dann wie ein Wilder auf meine Schlafzimmereinrichtung los. Seine Augen …« Sie schüttelte sich. »Er trampelte auf meinen Fotos herum und warf meine Bücher durch den Raum. Er war so voller Zorn und Hass, dass ich sicher war, er würde mich töten. Aber er tat es nicht.« Sie klang nicht erleichtert.
Tränen brannten in Aidens Augen. »Was hat er dann getan?«, fragte sie so sachlich, wie sie konnte.
»Er hat einem Stuhl, der im Weg stand, einen Tritt gegeben und ist durch die Schlafzimmertür verschwunden.« Dawn atmete aus und nahm ihren ersten Schluck Tee, der mittlerweile sicher kalt war.
Aiden tauschte einen schnellen Blick mit Ray. »Wir müssen Ihnen nun ein paar detailliertere Fragen stellen. Kann ich Ihnen etwas zu essen bringen, bevor wir anfangen?«
Dawn schüttelte den Kopf.
Aiden stand auf und griff nach Dawns Tasse. »Vielleicht noch einen Tee?«
»Nein, ich …« Dawn umklammerte den Griff der Tasse. »Ich brauche nichts, wirklich.«
Ray sah von Dawn zu Aiden. »Ich gehe.«
Ohne weitere Proteste gab Dawn ihm die Tasse.
Als sich die Tür hinter ihm schloss, merkte Aiden, dass Dawn nur nicht gewollt hatte, dass sie den Raum verließ.
»Tut mir leid«, flüsterte Dawn. »Ich will nicht, dass Ihr Partner denkt, ich würde ihm misstrauen. Es ist nur, ich kenne ihn nicht und irgendwie fühlt es sich so an, als ob ich Sie kenne, auch wenn das nicht so ist.«
»Das ist schon okay«, sagte Aiden lächelnd. »Ray kann ohnehin besser Tee kochen als ich.«
Bald darauf kam Ray mit Tee und Kaffee wieder und die Zeugenaussage wurde fortgesetzt.
»Sie sagten, er hat keine Maske getragen, also haben Sie sein Gesicht gesehen?«, fragte Aiden.
Dawn nickte. »Ja. Ich hatte das Gefühl, er will das so. Er hat meine Nachttischlampe angemacht. Ich glaube, er hat mir den Finger gebrochen, als ich versucht habe, mir die Augen zuzuhalten.«
Aiden stellte es nicht infrage. Sie vertraute der Einschätzung der Psychologin. »Könnten Sie ihn einem Polizeizeichner beschreiben?«
Dawn nickte.
»Und wie sicher sind Sie sich, dass Sie ihn in einer Gegenüberstellung identifizieren könnten?«
»Ich würde ihn überall sofort wiedererkennen«, sagte Dawn ohne das geringste Zögern. »Ich werde sein Gesicht nie vergessen.«
»Sie sagten, er war groß. Wie groß genau?«, fragte Aiden.
Zum ersten Mal sah Dawn Ray direkt an. »Wie groß sind Sie? Eins fünfundachtzig?«, fragte sie mit einem Blick auf seine schlanke, hochgewachsene Gestalt.
»So ungefähr.« Ray lächelte sanft.
»Ich würde sagen, er war etwas größer. Vielleicht eins neunzig.« Dawn zögerte. »Ich könnte mich auch irren. Ich weiß, dass Opfer die Größe ihrer Angreifer oft überschätzen.«
Aiden wusste, dass sie recht hatte. Trotzdem machte es sie traurig zu hören, wie Dawn über sich selbst in einer so distanzierten Weise sprach. »Erinnern Sie sich an irgendetwas sonst? Hatte er zum Beispiel einen Bart?«
Dawn schüttelte den Kopf. »Kein Bart, nur ein paar Bartstoppeln. Er hatte eine kleine Narbe am Kinn, genau hier.« Sie zeigte zu der Stelle auf ihrem eigenen Gesicht. »Und eine zweite Narbe über der rechten Augenbraue. So aggressiv, wie er war, wäre ich nicht überrascht, wenn er wegen Körperverletzung vorbestraft wäre.«
»Wir werden das überprüfen«, sagte Aiden. Es erleichterte ihnen die Arbeit ungemein, dass ihr Opfer verstand, wie Polizeiarbeit funktionierte. »Hat er nach irgendetwas gerochen? Ein Rasierwasser oder …?«
»Er roch nach Schweiß und Zigarettenrauch. Und nach Alkohol.« Dawn fröstelte, als könnte sie ihn riechen, mitten im Befragungsraum.
Aiden stützte einen Ellenbogen auf den Tisch und spielte mit dem Kugelschreiber in ihrer Hand. »Was ist mit seiner Kleidung? Können Sie sich daran erinnern, was er anhatte?«
»Nichts Besonderes. Nur ein weißes, ärmelloses Shirt. Ich glaube, er wollte mit seinen muskulösen Armen angeben.« Sie rollte mit den Augen. »Ich glaube, seine Hose war schwarz. Auf jeden Fall irgendeine dunkle Farbe.«
»Hat er mit Akzent gesprochen?«, fuhr Aiden mit ihrer unendlichen Frageliste fort.
»Kein Akzent«, antwortete Dawn. »Er hat ein wenig Slang gesprochen. Er klang clever, aber nicht, als hätte er eine akademische Ausbildung, würde ich sagen.«
Aiden nickte. »Wie alt war er etwa?«
»Ein bisschen jünger als ich. Mitte zwanzig, würde ich schätzen.«
Ziemlich jung. Vielleicht hat er eben erst mit seiner Verbrecherkarriere begonnen. »Wirkte er unsicher oder nervös?«
»Nicht im Geringsten.« Dawn schüttelte vehement den Kopf. »Er war kaltblütig und völlig überzeugt, dass er jedes Recht hatte, sich zu nehmen, was er wollte. Da blieb kein Platz für Nervosität oder Skrupel. Ich würde mich nicht wundern, wenn er schon andere Frauen vergewaltigt hätte.«
Aiden sah zu Ray, um sicherzugehen, dass er sich das aufgeschrieben hatte. »Sie sagten, Sie kennen ihn nicht, aber hat irgendetwas, was er gesagt oder getan hat, darauf hingedeutet, dass er Sie kennt oder weiß, wer Sie sind?«
Dawn zögerte.
Aiden sah in ihre grauen Augen. Alle anderen Fragen hatte Dawn ohne zu zögern beantwortet. Was ließ sie über diese Frage so lange nachdenken?
»Er hat nichts dergleichen gesagt, aber irgendwie hatte ich trotzdem das Gefühl, dass er nicht zufällig in meine Wohnung eingebrochen ist.« Mit ihrer unverletzten Hand spielte Dawn mit dem Henkel ihrer Tasse. »Vielleicht bin ich auch nur paranoid.«
Aiden schüttelte den Kopf. »Vertrauen Sie Ihrem Instinkt, Doktor. Im Moment könnte uns sogar ein paranoides Gefühl weiterhelfen.«
Dawn lächelte zurückhaltend. »Danke.«
»Ist in den letzten Tagen irgendetwas Ungewöhnliches passiert?«, fragte Aiden.
»Ungewöhnlich?« Noch ein Halblächeln von Dawn. »Ich bin Psychologin, Detective. Ungewöhnliche Dinge passieren mir jeden Tag. Aber wenn Sie damit meinen, ob mir Fremde aufgefallen sind, die vor dem Haus herumlungerten, oder ob ich seltsame Anrufe bekam, dann nein, da war nichts Ungewöhnliches.«
»Hat Ihr Haus einen Pförtner?«, fragte Aiden.
»Ja, aber er geht um Mitternacht.« Dawn verzog das Gesicht. »Kosteneinsparungen.«
Aiden zerdrückte den Pappbecher in ihrer Hand. »Sie sagten, Sie waren gerade erst eingeschlafen, als Sie ihn hörten. Sind Sie ausgegangen oder waren Sie den ganzen Abend zu Hause?«
»Ich war mit ein paar Freunden aus. Ich bin ziemlich spät nach Hause gekommen und nur noch ins Bett gefallen.« Dawn biss sich auf die Lippe, als hätte ihre Entscheidung, wegzugehen, die Vergewaltigung verursacht.
»Ist irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen, während Sie weg waren? Irgendein Kerl, der Sie angebaggert hat oder so etwas?«
Ein verhaltenes Lächeln huschte über Dawns Gesicht. »Nein, nichts dergleichen. Ich habe außer mit meinen Freundinnen mit niemandem geredet und ich bin sicher, dass mir niemand nach Hause gefolgt ist.«
»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, als Sie nach Hause kamen? War irgendein Gegenstand nicht da, wo er hätte sein sollen?«, fragte Aiden.
»Nein, ich glaube nicht, aber ich bin nicht sicher«, sagte Dawn. »Ich war so müde, als ich nach Hause kam, dass ich mich nicht umgesehen habe.«
»Okay.« Aiden rieb sich den Nacken. »Sie sagten, ein Geräusch hätte Sie geweckt. Irgendeine Ahnung, was es gewesen sein könnte? Eine Tür, die sich öffnete, oder eine Scheibe, die zerschlagen wurde, oder …?«
Dawn zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber bestimmt nichts Lautes wie zerbrechendes Glas.«
»Haben Sie die Tür abgeschlossen, als Sie nach Hause kamen?«, fragte Aiden.
Dawn nickte entschieden. »Das mache ich immer sofort.«
»Und was ist mit den Fenstern?«
»Oh Gott!« Dawn vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich hab das Fenster aufgemacht! Ich hab ihn reingelassen! Ich lasse immer das Fenster offen, wenn ich ins Bett gehe und meine Katze noch nicht zurück ist. Ich habe ihn praktisch hereingebeten!«
»Hey.« Sachte berührte Aiden sie an der Schulter. »Sie haben ihn nicht hereingebeten. Falls Sie ihn nicht schriftlich eingeladen haben, hatte er nicht das Recht, Ihre Wohnung zu betreten, selbst wenn jede Tür und jedes Fenster offen gestanden hätte.«
»Trotzdem.« Dutzende von Was-wäre-wenns standen zwischen ihnen.
Aiden seufzte und beschloss, die unangenehme Stille mit der nächsten Frage zu durchbrechen. »Hat er irgendetwas mitgenommen? Eine Kette, Ringe oder sonst etwas?«
»Er war nicht an meinem Schmuck interessiert, Detective. Wir reden hier nicht von einem Einbrecher, der zufällig eine schlafende Frau antrifft und die Gelegenheit nutzt.« Dawns Stimme wurde lauter.
Aiden hob beruhigend die Hand. Wie manche Vergewaltigungsopfer schien Dawn zwischen Selbstvorwürfen und Wut auf die ganze Welt hin- und herzuschwanken. »Die meisten Vergewaltiger nehmen etwas mit, das dem Opfer gehört. Nicht aus finanziellen Gründen, sondern …«
»Als Trophäe«, sagte Dawn, nun viel ruhiger.
»Ja.«
Dawn drückte ihre unverletzten Finger gegen ihre Nasenwurzel. »Ich habe nicht gemerkt, dass irgendetwas fehlt, aber bei all dem Durcheinander im Schlafzimmer kann ich mir nicht sicher sein.«
»Und hat er irgendetwas zurückgelassen?«, fragte Aiden.
»Was zum Beispiel?«
Aiden zuckte mit den Schultern. »Ein Kleidungsstück, ein Werkzeug, eine Waffe.«
»Nein. Er hat sich nicht ausgezogen und er hat die Pistole mitgenommen, als er ging.«
Die Pistole. Aiden wusste, wie schwer es war, eine zuverlässige Beschreibung von einer Waffe von einer Zivilistin zu erhalten, aber sie beschloss, es trotzdem zu versuchen. »Können Sie die Pistole beschreiben? War es ein Revolver?«
»Nein, war es nicht«, antwortete Dawn ohne den Hauch eines Zögerns. »Er hatte eine Glock 17.«
Ray und Aiden wechselten erstaunte Blicke.
»Wie können Sie da so sicher sein?«
»Ich stamme aus einer Familie voller Polizisten«, sagte Dawn mit einem kurzen, aber liebevollen Lächeln. »Mein Vater und mein älterer Bruder waren bei der Polizei und einige meiner Freunde sind es immer noch. Die meisten hatten eine Glock, deshalb bin ich praktisch damit aufgewachsen.«
Waren bei der Polizei? Aiden entging nicht die Vergangenheitsform, aber sie beschloss, nicht nachzufragen. Dawn hatte im Moment schon genug zu verarbeiten.
Mit einem Blick auf die Uhr, der ihr verriet, dass es kurz nach zehn war, stellte Aiden noch einige Fragen zu Dawns normalem Tagesablauf: Welche Restaurants, Fitnessstudios und Nachtclubs besuchte sie? Wo kaufte sie ein? Welche Apotheke und Wäscherei nutzte sie? Sie würden ihre Antworten später mit denen anderer Vergewaltigungsopfer vergleichen. Wenn sie Glück hatten, gab es eine Verbindung, einen gemeinsamen Ort, an dem der Vergewaltiger auf sie aufmerksam geworden war.
Schließlich streckte sich Aiden und sah zu Dawn, die gähnte.
Ray schlug den Notizblock zu und legte den Stift weg. »Bis heute Nachmittag können wir Ihnen die getippte Aussage vorlegen. Sie sollten sie dann sorgfältig durchlesen, um sicherzugehen, dass alles stimmt, und sie dann unterschreiben.«
Dawn nickte.
»Leben Sie allein?«, fragte Ray. Als Dawn nickte, sagte er: »Gibt es Angehörige oder Freunde, bei denen Sie ein paar Tage bleiben könnten?«
»Ich glaube, ich bleibe ein paar Tage bei meiner Mutter«, antwortete Dawn.
Ray nickte. »Gut. Eine Streife kann Sie hinfahren.«
Aiden stand auf und kam um den Tisch herum. »Ich fahre sie nach Hause, Ray.«
»Das ist nicht nötig, Detective. Ich kann ein Taxi nehmen«, sagte Dawn, obwohl ihr anzusehen war, dass sie ungern zu einem männlichen Fremden ins Auto steigen wollte.
»Das ist kein Problem«, sagte Aiden. »Es macht mir wirklich nichts aus.«
Ihr Partner betrachtete sie ein paar Sekunden lang, bevor er nickte. »Okay. Wir treffen uns am Tat… in Doktor Kinsleys Wohnung, wenn du fertig bist.«
Aiden parkte vor Grace Kinsleys Haus und stellte den Motor aus. Sie stieg aus und wartete, bis Dawn dasselbe getan hatte. »Ein Schlosser wird die Türschlösser in Ihrer Wohnung austauschen«, sagte sie und fragte sich, wie vielen Vergewaltigungsopfern sie das schon gesagt hatte. »Und eine Psychologin wird Sie anrufen, um …« Sie unterbrach sich, als ihr einfiel, dass Dawn selbst Psychologin war.
»Um einen Termin zu vereinbaren«, sagte Dawn. »Die ganz normale Routine, richtig?«
