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Zwei Frauen, zwei Welten – eine unerwartete Liebe. Eine ausgebrannte Popsängerin und eine asexuelle Krankenschwester entdecken, dass wahre Harmonie nicht in der Musik, sondern im Herzen liegt. Popstar Leontyne Blake singt über die Liebe, doch eigentlich hat sie schon vor langer Zeit aufgehört, daran zu glauben. Frauen geht es immer nur um ihr Geld oder ihre Berühmtheit, nicht um sie selbst. Als ihr Vater einen Schlaganfall erleidet, kehrt sie in die Kleinstadt zurück, in der sie aufgewachsen ist. Dort lernt sie die Krankenschwester Holly Drummond kennen, die sich nicht von Leos Berühmtheit beeindrucken lässt. Das ist nicht das Einzige, was Holly von anderen Frauen unterscheidet. Sie ist asexuell und hat die Suche nach einer Partnerin aufgegeben. Kann mehr werden aus der zaghaften Freundschaft zwischen einer ausgebrannten Popsängerin und einer Frau, die kein Interesse an Sex hat?
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Seitenzahl: 544
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Hängematte für zwei
Herzklopfen und Granatäpfel
Vorsicht, Sternschnuppe
Die Hollywood-Serie:
Liebe à la Hollywood
Im Scheinwerferlicht
Dress-tease
Affäre bis Drehschluss
Die Portland-Serie:
Auf schmalem Grat
Rosen für die Staatsanwältin
Umzugsfieber
Die Mondstein-Serie:
Cabernet und Liebe
Verführung für Anfängerinnen
Die Serie mit Biss:
Zum Anbeißen
Coitus Interruptus Dentalis
Die Gestaltwandler-Serie:
Vollmond über Manhattan
Inhaltsverzeichnis
Von Jae außerdem lieferbar
DANKSAGUNG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
EPILOG
NACHWORT
Über Jae
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Hängematte für zwei
Liebe im Trinkgeld inbegriffen
All the Little Moments
All the Little Moments
Demnächst im Ylva Verlag
Küsse in Amsterdam
Requiem mit tödlicher Partitur
DANKSAGUNG
Ein herzliches Dankeschön geht an meine fleißigen Korrekturleserinnen Melanie, Susanne, Christiane, Peggy, Sandra und Stephanie sowie an meine Lektorin Andrea Fries.
KAPITEL 1
»Jenna, Jenna, Jenna!« Die Rufe ihrer Fans hallten durch den Madison Square Garden. Selbst nach einem 90-minütigen Konzert konnte die Menge offenbar nicht genug von ihr bekommen. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem gesamten Körper aus, als zwanzigtausend Menschen jubelten, klatschten und ihren Namen riefen.
Nun ja, eigentlich war es nicht ihr richtiger Name, sondern ihr Künstlername.
Schon seit mehr als einem Jahr hatte niemand mehr ihren richtigen Namen, Leontyne oder Leo, benutzt. Wenn sie auf Tour war, wurde sie zur Popikone Jenna Blake.
Andere Stimmen riefen laut nach »Butterfly Kisses«, ihrem erfolgreichsten Lied.
Ray, der neben ihr hinter der Bühne stand, stöhnte. »Wenn ich dieses Lied noch einmal spielen muss, raste ich aus.« Er tat so, als würde er sich mit seinen Schlagzeugsticks die Kehle durchschneiden. »Wir haben es doch schon am Anfang gespielt. Warum wollen sie es noch mal hören?«
Leo seufzte. Nachdem sie das Lied während der vergangenen dreizehn Monate auf einhundertachtzehn Konzerten gesungen hatte, konnte sie es auch nicht mehr hören. »Wenn die Fans es so wollen, dann spielen wir es eben noch mal. Komm schon.« Sie klopfte Ray auf die Schulter. »Diese letzte Zugabe noch, dann können wir alle nach Hause gehen.«
Sie nahm einen Schluck ihres lauwarmen Wassers, bevor sie die Flasche abstellte und die Hand hob, um den Technikern ein Zeichen zu geben.
Die Lichter in der Arena gingen aus. Tausende von Handydisplays leuchteten in der Dunkelheit. Die Nebelmaschine hinter den Verstärkern hüllte die Bühne in dichten Rauch.
Leo gab ihre Gitarre an den Gitarrentechniker weiter, trat hinter der Bühne hervor und tastete sich im Dunkeln die wenigen Stufen empor.
Wer zum Teufel hat das für eine gute Idee gehalten? Sie verfluchte die hohen Absätze ihrer kniehohen Stiefel und den hautengen Overall mit dem Rollkragen und dem tief ausgeschnittenen Rücken. Blindlings ging sie über den Steg, der die Hauptbühne mit einer kleineren Plattform verband.
Sobald sie die Plattform erreicht hatte, flammte ein einzelner Lichtkegel auf und tauchte sie in ein violettes Licht. Hinter ihr explodierte ein buntes Feuerwerk auf einer riesigen Videoleinwand.
Die Menge kreischte und jubelte.
Derek spielte die ersten Takte von »Butterfly Kisses«. Die Klänge der Bassgitarre vermischten sich mit den Trommelschlägen und Leos Körper bewegte sich wie von selbst im Rhythmus der Musik.
Als sie das schnurlose Mikrofon aus seinem Ständer nahm, fiel sie sofort in ihre Rolle als Popstar.
Leos sinnliche, leicht rauchige Stimme füllte die Arena. Ihre Hüften kreisten verführerisch zum Takt des Lieds. Sie stolzierte über die Plattform und blieb aufreizend dicht am Rand stehen, sodass ihre Zuhörer sie fast berühren konnten. Sie senkte die Stimme zu einem sexy Hauchen und sang direkt zu ihren Fans.
Hände reckten sich ihr entgegen.
Bevor irgendjemand sie berühren konnte, wich sie mit einem spielerischen Zurückwerfen ihrer Haare zurück und sang den Refrain.
Das Scheinwerferlicht ließ ihre Haut glühen, aber sie ignorierte den Schweiß, der ihr Kostüm durchdrang, und konzentrierte sich ganz auf ihre Tanzschritte und den Text.
Die Menge unter ihr tanzte, klatschte und sang lauthals mit.
Als sie erneut den Refrain begann, streckte Leo die Hand mit dem Mikrofon aus, um ihre Fans singen zu lassen. Die Scheinwerfer blendeten sie, sodass sie keine Gesichter erkennen konnte. Alles, was sie sah, waren Hände, die leuchtende Handys hielten. Ab und zu, wenn Lichtkegel über die Menge kreisten, erhaschte sie einen Blick auf ein T-Shirt, das ihr Gesicht oder ihren Namen trug.
Selbst nach vierzehn Jahren im Musikgeschäft hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt.
Es war ein unglaubliches Gefühl, auf diese Menschenmenge hinabzublicken und zu wissen, dass sie alle gekommen waren, um sie singen zu hören. Einen Moment lang war die alte Begeisterung wieder da, als die brodelnde Energie der Menge durch sie hindurchfloss.
Schließlich verklangen die Schlussakkorde des Liedes.
Ihre Fans klatschten und stampften mit den Füßen, sodass die Bühne unter ihren Füßen bebte.
»Ich liebe dich, Jenna!«, rief ein Mädchen in der ersten Reihe. Andere stimmten mit ein.
»Ich liebe dich auch, W…« Gerade noch rechtzeitig brach sie ab. Nein, in Washington, D.C. war sie gestern gewesen. Heute waren sie in New York. Zu Hause. »Wunderschöne.« Leo ließ es klingen, als hätte sie von Anfang an nichts anderes sagen wollen. »Herzlichen Dank euch allen und gute Nacht.«
Das Mikro fühlte sich so schwer wie ein Amboss an, als sie es zurück auf den Ständer steckte. Nachdem sie sich verbeugt und in alle Richtungen gewinkt hatte, verließ sie die Bühne, so schnell ihre hochhackigen Stiefel es zuließen.
Ein schwarz gekleideter Sicherheitsbeamter führte sie durch die verworrenen Korridore, vorbei an Tontechnikern, Inhabern von Backstageausweisen und Bildern von Bands und Sängern, die vor ihr im Madison Square Garden gespielt hatten.
Sie setzte ihr Jenna-Blake-Lächeln auf, als Teammitglieder und Fans ihr »herzlichen Glückwunsch« oder »tolles Konzert« zuriefen. Erst als die Tür ihrer Garderobe hinter ihr zufiel, gestattete sie sich, ein wenig zu entspannen. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit war sie allein, ohne dass irgendjemand um ihre Aufmerksamkeit buhlte. Sie nahm den Ohrhörer heraus und legte ihn auf den Schminktisch vor dem riesigen, von Glühbirnen eingerahmten Spiegel.
Oh Mann. Sie sah beschissen aus. Vielleicht hatte das Bühnen-Make-up, das sie zu Konzerten tragen musste, ja doch seine Vorteile. Es verbarg die Ringe um ihre Augen, zumindest aus der Ferne. Wenn sie nicht aufpasste, würde die Gerüchteküche bald brodeln und die Klatschpresse würde behaupten, sie nähme Drogen oder verbrächte die Nächte auf wilden Partys.
Schön wär’s! Sie ließ sich auf eines der drei schokoladenfarbenen Sofas fallen. Sofort streifte sie die Folterinstrumente von den Füßen und vergrub ihre nackten Zehen im weichen Teppichboden.
Sie schloss die Augen. Himmlisch. Als das Adrenalinhoch abflaute, überkam sie eine bleierne Erschöpfung. Sie hätte ewig hier sitzen bleiben und die Stille genießen können, aber das Knarren der Tür ließ sie die Augen öffnen.
Saul, ihr Manager, betrat die Garderobe und schob sich an zahlreichen Kleiderständern vorbei. Ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinem bärtigen Gesicht ab.
Sein Assistent und eine Maskenbildnerin folgten ihm.
»Du warst toll da draußen.« Er deutete zu dem riesigen Flachbildfernseher, der die Bühne zeigte. »Sie haben dich geliebt.«
Leo sagte nichts. Ihre Fans liebten das konstruierte Image von sexy Popstar Jenna Blake, nicht wirklich sie. Ohne aufzustehen, beugte sie sich über ihre Reisetasche und suchte nach einem Pullover. Sie konnte es kaum abwarten, endlich ihr Make-up und den engen Overall loszuwerden, der an ihrer feuchten Haut klebte.
Saul zog die Tasche außer Reichweite. »Das muss warten. Du musst dich gleich mit deinen VIP-Fans treffen und dich dann bei der Afterparty sehen lassen.«
»Für die Afterparty ziehe ich mich um, aber glaubst du wirklich, es kümmert meine Fans, was ich anhabe, wenn ich die Garderobe verlasse, um kurz Hallo zu sagen?«
»Und wie es sie kümmert«, sagte Saul. »Glaubst du im Ernst, die bezahlen dafür, dich in deiner Lesbenuniform zu sehen?«
Als Kind hatte Leo stundenlang vor dem Spiegel geübt, bis sie eine Augenbraue heben konnte. Nun kam ihr diese Fähigkeit zugute. »Seit wann gelten Jeans und Pulli als Lesbenuniform?«
»Habe ich dich je schlecht beraten?«
Sie seufzte. Ihr war bewusst, dass Saul sie zu dem gemacht hatte, was sie heute war, aber inzwischen war sie sich nicht mehr so sicher, ob es das war, was sie wollte. »Ich bin müde, Saul.«
»Ich weiß. Es war ein langer Abend.«
»Ein langes Jahr«, murmelte sie.
»Aber jetzt ist es vorbei.« Er wedelte mit der Hand, als könnte das den Stress des letzten Jahres wegwischen. »Und es wird dich sicher aufmuntern, wenn du hörst, welche großartige Gelegenheit ich für dich aufgetan habe.« Er hüpfte zu ihr herüber und sie konnte fast die Dollarzeichen in seinen Augen sehen.
Na toll. Was hatte er jetzt schon wieder geplant?
»Ich habe ein tolles Angebot für dich ausgehandelt: Du wirst Jurymitglied bei A Star is Born!« Er breitete die Arme aus und erwartete offenbar eine begeisterte Reaktion. »Das Vorsingen beginnt im Januar. Du hast also noch sechs Monate Zeit. Wenn wir Irene und den Rest deiner Songwriter zusammentrommeln, sollte genug Zeit sein, um fünfzehn Lieder zusammenzustellen und sie dann im Studio …«
»Nein. Ich habe dir eben gesagt, dass ich müde bin«, sagte sie, diesmal lauter. »Ich meine es ernst. Ich brauche eine Pause.«
Saul sah zur Maskenbildnerin. »Könnten Sie uns kurz allein lassen?« Er wartete, bis sie den Raum verlassen hatte, bevor er sich wieder Leo zuwandte. »Fünfzehn Minuten mit den Fans und auf der Afterparty ein bisschen Small Talk mit den Leuten von der Plattenfirma, dann lasse ich dich nach Hause fahren. Acht Stunden Schlaf, ein ausgiebiges Frühstück und schon wirst du dich besser fühlen.«
»Nein, Saul. Du hörst mir nicht zu. Ich brauche mehr als acht Stunden Schlaf und ein Eiweißomelette.« Sie wischte sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich bin nicht nur körperlich müde.«
Tiefe Furchen gruben sich in Sauls Stirn. »Das meinst du nicht ernst.«
Sie hielt seinem Blick stand. »Doch. Vielleicht werde ich alt.«
Seine Lippen formten ein amüsiertes Lächeln. »Du bist zweiunddreißig. Das ist nicht gerade alt.«
»Wenn man ein sexy Popstar sein soll, schon. Ich habe bis zum Ende der Tour durchgehalten, aber so kann es nicht weitergehen. Ich stehe so dicht vor einem Burn-out.« Sie hielt Daumen und Zeigefinger einen halben Zentimeter auseinander.
»Alles, was du brauchst, ist eine kleine Stärkung.« Er zog eine silberne Pillendose aus der Innentasche seines maßgeschneiderten Anzugs und klappte sie auf.
Ohne einen Blick auf den Inhalt der Dose zu werfen, sprang Leo auf. Sie wollte es gar nicht wissen. Oft genug hatte sie gesehen, was dieses Zeug mit Musikern anrichtete. »Du weißt genau, dass ich auf meinen Touren keine Drogen zulasse. Wenn du diesen Scheiß nicht sofort aus meiner Garderobe entfernst, werde ich …«
»Wer hat denn irgendetwas von Drogen gesagt? Ich würde dir nie irgendetwas Illegales geben. Es ist nur eine Tablette, die dir helfen wi…«
»Diese Art von Hilfe brauche ich nicht. Wie oft muss ich es denn noch sagen? Ich brauche eine verdammte Pause.« Sie trat mit einem Fuß nach einem der hochhackigen Stiefel, sodass dieser quer durch den Raum geschleudert wurde.
Sauls neuer Assistent zuckte zusammen. Vermutlich glaubte er nun, sie wäre eine Diva mit Wutausbrüchen, aber es war ihr egal.
»Dann eben nicht.« Mit einem Schulterzucken steckte Saul die Pillenbox ein. Er ließ sich auf die Couch fallen und klopfte auf das Polster neben sich.
Sie starrte ihn noch etwas länger böse an, bevor sie sich demonstrativ auf die andere Couch setzte.
»Hör zu, Jenna.« Er stützte die Ellbogen auf die Schenkel, beugte sich vor und betrachtete sie über den gläsernen Couchtisch hinweg. »Ich weiß, dass du eine Woche Cocktailschlürfen auf einer tropischen Insel gut gebrauchen könntest. Himmel, wir alle hätten es nötig. Aber du hattest schon seit drei Jahren keinen Nummer-eins-Hit mehr in den Charts.«
Ein leises Knurren entfuhr ihr. »Die Hälfte dieser drei Jahre habe ich damit verbracht, mein letztes Album zu promoten und auf Tour zu gehen.«
»Ich weiß.« Er hob beide Hände. »Ich sage nicht, dass du faul bist. Aber das ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Pause. Du hattest Glück, dass du nicht all deine Fans verloren hast, als du dich entgegen meinem Rat geoutet hast. Aber noch mal wirst du nicht so viel Glück haben.«
»Glück?«, wiederholte Leo. »Ich habe hart gearbeitet, um …«
»Harte Arbeit genügt nicht. Du weißt selbst, wie wechselhaft Fans sind. Wenn irgendwo eine neue heiße Tussi auftaucht, die einen Ton länger als eine Sekunde halten kann, werden sie dich schneller vergessen haben, als du Karriereknick sagen kannst.«
Leo seufzte. Leider musste sie zugeben, dass er recht hatte. Bevor ihr eine Antwort einfallen konnte, klingelte ein Telefon.
Saul griff nach seinem Handy, aber es war nicht seins.
Die Melodie von Aretha Franklins »Call Me« drang durch den Raum. Nur wenige Personen hatten Leos Nummer. Sie hatte ihren eigenen Klingelton so lange nicht gehört, dass sie einen Moment brauchte, um zu reagieren. Ehrlich gesagt war sie ganz froh, der Diskussion mit Saul ein paar Minuten entkommen und über ihre Antwort nachdenken zu können.
Aber als sie aufstand, um ihr Handy zu holen, winkte Saul seinem Assistenten zu. »Nimm mal ab.« Er wandte sich wieder Leo zu. »Wir sind mitten in einer wichtigen Unterhaltung. Das kann warten.«
Sie sank auf die Couch zurück. Er hatte recht. Sie hatte ihm schon vor der Welttour gesagt, dass sie eine Pause brauchte, aber scheinbar war sie nicht zu ihm durchgedrungen. Diesmal musste es gelingen. Sie brauchte einen Monat Urlaub, weit weg von allem, sonst würde sie verrückt werden.
Der Assistent legte sein Klemmbrett weg, nahm ihr Handy vom Schminktisch und verließ den Raum, um draußen den Anruf entgegenzunehmen. Doch bevor sie die Unterhaltung mit Saul wiederaufnehmen konnte, kam der junge Mann in die Garderobe zurück und hielt ihr mit hilfloser Miene das Handy hin.
Saul funkelte ihn an. »Ich hoffe doch sehr, dass das der Präsident der Footballliga ist, der möchte, dass Jenna während des Super Bowls die Nationalhymne singt!«
Der Assistent schluckte hörbar. »Äh, nein, es ist irgendeine Frau. Ich habe ihren Namen nicht verstanden. Sie sagt, sie will mit einer Leontyne sprechen.« So wie er es aussprach, reimte es sich auf Wein, so als hätte er nicht darauf geachtet, wie die Frau am Telefon den Namen betont hatte.
»Le-on-tien«, korrigierte Leo automatisch.
»Äh, ja, ich glaube, so hat sie es gesagt. Ich habe ihr gesagt, sie ist falsch verbunden, aber sie besteht darauf, dass …«
Sie winkte mit den Fingern. »Geben Sie mir das Handy.«
Der Assistent eilte um den Glastisch und reichte ihr das Handy.
Bei der Frau, die nach Leontyne verlangte, konnte es sich nur um eine einzige Person handeln. Sie holte tief Luft. »Mama?«
Sauls Assistent starrte sie an.
Hatte er etwa gedacht, sie wäre ohne Eltern im Labor gezüchtet worden?
»Leontyne?« Es war die Stimme ihrer Mutter.
Ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest. Sie hatten fünf Jahre lang nicht miteinander gesprochen. Irgendetwas musste passiert sein, sonst würde ihre Mutter sie jetzt nicht anrufen. »Ja. Was ist passiert?«
»Ich habe mich gefragt, ob …? Hast du …?« Ihre Mutter schnappte mühsam nach Luft. »Ich würde mich sehr freuen, wenn du nach Hause kämst.«
»Wie bitte? Ich soll nach Hause kommen?«
Saul riss die Augen auf. Er schüttelte hektisch den Kopf. »Auf keinen Fall«, sagte er, vermutlich laut genug, dass auch Leos Mutter ihn hören konnte. »Das ist nicht der geeignete Zeitpunkt für einen Familienbesuch. Du musst dein nächstes Album aufnehmen.«
Leo steckte sich den Zeigefinger ins Ohr, um ihn nicht mehr zu hören. »Vielleicht kann ich diesen Herbst …«
»Ich denke wirklich, du solltest deinen Vater jetzt besuchen«, unterbrach ihre Mutter sie. »Er hatte einen Schlaganfall.«
KAPITEL 2
Holly lehnte sich gegen den Behandlungstisch und sah von ihrer Mutter, der einzigen Tierärztin in Fair Oaks, zu Mrs. Mitchell und dem Transportkorb in deren Hand.
Wer immer Diva auch ihren Namen gegeben hatte, diese Person hatte eine passende Wahl getroffen.
Sobald Mrs. Mitchell den Katzenkorb auf dem Stahltisch abstellte, zuckte Diva abfällig mit den Schnurrhaaren, drehte sich um und zeigte ihnen ihren Hintern.
Mrs. Mitchell kicherte. »Bitte entschuldige ihre Manieren, Beth. Sie mag Besuche beim Tierarzt nicht.«
»Ich werde versuchen, es nicht persönlich zu nehmen.« Hollys Mutter grinste schief.
Nun, da Mrs. Mitchell die Hände frei hatte, kam sie auf Holly zu.
Einen Moment lang fürchtete Holly, ihre frühere Mathelehrerin würde ihr in die Wangen kneifen, als wäre Holly noch ein Kind, aber stattdessen bekam sie eine Umarmung.
»Ich habe dich länger nicht mehr gesehen, Liebes. Es hält dich wohl ziemlich auf Trab, dass du dich um Gil kümmerst. Oder hast du doch beschlossen, die Praxis deiner Mutter zu übernehmen?« Mrs. Mitchell schwang den Arm in einer Geste, die das Behandlungszimmer und den Rest der Tierarztpraxis mit einschloss.
Holly lachte. »Oh nein. Ich bin Krankenschwester, nicht Tierärztin. Ich helfe nur für ein paar Stunden aus, weil Susan sich krankgemeldet hat.« Als sie ihrer Mutter half, die fauchende Katze aus der Transportbox und auf den Behandlungstisch zu bekommen, beglückwünschte sie sich insgeheim für ihre Berufswahl. Ihre menschlichen Patienten waren normalerweise kooperativer … und sie hatten keine rasiermesserscharfen Krallen.
Diva stieß ein ohrenbetäubendes Jaulen aus, als würde man sie foltern, und sträubte das Fell, bis sie das Doppelte ihrer ohnehin schon eindrucksvollen Größe annahm.
Holly begann zu schwitzen, als sie versuchte, die Katze festzuhalten, ohne völlig zerkratzt zu werden.
»Hey, hey«, raunte ihre Mutter der Katze zu. »Niemand wird dir wehtun.«
Das Versprechen schien ziemlich einseitig zu sein. Divas Schwanz, der die Dimensionen einer Klobürste angenommen hatte, peitschte hin und her und die Katze versuchte zu beißen.
Hollys Mutter packte das Tier mit einem geübten Griff im Nacken. Sanft tastete sie Divas Bauch ab, hielt ein Stethoskop gegen ihre Brust und blickte dann in ihre Ohren. Holly hatte alle Hände voll zu tun, die fauchende Katze festzuhalten, die ihr einen Lass-mich-sofort-los-du-Rohling-Blick zuwarf.
Schließlich trat ihre Mutter einen Schritt zurück. »Alles sieht gut aus, Thelma. Aber Diva sollte ein bisschen abnehmen.«
Ein bisschen? Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Es bestand keinerlei Gefahr, dass Diva zur Katzenversion von Kate Moss werden würde.
»Hast du ihr nicht das Spezialfutter gegeben, das ich dir letzten Monat empfohlen habe?«, fragte Hollys Mutter.
»Ich habe es versucht, aber sie hat es nicht angerührt.«
»Versuche es noch mal. Sie wird es fressen, sobald sie merkt, dass sie nichts anderes bekommt, ganz egal, wie sehr sie schmollt. Vertrau mir. Bei Holly hat es bestens funktioniert, als sie ein Kind war und sich weigerte, grüne Bohnen zu essen.« Sie stupste Holly an.
»Das glaubst auch nur du«, sagte Mrs. Mitchell. »In der Schulcafeteria hat sie ständig ihren Apfel gegen die Kekse von Amber Young getauscht.«
Als ihre Wangen heiß wurden, verfluchte Holly ihre helle Haut. Wenigstens schien Mrs. Mitchell nicht zu ahnen, dass Amber und sie auch ihre Hausaufgaben getauscht hatten: Holly hatte Mathe und Biologie für Amber erledigt, während Amber ihre Aufsätze geschrieben hatte. »Hey, ihr beiden, lasst mich aus der Sache raus.«
Ihre Mutter und Mrs. Mitchell lachten. Diva fauchte und sie wandten sich alle wieder der Katze zu.
»Was, wenn sie sich weigert, das neue Futter zu fressen?« Mrs. Mitchell sah besorgt auf Diva hinab. »Ist es nicht gefährlich für Katzen, in den Hungerstreik zu treten?«
»Ich glaube nicht, dass das passieren wird. Lass uns eine andere Geschmacksrichtung des Spezialfutters ausprobieren. Du kannst es unter ihr normales Futter mischen und dann jeden Tag das Mischungsverhältnis etwas verändern, bis sie nur noch das Spezialfutter bekommt.«
Mrs. Mitchell nickte. »Das kann ich probieren.«
»Prima.« Der weiße Kittel ihrer Mutter raschelte, als sie sich zu Holly umdrehte. »Du kannst Diva zurück in ihre Transportbox setzen.«
Die Katze hatte sich unter ihrem sicheren Griff etwas beruhigt, aber als Hollys Mutter losließ und Holly Diva vom Tisch nahm, schnellte eine ihrer Pfoten vor.
Holly zuckte zurück, war aber nicht schnell genug. Eine der scharfen Krallen erwischte sie am Kinn. Schmerz durchfuhr sie, sodass sie zurücktaumelte und beinahe die Katze fallen ließ.
Resolut nahm ihre Mutter ihr Diva ab und hatte sie innerhalb von Sekunden im Katzenkorb verstaut. »Alles okay?« Die sonst so ruhigen Hände ihrer Mutter zitterten ein wenig, als sie Holly abtastete, als hätte sie eine Säbelwunde erlitten.
Seit dem Unfall ihres Vaters neigte ihre Mutter dazu, bei jeder noch so kleinen Verletzung überzureagieren. »Kein Grund zur Sorge, Mama. Es ist nur ein kleiner Kratzer.« Auch, wenn er schrecklich brannte. Sie zog ein Taschentuch aus der Tasche ihrer Jeans und drückte es gegen ihr Kinn.
»Lass mal sehen.«
»Ist schon okay. Ich werde es gleich desinfizieren.«
»Lass mal sehen«, wiederholte ihre Mutter in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
Seufzend ließ Holly die Hand mit dem Taschentuch sinken.
Ihre Mutter und Mrs. Mitchell traten näher und machten ein riesiges Aufheben um den Kratzer.
Aretha Franklins »A Natural Woman« begann zu spielen. Es war der Klingelton von Hollys Handy.
Der Anruf kam gerade rechtzeitig. Danke, Aretha. Sanft wehrte sie die Hände ihrer Mutter ab und warf einen Blick aufs Display. Der Name, der dort aufleuchtete, ließ ihr Herz schneller schlagen. »Es ist Sharon. Ich muss rangehen.«
Sofort traten ihre Mutter und Mrs. Mitchell zurück und begannen, den neuesten Klatsch über Sharons berühmte Tochter, Leontyne, auszutauschen.
Holly hörte nicht hin. Sie hob rasch das Handy ans Ohr. »Sharon? Ist mit Gil alles okay?«
»Oh, ja, Liebes. Er macht ein Nickerchen. Ich hoffe, du hast dir keine Sorgen gemacht.«
»Nein«, sagte Holly, doch sie wussten beide, dass es eine Lüge war. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr Herzschlag sich verlangsamte.
»Wäre es möglich, dass du heute etwas früher kommst?«, fragte Sharon nach einem Moment der Stille. »Leontyne kommt nach Hause und ich würde gern einen Erdbeer-Rhabarber-Kuchen machen. Es ist ihr Lieblingskuchen, weißt du? Zumindest war er das, als sie ein Kind war, aber vermutlich mag sie ihn noch immer.«
Holly nahm das Geplapper über den Kuchen kaum wahr, denn ihr Gehirn war mit einem einzigen Gedanken beschäftigt. »Leontyne kommt nach Hause?«
Ihre Mutter und Mrs. Mitchell verstummten schlagartig. Sogar die Katze hörte auf zu fauchen.
»Ja«, sagte Sharon leise. Freude und Sorge mischten sich in ihrer Stimme. »Ich weiß nicht, für wie lange, aber ja, sie kommt nach Hause.«
»Oh, wie wundervoll«, flüsterte Mrs. Mitchell und klatschte in die Hände.
Holly verzog das Gesicht. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte diese Freude einfach nicht teilen. Leontyne hätte schon viel früher nach Hause kommen sollen – letztes Jahr, als ihr Vater den ersten, leichteren Schlaganfall gehabt hatte, oder zumindest im Mai, nach seinem zweiten Schlaganfall, als er Wochen im Krankenhaus und dann im Rehazentrum verbracht hatte. Sie hätte da sein sollen, als ihre Mutter zusammengebrochen war und an Hollys Schulter geweint hatte.
Aber natürlich war Leontyne … oder vielmehr Jenna Blake … viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, in der Welt herumzureisen und das Rampenlicht zu genießen. Sie scherte sich nicht darum, was in der Zwischenzeit mit ihren Eltern geschah. Soweit Holly wusste, hatte sie nicht einmal angerufen.
»Also?«, fragte Sharon, als Holly stumm blieb. »Kannst du früher kommen?«
Holly sah ihre Mutter fragend an, denn sie wusste, dass sie ihre Unterhaltung belauscht hatte. »Brauchst du mich hier noch?«
»Geh ruhig«, sagte ihre Mutter. »Ich komme allein zurecht.«
»Wenn es nicht geht, dann ist das auch in Ordnung«, sagte Sharon. »Ich weiß, dass du schon jetzt sehr viel mehr für uns tust, als in deinem Vertrag steht.«
»Sharon, ich bin keine Schwester in einem Krankenhaus, die du kaum kennst. Wir sind Freundinnen. Himmel, ich wohne praktisch bei euch. Vergiss den Vertrag und frag einfach, wenn du Hilfe brauchst, okay? Soll ich auf dem Weg zu euch bei einem Laden anhalten oder hast du alles, was du für den Kuchen brauchst?«
Sharon atmete hörbar auf. »Holly Drummond, du bist ein Geschenk Gottes. Ich hoffe, ich sage dir das oft genug.«
»Ist schon okay. Wirklich. Es macht mir nichts aus.« Holly lachte. »Außerdem bin ich dir und Gil noch etwas schuldig für das, was ihr ertragen musstet, als er versucht hat, mir das Klavierspielen beizubringen.«
Sharons Lachen hallte durch die Leitung. In den zwei Monaten seit Gils zweitem Schlaganfall hatte Holly es viel zu selten gehört.
Lächelnd notierte sie sich die Einkaufsliste, beendete das Gespräch und verabschiedete sich von ihrer Mutter und Mrs. Mitchell.
»Was ist mit dem Kratzer?«, rief ihre Mutter ihr nach.
Holly winkte ab. »Ich werde es überleben.« Nachdem sie mit Diva, der Teufelskatze, zurechtgekommen war, sollte es ein Leichtes sein, mit einem verwöhnten Popstar fertigzuwerden.
* * *
Leo raste auf dem Highway 169 nach Norden. Gott, war sie froh, endlich dem Flughafen und den Fans entkommen zu sein, die sie um Autogramme und Fotos gebeten hatten. Langsamer. Sie nahm den Fuß vom Gas und schaltete den Tempomaten ein. Schließlich hatte sie es nicht eilig, nach Fair Oaks zu kommen.
Vor vierzehn Jahren hatte sie hart darum gekämpft, diesem Ort endlich zu entfliehen. Die Kleinstadt hatte ihr nichts zu bieten und auch mit ihrem Vater verband sie keine herzliche Beziehung. Zum Teufel, vermutlich war er froh, dass sie so lange weggeblieben war, und sie war nicht sicher, dass er sie jetzt, wo er krank war, um sich haben wollte. Ihr Vater hatte nie irgendwelche Schwächen gezeigt.
Sie seufzte und blickte durch die Windschutzscheibe.
Die Hügel von Nordwestmissouri hoben und senkten sich wie sanfte Wellen auf dem Meer und die weißen Windturbinen wirkten wie Schiffsmasten, was das Gefühl noch verstärkte, irgendwo auf dem Ozean zu sein. Die Farmhäuser und Silos, die hin und wieder entlang des Highways auftauchten, schienen isolierte Häfen zu sein, und die langen Auffahrten mit Briefkästen am Ende ragten wie Anlegestege in Richtung Straße.
Sie hatte vergessen, wie wunderschön dieser Teil des Landes sein konnte.
Zu beiden Seiten der Straße lagen Felder: goldener Weizen, der bald schon geerntet werden konnte, grüne Sojabohnen und Mais, der bereits höher als Leos eins achtundsiebzig war.
Es erinnerte sie an die Sommer vor zwanzig Jahren, als sie sich Taschengeld verdient hatte, indem sie auf den Bohnenfeldern der umliegenden Farmen ausgeholfen hatte. Bis zur Hüfte in Sojabohnen zu stecken und in der Hitze Unkraut zu jäten, war nicht gerade ihre Vorstellung von einem tollen Sommerurlaub gewesen, aber ihr Vater hatte ihr eine gute Arbeitsmoral beibringen wollen. »Wenn du Geld zum Ausgeben haben willst, Leontyne, dann musst du es dir verdienen«, hatte er gesagt.
Wow, daran hatte sie lange nicht mehr gedacht. Sie schnaubte. Du hast es wohl eher verdrängt.
Die Arbeit auf Bohnenfeldern war hart. Am Ende war sie immer bis zur Hüfte vom Tau durchtränkt gewesen, hatte sich einen Sonnenbrand auf dem Nacken zugezogen und ihre Hände waren von Blasen und Schnitten bedeckt gewesen.
Sie nahm die linke Hand vom Steuer und betrachtete sie. Jetzt hatte sie natürlich keine Blasen oder Schnitte, nur Schwielen auf den Fingerkuppen von den Saiten ihrer Gitarre. Saul würde sie umbringen, wenn sie mit verletzten Händen zurückkäme und nicht spielen könnte. Aber sie hatte ohnehin nicht vor, auf den umliegenden Farmen auszuhelfen. Sie würde nur so lange bleiben, bis sie sich davon überzeugt hatte, dass ihr Vater alles hatte, was er brauchte. Sich unter die Einheimischen zu mischen, stand nicht auf ihrer To-do-Liste.
Wie auf dieses Stichwort hin begann ihr Handy, durch die Lautsprecher des Mietwagens zu klingeln, und der Name ihres Managers leuchtete auf der Armaturenanzeige auf.
Kurz zog sie in Erwägung, ihn zu ignorieren, aber dann würde er vermutlich den nächsten Flug nach Kansas City nehmen, um Jagd auf sie zu machen. Seufzend drückte sie die Telefontaste am Lenkrad, um die Musik auszuschalten und den Anruf entgegenzunehmen.
»Bist du schon da?« Saul hielt sich wie üblich nicht lange mit einem Hallo oder Wie geht es dir? auf.
»Nein, noch nicht. Vom Flughafen aus dauert die Fahrt etwa neunzig Minuten.« Sie bog ab Richtung Highway 136.
Saul schnalzte mit der Zunge. »Ich kann noch immer nicht glauben, dass du das wirklich tust. Wieso fährst du in dieses am Arsch der Welt liegende Nest in Kansas, obwohl du ein neues Album aufnehmen solltest?«
»Es liegt in Missouri, nicht in Kansas, und für mich ist das auch nicht gerade ein toller Urlaub, das kannst du mir glauben.«
Ein Traktor erschien vor ihr. Er zog einen Anhänger voller Strohballen hinter sich her.
»Na toll«, murmelte Leo. Sie hatte es zwar nicht eilig, nach Fair Oaks zu kommen, aber das hieß nicht, dass sie mit fünfzehn Kilometern pro Stunde auf dem Highway dahinschleichen wollte. »Willkommen auf dem Land.«
»Wie bitte?«, sagte Saul.
»Ach, nichts.«
Der Traktorfahrer fuhr auf den Seitenstreifen, um sie vorbeizulassen.
Leo trat aufs Gas und winkte ihm dankbar zu, als sie ihn überholte.
»Dieser plötzliche Notfall in der Familie ist nicht bloß eine Ausrede, um eine Weile allem zu entkommen, oder?«, fragte Saul.
Sie umklammerte das Steuer, als wollte sie es erwürgen. »Himmel, Saul! Du warst dabei, als meine Mutter angerufen hat. Glaubst du wirklich, ich würde so etwas vortäuschen?«
Eine Weile war es still. »Nun ja …«
Herzlichen Dank, du Arsch! Sie schluckte die Worte hinunter, ohne sie auszusprechen. Laut Saul war ihre Karriere ohnehin gefährdet, da musste sie es sich nicht auch noch mit ihrem Manager verderben.
»Die paarmal, wo du deinen Vater erwähnt hast, klang es immer, als wäre er bereits tot«, sagte Saul.
Nein. Aber ich bin für ihn gestorben.Aber darüber wollte sie jetzt nicht sprechen. »Ich muss auflegen, Saul. Ich bin gleich da.«
»Na schön. Aber bitte versuch, ein paar Lieder zu schreiben, während du dich bei deiner Familie verkriechst, ja?«
»Ich werde es versuchen«, sagte Leo, hatte aber schon jetzt das Gefühl, dass sie nicht in der Stimmung für heitere Poplieder sein würde.
Als sie das Gespräch beendete, schaltete sich das Radio wieder ein und das Ende eines Countryliedes erklang. Sie bog vom Highway ab auf eine enge, zweispurige Straße voller Schlaglöcher. Am rechten Straßenrand verkündete ein Schild: Willkommen in Fair Oaks, dem Heimatort von Jenna Blake.
Leo schnaubte. Fair Oaks war schon seit vielen Jahren nicht mehr ihre Heimat und niemals hatte sie dort jemand Jenna genannt.
Neben dem Schild stand ein kleineres mit der Aufschrift: Stadtgrenze von Fair Oaks, 2378 Einwohner.
Stadtgrenze? Ihre Lippen zuckten. Ziemlich übertrieben.
Als sie an den beiden Schildern vorbeifuhr, drang der Anfang von »Butterfly Kisses« durch die Lautsprecher. Stöhnend schaltete sie das Radio aus und fuhr in Stille durch die Stadt.
Es war fünf Jahre her, seit sie zur Beerdigung ihrer Großmutter zurückgekehrt war. Fair Oaks hatte sich kaum verändert, aber trotzdem fühlte es sich fremd an, so völlig anders als die Hochhäuser und die hellen Lichter von New York.
Der Wasserturm mit dem ausgebleichten Maskottchen der Highschool tauchte links vor ihr auf, während zur Rechten der rote Backsteinturm des Gerichtsgebäudes über der Stadt aufragte. Mehrere Gebäude am Stadtrand schienen verlassen zu sein. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt.
Leo kam sich vor wie in einem Western, in dem der Wind einen Steppenläuferbusch die ausgestorben daliegende Straße entlangtrieb. Sie begegnete nur einem weißen Pick-up, der gerade vor Ruth’s Diner anhielt. Der Mann hinter dem Steuer starrte sie an, vermutlich, weil er ihr Auto nicht kannte, was sie sofort als jemand von außerhalb identifizierte.
Ihre Hände wurden feucht, als sie auf das Haus zusteuerte, in dem sie aufgewachsen war. Es befand sich direkt gegenüber ihrer alten Schule. Der Anblick des Backsteingebäudes mit der Messingglocke auf dem Rasen trug nicht dazu bei, dass sie sich besser fühlte. In ihrer Klasse war sie ebenso sehr eine Außenseiterin gewesen wie im Rest der Stadt.
Kies knirschte, als Leo den Mietwagen in die Auffahrt ihrer Eltern lenkte. Sie stellte den Motor ab. Die plötzliche Stille klang viel zu laut.
Am liebsten wäre sie nicht ausgestiegen. Sie starrte durch die Windschutzscheibe zum Haus. Genau wie der Rest von Fair Oaks sah es fast genauso aus, wie Leo es in Erinnerung hatte. Obwohl sie ihren Eltern immer wieder Geld schickte, hatten sie das zweistöckige Haus nicht ausgebaut. Erst nach mehreren Minuten entdeckte sie einige Veränderungen: Das verwitterte Fensterbrett des Mansardenfensters, das aus dem Dach ragte, war ersetzt worden. Das Haus hatte einen neuen Anstrich und die Bäume am Rand des Grundstücks waren gewachsen.
Sie holte tief Luft, als würde sie gleich unter Wasser tauchen, und öffnete dann die Fahrertür. Die Julihitze traf sie wie ein Schlag ins Gesicht, aber sie konnte sich nicht den ganzen Tag in ihrem klimatisierten Mietwagen verstecken. Sie riss sich zusammen und stieg aus. Die zuschlagende Autotür klang wie ein Gewehrschuss und ließ sie zusammenzucken.
Leo öffnete den Kofferraum und nahm ihren Koffer und ihren mitgenommenen Gitarrenkoffer heraus.
Die Hollywoodschaukel auf der Veranda bewegte sich leicht im Wind, als sie auf das Haus zuging. Der Rasen, den sie als Jugendliche jeden Samstag gemäht hatte, war in gutem Zustand. Wer sich jetzt wohl darum kümmerte?
Auf der Veranda setzte sie ihren Koffer ab, behielt den Gitarrenkoffer aber in der Hand. Das vertraute Gewicht beruhigte sie. Es war ein seltsames Gefühl, den Klingelknopf zu drücken. Doch selbst wenn sie noch einen Schlüssel gehabt hätte, wäre sie nicht einfach so ins Haus gegangen, vor allem deshalb nicht, weil sie keine Ahnung hatte, was sie darin erwartete.
Ein düsteres Bild ging ihr durch den Kopf: ihr Vater, der an piependen Maschinen hing. Rasch schüttelte sie den Gedanken ab. Wenn es ihm so schlecht ginge, hätten ihn die Ärzte nicht aus dem Krankenhaus entlassen.
Ihr Vater war nie krank gewesen. In seinen vierzig Berufsjahren als Musiklehrer und Konzertgeiger hatte er keinen einzigen Arbeitstag gefehlt. Er hatte auch keinen Sonntag verpasst, an dem er in der Kirche die Orgel gespielt hatte. »Wenn man es wirklich will, triumphiert der Geist über die Materie«, hatte er immer gesagt.
Was immer auch passiert war, er würde wieder ganz gesund werden. Schon bald würde er sie mit seiner Meinung über ihre Lieder in den Wahnsinn treiben. Oder mit seinem abfälligen Blick auf ihre Schwielen, die ihr Geigenspiel verdarben. Oder seinen wenig subtilen Aufforderungen, mit einem der Wilsons auszugehen, obwohl er genau wusste, dass sie lesbisch war.
Sie streckte die Hand nach der Klingel aus, zögerte aber. Komm schon. Du hast in den größten Arenen des Landes gespielt. Du schaffst das!
Ihr Herz schlug einen Trommelwirbel, als sie die Klingel betätigte. Ihre Knöchel liefen weiß an, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter öffnete.
Schritte näherten sich und die Tür schwang auf, aber die Frau im Türrahmen war nicht ihre Mutter. Eine Fremde Ende zwanzig starrte sie an.
Leos Nerven lagen blank, deshalb sagte sie das Erstbeste, was ihr in den Sinn kam. »Wer zum Teufel sind Sie?«
»Ich bin Holly.« Als Leo sie weiter fragend ansah, fügte sie hinzu: »Holly Drummond.«
Der Name klang irgendwie vertraut. »Drummond? Moment, bist du Zacks kleine Schwester?«
Holly verzog das Gesicht. »So stellt er mich gern vor, aber ich bevorzuge die Bezeichnung jüngere Schwester.«
Ja, klein war sie ganz sicher nicht mehr. Leo hatte sie als magere, unsichere Jugendliche in Erinnerung. Jetzt war sie erwachsen, mit üppigen weiblichen Kurven. Ihr etwas ausgeblichenes T-Shirt war jedoch nicht so hauteng, dass es ihre Brüste zur Schau stellte, so wie bei vielen Frauen in Leos Umfeld. Im Laufe der Jahre war aus ihren karottenroten Haaren ein schönes Rotbraun geworden. Es umgab ihr hübsches Gesicht mit einem flotten Kurzhaarschnitt und hob sich von ihrer hellen Haut ab.
Leo war daran gewöhnt, dass jeder Zentimeter ihres Körpers gemustert wurde, aber Hollys leuchtend blaue Augen blieben auf ihr Gesicht gerichtet. Scheinbar war sie nicht lesbisch oder bisexuell.
Statt sie zu Hause willkommen zu heißen, blieb Holly im Türrahmen stehen wie ein Pitbull, der seinen Knochen bewachte.
Leo kam sich wie eine Idiotin vor, wie sie da mit ihrem Gitarrenkoffer auf der Veranda stand. Wer zum Teufel hatte Holly zur Hüterin des Hauses ernannt? Sie hatte nicht einmal gewusst, dass ihre Mutter und Holly sich kannten. Nun ja, eigentlich kannte in Fair Oaks jeder jeden.
»Äh, darf ich reinkommen?« Sie zeigte auf das Haus hinter Holly.
»Oh, Entschuldigung. Natürlich.« Holly trat zurück, um ihr Platz zum Eintreten zu machen.
Eine Lawine von Erinnerungen prasselte auf Leo herab, als sie ihren Koffer nahm und das Haus betrat. Es roch nach Kuchen und dem Lavendelparfüm ihrer Mutter. Klassische Musik drang durch das Erdgeschoss. Es war Pachelbels »Kanon in D«, eines der Lieblingsstücke ihres Vaters.
»Deine Mutter ist in der Küche«, sagte Holly.
Leo stellte ihren Koffer ab, lehnte den Gitarrenkoffer gegen die Wendeltreppe, die nach oben führte, und ging an Holly vorbei. Sie sah über die Schulter, um zu sehen, ob sie ihr folgte. Vielleicht würde es das Wiedersehen mit ihrer Mutter einfacher machen, wenn eine dritte Person dabei war.
Doch Holly blieb zurück, als Leo auf die Küche zuging.
Ihre Mutter wandte Leo den Rücken zu und wischte mit einem Lappen über dieselbe grau-weiß getupfte Arbeitsplatte, die sie schon vor vierzehn Jahren gehabt hatten.
Leo verharrte und starrte über den Tresen hinweg, der die Küche vom Essbereich trennte. Wann war ihre Mutter so alt geworden? Ihre Haare, die einst dieselbe honigblonde Farbe wie Leos gehabt hatten, waren nun mit grauen Strähnen durchsetzt und sie war dünner, als Leo sie in Erinnerung hatte. Ihre Mutter war immer stolz auf ihr jugendliches Aussehen gewesen, doch nun wirkte sie älter als fünfundsechzig.
Als spürte sie Leos Blick auf sich ruhen, drehte ihre Mutter sich um. Sie schnappte nach Luft und ließ den Lappen fallen, als wäre sie überrascht, Leo zu sehen. Wie seltsam. Sie hatte doch sicher die Klingel gehört, oder? Hatte sie nicht geglaubt, dass Leo wirklich kommen würde, und hatte angenommen, es wäre ein Nachbar?
Leo stand erstarrt da und wusste nicht, wie sie ihre Mutter begrüßen sollte. Der Tresen zwischen ihnen war nicht das Einzige, das sie voneinander trennte.
Schließlich ergriff ihre Mutter die Initiative. Sie eilte auf Leo zu und schloss sie in die Arme.
Langsam hob auch Leo die Arme und erwiderte die Umarmung. Hatte sich ihre Mutter schon immer so zerbrechlich angefühlt? Vermutlich nicht.
Ihre Mutter trat zurück, ließ aber die Hände auf Leos Schultern liegen und hielt sie fest, um sie zu betrachten. »Deine Haare sehen anders aus.«
Leo schob sich eine Strähne ihrer zerzausten, schulterlangen Mähne hinter ein Ohr. »Die Plattenfirma hielt es für eine gute Idee, für das Cover meines letzten Albums ein paar goldene Strähnen in mein Haar zu zaubern. Und dann sind wir dabei geblieben.« Nicht einmal jetzt, als Erwachsene, durfte sie selbst über ihre Frisur entscheiden.
»Es sieht gut aus«, sagte ihre Mutter.
»Danke.«
Schweigen breitete sich wie eine bleierne Decke über ihnen aus.
»Wie war der Flug?«
»Gut.«
»Und die Fahrt hierher?«, fragte ihre Mutter.
»Auch gut.« Leo seufzte. Sie war zu angespannt, um sich durch den üblichen Small Talk zu quälen.
Schließlich ließ ihre Mutter Leos Schultern los und ging zurück zur Arbeitsplatte neben der Spüle. »Hast du schon gegessen? Ich habe einen Kuchen im Ofen, aber er braucht noch zwanzig Minuten. Ich kann dir etwas zu essen …«
»Nein, danke, Mama. Ich habe keinen Hunger.« Sie wischte etwas Mehl von ihrem Tanktop, das ihre Mutter während ihrer Umarmung dort hinterlassen hatte. Wenn sich die angespannte Atmosphäre zwischen ihnen doch nur genauso leicht wegwischen ließe.
Sie sah sich in der Küche um. Auch hier sah alles noch genauso aus: die Eichenschränke mit Glastüren und Messinggriffen, der Gasherd und die Gewürze ihrer Mutter, die ordentlich auf einem Regal aufgereiht waren. Dann fiel ihr Blick auf die Hintertür. Durch das Fliegengitter hindurch bemerkte sie etwas Neues: Eine hölzerne Rampe führte die drei Stufen hinab in den Hof.
Ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest. Ging es ihrem Vater so schlecht, dass er einen Rollstuhl oder einen Rollator benutzen musste? Am Telefon hatte sie kaum Fragen gestellt, weil sie nicht wusste, ob sie mit den Antworten umgehen konnte.
Ihre Mutter war ihrem Blick gefolgt und kam um den Tresen herum. »Wieso gehst du dich nicht frisch machen, bevor du deinem Vater Hallo sagst?«, fragte sie leise. Die erzwungene Heiterkeit war aus ihrem Tonfall verschwunden. »Er macht gerade im Schlafzimmer im Erdgeschoss ein Nickerchen.«
»Schlafzimmer im Erdgeschoss?«, krächzte Leo durch den Kloß in ihrem Hals.
»Wir haben das Musikzimmer in ein Schlafzimmer für deinen Vater umgebaut, weil er keine Treppen mehr gehen kann«, sagte ihre Mutter.
»Oh.«
»Holly wird dir helfen, dein Gepäck nach oben zu bringen.«
Leo winkte ab. »Ich schaffe das allein, Mama.«
»Unsinn. Holly hilft dir sicher gern, nicht wahr, Liebes?«
Als Leo über die Schulter blickte, stand Holly mit verschränkten Armen im Esszimmer. Sie musterte Leo mit einer Vorsicht, die die meisten Leute nur einem knurrenden Dobermann gegenüber an den Tag legten.
Oh, bitte, sag nicht, sie ist eine der Kleinstadtfrauen, die denken, Lesben sollten auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Leo hatte schon genug um die Ohren, da konnte sie so etwas nicht auch noch gebrauchen.
»Natürlich helfe ich gern, Sharon.« In Hollys Wangen formten sich Grübchen, als sie Leos Mutter anlächelte.
Sharon? Nicht Mrs. Blake? Warum zum Teufel taten die beiden so, als gehörte Holly zur Familie?
»Komm.« Holly drehte sich um und ging zur Treppe, ohne abzuwarten, ob Leo ihr folgen würde.
Seufzend marschierte Leo hinter ihr her. Sie war noch keine zehn Minuten zurück, aber schon jetzt konnte sie es kaum erwarten, wieder zu verschwinden.
* * *
Bevor Holly die Hand nach dem Gitarrenkoffer ausstrecken konnte, schob sich Leontyne an ihr vorbei. »Lass mich das nehmen.«
Holly knirschte mit den Zähnen. Wenn Leontyne doch nur um ihre Eltern genauso besorgt gewesen wäre, wie um ihre geliebte Gitarre. Sag lieber nichts. Wenn du sie davonjagst, bricht es Sharon das Herz. Sie bückte sich nach Leontynes Koffer. Es war nur einer und das sandte eine klare Botschaft. Leontyne hatte nicht vor, lange zu bleiben.
Sie blieb nie lange. Hollys Bruder Zack, der mit Leontyne zur Schule gegangen war, scherzte immer, dass sie mit zwei Dingen in der Hand geboren worden war: ein Gitarrenplektrum und eine Karte, die alle Wege aus der Stadt zeigte.
Gleichzeitig setzten sie einen Fuß auf die Treppe und prallten fast gegeneinander.
Holly ließ ihr den Vortritt. Keine sagte ein Wort, als sie die Treppe hinaufstiegen und dann den Gang entlanggingen.
Als sie vor dem zweiten Schlafzimmer im Obergeschoss standen, öffnete Leontyne die Tür. Doch statt einzutreten, lehnte sie sich mit der Hüfte gegen den Türrahmen und musterte ihr altes Zimmer. Schwelgte sie in Erinnerungen an ihre Jugend oder verglich sie ihr altes Zuhause mit ihrer Luxuseigentumswohnung in der Park Avenue?
Holly konnte es nicht sagen. Sie setzte den Koffer ab und beobachtete Leontyne.
Es war merkwürdig, das Gesicht vor sich zu sehen, dass auf Werbetafeln überall im Land prangte. Sie trug ein graues Tanktop, abgewetzte Cowboystiefel und kurze Jeans, die ihre schlanke Taille betonte und ihre langen Beine hervorhob. In dieser Aufmachung sah sie mehr wie eine Countrysängerin und weniger wie ein Popstar aus. Nur die aufgedonnerten Haare fehlten. Sie trug kein Make-up, sodass Holly die dunklen Ringe unter ihren olivgrünen Augen sehen konnte.
Hatte sie ihre letzte Nacht in New York durchgefeiert oder hatte sie wach gelegen und sich um ihren Vater gesorgt?
Nach dem frischen Zitronenduft zu schließen, hatte Sharon das Zimmer geputzt, damit ihre Tochter sich willkommen fühlte. An den Wänden hingen Poster von Popstars und das Zimmer wirkte wie ein Schrein, der Leontynes Jugend gewidmet war. Trotzdem musterte Leontyne es so misstrauisch, als stünde sie im Vorraum zur Hölle. Es erinnerte Holly an die Art, wie Haustiere das Wartezimmer ihrer Mutter beäugten.
Schließlich setzte Leontyne erst einen, dann den zweiten ihrer gestiefelten Füße in den Raum. Sie stellte die Gitarre ab, drehte sich zu Holly um und nahm ihr den Koffer ab. Etwas verspätet murmelte sie ein »Danke«.
Scheinbar war Ms. Pop-Prinzessin daran gewöhnt, wie eine Adelige behandelt zu werden und ihr Gepäck nicht selbst tragen zu müssen.
Die Tür fiel zwischen ihnen ins Schloss. Holly blieb allein zurück.
* * *
Langsam ließ Leo den Koffer zu Boden sinken. Sie hatte angenommen, dass ihre Eltern ihr Zimmer als Büro oder Gästezimmer benutzen würden, sobald sie ausgezogen war, und dass sie erpicht sein würden, so zu tun, als hätte Leo nie existiert.
Stattdessen sah das Zimmer genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte, nur um einiges aufgeräumter. Es fühlte sich an, als wäre sie in der Zeit zurückgereist. Ihr alter Schreibtisch stand in der Nische unter dem Mansardenfenster, neben dem Schaukelstuhl, in dem sie stundenlang Akkorde geübt hatte. Im Bücherregal standen noch ihre Romane und CDs. Sie ließ sich auf ihr Jugendbett fallen und starrte hinauf zu den Postern von Pink und Destiny’s Child, die an der Dachschräge hingen.
Das Kissen, auf dem sie lag, roch nach Baumwolle und Weichspüler. Im gesamten Zimmer fand sich keine Spur von Staub. Eigentlich hätte es sie freuen sollen, dass ihre Mutter ihr Zimmer so gründlich geputzt hatte, doch stattdessen gab es ihr das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Es war ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr sich ihre Mutter wünschte, sie würde bleiben.
Plötzlich kam ihr der Raum noch kleiner und beengender vor, als er tatsächlich war. Sie sprang vom Bett und riss fast die Tür aus den Angeln.
Holly, die gerade den Fuß der Treppe erreicht hatte, drehte sich um und starrte sie an.
Hitze stieg Leo in die Wangen. Wurde sie etwa rot? Es war lange her, seit das zuletzt passiert war. Sie tat es mit einem Achselzucken ab. Vermutlich lag es nur daran, dass ihre Heimkehr sie in ihre Jugendzeit zurückkatapulierte.
Sie setzte ihre undurchdringliche Popstarmaske auf und folgte Holly ins Erdgeschoss. Aus alter Gewohnheit vermied sie dabei die Treppenstufen, die knarrten. Holly hatte wohl dasselbe getan, sonst hätte Leo die Treppe knarren hören. Was zum …? Hatte Holly so viel Zeit hier im Haus verbracht, dass sie es in- und auswendig kannte?
Doch das spielte jetzt keine Rolle. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf das frühere Musikzimmer.
Bevor sie all ihren Mut zusammennehmen und die Tür öffnen konnte, hielt Holly sie am Arm fest. »Warte!«
Leo sah zur Hand auf ihrem Arm hinab.
Rasch ließ Holly sie los. »Hat deine Mutter dir erklärt, was dich erwartet?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Mutter hatte kaum etwas gesagt, sondern ihr nur erzählt, wie beängstigend es gewesen war, ihren Ehemann am Boden vorzufinden und zu entdecken, dass er weder sprechen noch sich bewegen konnte. Oder vielleicht hatte ihre Mutter ihr doch mehr erzählt, aber es war nicht bis zu Leo durchgedrungen. Nach dem Wort »Schlaganfall« war sie wie benebelt gewesen.
»Nach seinem Schlaganfall war seine rechte Seite komplett gelähmt«, sagte Holly. »Sein Bein kann er wieder etwas bewegen, aber es geht sehr langsam voran. Der Physiotherapeut glaubt, dass er irgendwann einmal einen Rollator benutzen kann.«
Ihr stolzer Vater, wie er hinter einem Rollator herschlurfte … Sie konnte sich das nicht vorstellen. »Was ist mit …?« Sie musste sich räuspern, bevor sie weitersprechen konnte. »Was ist mit seinem Arm?«
»Der wird sich vielleicht auch noch ein wenig bessern, aber im Moment kann er ihn überhaupt nicht bewegen. Er braucht Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen wie dem Anziehen.«
Das bedeutete, dass er seine geliebte Violine nicht spielen konnte. Leo ballte die Hände zu Fäusten, als sie sich vorstellte, wie das wohl sein mochte. So sehr sie sich auch wünschte, eine Weile keine Musik machen zu müssen, sie konnte sich nicht ausmalen, wie es wäre, nie wieder ein Instrument in die Hand nehmen zu können. Der Gedanke war ihr so fremd wie der Gedanke, nie wieder zu atmen.
»Wenn es ihm so schlecht geht, warum ist er dann nicht in einem Krankenhaus oder einem Rehazentrum?«
»Das war er«, sagte Holly. »Er hat die vergangenen zwei Monate dort verbracht.«
Die vergangenen zwei Monate? Leo schwirrte der Kopf. Der Schlaganfall ihres Vaters lag bereits zwei Monate zurück und doch hatte ihre Mutter sie erst jetzt angerufen?
»Der Genesungsprozess geht nur langsam voran und die Leute im Rehazentrum hätten nichts für ihn tun können, was wir nicht auch zu Hause tun können«, unterbrach Holly ihre Gedanken.
»Wir?«, wiederholte Leo. Warum sprach Holly, als wäre sie ein Teil der Familie?
»Ich mag nicht so aussehen …« Holly blickte auf ihre Jeans und das verwaschene T-Shirt hinab. »Aber ich bin Krankenschwester. Ich arbeite für eine Firma, die häusliche Krankenpflege anbietet. Da ich in Vollzeit hier im Haus bin, hat deine Mutter mich gebeten, keine Krankenhauskleidung zu tragen. Sie möchte, dass dein Vater sich zu Hause fühlt, nicht, als wäre er im Krankenhaus.«
»Du bist Krankenschwester? Das wusste ich nicht.«
Holly zuckte mit den Schultern. »Woher auch? Du bist vierzehn Jahre lang nicht nach Hause gekommen.«
Ihr tadelnder Tonfall ließ Leo mit den Zähnen knirschen. »Ich war vor fünf Jahren auf der Beerdigung meiner Großmutter.«
Holly presste die Lippen zusammen und sagte nichts.
»Okay.« Mit einem entschlossenen Nicken streckte Leo die Hand nach dem Türgriff aus, doch erneut hielt Holly sie am Arm fest.
»Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest.«
Oh Mann. Abrupt drehte sie sich um und wartete auf das, was Holly zu sagen hatte.
»Er leidet an Aphasie.«
»Aphasie?«, wiederholte Leo. »Heißt das …? Heißt das, er kann nicht sprechen?«
»Nicht viel. Er versteht das meiste, was man zu ihm sagt, insbesondere, wenn es kurze Sätze sind, aber er kämpft um jedes Wort. Er weiß, was er sagen will, aber er kann die Wörter nicht abrufen. Meistens weigert er sich, mit irgendjemandem zu sprechen, und hat nicht gern Leute um sich. Ich glaube, es ist ihm peinlich.«
Das konnte sich Leo gut vorstellen. Ihr Vater hatte immer perfekt erscheinen wollen. »Aber er möchte mit mir sprechen?«
Ihre Mutter gesellte sich zu ihnen und Leo wandte sich ihr zu. »Er weiß doch, dass ich hier bin, oder?« Falls er sich unverhofft seiner lesbischen Popstartochter gegenübersah, würde er womöglich noch einen Schlaganfall erleiden.
»Er weiß es«, sagte ihre Mutter.
Das ließ ihre erste Frage unbeantwortet. Doch Leo konnte schlecht nach New York zurückfliegen, ohne ihn gesehen zu haben. Sie umfasste den Türgriff mit feuchten Fingern und öffnete wie in Zeitlupe die Tür. Der Türrahmen war verbreitert worden, vermutlich um Platz für den Rollstuhl zu schaffen, der neben dem Krankenhausbett in der Mitte des Zimmers stand.
Selbst Hollys Erklärungen konnten sie nicht auf den Anblick ihres Vaters in diesem Rollstuhl gefasst machen. Sein Körper war auf eine Seite gesunken und sein rechter Arm ruhte schlaff auf seinem Schoß. Gedankenverloren knetete er seine Finger mit der anderen Hand. Sein Gesicht hatte immer ausgesehen wie in Stein gemeißelt, doch nun hing sein rechter Mundwinkel herab. Sein Schnurrbart war abrasiert worden und mit seiner nackten Oberlippe sah er seltsam verletzlich aus. Statt einer präzise gebügelten Hose und eines gestärkten Hemds trug er eine Jogginghose und ein zerknittertes Kurzarmhemd.
Zum ersten Mal wirkte ihr strenger, unnachgiebiger Vater menschlich … sterblich.
Leo blieb im Türrahmen stehen. Was sollte sie zu ihm sagen? Schon früher hatte sie nie gewusst, was sie mit ihm reden sollte, und nun war es nicht leichter geworden.
Sie spürte, wie ihre Mutter hinter sie trat und eine Hand auf ihre Schulter legte, als hätte sie Angst, dass Leo sonst davonlaufen würde.
Das hörte sich tatsächlich wie eine richtig gute Idee an. Sie schluckte, was in der Stille des Raums viel zu laut klang. »Äh, hallo, Papa«, sagte sie schließlich.
Er starrte sie an, antwortete aber nicht. Er nickte nicht einmal oder reagierte sonst wie auf ihre Anwesenheit. Erkannte er sie überhaupt?
»Komm schon, Gil«, sagte Holly. »Ich weiß, dass du mit Leontyne reden möchtest.«
Gil? Ihres Wissens nach hatte niemand ihren Vater je anders als Dr. Blake oder Gilbert genannt.
Er sah von Leo zu Holly und wieder zurück. Die Muskeln in seinem Kiefer mahlten. Er öffnete den Mund und schließlich brachte er ein einfaches »Hallo« hervor. Allerdings klang es mehr nach einem »a-no«. Hoffentlich war es nicht ein Versuch zu sagen: Ich will dich nicht sehen oder gar mit dir sprechen.
Zögernd trat sie einen Schritt auf ihn zu. »Wie geht es dir?«
Wieder sah er aus, als müsste er sein Gedächtnis nach dem richtigen Wort durchsuchen. »Gut«, sagte er schließlich. Seine Mundwinkel hoben sich nicht zu einem Lächeln, nicht einmal auf der Seite, die nicht herabhing.
Diese eine Sache hatte sich nicht geändert. Er hatte stets missbilligend dreingeblickt, wann immer er sie angesehen hatte.
Er hob das Kinn in ihre Richtung.
Versuchte er, die Frage zurückzugeben und zu erfahren, wie es ihr ging? »Mir geht es auch gut«, sagte sie.
Er nickte kurz.
Sie starrten einander von gegenüberliegenden Seiten des Raums an.
Was konnte sie ihm sonst noch erzählen? Sie verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein. Na toll. Jetzt fiel es ihr schon genauso schwer wie ihm, die richtigen Worte zu finden.
Zu ihrer Überraschung war es ihr Vater, der die unangenehme Stille durchbrach. »Musik …« Er hielt inne und schien wieder nach dem richtigen Wort zu suchen. Unruhig knetete er seine Finger. »Äh, Musik … nicht mehr.«
Sie hatte keine Ahnung, was er sagen wollte, deshalb versuchte sie zu raten. Vielleicht wollte er sich nach ihrer Karriere erkundigen. »Ja, ich mache eine Weile Pause mit der Musik. Ich bin gerade erst von einer Welttour zurückgekommen. Mama hat mich direkt nach dem letzten Konzert im Madison Square Garden angerufen.«
Ihr Vater sah nicht beeindruckt aus.
Was hast du denn erwartet? Er hatte einen Schlaganfall, kein Persönlichkeitsimplantat. Nichts außer einem Konzert in der Carnegie Hall würde ihn je beeindrucken.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Musik Schlafzimmer. Kein hören.« Er deutete mit seiner unbeeinträchtigten Hand auf etwas, was Leo nicht sehen konnte.
Es kam ihr vor wie ein pantomimisches Ratespiel und darin war sie noch nie gut gewesen. Sie musste feststellen, dass sie ihren Vater nicht gut genug kannte, um zu erraten, was er sagen wollte.
»Musik. An.« Er trommelte fordernd mit den Fingern auf der Armlehne seines Rollstuhls herum.
»Oh.« Holly trat neben sie. »Du möchtest, dass wir die Musik wieder anstellen. Richtig?«
Ihre Mutter hatte die klassische Musik ausgestellt, als sie den Raum betreten hatten.
Das Klopfen auf der Armlehne hörte auf und er nickte.
»Aber wenn Musik läuft, ist es schwerer, sich zu unterhalten«, sagte ihre Mutter sanft. »Du weißt doch, dass du dich schlecht konzentrieren kannst, wenn es Hintergrundgeräusche gibt.«
Er trommelte wieder auf die Armlehne, diesmal mit noch mehr Nachdruck.
Leo presste die Lippen zusammen. Schon verstanden. Offenbar war die Unterhaltung beendet.
Ihre Mutter hakte sich bei Leo unter. »Komm. Ihr könnt euch morgen weiter unterhalten. Du willst bestimmt vor dem Abendessen deinen Koffer auspacken.« Sie führte Leo zur Tür und schaltete im Vorbeigehen die Musik wieder ein.
Nicht, dass Leo gezogen werden musste. Sie war nur allzu willig, den Raum zu verlassen. An der Tür sah sie zu ihrem Vater zurück, der die Augen geschlossen hatte, als wollte er die Welt um sich herum ignorieren und sich ganz auf die Musik konzentrieren.
Holly folgte ihnen nach draußen und schloss die Tür hinter sich.
»Bekommt er eine Sprachtherapie?«, fragte Leo.
»Ja«, sagte Holly. »Eine Stunde Sprachtherapie, eine Stunde Ergotherapie und eine Stunde Physiotherapie je fünfmal pro Woche.«
»Wenn seine Versicherung das nicht alles übernimmt, übernehme ich gern die Rechnung. Oder falls er einen motorisierten Rollstuhl oder sonst etwas braucht. Egal, was es ist. Geld spielt keine Rolle.«
Holly zog die Augenbrauen zusammen. »Nicht jedes Problem kann mit einem Bündel Geld gelöst werden.« Sie schloss den Mund wieder.
Was zum Teufel soll das denn heißen? Leo drehte sich in Abwehrhaltung zu ihr um. »Das behaupte ich nicht. Aber meine Mutter hat mich nun einmal angerufen und jetzt versuche ich, herauszufinden, was getan werden muss.«
»Es gibt bessere Wege, ihm zu …«
»Keinen Streit, Mädels.« Ihre Mutter tätschelte Leos Arm. »Wir wollen alle nur das Beste für deinen Vater.«
Im Schlafzimmer fiel etwas klappernd zu Boden.
»Ich gehe schon«, sagte Holly und schlüpfte zurück ins Zimmer.
Leo starrte ihr nach. »Ist sie immer so ein Sonnenschein oder mag sie mich einfach nicht?«
»Holly ist uns eine große Hilfe«, sagte ihre Mutter. »Ohne sie hätten wir es nicht geschafft. Sie ist ein wunderbarer Mensch. Ich hoffe wirklich, ihr beide kommt miteinander aus.«
Leo zuckte mit den Schultern. Es spielte keine Rolle. Was immer Holly an ihr nicht passte, sie würde nicht lange genug bleiben, um es zu einem Problem werden zu lassen.
* * *
Nach dem Abendessen wollte Gil in sein Zimmer zurückgebracht werden und Leontyne hatte sich nach oben verzogen. Nur Sharon war noch in der Küche und rieb mit einem Lappen die Arbeitsfläche ab, obwohl diese längst sauber war.
Holly nahm ihr sanft den Lappen aus der Hand und hängte ihn über den Wasserhahn. Sie lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und musterte die Frau, die sie mittlerweile als Freundin betrachtete. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, alles bestens.« Sharons Tonfall sagte etwas anderes.
»Ich dachte, du wärst glücklich und könntest dich endlich entspannen, nun, da Leontyne zu Hause ist.«
»Ich bin glücklich. Es ist schön, sie zu sehen.« Einen Moment lang funkelten Sharons Augen, doch dann kehrte der besorgte Gesichtsausdruck zurück.
»Aber?«, fragte Holly.
Sharon rieb mit der Fingerkuppe über die Arbeitsfläche und betrachtete den Pfad ihres Fingers, anstatt Holly in die Augen zu sehen. »Kein Aber. Es ist nur … Ich schätze, ich habe Angst, dass sie geht und ich sie wieder fünf Jahre nicht sehe.«
Holly biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, um den Kommentar zurückzuhalten, der ihr auf der Zunge lag. Sharon hatte viel durchgemacht. Es war unfair von Leontyne, dass sich ihre Mutter jetzt auch noch darum sorgen musste.
»Hey.« Sharon nahm Hollys Hand und hielt sie in beiden Händen. »Bitte sei nicht wütend auf sie. Ich habe wirklich nicht von ihr erwartet, dass sie nach Hause kommt und mir mit ihrem Vater hilft. Ihr Leben ist zu stressig und kompliziert.«
Na, wenn schon. Holly war es egal, wie kompliziert Leontynes Leben sein mochte. Wer sollte Gil und Sharon denn sonst helfen? Schließlich war Leontyne das einzige Kind der beiden. All das Geld, das Leontyne ihnen schickte, war nicht wirklich das, was sie brauchten, auch wenn man damit Pflegepersonal wie Holly bezahlen konnte.
Aber ihre Gedanken auszusprechen, wäre nicht sehr hilfreich. Sharon konnte nicht auch noch mit ihrem Ärger umgehen. Sie drückte ihre Hände und ließ dann los. »Geh dich ausruhen. Ich bringe Gil ins Bad und mache ihn bettfertig, bevor ich selbst ins Bett gehe.«
»Bist du sicher, dass du heute Nacht hierbleiben willst? Ich habe dich früher als erwartet zur Arbeit gerufen. Wenn du dir den Rest der Schicht freinehmen und mal eine Nacht durchschlafen willst, ohne ein Auge auf den Babymonitor haben zu müssen …«
»Dann würde ich ja dein wunderbares Frühstück verpassen!« Holly grinste. »Auf keinen Fall! Wenn du mir ein paar Minuten Zeit gibst, damit ich kurz duschen kann, verdiene ich mir gleich meine Pfannkuchen.«
Lächelnd beugte Sharon sich vor und küsste sie auf die Wange. »Danke, Liebes. Ich schaue mal, ob er vor dem Schlafengehen etwas Gesellschaft haben möchte.« Sie drückte Hollys Schulter und ging den Gang hinab.
Holly sah ihr kurz nach, bevor sie sich einen Ruck gab.
Wenige Minuten später stieg sie unter die Dusche und seufzte erleichtert, als das heiße Wasser auf sie herabprasselte. Sich um einen Patienten mit Hemiparese zu kümmern, war harte Arbeit. Sie musste Gil vom Bett in den Rollstuhl und wieder zurück helfen. Zwar sah er dünn und zerbrechlich aus, aber er war trotzdem zwanzig Kilogramm schwerer als Holly. Ihre Augen fielen zu, als sie unter der Dusche stand und das warme Wasser ihre schmerzenden Muskeln massieren ließ.
Sie hätte ewig hierbleiben können, aber sie wusste, dass Sharon und Gil unten warteten. Rasch griff sie nach dem Shampoo und wusch sich die Haare.
Gerade als sie die letzten Schaumreste aus ihren Haaren spülte, streifte sie ein kühler Luftzug und verursachte eine Gänsehaut.
Was zum …? Sie zog den Kopf unter dem Wasserstrahl hervor und wischte sich Schaum aus den Augen, damit sie sehen konnte, woher der Luftzug kam.
Auf der anderen Seite des beschlagenen Glases stand eine verschwommene Gestalt im Türrahmen. »Oh. Äh, tut mir leid.« Es war Leontynes Stimme. Sie sprang zurück und zog die Tür hinter sich zu, bis sie nur noch einen Zentimeter weit offen war.
Obwohl Leontyne sie nun nicht mehr sehen konnte, drehte Holly das Wasser ab, nahm das Handtuch, das über der Glastür hing, und bedeckte sich damit.
»Tut mir leid«, wiederholte Leontyne. »Ich war wohl abgelenkt und habe nicht gehört, dass die Dusche läuft, und ich … ich … ich wusste nicht, dass du … ähm … hier sein würdest. Bleibst du … über Nacht?«
Ihr Gestottere war fast niedlich. Aber nur fast.
