Vollmond über Manhattan - Jae - E-Book

Vollmond über Manhattan E-Book

Jae

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Beschreibung

Ein paranormaler Liebesroman über eine verbotene Liebe zwischen einer Gestaltwandlerin und einer Menschenfrau. Shelby Carsons Leben ist alles andere als normal. Sie ist nicht nur die diensthabende Psychiaterin in einer hektischen Notaufnahme, sondern auch eine Wrasa. Diese gestaltwandelnden Wesen leben unentdeckt unter Menschen. Um die Sache noch mehr zu verkomplizieren, hat sie sich auch noch in Nyla Rozakis, eine menschliche Krankenschwester, verliebt. Obwohl die Wrasa-Kultur Beziehungen mit Menschen verbietet, hat Shelby es sich in den Kopf gesetzt, Nyla nach einem Date zu fragen. Alles sieht ziemlich hoffnungslos für sie aus, aber in einer Vollmondnacht an Halloween kann alles passieren … 

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Seitenzahl: 152

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Inhaltsverzeichnis

Von Jae außerdem lieferbar

Danksagung

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Jae

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Von Jae außerdem lieferbar

Kuscheln im Erbe inbegriffen

Alles eine Frage der Chemie

Falsche Nummer, richtige Frau

Eine Mitbewohnerin zum Verlieben

Tintenträume

Ein Happy End kommt selten allein

Alles nur gespielt

Aus dem Gleichgewicht

Hängematte für zwei

Herzklopfen und Granatäpfel

Vorsicht, Sternschnuppe

Cabernet und Liebe

Die Gestaltwandler-Serie:

Vollmond über Manhattan

Die Hollywood-Serie:

Liebe à la Hollywood

Im Scheinwerferlicht

Affäre bis Drehschluss

Die Portland-Serie:

Auf schmalem Grat

Rosen für die Staatsanwältin

Die Serie mit Biss:

Zum Anbeißen

Fair-Oaks-Serie:

Perfect Rhythm – Herzen im Einklang

Beziehung ausgeschlossen

Oregon-Serie:

Westwärts ins Glück (Bd. 1 & 2)

Angekommen im Glück

Verborgene Wahrheiten (Bd. 1 & 2)

Danksagung

Ich bedanke mich bei RJ Nolan, die mir ihr Insiderwissen über Notaufnahmen in den USA zur Verfügung gestellt hat.

Ein dickes Dankeschön fürs Betalesen auch an Melanie, Marion P., Susanne, Astrid, Daniela, Kerstin, Ulrike und Marion G.

Vorwort

Diese Novelle ist keine Fortsetzung von Second Nature, einem Roman, der bisher nur in englischer Sprache erschienen ist. Vollmond über Manhattan spielt zwar in derselben Welt der gestaltwandelnden Wrasa, hat aber zwei völlig neue Hauptpersonen.

Ich bin Psychologin, nicht Psychiaterin, aber ich habe mich bemüht, möglichst gründlich zu recherchieren. Sollten Sie trotzdem Fehler und Unstimmigkeiten in dieser Geschichte finden, ist der Vollmond schuld.

Kapitel 1

Shelby Carson drückte mit ihrer Hüfte die Autotür zu und überquerte den Parkplatz der psychiatrischen Notaufnahme. Sie atmete die frische Herbstluft tief ein und wappnete sich gegen all die Gerüche, die auf ihre sensible Nase einprasseln würden, sobald sie die Klinik betrat.

Als sie zum Nachthimmel emporsah, stellte sie fest, dass ein voller Mond auf sie hinabschien. »Na, super«, murmelte sie. »Vollmond an Halloween. Das hat mir gerade noch gefehlt.«

Entgegen der weitverbreiteten Annahme hatte der Vollmond keinerlei Effekt auf Shelby oder andere Formwandler – im Gegensatz zu manchen Menschen, die bei Vollmond verrücktspielten.

Die Glastüren am Hintereingang glitten vor Shelby auseinander. Sie schlenderte den Gang hinunter und schloss zwei weitere Türen auf, bevor sie den Bereitschaftsraum erreichte. Hier drin roch es nach Chips, abgestandener Luft und Desinfektionsmittel. Naserümpfend quetschte sie sich am Schreibtisch und dem schmalen Bett vorbei. Mit tausendmal geübten Bewegungen schlüpfte sie aus Jeans und Pullover und streifte die weite Krankenhauskleidung über. Als sie ihr Namensschild ans Oberteil heftete, den Pieper an den Hosenbund klemmte und einen Stift in die Brusttasche schob, fühlte sie sich wie ein Ritter, der sich auf eine bevorstehende Schlacht vorbereitete.

Sobald sie auf den Gang hinaustrat, schlugen ihr die Geräusche und Gerüche der psychiatrischen Notaufnahme entgegen. In einem der Isolierzimmer brüllte jemand und trommelte gegen die Tür und im Nachbarraum schmetterte eine unmusikalische Stimme Lieder aus Broadway Musicals. Turnschuhe quietschten über den Linoleumboden, als eine der Krankenschwestern den Gang hinabeilte.

Sie straffte die Schultern und machte sich auf den Weg zum Aufnahmebereich, sich an Tragen und Rollstühlen vorbeischlängelnd, die im Gang aufgereiht standen. Der Gestank nach Schweiß, Reinigungsmittel und verstoffwechseltem Alkohol ließ Shelby wünschen, sie besäße den abgestumpften Geruchssinn ihrer menschlichen Kollegen.

Aber dann zauberte der feine Geruch von Jasmin ein Lächeln auf ihre Lippen. Diesen Geruch würde sie überall wiedererkennen. Nyla.

Wenige Meter von der Eingangstür entfernt saß Nyla Rozakis hinter dem Tresen der Anmeldung.

Shelby verharrte und genoss den Anblick.

Inmitten des Chaos im Aufnahmebereich war Nyla eine Oase der Ruhe. Sie strich sich eine mitternachtsschwarze Haarsträhne zurück, die aus ihrem Flechtzopf entkommen war, erhob sich und lief um den Schreibtisch herum. Sie schien die Laborassistenten und Sicherheitsleute zu ihrer Rechten nicht wahrzunehmen, obwohl diese lautstark mit einem schreienden Patienten rangen. Stattdessen waren ihre dunklen Augen ganz auf ihren eigenen Patienten fokussiert.

»Wissen Sie, wo Sie sind?«, fragte Nyla. Sie beugte sich hinab, als wollte sie ihren Patienten im Rollstuhl nicht bedrohlich überragen.

»In der Hölle«, grummelte der Patient.

Falsche Antwort, Kumpel. Shelby verkniff sich ein Grinsen. Eine psychiatrische Notaufnahme ist kein guter Ort für sarkastische Scherze, wenn man nicht psychotisch erscheinen will.

»Welches Datum haben wir heute?«, fragte Nyla mit ruhiger Stimme.

Der Patient antwortete und Nyla machte ein paar Notizen in seiner Krankenakte, ohne den Patienten länger als eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

»Führen Sie irgendwelche Waffen mit sich? Oder spitze Objekte?«

Der Patient schüttelte den Kopf, aber seine Hände tasteten hinab zu seinen Manteltaschen.

Shelby spannte alle Muskeln an, bereit, jederzeit einzugreifen, sollte er eine Waffe ziehen.

Aber Nyla benötigte ihre Hilfe nicht.

»Ben.« Nach einem kurzen Wink von Nyla half ihr einer der Sicherheitsleute, die Taschen des Patienten zu durchsuchen. Sie stapelten den Inhalt seiner Taschen auf dem Anmeldungstresen: ein Feuerzeug, eine Glaspfeife und – Shelby blinzelte – ein Paar Vampirzähne.

Menschen. Sie verzog das Gesicht.

Als ein Pfleger den Patienten in eines der Sprechzimmer führte, sah Nyla auf. Ein Lächeln formte Grübchen auf ihren Wangen. »Hallo, Doktor Carson.«

»Hallo, Nyla.«

»Ich wusste nicht, dass Sie heute Nacht arbeiten«, sagte Nyla, während sie den Aufnahmebogen ausfüllte. »Ich dachte, Sie haben sich schon für Thanksgiving und Weihnachten freiwillig gemeldet?«

Sie kennt meinen Dienstplan auswendig? Shelby verbarg ein erfreutes Grinsen. »Mir macht es nichts aus, an Feiertagen zu arbeiten«, sagte sie. »Ist ja auch nicht schlimmer als an anderen Tagen.« Wrasa feierten die Feiertage der Menschen ohnehin nicht, deshalb hatte sie sich für die Nachtschicht an Halloween freiwillig gemeldet, als sie gesehen hatte, dass auch Nyla arbeiten würde.

»Beschreien Sie es nicht, Doktor.«

»Ziemlich hektische Nacht heute, oder?«, fragte Shelby.

»Vollmond an Halloween in New York City – wenn das nicht das perfekte Rezept zum Verrücktwerden ist, dann weiß ich es auch nicht. Wir haben fünfzehn Neuaufnahmen und acht sitzen noch im Wartezimmer. Alle Isolierzimmer sind voll und die Sanis bringen uns ständig neue Patienten.«

Ehe Shelby die richtigen Worte finden konnte, um Nyla auf einen Kaffee nach Schichtende einzuladen, wurden sie von lautem Grunzen und Stöhnen unterbrochen.

Shelby wirbelte herum und ließ den Blick über den voll besetzten Wartebereich gleiten. Auf einem der blauen Plastikstühle, die an der Wand angeschraubt waren, saß eine junge Frau und hielt sich den Bauch. »Wurde sie schon von der ärztlichen Notaufnahme durchgecheckt?«, fragte Shelby.

»Oh, ja. Körperlich ist sie völlig in Ordnung. Sie bildet sich nur ein, ein Kind zu bekommen.« Nyla legte ihr Klemmbrett weg und trat neben Shelby. Seite an Seite betrachteten sie die stöhnende Patientin.

Shelby war kurz davor, auch zu stöhnen, als sie den betörenden Duft von Jasmin einatmete. Sie versuchte, ihre Stimme professionell klingen zu lassen. »Noch ein Jesuskind?«

»Nein, sie glaubt, sie bringt gerade das Kind der Vampirjägerin zur Welt.«

»Vampirjägerin?« Shelby hob eine Braue. Immer, wenn sie dachte, sie hätte bereits alle Kuriositäten erlebt, die die psychiatrische Notaufnahme zu bieten hatte, wurde sie von einem neuen Patienten eines Besseren belehrt. An Kreativität mangelte es den Patienten hier nicht. »Hat ihr niemand verraten, dass Buffy eine Frau ist und sie nicht schwängern kann?«

Nylas Grübchen vertieften sich. »Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, Doktor Carson. Es gibt unzählige Möglichkeiten für Lesben, die ihre Partnerinnen schwängern wollen.«

Die beiläufige Bemerkung ließ Shelby aufhorchen. Weiß sie, dass ich lesbisch bin? Ist sie es auch? In den letzten Monaten hatte sie sich diese Frage sehr oft gestellt, aber ihre diagnostischen Fähigkeiten versagten, wenn es darum ging, Nylas sexuelle Orientierung zu ergründen.

In die anhaltende Stille hinein sagte Shelby schließlich: »Ich sollte mich besser an die Arbeit machen. Wir sehen uns später. Und bitte sorgen Sie dafür, dass sie«, Shelby zeigte auf die stöhnende Patientin im Wartebereich, »nicht in die Nähe von Mister Vampirzahn kommt.« Sie sah hinauf zu der Tafel, die wartende Patienten auflistete, nahm sich eine Krankenakte vom Stapel und machte sich daran, den ersten Patienten ihrer Nachtschicht zu untersuchen.

* * *

Stunden später ließ sich Shelby auf einen Stuhl im Schwesternzimmer plumpsen. »Frank, haben wir schon die Ergebnisse von Mr. Sheridans Urinscreening?«

»Kamen gerade rein.« Der Pfleger hielt ihr ein Blatt Papier hin.

Sie kritzelte ihre Initialen auf den Laborbericht und sah sich die Ergebnisse an. »Genau, was ich vermutet hatte. Total vollgepumpt mit Meth. Bringen Sie ihn in eines der Beobachtungszimmer.« Sie wandte sich dem Aktenberg vor sich zu und sah dann erneut auf. »Oh, und würden Sie mir bitte die Telefonnummer von Mrs. Clayburns Therapeutin heraussuchen?«

Während sie den Entlassungsbericht für einen anderen Patienten schrieb, bemerkte sie, dass ihre Haut kribbelte. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als stünde er unter Strom. Eine chaotische Nacht wie diese hatte immer eine solche Auswirkung auf sie. In der psychiatrischen Notaufnahme zu arbeiten, war, als würde man in einen Hurrikan eintauchen: ein Wirbelwind lautstarker, unvorhersehbarer Aktivität, gepaart mit dem Geruch von Schweiß, Urin und billigem Fusel. Nur der Gestank von Angst und Manie brannte noch mehr in Shelbys Nase.

Jeder andere Wrasa hätte diesen Job gehasst. Shelby war der einzige Formwandler unter dem Krankenhauspersonal und, soweit sie wusste, weltweit die einzige Wrasa-Psychiaterin, die in einer Notaufnahme arbeitete. Wenige Wrasa waren in der Lage, dem dauerhaft hohen Adrenalinspiegel standzuhalten und sich ausreichend auf ihre Arbeit zu konzentrieren, während sie gleichzeitig gegen den Drang ankämpften, ihre Gestalt zu wechseln.

Doch Shelby war anders als die anderen. Aus irgendeinem Grund hatte sie eine sehr hohe Schwelle, die erst überschritten werden musste, bevor sie sich in einen Kojoten verwandelte. Als Jugendliche hatte sie das zum Außenseiter gemacht und ihre Verwandten schüttelten noch immer vor Verwunderung und Scham die Köpfe, wenn sie zusahen, wie Shelby sich abmühte, sich bei den Familientreffen im Wald mit den anderen zu verwandeln. Aber diese Eigenart ermöglichte es ihr eben auch, ihren Beruf auszuüben. Sie liebte ihre Arbeit, das rasche Tempo und die Herausforderung, so vielen verschiedenen Patienten während einer Schicht zu helfen.

»Doktor Carson?«

Noch bevor Shelby aufsah, ließ ein Hauch von Jasmin ein Lächeln über ihr Gesicht huschen.

Nyla stand vor ihr, eine Hüfte gegen den Tisch gelehnt.

Nachdem sie Nyla monatelang beobachtet hatte, wusste Shelby, dass Nyla eine Anlehnerin war. Sie lehnte sich ständig gegen etwas, als ob das ein Ankerpunkt inmitten all des Chaos für sie war und sie erdete. Ihre Anwesenheit hatte denselben Effekt auf Shelby.

»Könnten Sie einen Blick auf einen meiner Patienten werfen?«, fragte Nyla.

Shelby hob eine Braue. Es war eine ungewöhnliche Bitte. Normalerweise nahmen die Krankenschwestern eine erste Einschätzung der Patienten vor, ohne einen Arzt zurate zu ziehen. Erst später, nachdem Nyla ihre Notizen in der Akte festgehalten hatte, würde Shelby oder ein anderer Psychiater mit dem Patienten sprechen. »Natürlich, aber was ist denn so besonders an ihm? Ist er einer unserer Stammkunden?«

»Nein, ich hab ihn noch nie zuvor gesehen. Aber ich hab da so ein merkwürdiges Gefühl, was ihn betrifft, und ich dachte, vielleicht erspart es uns etwas Zeit, wenn wir gleich gemeinsam mit ihm reden.«

Shelby hatte gelernt, den Instinkten einer guten Krankenschwester wie Nyla zu vertrauen. Sie erhob sich, ohne zu zögern. »Was können Sie mir über seine Vorgeschichte sagen?«, fragte sie, während sie das Schwesternzimmer verließen.

»Er ist ein zweiundzwanzigjähriger Weißer«, sagte Nyla. »Die Polizei hat ihn zu einer vorgerichtlichen Begutachtung hergebracht, weil er sagt, er höre Stimmen.«

Stimmen? Shelbys diagnostisch geschulter Verstand schlug sofort ein halbes Dutzend möglicher Ursachen für auditive Halluzinationen vor. Schizophrenie stand ganz oben auf ihrer Liste, vor allem, weil das Alter des Patienten typisch für einen ersten psychotischen Schub war. Aber auch Drogeneinfluss war nicht ausgeschlossen. Eine Befragung des Patienten würde ihr mehr verraten. »Was wird ihm vorgeworfen?«, fragte sie.

»Gefährliche Körperverletzung.« Nyla begegnete Shelbys fragenden Blick. »Er hat seine Freundin mit einer Sense angegriffen.«

»Mit einer Sense?« Ein ums andere Mal konnte Shelby nur darüber staunen, wie einfallsreich Menschen waren, wenn es darum ging, einander zu verletzen.

Nyla nickte. Einer ihrer Mundwinkel hob sich und deutete ein sarkastisches Halblächeln an. »Offenbar waren sie auf einer Halloweenparty und er hatte sich als Gevatter Tod verkleidet.«

»Gevatter Tod.« Shelby schüttelte den Kopf. »Sieht so aus, als könnte ich einen weiteren Promi zur Liste meiner Referenzen hinzufügen.« Sie schloss eine Tür auf und bedeutete Nyla, zuerst einzutreten. Sie betraten den Aufnahmebereich, der im Moment mehr wie ein Polizeirevier und weniger wie der Eingang einer psychiatrischen Notaufnahme aussah.

Zwei Polizisten standen herum und unterhielten sich mit einem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, während zwei ihrer Kollegen einen zappelnden und schreienden Patienten bewachten.

»Das ist er«, sagte Nyla und deutete auf den Patienten, der zwischen den beiden Polizeibeamten stand. Sie sah hinab auf ihr Klemmbrett. »Joseph Linwood.«

Shelby rümpfte die Nase angesichts des Gestanks von Blut, Alkohol und Rauch, der von dem Mann ausging. Nur mühsam überwand sie den Impuls, zwischen ihn und Nyla zu treten. Sie braucht keinen gestaltwandlerisch behinderten Kojoten, um sie zu beschützen.

»Meine Herren«, sagte Shelby und nickte hinab zur Hüftgegend der Polizisten. »Haben Sie die Dinger da entleert?«

Die Polizeibeamten bedachten sie mit mürrischen Blicken.

Nyla kicherte.

»Wenn Sie damit meinen, ob wir unsere Waffen entladen haben, bevor wir reinkamen, ja«, sagte der größere der beiden Polizisten. Er zog seine Uniformhose hoch, die ein wenig nach unten gerutscht war. »Wir halten uns an die Vorschriften.«

»Entschuldigung«, sagte Shelby und grinste. »Sie kennen ja uns Psychiater. Wir sind bekannt dafür, dass wir einen seltsamen Sinn für Humor haben.«

»Sie können Witze machen, so viel Sie wollen, solange Sie uns den Spinner da abnehmen«, sagte der Polizist.

Shelby trat näher an den Patienten heran, in der Hoffnung, seine Körperchemie erschnuppern zu können. Aber der Gestank von Gewalt und wilden Partys war zu stark, um ihre Nase fürs Diagnostizieren verwenden zu können. »Bringen wir ihn mal in eines der Sprechzimmer.«

Während die Polizisten den Patienten ins Sprechzimmer führten, arrangierte Shelby die Stühle so, dass ihrer und Nylas direkt neben der Tür standen. Nur für den Fall der Fälle.

Nachdem der Patient Platz genommen hatte, setzte sich Shelby ihm gegenüber. »Wenn wir Ihnen die Handschellen abnehmen, versprechen Sie, sich zu benehmen?«

»Natürlich«, sagte der Patient. »Im Moment höre ich keine Stimmen.«

Sie deutete auf die Handschellen. »Lassen Sie uns die mal abnehmen.«

Einer der Polizisten trat hinter Linwood und nahm ihm die Handschellen ab.

Shelby lehnte sich ein wenig nach vorne. »Mr. Linwood, mein Name ist Doktor Carson. Ich bin einer der behandelnden Psychiater hier.«

»Dann können Sie mir sicher helfen. Ich brauche Hilfe. Ich höre ständig Stimmen. Die treiben mich in den Wahnsinn. Sie sollten mich in die Psychiatrie einweisen. Sie können mich für zweiundsiebzig Stunden hierbehalten, richtig?«

Keine psychiatrische Vorgeschichte und trotzdem ist er so gut informiert? Shelby warf Nyla einen Blick zu. Sie hat recht. Irgendwas stimmt nicht mit dem Kerl. »Ja, können wir«, sie faltete die Hände in ihrem Schoß, »aber wir tun es nur sehr selten. Wir sind eine Notaufnahme, keine stationäre Einrichtung. Wenn Sie wirklich weitere Hilfe benötigen, weisen wir Sie in eine der Abteilungen im Haus oder in eine Psychiatrie ein.«

»Ist mir egal.« Linwood streckte die Beine aus und rutschte in seinem Stuhl nach unten. »Ich bin mir aber sicher, dass ich eingewiesen werden sollte. Dann werden vielleicht diese verdammten Stimmen aufhören.«

»Diese Stimmen … was sagen sie denn?«, fragte Shelby.

»Sie befehlen mir, Leute zu töten. Mich selbst zu töten.« Er schwang die Arme, als schlage er jemanden mit einem Knüppel … oder einer Sense.

Hmm. Falls er uns nichts vorspielt, ist er eine Gefahr für sich und für andere. Das war ihr wichtigstes Kriterium, wenn es darum ging zu entscheiden, ob sie einen Patienten einwies oder nicht. Wenn ihnen die Polizei Festgenommene vorbeibrachte, war es nicht ihre Aufgabe zu entscheiden, ob sie psychisch gestört und möglicherweise unzurechnungsfähig waren. Fürs Erste wollte die Polizei lediglich wissen, ob der Verhaftete psychisch stabil genug für die Anklageverlesung war.

»Wie lange hören Sie diese Stimmen schon?«

»Ach, ich weiß nicht. Solange ich zurückdenken kann. Das hat angefangen, als ich ein Kind war.« Er hob die Hand und deutete die Größe eines Kleinkindes an.

Shelby biss sich auf die Lippe, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie sich Nyla ein Jetzt-haben-wir-dich-Lächeln verkneifen musste. Sie wussten beide, dass auditive Halluzinationen so gut wie nie in der Kindheit begannen. Und wenn er wirklich schon so lange Stimmen hört, wieso hat er dann nie zuvor psychiatrische Hilfe in Anspruch genommen? Warum erst jetzt, wo er verhaftet wurde? Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Da Sie ja so schwere Halluzinationen haben, sehen Sie doch sicher auch kleine grüne Männchen, oder?«, fragte Shelby. Sie sah zu Nyla hinüber, in der Hoffnung, dass diese sich nichts anmerken lassen würde.

Nyla fuhr damit fort, Einträge in die Krankenakte zu machen. Ihr Gesicht blieb unbewegt.

Gut. Spiel das Spiel mit.

»Ja, ja, natürlich seh ich die!« Linwood sah Shelby an, als wäre er beeindruckt von ihrer professionellen Scharfsichtigkeit. Er lächelte sie an. »Woher wissen Sie das?«

Kein verflachter Affekt. Dieser Kerl litt ebenso wenig an Schizophrenie wie sie. »Sagen wir, es war weibliche Intuition«, sagte Shelby.

Ein Grübchen bildete sich in Nylas Wange. Sie legte ihren Kugelschreiber weg.

»Okay, Mr. Linwood«, sagte Shelby. »Danke für Ihre Geduld. Ich glaube, wir können das Gespräch jetzt beenden.« Sie erhob sich, immer darauf achtend, Joseph Linwood nicht den Rücken zuzudrehen.

Mit leuchtenden Augen sprang Linwood auf. »Sie weisen mich also ein?«

»Nein.«

»Nein?« Sein Hals lief scharlachrot an und eine Ader begann, auf seiner Schläfe zu pulsieren. »Aber ich höre Stimmen!«

»Darüber sollten Sie sich freuen, Mr. Linwood«, sagte Shelby. »Wir nennen so etwas ein Gewissen. Vielleicht sagen Ihnen diese Stimmen jetzt, dass es nicht nett ist, einen Psychiater anzulügen, um nicht ins Gefängnis zu müssen.« Sie streckte den Arm aus und geleitete Nyla aus dem Raum.

»Schlampe!« Er versuchte, den Stuhl hochzuheben und nach ihnen zu werfen, aber der Stuhl auf seiner Seite des Tisches war am Boden angeschraubt.

Die zwei Polizisten, die direkt vor der Tür gewartet hatten, eilten herbei und hielten Linwood fest.

Nyla sah zu Shelby hinüber. Belustigung spiegelte sich in ihren dunklen Augen wider. »Kleine grüne Männchen?«

»Haben Sie je von einem psychotischen Patienten gehört, der sie wirklich gesehen hat?«

»Nein, aber es ist noch früh am Abend und wir haben Vollmond und Halloween in derselben Nacht.« Nyla breitete die Arme aus. »Alles ist möglich.«

Shelby grinste. Alles? Das hörte sich gut an. Vielleicht würde sie heute den Mut aufbringen, Nyla um ein Rendezvous zu bitten, noch bevor diese verrückte Nacht endete.

* * *

Die Pendeltüren wurden krachend aufgestoßen. Zwei Sanitäter schoben eine Trage in die psychiatrische Notaufnahme.