Rosen für die Staatsanwältin - Jae - E-Book

Rosen für die Staatsanwältin E-Book

Jae

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Beschreibung

Gefährliche Fälle, verbotene Gefühle, unaufhaltsame Anziehung. Drei starke Frauen und ein schwieriger Kriminalfall: Detective Aiden Carlisle wird auf eine mutmaßliche Vergewaltigung angesetzt. Unter Tatverdacht steht ausgerechnet die neue Patientin ihrer Lebensgefährtin Dawn Kinsley. Während die Psychologin Dawn an die Unschuld ihrer Patientin glaubt, muss Aiden schonungslos ihren Ermittlungen nachgehen. Was sie herausfindet, bringt ihre Welt ins Wanken. Derselbe Fall bringt auch Kade Mathesons geordnetes Leben durcheinander. Die ehrgeizige Staatsanwältin muss sich der Tatsache stellen, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt. Zwei heimliche Verehrer stellen sie vor die Frage, was bedrohlicher ist: die Gefahr für ihr Leben oder die für ihr Herz?

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Seitenzahl: 714

Veröffentlichungsjahr: 2015

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AUSSERDEM VON JAE LIEFERBAR

Vorsicht, Sternschnuppe

Die Portland-Serie:

Auf schmalem Grat

Rosen für die Staatsanwältin

Umzugsfieber

Die Hollywood-Serie:

Liebe à la Hollywood

Die Mondstein-Serie:

Cabernet & Liebe

Verführung für Anfängerinnen

Die Serie mit Biss:

Zum Anbeißen

Coitus Interruptus Dentalis

Die Gestaltwandler-Serie:

Vollmond über Manhattan

INHALT

DANKSAGUNG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

ÜBER JAE

EBENFALLS IM YLVA VERLAG ERSCHIENEN

DEMNÄCHST IM YLVA VERLAG

DANKSAGUNG

Wie die meisten Bücher ist auch dieses eine Gemeinschaftsproduktion. Ich möchte mich ganz herzlich bei meinen Betaleserinnen Christiane, Kirstin, Pia, Sarah und Susanne sowie bei meiner Lektorin, Denise, bedanken.

Ein besonderer Dank gilt auch dem Ylva Verlag, der meinen Büchern ein Zuhause bietet.

KAPITEL 1

»Was hast du an?«, hauchte eine verführerische Stimme in den Hörer.

Aiden schloss die Akte, die sie gerade gelesen hatte, und warf sie zu den anderen auf ihrem Schreibtisch. Sie drückte das Telefon gegen ihr Ohr und wirbelte den Bürostuhl herum, bemüht, in dem Raum voller neugieriger Ermittler ein wenig Privatsphäre zu bewahren. Sie hielt eine Hand vor den Hörer und senkte die Stimme. »Was ich anhabe?«

»Ooh, Carlisle hat einen obszönen Anrufer in der Leitung!« Jeff Okada stieß einen lauten Pfiff aus.

Die anderen Detectives sahen von ihren Schreibtischen auf.

Sie bedeutete ihnen, wieder an die Arbeit zu gehen.

»Ja«, sagte Dawn. »Oder genauer: Was hast du nicht an?«

Aiden lehnte sich im Stuhl zurück und entspannte sich zum ersten Mal seit Stunden. »Ist das etwa sexuelle Belästigung einer Ermittlerin der Sondereinheit für Sexualdelikte? An ihrem Arbeitsplatz? Ganz schön gewagt, Doktor Kinsley!«

»Gewagt? Nein. Wohl eher besorgt.« Dawn gab ihre Versuche auf, verführerisch zu klingen. »Ich habe dich seit drei Tagen nicht gesehen und der Stapel Post in deinem Briefkasten hat mir verraten, dass du seit Donnerstag nicht mehr zu Hause warst.«

Dawns Schlussfolgerung stimmte. Aiden seufzte. »Tut mir leid.«

»Ich rufe nicht an, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen. Du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass du deine Pflicht erfüllst. Ich dachte nur, du brauchst vielleicht Kleidung zum Wechseln. Es sei denn, die Polizei von Portland hat eine neue Verhörtaktik und versucht, Geständnisse zu erzwingen, indem der Verdächtige so lange mit dir in einen Raum gesperrt wird, bis er es einfach nicht mehr aushält.«

Aiden lachte, wurde dann aber wieder ernst. »Wir müssen ihn erst mal schnappen, bevor wir ihn zu einem Geständnis bewegen können, sei es nun durch Geruchsbelästigung oder auf eine andere Weise.«

»Das werdet ihr«, sagte Dawn. »Es braucht eben einfach seine Zeit.«

Zeit, die sein nächstes Opfer nicht hatte. Trotzdem tat Dawns Vertrauen in sie gut.

»Soll ich später auf dem Revier vorbeikommen und dir frische Kleidung bringen?«, fragte Dawn.

Aiden sah sich in der belebten Dienststelle um. Es war Samstagabend, aber zwei Dutzend Beamte arbeiteten noch immer unter Hochdruck, um einen Vergewaltiger ausfindig zu machen. Ihre Beziehung zu Dawn war kein Geheimnis, aber sie bemühte sich, Arbeit und Privatleben getrennt zu halten.

Als sie zögerte, sagte Dawn: »Ich könnte dir Klamotten aus deiner Wohnung holen und sie mit dem Fahrradkurier schicken, falls dir das lieber …«

»Nein«, sagte Aiden, lauter als beabsichtigt. »Ich will dich sehen, nicht den Fahrradkurier.«

Die anderen Detectives warfen ihr neugierige Blicke zu.

Aiden rieb sich das Gesicht und versuchte, ihr Erröten vor den Kollegen zu verbergen.

»Okay«, sagte Dawn nach einer Weile. »Dann komme ich später vorbei. Meine Mutter hat mich zum Essen eingeladen. Ich fahre auf dem Nachhauseweg am Revier vorbei.«

Aidens Magen knurrte. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte, geschweige denn eine selbstgekochte Mahlzeit. »Richte Grace Grüße von mir aus.«

»Mache ich. Ich liebe dich.«

»Äh.« Aiden sah sich um. Jetzt ist mein Ruf gleich dahin. »Ich …«

Dawn lachte. »Du musst es nicht sagen. Ich weiß ja, dass die Jungs vermutlich jedes Wort mithören.«

»Ja. Das ist eine neugierige Bande.«

»Dann lass ich dich jetzt besser gehen«, sagte Dawn nach einem Moment des Schweigens. »Wir sehen uns später.«

»Dawn?«

»Ja? Keine Sorge. Ich werde dir nicht die sexy Unterwäsche bringen. Ich werde nach einem zweckmäßigen Altdamenschlüpfer suchen.« Dawn lachte.

Aidens angespannte Gesichtszüge glätteten sich. »Ich liebe dich«, sagte sie, bevor sie auflegte.

Ray beugte sich über seinen Schreibtisch. »Wie geht’s dem kleinen Doc?«

Aiden sah auf, eine scharfe Zurechtweisung auf den Lippen, aber als sie nichts als Aufrichtigkeit in den Augen ihres Partners las, lehnte sie sich zurück. »Ihr geht’s gut.« Sie schlug die Akte wieder auf.

»Kennst du die noch nicht auswendig?«, fragte Ray.

Aiden starrte auf den Tatortbericht, bis die Schrift vor ihren Augen zu verschwimmen begann. »Wir übersehen irgendetwas.« Sie legte die Akte beiseite und stapfte zur Kaffeemaschine. Nur Koffein, Adrenalin und störrische Entschlossenheit hielten sie noch wach.

»Warum haust du dich nicht für ein Stündchen im Verlies aufs Ohr?«, sagte Ray. »Falls wir wirklich etwas übersehen, wirst du es nicht finden, erschöpft wie du bist.«

Aiden stellte ihre Kaffeetasse ab. Er hatte recht. Die Pritschen in dem winzigen Raum, den sie das Verlies nannten, waren nicht sonderlich bequem, aber sie war so müde, dass es sie nicht weiter interessierte. »Weck mich sofort, sobald wir eine neue Spur haben.«

»Du wirst die Erste sein, die davon erfährt«, sagte Ray.

Mit einem müden Nicken machte sich Aiden auf den Weg zur nächstgelegenen Pritsche.

Dawn trat aus dem Fahrstuhl und stellte überrascht fest, dass auf dem Gang des Polizeireviers selbst zu dieser Uhrzeit noch einiges los war. Vorsichtig balancierte sie mehrere Tüten und Behälter, als sie die Glastüren mit der Aufschrift Sondereinheit für Sexualdelikte aufstieß.

Sie war schon früher hier gewesen, damals aber unter ganz anderen Umständen. Vor sechs Monaten war sie eines der Opfer gewesen, deren Fotos an der Wandtafel hingen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Die Tüten gegen ihre Brust drückend, durchquerte sie den Raum.

Ein junger Zivilbeamter versperrte ihr den Weg. »Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«

»Ich bin auf der Suche nach Detective Carlisle.« Sie zeigte auf Aidens Schreibtisch.

Aiden war nicht da, aber Ray Bennet erhob sich und begrüßte sie mit einem warmen Lächeln. »Ist schon okay, Moreno. Sie ist hier jederzeit willkommen.«

Die Worte waren vermutlich ebenso sehr an den jungen Detective wie an Dawn selbst gerichtet und sie wusste das zu schätzen.

»Hallo, Dawn«, rief Ruben von der gegenüberliegenden Seite des Raums. »Schön, Sie zu sehen, besonders nachdem ich den ganzen Tag lang die hässliche Visage meines Partners anstarren musste.«

Okada ignorierte ihn. »Hallo, Doktor.« Er trat näher und schielte in Dawns Tüten. »Wie ich sehe, haben Sie uns etwas mitgebracht.«

»Ja. Meine Mutter und ich wollten sichergehen, dass Portlands beste Spezialeinheit heute Nacht nicht verhungert.« Dawn stellte die Taschen auf den nächstbesten Schreibtisch und verteilte die noch warmen Behälter.

Lieutenant Swensons Bürotür schwang auf und die Chefin der Spezialeinheit betrat das Großraumbüro. »Was ist hier los?« Sie betrachtete stirnrunzelnd ihre Untergebenen, die sich um Aidens Schreibtisch herum versammelten. »Haben wir eine neue Spur?«

Dawn erstarrte. Sie war nicht nur eine Zivilistin, die eigentlich gar nicht hier sein durfte, sondern auch die Hauptzeugin in einem früheren Fall. Aiden war von ihren Vorgesetzten dafür gerügt worden, dass sie eine Beziehung mit ihr begonnen hatte.

»Nein, nur eine gesetzestreue Bürgerin, die uns Verpflegung bringt«, sagte Okada und schaufelte sich eine Gabel seines Abendessens in den Mund.

Die Polizisten um Dawn wichen zur Seite, als Lieutenant Swenson nähertrat. Swensons Stirnrunzeln vertiefte sich. »Doktor Kinsley, nicht wahr?«

Dawn schluckte und nickte.

»Sie ist nur hier, um Wäsche für Aiden vorbeizubringen«, sagte Ray.

»Ja. Und nun, da ich das getan habe, werde ich gehen, damit Sie weiterarbeiten können.« Dawn trat den Rückzug an.

»Dr. Kinsley«, rief Aidens Chefin. »Ich glaube, sie hat sich gerade etwas hingelegt. Sie würde ihren Partner sicher umbringen, wenn er Sie ziehen ließe, ohne dass sie Ihnen Hallo sagen konnte. Wieso gehen Sie nicht und wecken sie auf, bevor ihr Abendessen kalt wird?«

Dawn starrte sie an.

Astrid Swensons blaugraue Augen blickten weniger streng, als sie Dawn ermutigend zunickte. »Gehen Sie nur.« Sie zeigte auf eine der Türen.

»Danke.« Dawn drückte ihr einen der Behälter in die Hand und eilte den Gang hinab, bevor Swenson es sich anders überlegen konnte. Sie öffnete die Tür, auf die Lieutenant Swenson gezeigt hatte.

Im Zimmer war es dunkel, deshalb blieb sie im Türrahmen stehen, bis ihre Augen sich daran gewöhnt hatten. Schließlich konnte sie eine Gestalt unter einer Decke ausmachen. Die Position, in der die Person schlief – auf dem Rücken, mit dem Gesicht zur Tür – war typisch für Aiden. Sie umklammerte mit einer Hand die Decke, die Finger zur Faust geballt.

Dawn hätte ihr Diplom in Psychologie nicht gebraucht, um zu erkennen, dass Aiden gestresst war. Dieser Fall setzte ihr wirklich zu.

Leise und vorsichtig, um im Dunkeln nicht zu stolpern, schlich sie näher. Sie setzte sich auf die Bettkante und sah auf ihre schlafende Partnerin hinab. Aidens kurze, schwarze Haare waren zerzaust. Eine Falte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen eingegraben und ihr athletischer Körper war selbst im Schlaf angespannt.

Dawn konnte nicht widerstehen. Sie beugte sich hinab und küsste sanft Aidens Mundwinkel.

»Was?« Aiden schoss in die Höhe. Sie starrte Dawn an, blinzelte, rieb sich die Augen und sah dann wieder zu ihr. »Falls das ein Traum ist, weck mich bitte nicht.«

Dawn fuhr mit den Fingern durch Aidens Haar und versuchte, die wirren Haarsträhnen zu ordnen. »Wenn das ein Traum wäre, dann würde ich dir keine frische Unterwäsche bringen. Dann würde ich Unterwäsche tragen … und sonst nichts.« Als Aiden nicht auf den Witz reagierte, nahm Dawn sie in die Arme.

Warmer Atem streifte Dawns Hals, als Aiden geräuschvoll schnaufte.

Sie hielten einander mehrere Minuten lang eng umschlungen, ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile spürte Dawn, wie Aidens Anspannung nachließ. »Komm. Dein Essen wird kalt.«

Aiden wich etwas zurück. »Du hast mir etwas zu essen gebracht und hast es dann bei den zwanzig ausgehungerten Polizisten da draußen zurückgelassen? Glaubst du wirklich, die schrecken vor Diebstahl zurück, nur weil sie Gesetzeshüter sind?«

»Keine Sorge. Ich habe genug zu essen mitgebracht, um die hungrigen Massen zufriedenzustellen.« Dawn nahm Aidens Hand und zog ihre Freundin von der Pritsche hoch.

Aiden streckte sich, sinnlich wie eine Katze.

Dawn bewunderte ihre hochgewachsene Gestalt.

Als ihre Blicke sich trafen, murmelte Aiden: »Manchmal glaube ich, das ist alles nicht real.«

»Der Fall?«

»Du.« Aiden berührte Dawns Wange mit dem Zeigefinger. »Wir.«

Dawn bedeckte Aidens Hand mit ihrer eigenen und drückte sie gegen ihr Gesicht. »Es ist real.«

»Ja. Aber du musst ständig auf mich warten und wegen meines Jobs die zweite Geige spielen und statt dich zu beschweren, wenn ich mich drei Tage lang nicht melde, kommst du vorbei und bringst mir Essen und Kleidung. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein«, flüsterte Aiden.

»Mein Vater, mein Bruder und mein Exmann waren Polizisten«, sagte Dawn. »Ich wusste genau, worauf ich mich einlasse, als ich mich an dich rangemacht habe.«

»Du hast dich an mich rangemacht? Entschuldige, Doc, aber das habe ich ganz anders in Erinnerung.«

Dawn war froh zu spüren, dass Aidens Stimmung sich aufhellte. Sie erwiderte ihr Lächeln. »Sprichst du etwa von deinem kläglichen Versuch, mich zum Essen einzuladen?«

»Kläglicher Versuch? Wenn ich mich recht erinnere, hast du ziemlich freudig zugestimmt.«

Die Tür wurde aufgerissen. »Aiden!« Ray stürmte in den winzigen Raum und prallte fast mit ihnen zusammen. »Deming hat angerufen. Beim letzten Opfer wurden DNA-Spuren gefunden. Wir haben einen Namen und eine Adresse.«

Sofort verwandelte sich Aiden von der sanften Partnerin zur entschlossenen Polizistin. Sie nahm Dienstmarke und Waffe vom Hocker neben der Pritsche und befestigte beides an ihrem Gürtel. Grimmige Entschlossenheit schimmerte in ihren bernsteinfarbenen Augen. »Lass uns gehen.«

Ein kurzes Danke und ein letzter Blick zurück zu Dawn, dann fiel die Tür hinter Aiden zu.

Dawn lauschte ihren sich entfernenden Schritten und seufzte. »Sei vorsichtig«, flüsterte sie in die Dunkelheit des leeren Raums.

KAPITEL 2

Die Tiefgarage war fast leer. So spät an einem Samstagabend waren die meisten anderen Anwälte und Rechtsanwaltsgehilfen schon längt nach Hause gegangen. Kade Mathesons Absätze klackerten in ihren Ohren fast unerträglich laut über den Asphalt.

Als sie das Parkdeck überquerte, verfolgte sie das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden.

Sie umklammerte ihre Autoschlüssel fester und marschierte in Richtung ihres BMWs, so schnell ihr Rock und ihre hochhackigen Schuhe es zuließen.

Ein Geräusch hallte durch die Tiefgarage und ließ sie herumwirbeln.

Da war nichts. Die Tiefgarage war noch immer leer.

»Langsam wirst du paranoid, Kadence Matheson«, murmelte sie. Das war nicht das erste Mal, dass sie sich fühlte, als beobachtete sie jemand, aber wenn sie dann über die Schulter blickte, war niemand da.

Als sie ihr Auto erreichte, ließ sie sich mit einem erleichterten Seufzen auf den Fahrersitz fallen. Sie starrte ihre Schlüssel an und erinnerte sich an eine ganz ähnliche Situation, die sich in derselben Tiefgarage ereignet hatte.

Fünf Monate zuvor

Nach einem langen Tag im Gericht und einem noch längeren Abend im Büro, wo sie über Zeugenaussagen, Tatortberichten und Beweismittellisten gebrütet hatte, ging Kade endlich zu ihrem Auto.

Ein Geräusch hallte durch die Tiefgarage hinter ihr.

Sie drehte sich um, in der Erwartung, einen Praktikanten der Bezirksstaatsanwaltschaft mit einem letzten Dokument hinter sich herlaufen zu sehen, das sie sich bis morgen ansehen musste.

Aber es war niemand da.

Kade fröstelte und ging schneller. Normalerweise war es kein Problem für sie, das Büro allein zu verlassen und im Dunkeln zu ihrem Auto zu gehen. Selbst nach den zwei Jahren, die sie nun schon mit der Sondereinheit für Sexualdelikte zusammenarbeitete, hatte sie keine Angst davor, überfallen zu werden. Mit dem Pfefferspray in ihrer Tasche war sie zuversichtlich, jeden Angreifer abwehren zu können.

Aber während der letzten Wochen war ihr Sicherheitsgefühl ins Wanken geraten. Es hatte keine Drohungen gegen sie gegeben, jedenfalls nicht mehr als sonst. Aber in der letzten Zeit kam es ihr oft so vor, als würde sie beobachtet.

Vielleicht lag es nur an der Verhandlung, die in der vorigen Woche begonnen hatte. Kade war immer wild entschlossen, jeden ihrer Fälle zu gewinnen, aber Aiden schien eine besondere Beziehung zu Dawn Kinsley, einem der Opfer, zu haben und das setzte Kade noch mehr unter Druck, eine Verurteilung zu erreichen.

Eine Stahltür schlug irgendwo hinter ihr zu. Sie zog die Autoschlüssel aus der Tasche, nicht nur, um sich schnell ins Auto flüchten zu können, sollte das notwendig sein, sondern auch, um eine Art Waffe in der Hand zu haben.

Schritte erklangen hinter ihr und kamen schnell näher.

Sie sah über die Schulter zurück.

Als sie den Knopf auf dem Schlüssel drückte, leuchteten die Blinker ihres BMWs auf und enthüllten eine dunkle Gestalt, die auf sie zurannte. Die Person rief etwas, aber die hallenden Schritte auf dem Zementboden machten die Worte unverständlich.

Kade erstarrte.

Die hochgewachsene Person kam genau auf sie zu, das Gesicht in den Schatten eines Pfeilers verborgen.

Kades Kampfwille stellte sich ein. Ihre Matheson-Gene verboten eine Flucht. Sie stieß dem Angreifer ihre Schlüssel in die Seite und nutzte den Moment, in dem er sich die Rippen hielt, um sich unter seinem Arm hindurchzudrücken und die Hand nach dem Türgriff des BMWs auszustrecken.

Aber ihr Angreifer war schneller. Eine langfingrige Hand hielt die Autotür zu und verhinderte, dass Kade sie öffnete. »Autsch. Sagen Sie immer so Hallo, Frau Staatsanwältin?«

Kade wirbelte herum. Die Stimme war schmerzverzerrt, aber definitiv weiblich. Im Dämmerlicht hier unten konnte sie die Gesichtszüge einer lateinamerikanischen Frau um die Vierzig ausmachen. Sie kam ihr irgendwie bekannt vor, aber Kade war sicher, dass sie einander nie vorgestellt worden waren. »Wer sind Sie?«

Die hochgewachsene Frau schob eine Hand in ihre Jackentasche.

Aus Angst, dass sie gleich eine Waffe ziehen würde, griff Kade nach dem Pfefferspray in ihrer Handtasche.

Die Frau hob die Hände, die Handflächen nach außen. »Nur keine Panik. Ich bin Polizistin. Ich wollte Ihnen nur meine Dienstmarke zeigen.«

Kades Anspannung ließ nach, als sie das goldene Abzeichen und den Ausweis sah, der ihre ›Angreiferin‹ als Lieutenant Delicia Vasquez Montero auswies. »Detective Carlisle hat Sie schon angekündigt, aber normalerweise besuchen Polizeibeamte mich im Büro und lauern mir nicht an dunklen, abgelegenen Orten auf.«

Lieutenant Vasquez grinste verlegen. »Tut mir leid. Das war wohl nicht die beste Art und Weise, mich vorzustellen. Aber Ihre Assistentin sagte, dass ich Sie knapp verpasst hätte und ich Sie vielleicht noch in der Tiefgarage antreffen könnte. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Kade steckte ihre Autoschlüssel ein. »Sie haben mich nicht erschreckt.«

»Natürlich nicht.« Lieutenant Vasquez lächelte, wurde dann aber ernst. »Können wir irgendwo reden?«

»Na klar. Wenn Sie einen Termin mit meiner Assistentin vereinbaren, können wir uns so lange unterhalten, wie Sie möchten.«

Lieutenant Vasquez ließ ihre Hand auf der Fahrertür liegen. »Ich habe keine Zeit, um einen offiziellen Termin zu vereinbaren. Sie stecken bereits mitten in der Verhandlung, über die ich mit Ihnen sprechen möchte.«

Kade betrachtete sie aus zusammengekniffenen Augen. »Sie sind nicht bei der Sondereinheit für Sexualdelikte.«

»Nein. Ich bin bei der Mordkommission.«

»Der Fall, den ich verhandle, ist aber kein Mord.« Obwohl es ganz schnell zu einem Mordfall werden könnte, falls diese Polizistin sie weiterhin hier festhielt.

»Ich weiß. Ich habe auch nicht beruflich mit dem Fall zu tun.« Vasquez sah sie mit ihren dunklen Augen eindringlich an.

Kade neigte den Kopf und hielt ihrem Blick stand. »Was soll das heißen, Lieutenant?«

»Das soll heißen, dass ich eine persönliche Verbindung zu dem Fall habe. Und deshalb würde ich es auch vorziehen, das nicht hier in der Tiefgarage zu besprechen«, sagte Lieutenant Vasquez. »Haben Sie schon zu Abend gegessen?«

Kade unterdrückte ein undamenhaftes Schnauben. Sie hatte noch nicht mal zu Mittag gegessen. »Noch nicht.«

»Dann lassen Sie uns zum Italiener um die Ecke gehen. Wir können einen Happen essen und dann erkläre ich Ihnen, was ich mit dem Fall zu tun habe.«

Kade hasste es, während der Verhandlung unvorbereitet dazustehen. Der Vorschlag klang also vernünftig. Sie verschloss ihren Wagen und nickte Vasquez zu. »Dann mal los, Lieutenant.«

»Also?«, sagte Kade, ohne ihren Salat auch nur probiert zu haben.

»Angesichts dessen, was ich Ihnen gleich erzählen werde, sollte ich mich vielleicht erst mal richtig vorstellen. Ich bin Lieutenant Del Vasquez vom zwölften Revier.« Sie streckte die Hand über den Tisch.

Kade erwiderte selbstbewusst den Händedruck.

Verwunderung stand Del einen Moment lang ins Gesicht geschrieben, so als hätte sie einen kraftlosen Handschlag erwartet, nur weil Kade in ihrem Salat stocherte, während Del eine Dreitausend-Kalorien-Pasta verschlang.

Es war nicht das erste Mal, dass jemand sie aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Familie falsch eingeschätzt hatte. »Also, was haben Sie mit einem meiner Fälle zu tun?« Kade wollte keine Zeit mehr mit dem Austausch höflicher Floskeln verschwenden.

Del legte ihre Gabel beiseite. »Ich bin in der Nacht, als Dawn Kinsley vergewaltigt wurde, mit ihr in dem Nachtclub gewesen. Ich will, dass Sie mich in den Zeugenstand rufen, damit ich aussagen kann, dass sie nie mit Garret Ballard gesprochen hat.«

Kade entfaltete langsam ihre Serviette und drapierte sie auf ihrem Schoß. Del Vasquez war also lesbisch … oder eine heterosexuelle Frau, die sich gerne in Lesbenbars aufhielt. Sie musterte die Polizistin. Mit ihrer stämmigen, athletischen Figur, den kantigen Gesichtszügen und ihrem kurzen, schwarzen Haar war Del Vasquez nicht gerade der Inbegriff einer femininen, heterosexuellen Frau. Hör auf mit deinen Vorurteilen.

»Warum fragen Sie nicht einfach?«, sagte Del.

»Was?« Kade starrte sie an.

Del grinste. »Sie fragen sich gerade, ob ich lesbisch bin. Wenn Sie das wissen wollen, können Sie mich einfach fragen.«

Kade war eine solche Direktheit nicht gewohnt. Höfliches Schweigen und Tratschen hinter dem Rücken anderer waren in ihren Kreisen verbreiteter. Sie ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken und bedachte Del mit einem durchdringenden Blick. »Na schön«, sagte sie und zwang sich, ihr weiter in die Augen zu sehen. »Sind Sie mit Dawn Kinsley in die Lesbenbar gegangen, weil Sie lesbisch sind?«

»Ich bin mit ihr hingegangen, weil ich Zeit mit ihr verbringen wollte«, antwortete Del. »Aber ja, ich bin lesbisch.«

Einen Moment lang musste Kade ihre beiläufige Offenheit ganz einfach bewundern, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fall. »Und woher kennen Sie Dr. Kinsley?«

»Falls das Ihre politisch korrekte Art ist, mich zu fragen, ob ich etwas mit ihr am Laufen habe, lautet die Antwort Nein. Ich bin eine alte Freundin der Familie. Ihr Vater war mein Partner, bevor er ums Leben kam.«

Kade beugte sich vor. »Wenn ich Sie in den Zeugenstand rufe, wird der gegnerische Anwalt in Dr. Kinsleys Liebesleben herumstöbern … und auch in Ihrem. Sind Sie bereit dazu?«

Del reckte das Kinn. »Ich werde alles tun, was notwendig ist, um diesen Bastard hinter Gitter zu bringen.«

Ihre Loyalität war beeindruckend, aber sie warf auch neue Fragen auf. »Wenn Sie so entschlossen sind, Ballard hinter Schloss und Riegel zu bringen, warum haben Sie dann nicht schon früher angeboten, auszusagen?«

»Das habe ich. Dawn hat sich geweigert. Sie wollte mich nicht in diese unschöne Verhandlung mit hineinziehen und ich habe ihre Wünsche respektiert.«

»Warum kommen Sie dann jetzt zu mir?«, fragte Kade.

»Tja, so wie der Fall im Moment läuft … Nehmen Sie’s nicht persönlich. Sie sind eine erstklassige Staatsanwältin, aber mir behagt es nicht, dass jetzt so viel von Dawns Aussage abhängt.« Del sah sie an, ohne die Sorge in ihren dunklen Augen zu verbergen.

Kade akzeptierte diese Erklärung mit einem Nicken. »Sind Sie öfter mit Dr. Kinsley in die Bar gegangen?«

Del schüttelte den Kopf. »Wir sind beide keine Stammgäste. Ein paar Freundinnen haben sie an jenem Abend überredet, mitzugehen und ich habe sie begleitet, weil ich ahnte, dass sie Dawn im Stich lassen würden, sobald ein paar attraktive Mädels mit einem Bier winken.«

»Und? Haben sie Dawn im Stich gelassen?«

»Nein. Ich habe es getan.« Del nahm einen großen Schluck Wein, als versuchte sie, einen bitteren Geschmack loszuwerden.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Kade in dem Tonfall, den sie benutzte, um zögerliche Zeugen zum Sprechen zu bringen.

»Ich bin vor Dawn gegangen, weil mir der Rauch und das grelle Licht im Nachtclub auf die Nerven gingen.« Del leerte mit abrupten Bewegungen ihr Glas.

»Selbst wenn Sie Dr. Kinsley persönlich nach Hause begleitet hätten, es hätte nichts geändert«, sagte Kade und gab dem plötzlichen Drang nach, Del zu trösten.

Del stocherte in ihrer Pasta. »Ich weiß.« Sie seufzte. »Aber zumindest hätte ich dann aussagen können, dass Dawn kein einziges Wort mit Ballard gewechselt hat. Jetzt kann ich das nicht bestätigen.«

»Aber Sie können aussagen, dass Dr. Kinsley nicht mit Ballard gesprochen hat, als sie den Club betrat. Das ist besser als nichts. Und wenn Sie wirklich eine alte Freundin der Familie sind, können Sie auch bestätigen, dass Dr. Kinsley lesbisch ist und sich nicht auf einen One-Night-Stand mit einem Mann einlassen würde.«

Del nickte.

»Na schön.« Kade schob ihren noch immer vollen Teller beiseite und nahm einen Notizblock aus der Tasche. »Dann lassen Sie uns die Fragen durchgehen, die ich Ihnen im Zeugenstand stellen werde.«

Als sie eine Stunde später das Restaurant verließen, bestand Del darauf, Kade zu ihrem Auto zu begleiten.

Kade setzte sich hinter das Steuer und nickte ihr zu, bevor sie die Hand ausstreckte, um die Tür zu schließen.

»Ach, Frau Staatsanwältin?« Del wartete, bis Kade sie ansah. »Nächstes Mal«, sagte sie und zeigte auf den Autoschlüssel, der im Zündschloss steckte, »zielen Sie besser auf die Augen.«

Ein Klopfen am Fenster der Fahrertür brachte Kade zurück in die Gegenwart. Sie zuckte zusammen und wirbelte herum, die Faust um die Autoschlüssel gekrampft.

Ein Sicherheitsbeamter stand vor ihrem Auto. Er bedeutete ihr, das Fenster zu öffnen. »Ist alles in Ordnung, Ma’am? Sie sitzen schon eine ganze Weile da, ohne sich zu rühren, und …«

»Alles bestens«, sagte Kade. Wie peinlich, dass er sie beim Tagträumen ertappt hatte.

»Dann ist ja gut.« Er trat einen Schritt zurück. »Ich wollte nur sichergehen.«

»Das weiß ich zu schätzen. Gute Nacht.« Sie schloss das Fenster und schob den Schlüssel ins Zündschloss. »Es wird kein nächstes Mal geben, Del Vasquez«, sagte sie und startete den Wagen.

KAPITEL 3

Als Dawn die kleine Büroküche betrat, saß ihre Kollegin Janet am Tisch und aß mit genießerischem Gesichtsausdruck ein Stück Käsekuchen. Dawn durchsuchte die Schränke nach Tee. »Schwerer Fall?«

»Sind sie das nicht alle?«, murmelte Janet mit vollem Mund.

Dawn zuckte mit den Schultern und setzte sich zu ihr an den Tisch, während sie darauf wartete, dass ihr Teewasser kochte.

»Und wieso läufst du den ganzen Morgen über mit einem Dauergrinsen durch die Gegend?«, fragte Janet, als der letzte Krümel Käsekuchen in ihrem Mund verschwunden war.

Dawn lächelte. Weil ich den ganzen Sonntag mit der wunderbaren Aiden Carlisle im Bett verbracht habe. Aiden und ihre Kollegen hatten den Vergewaltiger, den sie am Samstag verhaften wollten, noch immer nicht geschnappt. Als sie seine Wohnung erreichten, war er bereits verschwunden. Lieutenant Swenson hatte ihre Leute nach Hause geschickt, weil sie im Moment ohnehin nichts tun konnten. So hatten Aiden und Dawn zum ersten Mal seit Wochen den ganzen Tag miteinander verbringen können. »Wieso? Ist es nicht erlaubt, montagmorgens zu lächeln?«

Janet drohte ihr mit der Gabel. »Die Taktik wirkt bei mir nicht.«

Dawn setzte ihre unschuldigste Miene auf. »Welche Taktik?«

»Eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten«, sagte Janet. »Ich lasse meine Patienten nicht damit davonkommen und dir erlaube ich es auch nicht.«

Dawn rührte Zucker in ihren Tee. »Keine Gefälligkeiten unter Kollegen?«

»Nö.« Janet grinste sie an. »Sag schon, wer ist der neue Kerl?«

Dawn erstarrte, die Teetasse auf halbem Weg zum Mund. »Welcher neue Kerl?« Sie hatte geglaubt, Janet wüsste, dass sie mit einer Frau zusammen war. Hatte Janet sie nicht genau aus diesem Grund gefragt, ob sie in ihre Praxis mit einsteigen und die jugendlichen Patienten übernehmen wollte, die nicht mit ihrer sexuellen Orientierung klarkamen?

»Du tust es schon wieder … Eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten«, sagte Janet. »Glaub nicht, ich hätte es nicht bemerkt. Also?«

Oh, Mann. Dawn hatte erst seit vier Monaten wieder Kontakt mit ihrer Kommilitonin. Zwischen den Sitzungen hatten sie wenig Zeit zum Reden, aber wenn sie welche fanden, dann sprachen sie meist über die Arbeit. Deshalb glaubte Janet wohl, Dawn verabredete sich nur mit Männern, so wie das zu Unizeiten noch gewesen war.

»Komm, gib’s zu«, sagte Janet. »Es ist dieser gutaussehende Detective, der hier ständig rumhängt.«

Dawn blinzelte. Redete sie etwa von Ray, Aidens Partner? »Ja, ich bin mit einem gutaussehenden Detective zusammen, aber …«

Janet stöhnte. »Du hast doch sicher den Ring an seinem Finger bemerkt, oder?«

»Detective Bennets Ehefrau hat nichts von mir zu befürchten. Ich bin an seiner Partnerin interessiert.«

»An seiner P…« Janet riss die Augen auf. »Du meinst …? Du …?«

»Ich liebe Aiden Carlisle.« Sie hielt die Luft an, während sie auf Janets Reaktion wartete.

Janet saß da und schüttelte benommen den Kopf. Schließlich lächelte sie. »Also hast du endlich herausgefunden, warum du in deiner Ehe nicht glücklich warst, was?«

»Das ist einer der Gründe, ja«, sagte Dawn.

»Tja, wenn das so ist …« Janet erhob sich, schob ihren Stuhl zurück und kniete vor Dawn nieder.

Dawn umklammerte ihre Teetasse, bis ihre Knöchel weiß anliefen. »Was machst du da?«

Janet lachte. »Keine Bange. Ich will dir keinen Heiratsantrag machen. Ich bitte dich nur um einen Gefallen.«

»Weißt du, Leute wie du sind schuld daran, dass alle glauben, Psychologen wären selbst ein wenig durchgeknallt.« Dawn gab ihr einen sanften Schubs. »Steh auf, du Nuss. Was für einen Gefallen meinst du?«

Janet richtete sich auf. »Auf dem Weg zur Küche habe ich einen Blick auf meine neue Patientin im Wartezimmer geworfen.«

»Eine Patientin wartet auf dich und du sitzt hier, isst Käsekuchen und fragst mich über mein Liebesleben aus?«

»Sie ist eine halbe Stunde zu früh dran«, sagte Janet.

Dawn kannte diese Machtspielchen nur zu gut. Zu früh oder zu spät zu kommen – oder gar nicht aufzutauchen – waren oft Versuche eines Patienten, der Therapeutin zu zeigen, wer die Kontrolle über ihre Sitzungen hatte.

»Mrs. Phillips sagt, ihre Mutter hat sie vorbeigebracht und sah aus, als wäre sie froh, sie für eine Weile los zu sein«, sagte Janet.

»Ein rebellischer Teenager also?«

»Rebellischer geht’s nicht«, sagte Janet. »Lederjacke, Tätowierung, Daumenring, das volle Programm. Und ich habe so das Gefühl, dass sie sich auch mehr für deinen Schatz als für Detective Bennet interessieren würde.«

Dawn feixte. »Das ist reichlich klischeehaft gedacht.«

»Vielleicht. Aber ich bin lieber vorsichtig. Wie du sicher weißt, haben Studien gezeigt, dass Therapien mit homosexuellen Patienten effektiver sind, wenn der Therapeut ebenfalls homosexuell ist.«

»Sagst du das, weil du in der Küche bleiben und noch ein Stück Käsekuchen essen willst, statt dich mit einem rebellischen Teenager abgeben zu müssen?« Dawn sah sie gespielt streng an.

»Nein. Ein Stück Käsekuchen reicht mir. Einige von uns suchen schließlich immer noch den Mann fürs Leben.« Janet tätschelte sich den Bauch. »Aber mal im Ernst, ich habe wirklich das Gefühl, dass du mit dieser besonderen Patientin besser zurechtkommen würdest. Hast du Zeit, sie zu übernehmen?«

Dawn sah auf die Uhr. Normalerweise würde Ms. Clantons Sitzung in wenigen Minuten beginnen, aber die Patientin war vor Kurzem weggezogen. Dawn hatte noch keinen neuen Klienten angenommen, sie hatte also genug Zeit für ein Erstgespräch mit der Jugendlichen. »Na schön. Wenn das Mädchen einverstanden ist, nehme ich sie dir ab.«

»Danke.« Janet lächelte. »Vielleicht esse ich ja doch noch ein zweites Stück Käsekuchen.«

»Es ist also alles in Ordnung zwischen uns?«, fragte Dawn und musterte ihre Kollegin. »Es macht dir nichts aus, dass ich …?«

»Dass du lesbisch bist?«

Dawn nickte.

»Es kommt ein bisschen überraschend, aber wenn ich es mir recht überlege … Ich kann mir dich gut mit einer Frau vorstellen und diese Polizistin sieht nicht schlecht aus.«

»Nein, tut sie nicht.« Ein Bild von Aidens hochgewachsenem, muskulösem Körper, ihren markanten Gesichtszügen und ihren sanften bernsteinfarbenen Augen ging ihr durch den Kopf. Sie stellte ihre leere Tasse in die Spülmaschine und ging sich das Patientenformular von Mrs. Phillips, ihrer Sekretärin, holen.

Der Name Evan Whitfield stand ganz oben. Aus dem Geburtsdatum schloss sie, dass ihre neue Patientin sechzehn war. In der Zeile, in der sie die Art ihrer Probleme angeben sollte, hatte das Mädchen »Seelenklempner« eingetragen. Die Namen im Feld für vorherige Therapieerfahrungen lasen sich wie eine Liste der bekanntesten Psychologen Portlands.

»Herzlichen Dank, Janet«, murmelte Dawn. Sie straffte die Schultern und ging zum Wartezimmer. »Ms. Whitfield?«

Die einzige Patientin im Wartezimmer sah nicht auf. Das dunkelhaarige Mädchen wippte mit dem Kopf im Takt der lauten Musik, die aus ihren Kopfhörern dröhnte.

Dawn ging auf sie zu und zog einen der Ohrknöpfe heraus.

»Hey!« Das Mädchen sprang auf und funkelte Dawn an. Sie trug ihre schwarzen Haare in einem lässigen Kurzhaarschnitt. Nur der Pony war etwas länger und fiel ihr rebellisch in die Augen. Sie war schon jetzt größer als Dawn und genoss es offensichtlich, auf sie herabschauen zu können.

»Hallo, Ms. Whitfield.« Dawn hielt ihr die Hand hin. »Ich bin Doktor Kinsley.«

Evan ignorierte ihre ausgestreckte Hand und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Und?«

»Kommen Sie doch mit in mein Büro und setzen Sie sich«, schlug Dawn vor, ohne auf den herausfordernden Tonfall zu reagieren.

»Setzen? Ich dachte immer, man muss sich auf die Couch legen.« Evan grinste, aber zumindest folgte sie Dawn, als diese zu ihrem Büro ging.

»Wenn Sie das vorziehen würden, okay, aber ich persönlich sehe meinen Mitmenschen gerne in die Augen, wenn ich mit ihnen spreche.«

Das Mädchen antwortete nicht. Sie schob die Hände in die Taschen ihrer Schlabberjeans und sah sich im Büro um.

Dawn verkniff sich ein Lächeln. Ihr Büro war sicher nicht, was Evan erwartet hatte. Es hatte nur wenig mit den tadellos aufgeräumten, sterilen Büros anderer Psychologen gemein. Auf ihrem alten, zerkratzten Schreibtisch stapelten sich Papierberge neben Spielzeug, Schokolade und gerahmten Fotos. Ihre Diplomurkunden hingen Seite an Seite mit Kinderzeichnungen. »Warum setzen wir uns nicht?«

Evan umrundete einen gelben Sitzsack und ließ sich auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch fallen, sodass Dawn auf der anderen Seite sitzen musste, mit dem Schreibtisch als Barriere zwischen ihnen.

Dawn setzte sich und musterte das Mädchen. Die meisten ihrer Patienten erwarteten, dass sie sofort damit begann, ihnen Fragen zu stellen, und sie versuchten angestrengt, die unangenehme Stille zu füllen. Sie hatte die Macht des Schweigens schon vor langer Zeit zu schätzen gelernt, deshalb saß sie nur da und betrachtete Evans lange Beine, die sie lässig von sich weggestreckt hatte, das markante Kinn, die Lederjacke und den wachsamen Blick der braunen Augen. Meine Güte! Ihre neue Patientin sah aus wie eine jüngere Version von Aiden.

Sie starrte Evan einen weiteren Moment lang an, bevor sie sich zusammenriss. Komm schon. Man möchte meinen, du wärst endlich über diese total verknallte Phase hinweg, in der dich alles und jeder an Aiden erinnert. Konzentrier dich auf die Arbeit! Sie räusperte sich. »Warum erzählen Sie mir nicht ein wenig von sich?«

Evan sah weiterhin aus dem Fenster, als hätte sie Dawn nicht gehört.

Deshalb hatte sie also so viele Therapeuten gehabt. Sie hatte sich geweigert, mit ihnen zu sprechen.

»Okay, ich habe verstanden, was Sie mir signalisieren. Sie wollen nicht hier sein.«

»Verdammt richtig, Doc!«

Dawn reagierte nicht auf das Fluchen oder die Abkürzung ihres Titels. »Aber wir sind nun mal hier. Warum lassen wir nicht die kindischen Spielchen und unterhalten uns wie Erwachsene?«

Einen Moment lang glommen Überraschung und widerwilliger Respekt in den Augen des Mädchens auf. Dann setzte sie wieder ihre Maske des zornigen Teenagers auf. »Erlaubt man Ihnen wirklich, so mit Patienten zu reden?«

»Man?«

»Die Leute vom Ethikkomitee«, sagte Evan. Ihre Worte stellten eine unausgesprochene Drohung dar.

Wie lange war sie wohl von einem Therapeuten zum nächsten geschoben worden, um in ihrem Alter schon über das Ethikkomitee Bescheid zu wissen? »Man möchte, dass ich meine Wortwahl meinen Patienten anpasse, damit sie sich wohler dabei fühlen, mit mir über ihre Probleme zu sprechen.«

»Ich habe kein Problem«, brüllte Evan. »Ich bin nicht verrückt! Ich brauche keinen Seelenklempner!«

»Gut, dass ich keiner bin«, antwortete Dawn sanft. »Ich bin Psychologin. Ich arbeite mit Menschen, die mit einigen Aspekten ihres Lebens nicht zufrieden sind.«

Ein Tritt traf ihren Schreibtisch. »Wer sagt, dass ich nicht mit meinem Leben zufrieden bin?«

»Warum schreien Sie dann?« Dawn sprach absichtlich ruhig, um den Unterschied in ihrem Kommunikationsstil zu betonen. In Wirklichkeit machte es ihr nichts aus, wenn Evan herumschrie, solange sie nur mit ihr redete. Manche Patienten hatten ihr im Flüsterton ihre schmerzhaftesten Geheimnisse verraten, während andere ihren Schmerz herausgeschrien hatten. In Evans Fall bedeutete es, dass sie erfolgreich die lässige, gelangweilte Fassade durchbrochen und die darunter brodelnden Emotionen erreicht hatte.

»Ich schreie doch …«, schrie Evan, hielt dann inne und senkte die Stimme. »Ich schreie nicht. Ich will nur nicht hier sein.«

»Ich weiß. Aber da wir trotzdem hier sind, lassen Sie uns doch einfach versuchen, das Beste daraus zu machen.«

Evan verdrehte die Augen und weigerte sich zu antworten.

»Also«, sagte Dawn, »wessen Idee war es, Sie zu mir zu schicken?«

Evan ignorierte sie.

»War es Ihre Mutter?«, fragte Dawn.

»Sie ist nicht meine Mutter!« Evans lange Beine spannten sich an, als wollte sie gleich aufspringen.

Treffer. »Ach nein?«, fragte Dawn in neutralem Ton.

»Nein.« Evan umklammerte die Armlehnen, als müsste sie sich zwingen, sitzen zu bleiben.

Ein Themenwechsel war angesagt, sonst würde ihre neue Patientin davonlaufen und nie wiederkommen. »Bevor wir anfangen, sollte ich noch erwähnen, dass unsere Sitzungen unter Schweigepflicht stattfinden. Falls Sie mir nicht gerade ankündigen, sich oder jemand anderen verletzen zu wollen, werde ich nichts, was wir hier drin besprechen, an Ihre Familie, Ihre Lehrer oder sonst wen weitergeben.«

Evan schnaubte. »Klar. Als ob ich das glauben würde.«

»Gibt es einen bestimmten Grund für Ihr Misstrauen?«, fragte Dawn.

Evan musterte sie kühl. »Vielleicht mag ich Sie einfach nicht.«

»Hören Sie, Ms. Whitfield.« Sie stoppte sich. Evan zu siezen und mit dem Nachnamen anzusprechen, fühlte sich nicht richtig an. Es war eine weitere Barriere, hinter der Evan sich verstecken konnte, und das wollte sie nicht zulassen. »Kann ich dich Evan nennen?«

Evan grinste verwegen. Einen Moment lang war Dawn wieder an Aiden als Teenager erinnert, so wie ihre Mutter sie in dem Bild im Schlafzimmer gemalt hatte. »Nur, wenn ich dich …« Evan reckte den Hals, um den Namen auf der Diplomurkunde an der Wand lesen zu können. »Dawn nennen kann.« Sie hielt Dawns Blick stand und rechnete offensichtlich damit, dass Dawn ihre Frage zurücknahm.

Dawn zögerte, beschloss dann aber, dass sie mit ihren üblichen Methoden nicht weiterkam. »Einverstanden.«

Wieder zeigte sich Überraschung auf Evans Gesicht, bis sie ihre Gefühle rasch verbarg.

»Unter einer Bedingung«, fügte Dawn hinzu.

Evan stöhnte. »Ich hätte es wissen müssen. Welche Bedingung?«

»Du kannst mich duzen, wenn du es mit demselben Respekt tust, den ich dir entgegenbringe.«

Evan starrte sie an. »Sie sind ein ziemlich seltsamer Seelenklempner, Doc.«

Doc. Nicht Dawn. Und sie siezt mich weiterhin. Ihre neue Patientin wollte sie nicht mit Respekt behandeln. »Was ich eben über meine Schweigepflicht gesagt habe … das habe ich ernst gemeint. Falls du nicht gerade dich oder andere in akute Gefahr bringst, werde ich nichts, was du mir anvertraust, weitererzählen.«

»Ja, ja.« Evan lehnte sich mit gelangweilter Miene zurück.

»Du kannst es ja testen.«

Evan sah auf. »Was?«

»Wenn du mir nicht glaubst, kannst du mich testen. Erzähl mir irgendetwas über dich. Wenn deine … die Frau, die dich hergebracht hat, dich nicht deswegen ausschimpft, wirst du wissen, dass du mir vertrauen kannst.«

Evan kniff die Augen zusammen. Dann kräuselten sich ihre Lippen zu einem Grinsen. »Sie wollen etwas über mich wissen? Wie wäre es hiermit: Bevor ich herkam, hab ich ein Mädchen gevögelt. Ist das persönlich genug für Sie?«

Dawn zwang sich, nicht darauf zu reagieren. Herzlichen Glückwunsch, Janet. Dein Gaydar funktioniert bestens. »Die Frau, die nicht deine Mutter ist, weiß also nichts von dieser Beziehung?«, fragte sie.

»Wer sagt, dass es eine Beziehung ist?« Evan sah sie herausfordernd an.

»Ist es nicht?« Offensichtlich wollte Evan sie schocken, aber Dawn war nicht sicher, ob sie wirklich mit einem Mädchen geschlafen hatte oder nur angeben wollte.

Evans Lederjacke knarrte, als sie die Arme hinter dem Kopf verschränkte und sich zurücklehnte. »Ich will nur meinen Spaß haben. Ich stehe nicht auf Beziehungen.«

»Wieso nicht?«

»Warum sollte ich die ganze Kuh kaufen, wenn ich nur die Milch will?«

Dawn beugte sich vor, um die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. »Lass uns versuchen, uns nicht hinter solch lahmen Sprüchen zu verstecken, während du hier bist, okay?«

Evan warf ihr einen finsteren Blick zu, senkte die Arme und verschränkte sie vor der Brust.

»Die Frau, die dich hergebracht hat … Wer ist sie?«, fragte Dawn, in der Hoffnung, dass Evan die Frage jetzt, da sie angefangen hatte, mit ihr zu sprechen, beantworten würde.

Evan studierte ihre Fingernägel.

Na schön. Dann eben anders. »Sie ist nicht der One-Night-Stand, den du eben erwähnt hast, oder?«

Eine schwarze Haarsträhne fiel Evan ins Gesicht, als ihr Kopf herumruckte. »Sind Sie verrückt? Was sollte ich denn mit so einer nervigen alten Tussi wollen?«

Ich schätze, das heißt dann nein. Dawn sah sie nur an und wartete.

Evan hielt ihrem Blick eine Minute lang stand, bevor sie aufgab. »Sie ist Pflegemutter Nummer siebenunddreißig.«

Das war sicher eine Übertreibung, aber Dawn verstand, was es bedeutete. Evan war in diversen Pflegefamilien aufgewachsen. Ihr rebellisches Auftreten war nur ein Versuch zu verstecken, wie einsam und zurückgewiesen sie sich wirklich fühlte.

»Wie lange lebst du schon in ihrer Familie?«

Ein lässiges Schulterzucken. »Eine Weile.«

»Und was ist so schrecklich daran?«, fragte Dawn.

Evan sah sie mürrisch an. »Ich hab nie behauptet, dass es schrecklich ist.«

»Du hast sie eine nervige alte Tussi und Pflegemutter Nummer siebenunddreißig genannt, statt sie beim Namen zu nennen«, sagte Dawn. »Das klingt nicht gerade, als ob eure Beziehung sonderlich herzlich wäre.«

Gab es überhaupt jemanden in Evans Leben, den sie sich zu mögen gestattete? Dawn fragte sich, was sie dazu veranlasst hatte, sich ihren Mitmenschen zu verschließen.

»Sie nervt einfach.« Evan zupfte an einem Riss in ihrer Jeans herum.

»Was genau macht sie denn, das dich nervt?«

»Alles!«

Das können ja lange fünfzig Minuten werden. Dawn unterdrückte ein Seufzen. »Kannst du ein Beispiel nennen?«

»Ständig nörgelt sie wegen der Schule, wegen meiner Klamotten und meiner Freunde.«

»Darüber streitet doch jeder Teenager mit seinen Eltern«, sagte Dawn.

»Sie sind nicht meine Eltern!«

Dawn musterte sie in dem Wissen, dass ihre nächste Frage wahrscheinlich nicht beantwortet werden würde. Aber sie musste es trotzdem versuchen. »Kann ich fragen, warum du nicht bei deinen biologischen Eltern lebst?«

»Sie können fragen«, sagte Evan. »Aber das heißt nicht, dass ich antworten werde.«

»Ich weiß, dass das ein schwieriges Thema für dich sein muss …«

»Sie wissen gar nichts!« Evan sprang auf. Ihr Stuhl kippte um. »Sie wissen gar nichts von mir!« Sie tigerte wie ein gefangenes Raubtier im Büro auf und ab.

Dawn blieb sitzen. »Du hast recht. Und genau aus diesem Grund muss ich dir Fragen stellen. Ich muss dich etwas kennenlernen, bevor ich dir helfen kann. Würdest du jetzt bitte den Stuhl aufheben und dich wieder setzen?«

Evan hielt inne, um sie anzufunkeln.

»Bitte.« Dawn zeigte auf den Stuhl, ihre Stimme sanft, aber ihr Blick unnachgiebig.

Evan hob den Stuhl auf, setzte sich aber nicht. Sie blieb hinter dem Stuhl stehen und umklammerte mit beiden Händen die Lehne. »Wie kommen Sie auf die Idee, dass sie einem hoffnungslosen Fall wie mir helfen können, wenn all die anderen Seelenklempner es nicht geschafft haben? Halten Sie sich für die Mutter Teresa der Psychologie oder was?«

Dawn konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. Evan war intelligenter, als sie sich anmerken ließ. Vermutlich hätte sie eine Einser-Schülerin sein können, aber das hätte natürlich ihr toughes Image ruiniert. »Weil ich nicht glaube, dass du ein hoffnungsloser Fall bist. Du bist eine intelligente junge Frau und du willst, dass ich dir helfe.«

Evan schnitt eine Grimasse. »Sie leiden an Wahnvorstellungen, Doc. Wer sagt, dass ich Ihre Hilfe will? Die Art, wie ich Ihre Büromöbel behandle?« Sie stieß Gelächter aus, das frei von jeglichem Humor war.

»Nein. Die Tatsache, dass du geblieben bist und dreißig Minuten lang mit mir gesprochen hast.« Dawn drehte die kleine Uhr auf ihrem Schreibtisch herum, sodass Evan sie lesen konnte.

Evan starrte auf die Uhr. Ihre Augen weiteten sich panisch, als sie bemerkte, dass sie in der Tat während der letzten halben Stunde in ein Gespräch verstrickt worden war.

»Jetzt, wo wir festgestellt haben, dass du kein hoffnungsloser Fall bist und ich nicht der Feind bin, glaubst du, wir können einander eine Chance geben und versuchen, miteinander zu arbeiten?« Dawn hielt ihr erneut die Hand hin.

Evan ignorierte die Geste erneut, aber sie setzte sich wieder. »Wenn ich bleibe, dann nur, weil mir langweilig ist. Im Fernsehen läuft nichts, was mich interessiert, und mir ist gestern das Gras ausgegangen.«

Dawn lächelte nur. Sie würde später mit Evan über ihren Drogenkonsum reden. »Dann erzähl mir mal von Pflegemutter Nummer siebenunddreißig. Hat sie einen Namen?«

KAPITEL 4

Del schob den Papierkram auf ihrem Schreibtisch beiseite und griff nach dem Telefon. Zwar hatte sie noch jede Menge zu tun, bevor sie Feierabend machen konnte, aber sie hatte ihrer besten Freundin, Grace, seit zwanzig Jahren zu jedem Geburtstag Blumen geschickt und sie wollte mit dieser Tradition nicht brechen, ganz egal, wie beschäftigt sie war. »Hallo, Tina. Hier spricht Del Vasquez. Ich brauche einen Blumenstrauß.«

»Gerne. Sollen es wieder Rosen sein?«

Wieder? Scheinbar stand sie im Ruf, ständig Rosen zu bestellen. »Ja, aber diesmal gelbe, bitte.«

»Geht klar. Was soll ich auf die Karte schreiben?«

Del dachte einen Moment lang darüber nach. »Schreib einfach: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Alles Liebe, Del.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, drehte sie ihren Bürostuhl, sah aus dem Fenster und dachte an das letzte Mal, als sie einer Frau Blumen gekauft hatte.

Fünf Monate zuvor

»Wir sollten wirklich aufhören, uns hier zu treffen.« Del stieß sich von Kades BMW ab und trat in den Schein der flackernden Neonlichter der Tiefgarage, bewaffnet mit ihrem charmantesten Lächeln und einem Strauß langstieliger Rosen.

Kades Schritt stockte. Sie bedachte Del und die Rosen mit einem misstrauischen Blick. »Lieutenant.«

Del trat näher und hielt ihr den Blumenstrauß hin. »Die sind für Sie.«

Kade machte keine Anstalten, die Blumen entgegenzunehmen. Sie schob eine Strähne ihres roten Haares hinters Ohr und betrachtete Del stirnrunzelnd.

»Sie sind nicht rot«, sagte Del.

»Was?«

»Die Rosen. Sie sind nicht rot. Wahrscheinlich können Sie es in dem schlechten Licht hier unten nicht sehen, aber sie sind rosa.«

Kade winkte ab, als wäre die Farbe der Rosen ihr egal. »Warum bringen Sie mir Blumen, Lieutenant?«

»Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie Dawns Fall gewonnen haben. Deshalb auch die rosafarbenen Rosen. Rosa steht für Dankbarkeit und Bewunderung.«

Sie versuchte erneut, ihr die Blumen zu geben, aber Kade wollte sie noch immer nicht annehmen. »Das ist wirklich nett von Ihnen, aber Sie haben mir bereits gedankt, als Sie mir nach der Verhandlung einen Drink spendiert haben. Blumen sind nicht nötig. Ich werde dafür bezahlt, dass ich meine Arbeit mache.«

Del bedachte sie mit einem geduldigen Lächeln und entschied, dass es an der Zeit war, es mit einer anderen Taktik zu versuchen. »Wenn Sie sie nicht als Dankeschön für Ihre gute Arbeit annehmen wollen, dann sehen Sie es als Zeichen meiner persönlichen Bewunderung.« Sie verbeugte sich leicht, in der Hoffnung, Kade zum Lachen zu bringen.

»Wir sollten einige Dinge klarstellen, Lieutenant.«

Del neigte den Kopf. »Welche Dinge wären das?«

»Ich möchte nicht, dass Sie die Situation fehlinterpretieren, deshalb sollte ich Ihnen vermutlich sagen, dass ich heterosexuell bin«, sagte Kade.

Diese Offenbarung überraschte Del nicht, aber sie verminderte ihre Bewunderung auch nicht. »Mögen heterosexuelle Frauen denn keine Blumen?«

Einen Moment lang starrte Kade sie an. »Doch, natürlich«, sagte sie. Sie sprach so vorsichtig und präzise, als müsste sie sich konzentrieren, um nicht zu stottern.

»Gut.« Del drückte ihr den Strauß Rosen in die Hand.

»Autsch!« Kade sah auf ihre Hand hinab. Ein Dorn hatte sich in ihren Daumen gebohrt, dort quoll nun ein winziger Blutstropfen hervor.

Oh, Mist! Del sprang vorwärts, statt wie bisher respektvoll Abstand zu halten. »Lassen Sie mich mal sehen.«

Kade versteckte ihre verletzte Hand hinter dem Rücken. »Keine Sorge. Es ist keine tödliche Wunde. Ich werde Sie schon nicht wegen gefährlicher Körperverletzung verklagen.«

Del fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Gott, sie stellte sich wirklich nicht sehr geschickt an. »Bei unserem ersten Treffen erschrecke ich Sie fast zu Tode und jetzt greife ich Sie mit einem Blumenstrauß an. Das Eis ist sicher gebrochen, oder?«

»Lieutenant.« Kade hob die Hand, um die Unterhaltung zu beenden.

»Ich hoffe, Sie wissen, dass ich Sie nicht verletzen will.« Del sah direkt in Kades blaue Augen und hoffte, sie verstand, dass sie nicht nur ihren Finger meinte.

Kade kramte die Schlüssel aus ihrer Handtasche und schloss ihren Wagen auf. »Nichts passiert. Danke für die Blumen.«

»Wie wäre es, wenn wir uns mal zum Abendessen treffen?«, fragte Del, bevor Kade in ihr Auto springen und die Tür schließen konnte.

Kade legte die Blumen auf den Beifahrersitz und umklammerte das Lenkrad. »Ich bin mir nicht sicher, was Sie damit bezwecken, Lieutenant. Ich habe Ihnen doch eben gesagt, dass ich heterosexuell bin.«

»Aber Sie müssen trotzdem essen«, sagte Del.

»In regelmäßigen Abständen, ja.«

Del lächelte. Sie mochte Kades trockenen Humor. »Warum tun Sie es dann nicht mit mir? Essen, meine ich. Sie müssen mir nicht jetzt gleich antworten. Ich bin eine geduldige Frau. Denken Sie einfach darüber nach, okay?«

Kade nickte zögerlich und schloss die Fahrertür.

Del drehte den Bürostuhl wieder herum und starrte das Telefon an. Gerne hätte sie Kade einen weiteren Strauß Blumen geschickt, um ihr zu zeigen, dass sie noch immer an ihr interessiert war, aber das war keine gute Idee.

Seufzend öffnete sie die nächste Akte und machte sich wieder an die Arbeit.

KAPITEL 5

Die blau-roten Lichter zweier Streifenwagen erhellten die Nacht. Mit eingezogenem Kopf schritt Kade durch den Regen hin zu dem Haus, das heute Nacht zum Tatort geworden war.

»Guten Abend, Ms. Matheson.« Der uniformierte Beamte am Eingang überreichte ihr die Liste, um ihre Anwesenheit einzutragen, und hob dann das gelbe Absperrband für sie an.

Vor zwei Jahren hätte er sie angehalten und nach dem Ausweis verlangt, der jetzt in ihrer Handtasche steckte. Inzwischen kannten die meisten Polizisten sie und ihre Angewohnheit, an Tatorten aufzutauchen.

So war das nicht immer gewesen. Am Anfang ihrer Zusammenarbeit mit der Abteilung für Sexualdelikte hatte sie nur die Fotos der Tatorte in den Fallakten gesehen. Persönlich den Tatort zu inspizieren, war ihr unnötig erschienen. Sie hatte sich gesagt, dass es nicht ihre Aufgabe sei, mitten in der Nacht durch Pfützen zu waten. Dafür wurden schließlich ihre Detectives bezahlt.

Inzwischen, nach hunderten schwieriger und manchmal herzzerreißender Fälle, sah sie die Detectives nicht mehr länger als ihre Handlanger an. Es hatte ein wenig gedauert, aber jetzt betrachtete Kade sich und die Detectives als Teil eines Teams, als Rädchen im Justizsystem.

Sie duckte sich unter dem Absperrband hindurch und betrat das Haus.

Aiden blickte von der Leiche im Esszimmer auf. »Hallo, Kade.«

Kade musterte die Blutflecken auf dem ehemals weißen Perserteppich. »Darum hat der Bezirksstaatsanwalt es also für nötig befunden, meinen Schönheitsschlaf zu stören.« Robert Parker, der Mann, der tot am Boden lag, hatte einflussreiche Freunde. Sie betrachtete die Schusswunde auf seiner Stirn. »Sieht mir nicht nach einem Sexualverbrechen aus. Warum haben wir diesen Fall übernommen?«

»Seine Frau ist vergewaltigt worden, bevor man sie erschossen hat.« Aiden zeigte zum Obergeschoss. »Und hinten im Garten liegt noch eine Leiche. Wir haben Unterstützung von der Mordkommission.«

»Dann gehe ich mal und sage deren Staatsanwältin Hallo. Ich wette, ihr Chef hat sie ebenfalls aus dem Bett geklingelt.« Vorsichtig, um keine Beweismittel zu zerstören, betrat sie den Garten.

Draußen war nichts von Stacy Ford oder den anderen Staatsanwälten der Mordkommission zu sehen. Eine hochgewachsene Beamtin in Zivil und zwei Leute von der Spurensicherung standen über die Leiche gebeugt und versuchten, Beweise zu sichern, bevor sie vom Regen davongespült wurden. Einige Minuten später richtete sich die Beamtin auf und drehte sich um.

Kade erstarrte, als sie die Frau erkannte. Del Vasquez. Sie hatten einander seit dem Valentinstag nicht mehr gesehen. Kade schloss die Augen, als sie sich an diesen fürchterlichen Tag erinnerte.

Zwei Monate zuvor

Kade kam zu spät zu der Valentinstagsverabredung, die eigentlich gar keine Verabredung war. Jedenfalls keine romantische. Sie hatte sich nicht etwa verspätet, weil sie sich nicht entscheiden konnte, was sie anziehen würde. Sie hatte das nächstbeste Outfit gewählt, das ihr ins Auge fiel – ein schlichtes, aber elegantes blaues Kleid – und sich nicht gestattet, einen weiteren Gedanken an ihr Aussehen zu verschwenden. Zu lange darüber nachzudenken, was sie anziehen würde, hätte bedeutet, dass sie Del beeindrucken wollte und das wollte sie auf keinen Fall zugeben.

Ihre Verspätung war vielmehr das Resultat ihrer Unsicherheit. Sie hatte bis zur letzten Sekunde gezögert, bevor sie ihre Wohnung verließ. Zweimal hätte sie den Taxifahrer fast umkehren lassen. Sie war noch immer nicht sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, Del anzurufen und einem gemeinsamen Abendessen zuzustimmen. Es war einer der seltenen Spontanentschlüsse in ihrem Leben gewesen. Na ja, so spontan vielleicht doch wieder nicht, immerhin hatte es siebenundachtzig Blumensträuße und Karten von ihrem »heimlichen Verehrer« gebraucht, bis sie sich dazu durchgerungen hatte.

Dels Entschlossenheit, ihr den Hof zu machen, erschreckte sie ein wenig, aber wenn sie ehrlich war, schmeichelte es ihr auch. Man hatte sie gelehrt, ständige Bewunderung von den Männern in ihrem Leben zu erwarten, aber die Realität war bisher immer hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben. Liebe hatte nie eine Rolle in ihrem Leben gespielt. Seit ihren halbherzigen Verabredungen mit dem Sohn des Geschäftspartners ihres Vaters hatte sie keine Blumen mehr bekommen und sie musste zugeben, dass es nett war, nach einem langen Arbeitstag nach Hause zu kommen und Blumen und manchmal eine Karte auf der Türschwelle vorzufinden.

Zur gleichen Zeit hatte sie mit angesehen, wie die Freundschaft zwischen Aiden und Dawn sich zu mehr entwickelt hatte. Aiden hatte sogar Weihnachten mit den Kinsleys gefeiert und Kade war sicher, dass die beiden irgendwelche romantischen Pläne für den Valentinstag hatten, während sie nur mit ihren Fallakten und Gesetzestexten zu Hause sitzen würde.

Nein, hatte sie sich gesagt. Nicht dieses Jahr. Ohne sich zu gestatten, weiter darüber nachzudenken, hatte sie Del angerufen.

Jetzt, da sie zum Tisch geführt wurde, wo Del bereits saß, hatte sie Schmetterlinge im Bauch und versuchte, kühl und gefasst zu wirken.

Del erhob sich, als Kade näher kam. In einer einfachen, aber sauber gebügelten schwarzen Hose und einer kupferfarbenen Bluse, die vermutlich kein Markenprodukt war, sah sie entspannt aus. Das war eines der Dinge, die Kade an ihr mochte. Del verstellte sich nie; sie war immer sie selbst.

Sie versuchte nicht, den Stuhl für Kade zurechtzurücken, und akzeptierte damit stillschweigend die Regeln, die Kade während ihres Telefongesprächs aufgestellt hatte: Del durfte sie nicht abholen, die Tür nicht für sie öffnen oder das Abendessen bezahlen, denn Kade war noch nicht so weit, ihr Treffen als Date anzusehen.

Del wartete, bis Kade saß, und grinste sie dann an. »Sie sind also doch nicht umgekehrt.«

Kade umklammerte die Weinkarte. Für gewöhnlich war sie nicht so einfach zu durchschauen. Es verunsicherte sie, dass Del genau zu wissen schien, warum sie zu spät kam. »Wieso glauben Sie, ich hätte umkehren wollen? Wie Sie sehen können, bin ich hier.«

»Ja, zu meiner Überraschung und unsagbaren Erleichterung. Ich brauche nämlich jemanden, der mir all die verschiedenen Gabeln und Gläser erklärt«, sagte Del mit einem selbstironischen Lächeln.

Kade musterte sie. In ihren Kreisen hätte niemand offen zugegeben, die Regeln der oberen Zehntausend nicht zu kennen. Nie eine Schwäche einzugestehen, machte Kade zu einer guten Anwältin, aber es war wohl auch der Grund, weshalb sie keine engen Freunde hatte. Sie vertiefte sich in die Speisekarte, obwohl sie schon so oft hier gewesen war, dass sie diese fast auswendig kannte. Wenigstens hielt es sie davon ab, die Frau auf der anderen Seite des Tischs anzustarren.

Einige Minuten später kam der Kellner, um ihre Bestellung aufzunehmen. »Welchen Wein darf ich Ihnen bringen?« Er blickte zu Del, vermutlich, weil sie mindestens zehn Jahre älter als Kade war.

»Mich dürfen Sie nicht fragen«, sagte Del lächelnd. »Ich mag Wein, aber ich bin keine Kennerin. Wieso suchen Sie nicht unseren Wein aus, Ms. Matheson?«

Kade entschied sich schnell für einen Wein, überrascht über die Lockerheit, mit der Del ihr die Entscheidung überlassen hatte. Es war schon eine Weile her, seit Kade zuletzt mit jemandem ausgegangen war, aber sie erinnerte sich noch gut daran, wie ihre letzte Verabredung darauf bestanden hatte, den Wein auszusuchen, obwohl Kade überzeugt war, dass er kaum Rot- und Weißwein auseinanderhalten konnte.

Del hingegen schien es nicht nötig zu haben, sich zu beweisen.

Als der Kellner den Wein gebracht und Kade zustimmend genickt hatte, hob Del ihr Glas und stieß mit ihr an. »Trinken wir auf das Du.«

Kade zögerte, das Glas schon fast am Mund. Sie war nicht sicher, ob sie die alten, vertrauten Rollen schon aufgeben wollte.

»Ich bewundere die Staatsanwältin Matheson, aber ich würde gerne mit Kade zu Abend essen«, sagte Del.

Der unverwandte Blick verschlug Kade die Sprache. Mit Del hier zu sein, war ganz anders als jede Verabredung, die sie zuvor gehabt hatte, und das nicht nur, weil Del die erste Frau war, mit der sie je ausgegangen war. Sie war an Komplimente, Small Talk und Schmeicheleien gewöhnt, nicht an diese unverblümte Direktheit.

»Oder ziehst du Kadence vor?«, fragte Del.

Kade blinzelte. Niemand hatte sie je nach ihren Vorlieben gefragt. »Kade ist mir lieber«, antwortete sie schließlich und nahm einen Schluck Wein.

Del nickte. »Dann also Kade.« Sie berührte erneut Kades Glas mit ihrem. »Gibt es einen Grund, warum du lieber Kade als Kadence genannt werden willst?«

Kade sah hinab in die roten Tiefen ihres Weins und dann zurück in Dels Augen. »Es ist der Name, den ich mir selbst verdient habe, nicht der, den meine Eltern mir gaben.« Sie hatte den Namen Kadence geerbt, genauso wie sie ihre Investmentfonds geerbt hatte. Aber sie hatte es sich erarbeiten müssen, Kade genannt und von ihren Kollegen akzeptiert zu werden. »Und du? Willst du lieber Del oder Delicia genannt werden?«

Del verzog das Gesicht. »Ich habe ganz vergessen, dass du das D-Wort kennst.«

»Das D-Wort?« Kade musste lächeln.

»Meinen fürchterlichen Vornamen«, sagte Del.

»Wieso fürchterlich?«, fragte Kade.

Del breitete die Arme aus und schaute an sich hinab. »Sehe ich vielleicht wie eine Delicia für dich aus?«

Zum ersten Mal gestattete sich Kade, sie eingehend zu mustern. Sie ließ ihren Blick über die hochgewachsene, athletische Gestalt und die muskulösen Unterarme gleiten, die unter den hochgekrempelten Ärmeln hervorsahen. Del trug kein Make-up und brauchte es dank ihres lateinamerikanischen Teints auch nicht. Mit ihren kleinen Brüsten und den schmalen Hüften sah sie nicht wie die kurvigen Latinas aus, die Kade kannte, und ihre Gesichtszüge waren zu markant, um als hübsch zu gelten. Trotzdem musste Kade zugeben, dass sie Del attraktiv fand. »Nein«, sagte sie. »Nicht wirklich.«

Del grinste nur. Als der Kellner an den Tisch kam, gestattete sie Kade, für sie beide zu bestellen. Sie nahm die Gabel, von der Kade ihr sagte, dass sie für die Vorspeise gedacht war. »Erzähl mir ein wenig von dir.«

Kade stocherte in ihrem Feldsalat. »Was willst du denn wissen?«

»Alles.« Dels Stimme war leise und aufrichtig.

»Also, ich arbeite jetzt seit etwas mehr als zwei Jahren für die Abteilung für Sexualdelikte. Davor habe ich …«

»Ich weiß bereits so einiges über die kompetente Staatsanwältin, aber jetzt will ich die Frau dahinter kennenlernen«, sagte Del.

Kade legte ihre Gabel beiseite und fuhr sich mit der Serviette über die Lippen. »Meine Arbeit ist ein sehr wichtiger Teil meines Lebens.« Sie hatte erwartet, dass sie hauptsächlich über ihre Arbeit sprechen würden, denn immerhin gab es hier gemeinsame Erfahrungen, auf denen sie aufbauen konnten. Dels Weigerung, über Berufliches zu sprechen, verunsicherte sie.

»Die Arbeit ist ein Teil deines Lebens, sicher, aber da gibt es doch bestimmt noch viel mehr Wissenswertes über dich.«

»Ich verbringe vierzehn Stunden am Tag mit Anwälten, Polizisten und Verbrechern, was soll da denn sonst noch sein?«, fragte Kade.

Del zuckte mit den Schultern. »Du könntest mir erzählen, was du mit den restlichen zehn Stunden anstellst, welche Musik du magst, ob du Geschwister hast und nach was du in dem Mann oder der Frau fürs Leben Ausschau hältst.«

»Schlafen oder joggen gehen, Jazz, einen älteren Bruder und ich halte nicht Ausschau.« Kade zählte die Antworten an den Fingern ab.

Del starrte sie an und begann dann zu lachen. Die Leute an den Nachbartischen sahen zu ihnen herüber, aber Del beachtete sie nicht. »Du bist sehr effizient, wenn auch nicht gesprächig, das muss ich dir lassen.«

Kade grinste und griff wieder nach ihrer Gabel.

»Du joggst also?«, fragte Del.

Das Laufen war eine von Kades Spezialitäten, besonders wenn es darum ging, vor Dingen wegzulaufen, denen sie sich nicht stellen wollte. Das schloss ihr Interesse an der Frau ihr gegenüber ein. »Ja. Ich laufe jeden Morgen, egal, was passiert.« Sie versuchte, sich Dels lange, muskulöse Beine vorzustellen, die unter dem Tischtuch verborgen waren. »Joggst du auch?«

»Ich trainiere für den Polizeimarathon, aber ich habe so das Gefühl, dass ich es nicht mit dir aufnehmen kann«, sagte Del.

Kade lächelte. Es war schön, mit jemandem zu Abend zu essen, der daran glaubte, dass sie mehr Vorzüge hatte, als nur gut auszusehen. »Man weiß nie«, sagte sie grinsend.

»Es sei denn, ich gehe mal mit dir laufen und finde es heraus.« Del beobachtete sie, während sie auf ihre Antwort wartete.

»Sehr geschickt, Detective. Du versuchst doch nicht etwa, mich um eine zweite Verabredung zu bitten, noch bevor die erste vorbei ist?« Dels Hartnäckigkeit schmeichelte ihr, auch wenn sie ihr zugleich ein wenig Angst einjagte.

Del fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Weinglases. »Du sagtest, du hältst nicht nach jemandem Ausschau, aber wenn du jemanden kennenlernen würdest, der dich interessiert, würdest du der Person eine Chance geben?«

Kade seufzte. Es war ihr nicht entgangen, wie umsichtig Del es vermied, das Geschlecht der Person zu nennen. »Wir könnten Freunde sein.«