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Sternschnuppen sollen eigentlich Glück bringen, vor allem in der Vorweihnachtszeit, aber Austen erlebt das glatte Gegenteil. An ihrem ersten Tag im neuen Job soll sie den Weihnachtsbaum in der Lobby schmücken, aber Dee, die stellvertretende Chefin der Firma und ein zwanghafter Kontrollfreak, ist mit der Anordnung der Kerzen so gar nicht zufrieden. Als Dee versucht, die Kerzen neu zu arrangieren, fällt ihr prompt der Stern, der die Spitze des Baumes ziert, auf den Kopf. Dee macht ihre Kopfwunde dafür verantwortlich, dass sie sich zu Austen hingezogen fühlt. Sie ist entschlossen, ihre Gefühle zu ignorieren, vor allem auch deshalb, weil Austen keine Ahnung hat, dass Dee ihre Vorgesetzte ist.
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Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2014
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VON JAE AUSSERDEM LIEFERBAR
Vollmond über Manhattan
Cabernet und Liebe
Liebe à la Hollywood
DANKSAGUNG
Ein herzliches Dankeschön an meine Korrekturleserin, Susanne, meine Kritikpartnerin, Alison Grey, und an meine Lektorin, Kerstin Thürnau.
INHALT
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
EPILOG
KAPITEL 1
Austen klemmte sich das schnurlose Telefon zwischen Schulter und Ohr, um die Nylonstrumpfhose anziehen zu können. »Ich hasse erste Tage«, sagte sie in den Hörer.
»Ach, komm schon«, erwiderte ihre beste Freundin, Dawn. »Was ist denn so schlimm an ersten Tagen? Sie bieten doch auch einen neuen Anfang. Neues Spiel, neues Glück …«
War ja klar, dass Dawn als Psychologin das so sehen würde. »Hey, ich bezahle dich nicht für deine fabelhaften Fähigkeiten in kognitiver Umstrukturierung, darf ich mich also bitte einfach weiter beschweren?«
Dawn lachte. »Leg los.«
»An meinem ersten Tag im Kindergarten habe ich mich im Schrank meiner Mutter versteckt, damit ich nicht hingehen musste. Am ersten Tag der Grundschule musste ich mich übergeben, genau auf meine Lehrerin.«
»Klingt, als hätte die Lehrerin in dem Jahr auch keinen tollen ersten Schultag gehabt.«
»Ganz bestimmt nicht. Die Ärmste hat den ganzen Tag wie ein Iltis gestunken. Mein erster Tag in der Highschool war auch nicht viel besser.« Dazu kam, dass ihre Familie ständig umgezogen war, weil ihr Vater im Militär diente. So hatte Austen in acht verschiedenen Städten gelebt und acht erste Schultage an verschiedenen Schulen durchmachen müssen. Jedes Mal sprachen die Lehrer ihren Namen falsch aus und nannten sie Austin. »Und dann war da noch mein erster Tag bei Kalhoff Consulting, als ich noch in San Diego gelebt habe.«
»Der war wohl auch nicht so besonders, oder?«, fragte Dawn.
»Ich hatte auf dem Weg zur Arbeit einen Autounfall.«
Dawn schnappte hörbar nach Luft.
»Es ist niemand verletzt worden«, sagte Austen schnell. »Obwohl … vermutlich habe ich einen Hirnschaden davongetragen. Das würde zumindest erklären, warum ich eine Beziehung mit der Frau angefangen habe, in deren Mietwagen ich reingefahren bin. Unnötig zu sagen, dass die Beziehung auch kein gutes Ende nahm.«
»Lass mich raten. War das Brenda?«
»In Person.« Austen stellte sich vor den Spiegel im Badezimmer und warf ihrem Spiegelbild einen strengen Blick zu. Sie hatte sich geschworen, nicht mehr an Brenda zu denken und positiver in die Zukunft zu sehen. »Vielleicht wird es ja heute gar nicht so schlimm. So schlimm kann eine Firma, die Spielzeug herstellt, ja nicht sein, oder?«
»Genau. Schlimmer als die letzte Firma, in der du gearbeitet hast, kann’s nicht werden, so viel ist mal sicher. Was hast du an?«
Austen kicherte. »Weiß deine Partnerin, dass du solche Telefongespräche mit anderen Frauen führst?«
»Pah. Da ist wohl der Wunsch der Vater des Gedankens.«
Beide lachten. Austen ließ ihren Blick noch einmal über ihr Spiegelbild gleiten und lächelte sich selbst zu. In ihrem beigefarbenen Rock, der bis knapp übers Knie ging, einer dazu passenden Jacke und einer cremefarbenen Bluse, die den rötlichen Schimmer ihres Haares zur Geltung brachte, würde sie sicher einen guten ersten Eindruck hinterlassen. »Ich denke, ich sehe gut aus.«
»Prima. Dann mal auf in den Kampf. Du machst das schon.«
»Ich gebe mein Bestes. Danke, Dawn.«
»Kein Problem, ich schick dir dann die Rechnung.«
Als sie auflegten, fühlte sich Austen für ihren ersten Arbeitstag bereit. Sie bestäubte ihren Hals und ihre Handgelenke mit ein bisschen Parfüm. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte, dass sie los musste. Sie wollte den früheren Zug nehmen und überpünktlich im Büro ankommen. Sicher war sicher.
Auf dem Weg zur Tür warf sie Toby einen Kuss zu. »Drück mir die Daumen.«
»Du kannst mich mal«, krächzte der Kakadu.
Austen stöhnte. »Na, danke für die ermutigenden Worte.« Sie würde ihrem Bruder den Hals umdrehen, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Er hatte es wohl witzig gefunden, ihrem Haustier Schimpfwörter beizubringen. Sie teilte seinen seltsamen Sinn für Humor nicht.
Sie nahm ihre Handtasche, Schlüssel und einen Regenschirm von der Kommode neben der Tür und verließ das Haus. Als sie die kalten Treppenstufen, die hinaus auf den Hof führten, unter den Füßen spürte, merkte sie, dass sie keine Schuhe anhatte. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, schloss die Türe wieder auf und eilte zurück in ihre Wohnung.
»Versager«, schrie Toby.
»Ja, ja, ich weiß.« Nach minutenlanger Suche fand sie ihre sandfarbenen Pumps schließlich auf dem geschlossenen Toilettendeckel. »Wie kommen die denn da hin?« Sie zog die Schuhe an und hastete ein zweites Mal zur Tür. Wenn sie den früheren Zug nicht verpassen wollte, musste sie jetzt den ganzen Weg zur Haltestelle rennen.
Mann, wie sehr sie erste Tage hasste.
Obwohl sie sich beeilt hatte, verpasste sie den Zug um eine halbe Minute. Als sie auf die Haltestelle an der North Killingsworth Street zurannte, fuhr die Stadtbahn gerade davon.
Sie ließ sich auf eine Bank fallen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Obwohl sie einmal umsteigen musste, würde sie immer noch pünktlich zur Arbeit kommen, wenn sie den nächsten Zug nahm, immerhin befand sich die Haltestelle unmittelbar auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Kudos Entertainment.
Als sie schließlich im Lloyd District aus dem Zug stieg, regnete es. Gott sei Dank hatte sie daran gedacht, den Schirm mitzunehmen. An ihrem ersten Arbeitstag wollte sie nicht wie ein begossener Pudel aussehen. Als sie über den gepflasterten Platz vor dem Hochhaus eilte, brach ihr fast ein Absatz ab. Taumelnd kam sie vor dem Haupteingang zum Stehen, schloss den Regenschirm und betrachtete sich kurz in der Glasfassade des Gebäudes.
Sieht alles gut aus. Sie atmete tief durch und betrat die Lobby. Ihre Absätze klickten über den blitzblank geputzten Marmorboden. Sie reckte den Hals und sah sich mit offenem Mund um. Zwar hatte sie die Lobby schon gesehen, als sie zum Vorstellungsgespräch hier gewesen war, aber auch jetzt verfehlte sie nicht ihre beeindruckende Wirkung.
Regen prasselte auf das Glasdach viele Stockwerke über ihr. Trotz des trüben Winterwetters in Portland wirkte die Lobby, als wäre sie in Sonnenlicht getaucht. Farne und Topfpflanzen wuchsen in langen Steintrögen entlang zweier Seiten der Lobby und ein Brunnen plätscherte leise vor sich hin. Eine weinrote Couch verlief parallel zu einer der weißen Marmorwände.
Austen machte einen Bogen um den drei Meter hohen Weihnachtsbaum, der in der Mitte der Lobby den Geruch von Tannennadeln verbreitete. Heute war der achte Dezember, aber aus irgendeinem Grund war der Baum noch leer, ohne Weihnachtskugeln, die an seinen Zweigen hingen. Seltsam. Warum stellt man einen Weihnachtsbaum auf, wenn man ihn dann nicht schmückt? Sie zuckte mit den Schultern und ging weiter zum Empfangstresen.
Die junge Frau hinter dem Tresen sah von ihrem Computer auf. Ihr konservatives Businesskostüm schien so gar nicht zu der pinkfarbenen Strähne in ihrem ansonsten blonden Haar zu passen.
Das sah vielversprechend aus. Wenigstens war ihre neue Firma nicht so altmodisch wie die alte.
»Guten Morgen.« Die Empfangsdame lächelte ihr zu. »Was kann ich für Sie tun?« Ihr Blick glitt über Austen, die sich nur mit Mühe davon abhielt, an sich hinabzusehen, um sicherzugehen, dass sie keine Kaffeeflecken auf der Bluse oder Falten im Rock hatte.
»Guten Morgen. Mein Name ist Austen Brooks. Ich bin Mr. Saunders’ neue Assistentin.«
»Herzlich willkommen. Mr. Saunders erwartet Sie bereits.«
Austen schluckte. Sie hatte ihren neuen Chef noch nicht kennengelernt, aber sie sagte sich, dass er auch nicht schlimmer sein konnte als der letzte.
»Nehmen Sie den Aufzug hoch bis zum fünfzehnten Stock«, sagte die Empfangsdame. »Es ist das Eckbüro auf der linken Seite.«
»Danke.« Austen ging zu den Aufzügen hinter dem Empfangstresen und drückte auf den Knopf.
Während sie darauf wartete, dass sich die Türen des Aufzugs öffneten, erklangen Schritte hinter ihr. Ein verzerrtes Spiegelbild in der Stahltür zeigte ihr, dass zwei Leute, ein Mann und eine Frau, hinter ihr standen. Austen spürte ihre neugierigen Blicke im Rücken, drehte sich aber nicht um.
Die Aufzugtüren öffneten sich mit einem leisen Ping.
Austen betrat die Kabine und wich ganz bis an die Rückwand zurück, um Platz für die beiden anderen Personen zu machen.
»Welcher Stock?«, fragte der Mann, der in Jeans und Hemd gekleidet war, und sah sie fragend an.
»Fünfzehnter, bitte.«
Der Mann und die Frau, die ein schwarzes Kostüm trug, tauschten kurze Blicke aus, ehe er auf den Knopf für das oberste Stockwerk drückte.
»Hat die Chefetage endlich eine neue Assistentin für Ms. Saunders eingestellt?«, fragte die Frau.
Ms. Saunders? Austen hatte angenommen, sie würde für Mr. Saunders arbeiten, den Leiter der Marketingabteilung. Zur Vorbereitung auf ihr Vorstellungsgespräch hatte sie sich die Webseite der Firma angesehen. Laut Organigramm hieß ihr Chef Timothy Saunders. Oder hatte sie sich verlesen und da hatte in Wirklichkeit Timothea gestanden? Aber die Empfangsdame hatte doch auch Mr. Saunders gesagt, oder nicht?
»Ich bin Assistentin«, sagte Austen. »Aber …«
»Na, dann mal viel Glück für Ihren ersten Tag«, sagte die Frau. »Ich bin sicher, Sie machen das großartig. Lassen Sie sich nur nicht von all den Gerüchten abschrecken.«
»Gerüchte?« Das klang nicht gerade vielversprechend. »Was für Gerüchte denn?«
Die zwei Angestellten sahen sich an, während der Aufzug nach oben fuhr.
»Na ja, es wird gemunkelt, ihre letzte Assistentin hätte sich umgebracht«, sagte die Frau im Flüsterton. »Ist eines Tages einfach aus dem Fenster im fünfzehnten Stock gesprungen.«
»Ich dachte, das wäre ihre vorletzte Assistentin gewesen?«, sagte der Mann.
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Ich habe über die Jahre den Überblick verloren. Wie dem auch sei, die arme Wendy tut mir wirklich leid. Ich hatte keine Ahnung, dass sie depressiv war.«
Die Stahltüren öffneten sich im dritten Stock und der Mann stieg aus. »Sie wären auch depressiv, wenn Sie für Ms. Saunders arbeiten müssten«, murmelte er, bevor die Türen sich schlossen.
Der Aufzug hielt im siebten Stock und die Frau stieg aus, nachdem sie Austen noch einen letzten, aufmunternden Blick zugeworfen hatte.
Schließlich war Austen alleine. Sie starrte sich mit großen Augen in der verspiegelten Wand des Aufzugs an.
Na super. Offenbar war ihre neue Chefin grausamer als Attila, der Hunnenkönig.
Als die Aufzugtüren sich im fünfzehnten Stock öffneten, trat Austen hinaus auf einen teuren grau-blauen Teppich. Der Geruch von Espresso lag in der Luft. Na ja, wenigstens hatten die hier guten Kaffee. Den würde sie auch brauchen, falls sie wirklich für eine grauenhafte Chefin arbeiten musste.
Sie klopfte an die erste Tür zur Linken, aber es kam keine Antwort. Zögernd öffnete sie die Tür einen Spalt und spähte in den Raum.
Das Vorzimmer war leer, ebenso der Schreibtisch der Assistentin. Das war vermutlich ihr neuer Arbeitsplatz. Ihr Blick glitt über holzgetäfelte Wände, den weinroten Teppich und den massiven Holzschreibtisch mit dem großen Computerbildschirm. Ein Lächeln formte sich auf ihren Lippen. Ihr neues Büro war um einiges besser als ihr alter winziger Platz im Großraumbüro.
Als sie eintrat, merkte sie, dass die Tür zum dahinterliegenden Büro einen Spaltbreit offen stand. Die Stimme eines Mannes drang ins Vorzimmer.
War das ihr neuer Chef oder nur ein armer Lakai, der ebenfalls für die weibliche Version von Attila arbeitete?
Noch bevor sie hinüberschleichen und einen Blick auf das Namensschild an der Wand werfen konnte, öffnete sich die Tür ganz und ein großer Mann trat heraus. Falls das wirklich ihr neuer Chef war, so entsprach er ganz und gar nicht dem, was sie erwartet hatte. So hatte sie zum Beispiel gedacht, ihr neuer Chef wäre um die fünfzig, aber dieser Mann sah aus, als wäre er nur ein paar Jahre älter als sie, vielleicht Mitte dreißig. In einem grauen Nadelstreifenanzug, genau auf seine Augenfarbe abgestimmt, und mit einer dunkelblauen Krawatte sah er aus, als wäre er eben dem Cover des Männermagazins GQ entsprungen. Er hob eine Hand und strich sich eine Strähne seines welligen, schwarzen Haares aus der Stirn. Dabei bedachte er sie mit einem Lächeln, bei dem vermutlich alle weiblichen Angestellten ins Schwärmen gerieten.
Austen verkniff sich ein Grinsen. Gut, dass sie immun gegen gut aussehende Männer war. »Guten Morgen«, sagte sie. »Ich bin Austen Brooks, die neue Assistentin. Ich bin auf der Suche nach Mr. Saunders.«
Sein Lächeln wurde noch breiter. »Sie haben ihn gefunden. Ich bin Timothy Saunders. Herzlich willkommen bei Kudos Entertainment, Ms. Brooks.«
Puh. Also würde sie doch nicht für Attila arbeiten müssen. War die Frau, über die die beiden Angestellten im Aufzug geredet hatten, mit ihrem neuen Chef irgendwie verwandt? Falls ja, hatten sie dann nur zufälligerweise Stellen in derselben Firma gefunden oder war Kudos Entertainment ein Familienunternehmen? Sie hätte wohl die Firmenwebseite gründlicher anschauen sollen, aber sie hatte nicht viel Zeit gehabt, um sich auf ihr Vorstellungsgespräch vorzubereiten, und jetzt wollte sie nicht zu neugierig erscheinen, indem sie fragte.
Sie schüttelten sich die Hand.
»Tut mir leid, falls Sie warten mussten. Hier geht es kurz vor Weihnachten leider ziemlich hektisch zu.« Er deutete zu seinem Büro, wo schon wieder das Telefon klingelte.
Deshalb sah er so froh aus, sie zu sehen.
»Warum gehen wir nicht in mein Büro und unterhalten uns kurz?«
Austen nickte und folgte ihm in sein Büro.
Ein großer, L-förmiger Schreibtisch stand vor einem Panoramafenster mit Ausblick auf das Stadtzentrum von Portland und Mount Hood in der Ferne.
Wow. Sie starrte zum Fenster hinaus.
Er lachte. »Netter Ausblick, was? Als ich hier einzog, habe ich die erste Woche kaum etwas geschafft bekommen, weil ich ständig aus dem Fenster geschaut habe. Nehmen Sie doch bitte Platz.« Statt sich in den edlen Chefsessel hinter seinem Schreibtisch zu setzen, was ihn automatisch in die dominantere Position gebracht hätte, führte er sie hinüber zu einem kleinen, runden Tisch.
Austen lächelte. Sie mochte ihren neuen Chef jetzt schon. »Was kann ich tun, um Ihnen das Leben während des Vorweihnachtsstresses ein wenig zu erleichtern?«
»Heute bestimmt noch nicht so viel. Gewöhnen Sie sich erst mal ein und schauen sich ein wenig um. Falls Sie Kaffee möchten, kann ich Ihnen gleich noch zeigen, wo die Teeküche ist. Und gehen Sie doch bitte runter in den zehnten Stock und füllen Sie den Papierkram aus, bevor die Personalabteilung mir den Kopf abreißt.«
»Mach ich sofort.«
Mr. Saunders blätterte durch seinen Terminplaner. »Heute um elf haben wir eine Teambesprechung. Ich hätte gerne, dass Sie daran teilnehmen, damit ich Sie dem Rest des Marketingteams vorstellen kann.«
Austen nickte.
»Dann müssen wir Ihnen noch das E-Mail-Programm einrichten, damit ich Ihnen ein paar Dutzend Mails weiterleiten und Sie auf den neuesten Stand bringen kann, was unsere derzeitigen Projekte angeht. Diese Woche bin ich ziemlich damit beschäftigt, meinen Bericht für das Aktionärstreffen im Januar zu schreiben, falls also jemand anruft und mich sprechen will, sagen Sie ihm einfach, ich wäre der Fremdenlegion beigetreten.«
Austen lachte. Endlich mal ein Chef mit Sinn für Humor.
Das Telefon im Vorzimmer klingelte.
Austen sprang auf. Das war ihre Chance, sich zu beweisen. »Ich geh schon ran.« Sie eilte zu ihrem Schreibtisch hinüber und riss den Hörer ans Ohr. »Kudos Entertainment, Marketingabteilung. Sie sprechen mit Austen Brooks. Was kann ich für Sie tun?«
»Hier spricht Danielle Saunders, stellvertretende Geschäftsführerin.« Eine angenehme Frauenstimme klang aus der Leitung. »Ist mein Bruder da?«
Austen umklammerte den Hörer. Die Schwester ihres Chefs war die stellvertretende Geschäftsführerin? Diejenige, wegen der sich verzweifelte Sekretärinnen aus dem Fenster stürzten? »Ähm, tut mir leid, Ms. Saunders, aber er ist …«
»Lassen Sie mich raten. Er ist wieder mal in die Fremdenlegion eingetreten.«
Austen hielt sich den Mund zu, um nicht zu lachen. Zumindest hatte Attila Sinn für Humor. »So ist es.«
»Dann sagen Sie ihm bitte, er soll mich anrufen, wenn er zurück ist.« Danielle Saunders legte auf, bevor Austen antworten konnte.
Sie starrte den Hörer an. Herzlich willkommen bei Kudos Entertainment.
KAPITEL 2
Kurz vor elf folgte Austen ihrem Chef zum Konferenzraum. Ihr erster Arbeitstag war noch nicht mal zur Hälfte vorbei, aber ihr schwirrte schon jetzt der Kopf, nachdem sie stundenlang Mails durchgelesen hatte. Mr. Saunders hatte es ernst gemeint, als er gesagt hatte, sie hätten kurz vor Weihnachten viel zu tun.
Ungefähr fünfzehn Personen waren bereits im Konferenzraum und nahmen sich Kaffee und Schokoladenkuchen.
Austen lächelte. Ein Team, das Schokoladenkuchen hatte, konnte so schlimm nicht sein.
Mr. Saunders klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. »Wenn ich euch mal einen Moment lang beim Kuchenessen stören dürfte. Das hier ist Austen Brooks.« Er sammelte kräftig Pluspunkte bei ihr, indem er ihren Namen am ersten Tag korrekt aussprach. »Meine neue Sekre…«
»Assistentin«, rief das Team im Chor.
»Ja, ja. Ich wollte nur mal sehen, ob ihr auch zuhört.«
Ihre Kollegen schüttelten Austen die Hand, hießen sie im Team willkommen und stellten sich vor. Jemand drückte ihr einen Teller mit einem Stück Kuchen in die Hand.
Sie wusste, dass sie sich all die Namen unmöglich merken konnte, aber schon jetzt begann sie, sich wie ein Teil des Teams zu fühlen. Vielleicht waren erste Tage ja doch nicht so übel.
Eine halbe Stunde später war der letzte Krümel Kuchen verschwunden und alle Punkte der Tagesordnung besprochen … bis auf den letzten.
»Wie ihr sicher bemerkt habt, haben wir unsere Weihnachtsdekoration bisher sträflich vernachlässigt«, sagte Mr. Saunders. »Dieses Jahr sind wir an der Reihe, den Tannenbaum in der Lobby zu schmücken. Meldet sich jemand freiwillig, das zu übernehmen?«
Die Teammitglieder um Austen herum sahen auf die Kuchenkrümel auf ihren Tellern oder taten, als lasen sie aufmerksam die Unterlagen vor ihnen.
Schließlich sah die Frau neben Austen auf. »Die Buchhaltung hat das letztes Jahr so gut gemacht, dass sich das wohl kaum toppen lässt.«
»Ach, bitte! Wir sind Marketingexperten. Diese Zahlenheinis schlagen wir doch mit links«, sagte Mr. Saunders und erntete dafür zustimmendes Nicken.
Trotzdem meldete sich niemand freiwillig.
Mr. Saunders sah von einem Teammitglied zum nächsten. »Na, jetzt aber! Leute! Ich weiß, dass ihr alle schon mehr als ausgelastet seid, aber jemand muss das übernehmen. Zwingt mich nicht, einen Freiwilligen zu bestimmen.«
Papier raschelte.
»Wie wäre es mit Ihnen, Sally?«
»Ich?« Die braunhaarige Frau zu Austens Rechten sah mit einem entsetzten Gesichtsausdruck von ihren Unterlagen auf. »Oh, nein, das kann ich nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Na ja, weil … weil ich Jüdin bin.«
Der Mann ihr gegenüber schnaubte. »Jetzt hör aber auf. Du bist ungefähr so jüdisch wie Dschingis Khan. Du würdest gefilte Fisch nicht mal erkennen, wenn er dich in den Hintern beißt!«
Sally reckte das Kinn nach vorn. »Wieso schmückst du nicht den Baum, Jack?«
»Du hast die Fotos von meinem letzten Weihnachtsbaum gesehen. Willst du wirklich, dass ich derjenige bin, der die Ehre der Marketingabteilung verteidigt?«
»Wenn ich’s recht bedenke … nein.« Sally kicherte. »Dein Weihnachtsbaum sah aus, als wäre er vom Waldsterben betroffen.«
»Das ist doch lächerlich, Leute«, sagte Mr. Saunders. »Wir sind die Marketingabteilung. Dinge so zu präsentieren, dass sie gut aussehen, ist unser Job, oder etwa nicht?«
Die Männer und Frauen am Tisch nickten.
»Dann kann es doch nicht so schwer sein, einen einzigen, mickrigen Tannenbaum zu schmücken. Also, wer macht das?« Er sah jeden seiner Mitarbeiter an.
Austen zögerte. Wegen Toby hatte sie schon seit fünf oder sechs Jahren keinen Weihnachtsbaum mehr gehabt. Als sie im ersten Jahr einen Baum aufgestellt hatte, schien er zu denken, es handle sich um ein riesiges Vogelspielzeug, an dem er nach Herzenslust knabbern konnte. Also hatte sie jegliche Weihnachtsdekoration aus ihrer Wohnung verbannt. Nun war sie etwas aus der Übung, was das Dekorieren betraf. Trotzdem war das ihre Chance, einen guten Eindruck bei Mr. Saunders und ihren neuen Kollegen zu hinterlassen.
Langsam hob sie die Hand. »Ich mache es.«
Alle Mitarbeiter drehten sich nach ihr um.
»Sind Sie sicher?«, fragte Mr. Saunders. »Wollen Sie nicht lieber langsam in Ihren neuen Arbeitsalltag einsteigen, statt gleich am ersten Tag ein Projekt zu übernehmen.«
Austen winkte ab. »Das ist schon in Ordnung. Ich würde das gerne machen.«
Mr. Saunders nickte. »Na schön. Danke. Wie wäre es, wenn jemand unsere neue Assistentin dabei unterstützt?«
»Ich könnte ihr helfen«, sagte Jack.
Sally nickte. »Ich auch. Wir könnten uns beim Mittagessen eine Taktik überlegen.«
Taktik? Austen starrte sie an. Sie hatte gedacht, sie würden einfach mit den Lichterketten anfangen, dann die Kugeln hinzufügen und schließlich noch ein wenig Lametta an den Baum hängen. Aber offensichtlich war mehr gefordert, wenn man zur Marketingabteilung gehörte und versuchte, die Buchhaltung zu übertrumpfen.
»Schön. Fangen Sie, wenn möglich, heute noch damit an. Ein leerer Tannenbaum ist eine Schande für eine Firma, die mit ihrem Spielzeug Kinder glücklich machen will.« Mr. Saunders sammelte seine Unterlagen ein und erhob sich. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sah zu Austen zurück. »Noch mal herzlich willkommen im Team.«
Ich glaube, ich bin im siebten Arbeitnehmerhimmel. Austen hatte eine Betriebskantine erwartet, in der Käsenudeln oder lauwarme Pizza serviert wurden, aber stattdessen hatte sie die Wahl zwischen vier verschiedenen Gerichten, die alle ausgezeichnet aussahen.
Sie schluckte den letzten Bissen gegrillten Hühnchens hinunter und begann dann, ihren Zimtmuffin zu essen, der ebenso fantastisch schmeckte. Offensichtlich hatte Kudos Entertainment es sich zum Ziel gesetzt, seine Mitarbeiter in die Adipositas zu treiben. »Ist das Essen hier immer so gut?«
Jack nickte, während er immer noch seine zweite Portion Curryreis in sich hineinschaufelte.
»Für Kudos zu arbeiten, hat seine Vorteile«, sagte Sally. »Es sei denn natürlich, man arbeitet direkt für die Geschäftsführung.« Sie und Jack tauschten wissende Blicke aus.
Austen schluckte einen Bissen Muffin hinunter. »Warum? Was ist denn so schlecht an der Geschäftsführung?«
Sally sah sich um, beugte sich dann über den Tisch und flüsterte: »Die stellvertretende Geschäftsführerin. Mr. Saunders ist wirklich nett … und nebenbei bemerkt auch ziemlich gut aussehend, aber seine Schwester …«
»Die sieht auch gut aus«, murmelte Jack mit vollem Mund.
Sally verdrehte die Augen. »Männer. Sie ist eine Hexe. Sie hat ihre letzte Assistentin vor ein paar Tagen gefeuert, ohne sich einen Dreck darum zu scheren, dass Vorweihnachtszeit ist. Ist das zu fassen?«
Austen kannte das. »Mein letzter Chef war genauso.«
»Wirklich? Was ist denn passiert?« Sallys Augen glänzten. Sie lehnte sich noch mehr nach vorn.
Mist. Jetzt hatte sie was angestellt. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, ihren Kollegen schon am ersten Tag zu sagen, dass sie lesbisch war, aber vielleicht war es ja besser so. Das neue Team schien nett zu sein und sie wollte sich nicht von ihnen distanzieren, indem sie nur schweigend dabeistand, während alle anderen von ihrem Privatleben erzählten. Sie holte tief Luft. »Er war ein homophobes Arschloch. Er hatte es auf mich abgesehen, seit ich im ersten Jahr meine Freundin zur Betriebsweihnachtsfeier mitgebracht hatte.«
»Oh«, sagte Sally.
Jack sah von seinem Reis auf.
Austen umklammerte ihre Serviette mit schweißnassen Fingern. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, so offen über ihre sexuelle Orientierung zu sprechen.
»Du solltest sie mit zur Weihnachtsfeier nächsten Freitag bringen«, sagte Sally.
»Wen?«
»Deine Freundin.«
Austen schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht mehr zusammen.«
Die Einzelheiten wollte sie ihren Kollegen lieber nicht erzählen. Nachdem Brenda am Heiligabend vor drei Jahren mit ihr Schluss gemacht hatte, hatte sie enthüllt, dass es eine andere gab. Sie war bereits in einer langjährigen Beziehung und war es schon gewesen, lange bevor sie Austen kennengelernt hatte. Ohne es zu wissen, war Austen ihre Geliebte gewesen. Sie strich sich ein paar Muffinkrümel von der Bluse und wünschte, sie könnte ihre schmerzenden Erinnerungen genauso einfach loswerden.
»Oh, das tut mir leid.« Sally streckte die Hand über den Tisch und tätschelte ihr den Arm. »Aber du könntest trotzdem jemanden mitbringen. Mr. Saunders hätte nichts dagegen. Seine Schwester ist auch lesbisch.«
»Attila ist lesbisch? Äh, ich meine … Ms. Saunders ist lesbisch?«
Sally kicherte. »Wie ich sehe, hast du schon von ihr gehört. Ja, sie ist lesbisch. Nicht, dass irgendjemand sie schon mal mit einer Frau gesehen hätte. Sie ist mit ihrem Job verheiratet.«
Austen schob ihren leeren Teller zurück. »Also, hat einer von euch eine Idee für unser Weihnachtsbaumprojekt?«
Jack und Sally schüttelten die Köpfe.
»Es muss etwas ganz Einzigartiges sein«, sagte Sally. »Wir können nicht zulassen, dass sich die Buchhaltung einbildet, sie wären kreativer als wir.«
»Vielleicht könnten wir kleine Spielzeuge an den Baum hängen«, sagte Austen. Das würde doch zu einer Firma, die Spielwaren herstellte, passen.
»Die Idee hatte die Buchhaltung letztes Jahr«, sagte Sally.
»Hmm.« Austen überlegte fieberhaft, was für ausgefallene Weihnachtsdekorationen sie in den letzten Jahren gesehen hatte. »Wie wäre es mit ganz natürlicher Deko … Tannenzapfen und Äpfel und so.«
»Das hatten wir auch schon«, sagte Sally.
»Lebkuchenherzen, die die Angestellten selbst gebacken haben?«
Sally schüttelte den Kopf. »Das hat die Personalabteilung vor vier Jahren gemacht.«
»Wir könnten einen Tannenbaum aus grünen Bierflaschen aufstellen«, sagte Jack, als er endlich sein Curry aufgegessen hatte.
Austen und Sally sahen ihn nur an.
»Okay, okay.« Er hob die Hände. »War ja nur ein Vorschlag.«
»Wie habt ihr denn in deiner alten Firma den Weihnachtsbaum geschmückt?«, fragte Sally.
»Wir hatten gar keinen. Stattdessen haben wir das Geld einer Organisation gespendet, die Wünsche von Kindern aus armen Familien erfüllt.« Das war eines der wenigen Dinge, die Austen an ihrer alten Firma gemocht hatte. Sie stützte das Kinn auf die Hand und rieb sich die Stirn. Wünsche. Hmm, das könnte funktionieren. »Wie wäre es mit etwas weniger Kommerziellem?«
»Was schwebt dir vor?«
Austen fischte einen Notizblock aus ihrer Handtasche und begann zu zeichnen.
KAPITEL 3
Als es an ihrer Bürotür klopfte, sah Dee von den Berichten auf, die über ihren gesamten Schreibtisch verteilt waren. »Herein!«, rief sie ungehalten.
Die Tür ging auf und ihr gut gelaunt grinsender Bruder stand im Türrahmen. »Hey. Ich hab gehört, du hast versucht, mich zu erreichen?«
Dee schlüpfte aus ihren Schuhen und ließ sie auf den Teppich poltern. »Hat sich erledigt.«
»Um was ging’s denn?«
»Ach, nichts Besonderes. Ich musste in der Lizenzabteilung nur ein paar Leuten in den Hintern treten. Wenn wir den Deal mit Unicorn Pictures nicht vor Weihnachten durchkriegen, verlieren wir Anteile am europäischen Markt. Sind die Marketingkampagnen dafür schon fertig?«
Tim nickte. »Ich schick dir die Einzelheiten, bevor ich gleich gehe.«
»Jetzt schon?« Es war doch noch nicht einmal fünf.
»Ja. Einige von uns haben auch noch ein Leben außerhalb der Arbeit. Ich will nicht wie unser Vater enden, der seine Kinder nicht hat aufwachsen sehen, weil er ständig im Büro war.«
Ein Teil von Dee bewunderte ihren Bruder dafür, dass er entgegen der Familientradition den Job nicht zum Zentrum seines Lebens machte, aber sie hatte weder Kinder noch sonst jemanden, der zu Hause auf sie wartete. Das würde sich in absehbarer Zukunft auch nicht ändern. »Bist du schon mit deinem Bericht für die Aktionärsversammlung fertig?«
»Fast. Das hat ja noch ein bisschen Zeit.« Tim trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er ging zu ihrem Schreibtisch und legte etwas auf einen Stapel Tabellenkalkulationen.
Stirnrunzelnd betrachtete Dee die weißen Objekte. Papierschneeflocken? Sie nahm eine und betrachtete sie. Eine Seite schimmerte silbern im Neonlicht ihres Büros, während die andere Seite aus weißem Papier bestand. »Sag nicht, das ist alles, was deiner Abteilung für die Produkteinführung nächste Woche eingefallen ist.«
Tim lachte. »Nein, das ist nicht für die Produkteinführung. Das ist ein Teil unserer Weihnachtsbaumdekoration. Jeder unserer Angestellten soll seinen oder ihren größten Wunsch für nächstes Jahr auf die Schneeflocke schreiben und sie dann an den Baum hängen. Verteil die bitte an deine Leute.« Er warf ihr einen Stift zu. »Und beschrifte selbst bitte auch eine.«
Dee verzog das Gesicht. Für so einen kindischen Unsinn hatte sie keine Zeit. Der Geschäftsführer hing ihr im Nacken, weil sie bis spätestens nächsten Dienstag ihren Jahresbericht einreichen musste. Nur, weil er ihr Onkel war, hieß das nicht, dass er weniger hohe Ansprüche an sie stellte. Das Gegenteil war der Fall. »Wer hatte denn diese brillante Idee?«
»Meine neue Assistentin.«
»Halt sie besser an der kurzen Leine, sonst lässt sie uns nächstes Jahr Socken für den Baum stricken.«
Tim verschränkte die Arme vor der Brust. »Sei nicht so negativ. Sie ist eine intelligente, junge Frau. Ich bin sicher, sie wird eine wertvolle Ergänzung für mein Team sein.«
»Wenn sie so toll ist, warum hat man sie dann nicht als meine neue Sekretärin eingestellt?«
»Das heißt heutzutage Assistentin, Schwesterherz.«
Sie grinsten sich an.
»Und wir haben sie nicht als deine Assistentin eingestellt, weil du gesagt hast, du willst keine. Außerdem hätten wir gerne, dass sie nicht nach …« Er tat, als blättere er eine Akte durch. »Drei Wochen, sechs Wochen oder vier Tagen schon wieder kündigt.«
Dee knüllte eine Schneeflocke zusammen und warf sie ihm an den Kopf. »Also wirklich. Das klingt, als wäre ich eine schreckliche Chefin.«
Er hob eine Augenbraue. »Du musst doch zugeben, dass deine Erfolgsbilanz mit Assistentinnen nicht die beste ist.«
»Hey, ich kann nichts dafür. Die erste wusste nicht mal, wie man Arbeit buchstabiert. Alles, was sie den lieben langen Tag getan hat, war, ihre Blumen zu gießen und sich die Nägel zu lackieren. Und du weißt ja, weshalb die letzte gegangen wurde. Sie hat meine Berichte in den Reißwolf gesteckt und als ich ihr aufgetragen habe, sie noch mal neu auszudrucken, hat sie es irgendwie geschafft, die Dokumente auf meinem Computer zu löschen. Deshalb darf ich jetzt noch mal von vorne anfangen und hab keine Zeit für so einen Kinderkram.« Sie deutete auf den Stapel Schneeflocken auf ihrem Schreibtisch.
»Wir diskutieren jetzt schon länger herum, als du brauchen würdest, um einen einzigen Wunsch aufzuschreiben. Komm schon. Bring’s einfach hinter dich.«
»Gott, du bist eine Nervensäge.«
»Muss wohl erblich sein, denn das sagen die Leute hier auch über dich.«
Seufzend griff Dee zu einem Kugelschreiber und dachte einen Moment lang darüber nach, was sie sich wünschen sollte. Ihr fiel nur eine Sache ein. Schnell schrieb sie ihren Wunsch auf die Papierseite der Schneeflocke. »So. Jetzt mach, dass du aus meinem Büro kommst, und lass mich diesen verdammten Bericht fertigschreiben.«
Tim rührte sich nicht vom Fleck und sah sie nur mit zusammengekniffenen Augen an. »Du hast dir doch nicht etwa einen guten Jahresabschluss gewünscht, oder?«
Sie zuckte mit den Schultern. Was sollte sie sich denn sonst wünschen?
Er griff nach ihrer Schneeflocke.
»Hey! Bringt das nicht Unglück, wenn man andere seinen Wunsch lesen lässt?«
»Nein. Es ist doch gerade die Grundidee, dass wir die Schneeflocken an den Weihnachtsbaum hängen, wo jeder sie lesen kann.« Er las, was sie aufgeschrieben hatte. »Wusste ich’s doch. Das ist echt jämmerlich. Wann wirst du endlich einsehen, dass es im Leben nicht nur Arbeit gibt?«
»Seit wann das denn?« Sie erinnerte sich noch gut an all die Nächte, die sie sich gemeinsam im Büro um die Ohren geschlagen hatten, um sich in der Firma ihres Onkels nach oben zu arbeiten.
»Seit ich Janine kennengelernt habe«, sagte er mit einem sanften Lächeln.
Bevor er anfangen konnte, von seiner stürmischen Romanze mit der Frau zu schwärmen, mit der er seit fünfzehn Monaten verheiratet war, nahm sie sich eine neue Schneeflocke, schrieb Weltfrieden darauf und hielt sie ihm hin. »Hier. Jetzt zufrieden?«
Er las das Wort auf ihrer Schneeflocke. »Nein. Es muss ein ganz persönlicher Wunsch sein.«
»Komm schon, Tim.« Sie rieb sich die Stirn und atmete tief durch. Es war nicht seine Schuld, dass sie den verdammten Bericht jetzt noch einmal schreiben musste. »Lass uns einen Deal machen. Ich schreibe deinen Bericht für die Aktionärsversammlung, wenn du dich für mich um das hier kümmerst.«
Seine Augen leuchteten wie eine Lichterkette am Weihnachtsbaum. »Einverstanden.« Er zog einen Stift aus der Hemdtasche, nahm sich eine neue Schneeflocke vom Schreibtisch und schrieb etwas darauf. »Schon geschehen. Aber aufhängen musst du sie selbst.«
Sie öffnete den Mund, um zu protestieren.
»Mach einfach einen kleinen Umweg und häng sie auf, wenn du dir das nächste Mal ein bisschen von der schwarzen Wandfarbe holst, die du Kaffee nennst.« Er drückte ihr die Schneeflocke in die Hand, drehte sich um und ging.
Bei der Erwähnung ihrer Lieblingsdroge warf Dee einen Blick in die große Tasse auf ihrem Schreibtisch. Sie war leer, vermutlich schon seit Stunden. Sie nahm die Tasse und ging zur Teeküche, ohne die Schneeflocke weiter zu beachten.
Als sie einige Minuten später mit einer Tasse Kaffee zurückkehrte, lag die Schneeflocke immer noch auf ihrem Schreibtisch.
Na schön. Dann will ich das Ding mal loswerden. Der Kaffee war bestimmt immer noch heiß, wenn sie zurückkam. Sie nahm die Schneeflocke und ging den Gang entlang. Als sie mit dem Aufzug nach unten fuhr, las sie die zwei Worte, die ihr Bruder in Großbuchstaben auf das weiße Papier geschrieben hatte: NEUE FREUNDIN.
Dee schnaubte. Ja, klar. Sie verbrachte all ihre Zeit bei der Arbeit. Wo sollte sie da denn bitte eine Frau kennenlernen? Ausgeschlossen.
Die Stahltüren glitten auseinander und sie betrat die Lobby.
Sie musste zugeben, dass der Weihnachtsbaum gar nicht so schlecht aussah. Lichterketten in rot und grün, den Farben der Firma, waren um den Baum geschlungen. Ein großer, fünfzackiger Kristallstern mit Schweif thronte auf dem Baumwipfel. Dutzende von Papierschneeflocken glitzerten in den Zweigen und die Angestellten umschwärmten den Baum wie Motten das Licht, um ihre Schneeflocken aufzuhängen und zu lesen, was ihre Kollegen geschrieben hatten.
Haben die keine Arbeit zu erledigen? Als sie ihnen finstere Blicke zuwarf, stoben sie auseinander.
Dee schritt zum Baum, um es endlich hinter sich zu bringen. Als sie ihre Schneeflocke an einen der oberen Äste hängte, stellte sie fest, dass die Lichter in diesem Teil des Baumes zu nahe beieinander hingen. Sie ging um den Baum herum, um ihn aus allen Winkeln zu betrachten.
Tatsächlich. Zu viele Lichter da drüben.
Das konnte man nicht so lassen. Tims neue Assistentin hatte offenbar keinen Sinn für Ästhetik. Sie riss das erste Licht vom Zweig und klemmte es an einen anderen.
Die Türen des Aufzugs öffneten sich und Austen lächelte, als die funkelnden Schneeflocken am Weihnachtsbaum sie in der Lobby begrüßten. Ihr erster Arbeitstag in der neuen Firma lag hinter ihr und alles war glattgelaufen. Ihr neuer Chef war kein Arschloch, das Team schien nett zu sein und sie hatte viel Lob für ihre erste Aufgabe, das Schmücken des Weihnachtsbaums, geerntet. Jetzt konnte sie wunschlos glücklich nach Hause gehen.
Apropos wunschlos … Sie hatte noch immer keinen blassen Schimmer, was sie auf ihre eigene Schneeflocke schreiben sollte. Vielleicht ein vornehmeres Vokabular für Toby? Oder vielleicht sollte sie auf dem Weg nach draußen ein paar der Wünsche ihrer Kollegen lesen, um selbst ein paar Einfälle zu haben.
Als sie die Lobby durchquerte, ging eine andere Angestellte auf den Baum zu und hängte ihre Schneeflocke auf. Statt dann wieder zu gehen, begann die Frau, die Lichter nicht unbedingt sanft umzuhängen.
Die Frau im Hosenanzug, der ihre Kurven gut zur Geltung brachte, gehörte eindeutig nicht zur Marketingabteilung. Austen hätte sich an eine Kollegin mit so einem knackigen Hintern ganz bestimmt erinnert. Was zum Teufel hat sie also an meinem Baum zu suchen? Innerlich verdrehte sie über sich selbst die Augen. Mein Baum? Trotzdem fühlte sie sich, als müsste sie den armen Baum beschützen, als sie zusah, wie die Frau ihn förmlich auseinandernahm.
Die Fremde zog ein weiteres Licht von einem Zweig. Der Baum fing an zu schwanken und einige der Schneeflocken fielen zu Boden.
»Vorsicht!«, rief Austen.
Immer noch einen Zweig in der Hand haltend, wirbelte die Frau herum. Der Baum kippte.
Austen rannte los, aber es war schon zu spät.
Wie in Zeitlupe kippte die sternförmige Christbaumspitze vom Baum.
Die Frau ließ den Baum los und sprang zurück, aber die Schwerkraft war schneller.
Die schwere Kristallsternschnuppe traf sie am Kopf und schlug dann auf dem Boden auf, wo er in winzige Stücke zersplitterte.
Scherben knirschten unter Austens Schuhen, als sie neben dem Baum zum Stehen kam. »Oh Gott! Haben Sie sich was getan?«
»Alles okay.« Die Frau richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, sodass sie Austen überragte, und funkelte sie an. Sie fuhr sich mit einer Hand über ihr schwarzes Haar, das im Nacken zu einem festen Haarknoten zusammengebunden war, während sie sich mit der anderen Hand die Stirn hielt. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. »Mist.«
»Nichts ist okay.« Austens Beschützerinstinkte wurden geweckt. Sie nahm die Frau am Arm. »Kommen Sie mit.«
Die Frau wich keinen Millimeter von der Stelle.
Austen zog an ihrem Arm. »Seien Sie doch nicht so stur. Wir müssen zusehen, dass wir die Blutung stillen.«
Nach kurzem Tauziehen folgte die Frau ihr fluchend zu den Toiletten in der Lobby.
Austen ignorierte die Flüche, zog sie zum Waschbecken und drückte ein Papierhandtuch auf die Platzwunde auf ihrer Stirn. »Sieht ziemlich übel aus.«
»Super. Welcher Idiot ist auch auf die Idee gekommen, einen schweren Kristallstern auf die Baumspitze zu setzen, ohne ihn da richtig zu befestigen?«
Austens Wangen glühten, aber sie zwang sich, nicht vor dem wütenden Blick der Fremden zurückzuweichen. »Dieser Idiot.«
»Was? Sie meinen … Sie sind Tims neue Assistentin? Sie sind diejenige, die den verdammten Baum geschmückt hat?«
Austen nickte. Es hatte sich also schon in der Firma herumgesprochen, dass Mr. Saunders eine neue Sekretärin hatte.
»Dann also vielen Dank.« Immer noch böse dreinblickend, deutete die Frau auf ihre Stirn.
»Es tut mir leid, dass Sie verletzt wurden, aber Sie können mir nicht die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Die Sternschnuppe wäre nie vom Baum gefallen, wenn Sie einfach nur Ihre Schneeflocke aufgehängt hätten, wie alle anderen auch.«
»Ich habe nur die Lichter umgehängt. Ein Blinder mit Krückstock hätte sehen können, dass sie zu dicht beieinander hingen.«
»Die Lichter sahen gut aus. Das hat jeder gesagt.« Was für ein Kontrollfreak. Vermutlich arbeitete sie in der Buchhaltung oder der Rechtsabteilung.
Die Frau blinzelte, so als wäre sie nicht daran gewöhnt, dass andere ihr die Stirn boten.
Blut tropfte noch immer aus der Wunde und Austen drückte etwas stärker zu, um die Blutung zu stillen.
»Nein, waren sie nicht. Ich … Autsch!« Die Frau zuckte zurück. »Vorsicht, Schwester Rabiata. Ich hab da eine Wunde auf der Stirn, falls Sie’s noch nicht bemerkt haben.«
»Und ich versuche gerade, die Blutung zu stillen, falls Sie’s noch nicht bemerkt haben.« Austen schüttelte den Kopf. »Warum sind es immer die tough aussehenden Amazonen, die so wehleidig sind?«
Rauchgraue Augen blinzelten und verengten sich dann. »Ich bin nicht wehleidig!«
»Dann halten Sie still. Ich muss Druck darauf ausüben, sonst hört es nie auf zu bluten.«
Die Frau warf ihr immer noch finstere Blicke zu, hörte aber auf, herumzuzappeln.
So standen sie mehrere Minuten lang da, die Fremde vornübergebeugt und Austen mit einer Hand das Papiertuch gegen ihre Stirn pressend, während sie mit der anderen Hand den Hinterkopf der Frau umfasste, damit sie sich nicht bewegen konnte.
Die Tür ging auf und Sally betrat den Toilettenvorraum. »Oh, hallo, Austen. Wie war dein erster Tag bei Kudos?«
Als die Fremde sich zu ihr umdrehte, stoppte Sally abrupt. Mit großen Augen begaffte sie die Szene vor dem Waschbecken. »Oh.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte sie sich um und ging.
»Na toll«, murmelte die Frau. »Noch ein neues Gerücht über mich im Umlauf. Jetzt wird sie rumerzählen, dass sie mich in einer eindeutigen Position mit der Neuen auf der Toilette erwischt hat.«
Austen drehte den Kopf und sah sie beide im Spiegel über dem Waschbecken an. Mit ein bisschen Vorstellungsvermögen konnte man ihre Körperhaltungen leicht als Umarmung missverstehen, so als beugte sich die Fremde gerade hinab, um Austen zu küssen, während Austen ihren Kopf näher zog. Und da Sally in der Marketingabteilung arbeitete, hatte sie eine blühende Fantasie. Na toll. »Vielleicht sollten wir zum Du übergehen. Wie heißen Sie … wie heißt du eigentlich?«, fragte Austen.
Die Frau zögerte. »Wieso?«
Immer noch Druck auf die Wunde ausübend, zuckte Austen mit den Schultern. »Ich bin nicht so für anonymen Sex. Ich will wenigstens wissen, mit wem ich auf der Toilette erwischt wurde.«
Ein winziges Lächeln schlich sich auf das Gesicht der Frau.
Austen starrte sie an. Mit ihren hohen Wangenknochen und ihrem markanten Kinn sah die Frau bereits attraktiv aus, aber wenn sie lächelte … Wow.
»Dee«, sagte die Frau schließlich.
Ihre Altstimme kam Austen irgendwie bekannt vor, aber sie war sich sicher, dass sie einander noch nie begegnet waren. An eine so gut aussehende Frau hätte sie sich erinnert. »Austen.«
Dee runzelte etwas die Stirn, was das Papiertuch auf ihrer Stirn verrutschen ließ. »Wie die Stadt in Texas?«
»Nein, wie die Autorin. Und jetzt halt still.«
»Bist du immer so herrisch?«
Austen lachte. »Nur, wenn ich es mit Leuten zu tun habe, die zu stur sind, um zu wissen, was gut für sie ist. Und warum habe ich nur das Gefühl, dass hier ein Esel den anderen Langohr schimpft?«
»Muss an deiner blühenden Fantasie liegen. Immerhin arbeitest du ja in der Marketingabteilung, stimmt’s?«
»Ja, stimmt. Und du?«
Dee verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, was ihr einen warnenden Blick von Austen einbrachte, als das Papiertuch wieder verrutschte. Nach mehreren Sekunden antwortete sie: »Ich bin für die Geschäftsführung tätig.«
»Oh, mein Beileid. Dann arbeitest du für Attila.«
»Für wen?«
Austens Wangen wurden warm. Sie hatte nicht vorgehabt, den Spitznamen in der Öffentlichkeit zu benutzen, aber jetzt war er ihr herausgerutscht. »Ich meine für Ms. Saunders.«
Dee schnaubte. »Attila. Na, das ist ja wenigstens mal einfallsreich.«
»Ist sie so schlimm, wie die Leute sagen?«
Dee lächelte schief. »Sie hat so ihre Momente.« Sie betrachtete ihre Stirn im Spiegel. »Hat es endlich aufgehört zu bluten? So nett unser kleiner Plausch auf der Toilette auch ist, ich muss wieder an die Arbeit.«
Langsam hob Austen das Papierhandtuch an, das nun blutgetränkt war. Mist. Die Wunde sah nicht aus, als würde sie so bald aufhören zu bluten. »Nein, es blutet immer noch. Wir sollten zur Notaufnahme fahren. Ich glaube, das muss genäht werden.«
»Nein, muss es nicht. Ist sicher nicht so schlimm, wie es aussieht. Kopfwunden bluten immer heftig.«
»Ich wusste gar nicht, dass Kudos Entertainment einen Arzt auf der Gehaltsliste hat, Frau Doktor.«
»Haben wir nicht. Ich bin kein Arzt.«
»Dann solltest du die Diagnose jemandem überlassen, der es ist. Komm.«
Dee rührte sich nicht vom Fleck. »Mir geht’s gut. Ich muss mich nur etwas sauber machen und dann zurück an die Arbeit.«
»Selbst Ms. Saunders kann nicht so schlimm sein, dass sie erwarten würde, dass du mit einer klaffenden Wunde zurück an die Arbeit gehst. Außerdem ist sowieso schon Feierabend.«
Dee starrte ihre blutüberströmte Stirn im Spiegel an. Schließlich seufzte sie und nickte. »Na schön. Dann fahren wir eben zur Notaufnahme. Das kommt ja gerade richtig, zwei Wochen vor Weihnachten.«
KAPITEL 4
Vanessa, die Empfangsdame, starrte die beiden an, als sie aus der Toilette kamen.
Dee warf ihr einen finsteren Blick zu. »Statt rumzustehen und uns anzuglotzen, könnten Sie bitte raufgehen und mir meine Aktentasche holen?«
Austen warf ihr einen erstaunten Blick zu, deshalb fügte Dee freundlicher hinzu: »Mein Autoschlüssel und mein Ausweis sind da drin.«
»Oh. Ja, klar.« Vanessas Absätze klickten über den Marmorboden, als sie zum Aufzug eilte.
Innerhalb weniger Minuten war sie zurück. Sie streckte den Arm aus, so weit es nur ging, um Dee die Aktentasche zu reichen, so als hätte sie Angst, ihr zu nahe zu kommen oder Blut auf ihre Kleidung zu bekommen.
Dee verdrehte die Augen. »Danke.«
Auf dem Weg zum Auto schlang Austen einen Arm um Dees Hüfte.
»Das musst du nicht«, sagte Dee. »Ich kann ganz gut alleine laufen.« In Wahrheit störte es sie nicht. Austen war eine Nervensäge, aber wenigstens sah sie gut aus. Ihr rotbraunes Haar lag in einem frechen Kurzhaarschnitt um ihr Gesicht und ein paar Strähnen fielen ständig auf Höhe ihrer saphirblauen Augen. Hör auf damit. Eine Beschwerde wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
Austen weigerte sich, loszulassen. »Tu’s mir zuliebe, okay? Du bist mit dem Auto hier, oder? Ich hab heute Morgen leider den Zug genommen.«
»Ja. Es steht da drüben.« Dee führte sie hinüber zu den Parkplätzen, die für die leitenden Angestellten reserviert waren. Zum Glück war Austen neu in der Firma und kannte sich mit den Parkregelungen nicht aus.
Als Dee vor ihrem Auto stehen blieb, weiteten sich Austens Augen. »Du fährst einen BMW? Wow. Ich arbeite offensichtlich für die falsche Abteilung. Vielleicht sollte ich mich auf eine Stelle als Assistenz der Geschäftsführung bewerben?«
»Ne«, sagte Dee. »Dann würdest du für Attila arbeiten müssen.«
»Stimmt.«
Dee nahm den Autoschlüssel aus der Aktentasche und drückte auf das Knöpfchen, welches das Auto aufschließen würde. Dann öffnete sie die Tür auf der Fahrerseite.
Austen hielt sie am Arm fest. »Was machst du da?«
»Äh, ich fahre zur Notaufnahme, bevor ich verblute.«
»In dem Zustand kannst du nicht fahren. Gib mir die Schlüssel.« Austen streckte die Hand aus, mit der Handfläche nach oben.
Außer Dee selbst hatte noch nie jemand ihr Auto gefahren und sie hatte nicht vor, das jetzt zu ändern. Sie schloss die Hand fester um den Schlüssel. »Mir geht’s gut. Steig ein.« Sie zeigte zur Beifahrertür.
Austen wedelte mit der Hand. »Gib mir die Schlüssel. Ich fahre und du kannst … weiterbluten. Die Personalabteilung würde mich einen Kopf kürzer machen, wenn ich dich so fahren lasse.«
Dee musste zugeben, dass ihr ein wenig schwindelig war. Blut floss ihr ins Auge, wann immer sie vergaß, genügend Druck auf die Wunde auszuüben. Wenn sie wollte, dass die verflixte Wunde innerhalb der nächsten Stunden medizinisch versorgt würde, dann musste sie nachgeben, so untypisch das auch für sie war. Mit einem frustrierten Schnauben hielt sie Austen die Schlüssel hin.
Austen riss sie ihr aus der Hand, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Grummelnd ging Dee zur Beifahrerseite und stieg ein. Sie mochte es nicht, auf dieser Seite des Autos zu sitzen.
Austen machte es sich auf dem Fahrersitz bequem und kicherte. »Wow. Wie groß bist du?«
Dee sah zu ihr hinüber. Beim Anblick von Austen, die verzweifelt versuchte, ans Lenkrad, die Bremse und das Gaspedal zu kommen, konnte sie nicht mehr wütend sein und musste grinsen. »Ein ganzes Stück größer als du, wie’s aussieht.«
Austen verstellte den Sitz und griff nach oben, um sich den Rückspiegel einzustellen.
Seufzend fand sich Dee mit der Tatsache ab, dass sie später alles wieder so einstellen musste, dass es für sie passte.
»Bist du zufällig ein Einzelkind?«, fragte Austen, als sie den Motor anließ und vom Parkplatz rollte.
»Äh, nein. Warum fragst du?«
»Weil es offensichtlich ist, dass du deine Spielsachen nicht gern mit jemand anderem teilst.« Austen fuhr mit einer Hand über das Leder des Lenkrades.
Dee wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass je jemand so offen mit ihr gesprochen hatte.
Austen lächelte. »Immer schön auf die Wunde drücken. Es blutet immer noch.«
»Mist. Das ist ja wirklich eine üble Wunde.«
»Hätte schlimmer kommen können.«
Was könnte schlimmer sein, als zur Notaufnahme gezerrt zu werden, obwohl sie eigentlich in ihrem Büro sein sollte, um an dem Bericht zu arbeiten. »Ach ja?«
»Ja.« Austens Mund verzog sich zu einem Lächeln, bei dem selbst Dee nicht anders konnte, als zurückzulächeln. »Die Sternschnuppe hätte mich treffen können.«
Dee warf ihr einen verärgerten Blick zu. »Halt den Mund und fahr.«
»Zu Befehl.«
Austen steuerte den BMW in eine Parklücke so dicht am Eingang der Notaufnahme wie nur möglich und rannte dann um das Auto herum, um Dee beim Aussteigen zu helfen.
Dee winkte ab. »Ich kann allein laufen. Ist ja nicht, als ob ich in den Wehen läge oder mir einen Fuß abgehackt hätte.«
»Himmel, bist du immer so stur?«
»Ja.«
Seufzend trat Austen zurück und ließ sie ohne Hilfe aussteigen. »Na schön. Dann lass uns mal gehen und dich zusammenflicken lassen.«
»Jetzt lässt du mich wie eine alte Decke klingen.«
Austen grinste, antwortete aber nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt den Glastüren, die zur Notaufnahme führten. Dahinter herrschte ein reges Treiben. Das wird ihr gar nicht gefallen.
Als sie näher kamen, glitten die Glastüren vor ihnen auseinander und gaben den Blick frei auf ein nicht sehr kontrolliert wirkendes Chaos. Das Wartezimmer war voll. Ein Baby schrie wie am Spieß, ein Mann verlangte lautstark nach dem stärksten Schmerzmittel, das sie hier hatten, und die Notaufnahme roch, als hätte zumindest ein Patient üblen Durchfall.
Dee blieb auf der Türschwelle stehen. »Da kriegen mich keine zehn Pferde rein. Lass mich irgendwo verbluten, wo es stiller ist und besser riecht.« Sie wirbelte herum und stolperte.
Mit einem Satz war Austen neben ihr und schlang beide Arme um sie. »Rein mit dir.« Sie führte Dee zum einzigen freien Plastikstuhl im Wartebereich. »Setz dich, bevor du noch umfällst.«
»Ich werde nicht …« Dee wurde blass und ließ sich auf den Stuhl sacken. »Okay, okay. Ich sitze ja schon, siehst du?«
»Brav.« Austen tätschelte ihr die Schulter. »Rühr dich nicht von der Stelle, ja? Ich hol die Formulare, die du ausfüllen musst. Wenn ich zurückkomme und du bist nicht mehr hier, werde ich … ich werde …«
»Jaaa?« Dee zog das Wort grinsend in die Länge. »Was wirst du dann tun?«
Jetzt, da sie saß und Austen stand, überragte Dee sie nicht mehr, aber sie war immer noch einschüchternd. Unter keinen Umständen konnte sie Dee festhalten und zwingen, hierzubleiben, wenn sie das nicht wollte. Austen straffte die Schultern. Es war an der Zeit, ihren Joker auszuspielen. »Dann werde ich Ms. Saunders sagen, dass du die Firmenvorschriften nicht befolgt hast.«
»Welche Vorschriften sollen das bitte sein?«
»Die Vorschrift, die besagt, dass … dass …«
»Na, was denn?«
Beim Anblick des überlegenen Grinsens auf Dees Gesicht hätte Austen sie am liebsten geohrfeigt. Fieberhaft suchte sie nach Worten. »… dass wertvolle Anlagegüter mit Sorgfalt zu behandeln sind.«
»Wertvolle Anlagegüter?«, wiederholte Dee. »Was für Anlagegüter denn?«
»Na, du natürlich. Die Firma kann es sich nicht leisten, dass eine Mitarbeiterin so kurz vor Weihnachten wegen einer Kopfwunde ausfällt.«
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine Nervensäge bist?«
Austen lächelte. »Das mag schon ein- oder zweimal vorgekommen sein.«
Dee warf die Hände in die Luft. »Na schön. Geh und bring mir den Papierkram.«
Austen sah auf sie hinab, wild entschlossen, sich nicht von ihr herumkommandieren zu lassen. »Fehlt da nicht was?«
»Wie bitte?«
»Du hast das Zauberwort vergessen.«
»Abrakadabra?«
Austen verkniff sich ein Lächeln. »Bitte.«
Dee seufzte. »Könntest du bitte gehen und mir den Papierkram holen? Voilà. Da ist dein magisches Wort. Jetzt zufrieden?«
Austen nickte und ging zum Empfangstresen.
Nachdem Dee die Formulare ausgefüllt hatte, wollte Austen ihr das Klemmbrett abnehmen und es der Schwester hinter dem Empfangstresen bringen, aber Dee ließ nicht los. »Du weißt schon, dass ich nicht gelähmt bin, oder?«
»Ich will dir ja nur helfen.«
»Ich weiß und ich danke dir dafür, aber es ist wirklich nicht notwendig. Ich kann das selbst rüberbringen.«
Austen ließ das Klemmbrett los. Sie war auch ziemlich selbstständig, aber Dee schlug sie um Längen. »Warst du schon immer so stur oder hat das der Schlag auf den Kopf verursacht?«
»Warum habe jetzt ich das Gefühl, dass ein Esel den anderen Langohr schimpft?«, wiederholte Dee das, was Austen zuvor zu ihr gesagt hatte.
Austen versuchte, unschuldig dreinzublicken, wusste aber, dass es ihr nicht gelang. »Keine Ahnung.«
»Klar.« Dee stand auf und ging zum Empfangstresen, das Papierhandtuch immer noch auf die Kopfwunde gedrückt.
Austen verdrehte die Augen und beobachtete sie wachsam. »Frauen.«
Zwei Stunden später begann selbst Austen zu bereuen, dass sie nicht postwendend umgedreht hatten.
Die wartende Meute in der Notaufnahme schien einfach nicht abzunehmen.
Austen lehnte sich gegen die grün geflieste Wand, sodass sie dem Mann nicht im Weg stand, der neben ihnen auf und ab tigerte. Seine Schuhe quietschten über den Linoleumboden und raubten Austen den letzten Nerv. Zu Dees Linken schwankte ein Betrunkener auf seinem Sitz hin und her. Zu ihrer Rechten blätterte eine Frau, deren Knöchel zum doppelten Umfang angeschwollen war, eine Zeitschrift durch.
Der Typ mit den quietschenden Schuhen hielt einen Moment inne. Gerade als Austen aufatmen wollte, begann er wieder, auf und ab zu laufen.
Dee sah auf. Ihre bleigrauen Augen verengten sich, so als wäre sie ein Scharfschütze, der auf etwas zielte. »Mensch, hören Sie endlich mit dem Hin- und Hergelaufe auf!« Mit Blick auf Austen fügte sie hinzu: »Bitte.«
Austen kicherte.
Der Mann starrte sie an und schlich dann von dannen, um auf der gegenüberliegenden Seite des Wartebereichs auf und ab zu tigern.
Dee sank gegen die Rückenlehne ihres Stuhls. »Ha! Wer hätte das gedacht? Das Zauberwort funktioniert tatsächlich.«
Eine Krankenschwester kam auf sie zu.
Na endlich. Austen sah ihr entgegen.
Aber im letzten Augenblick steuerte die Krankenschwester ein wenig nach links, führte die Frau mit dem Elefantenknöchel zu einer Behandlungsliege und zog einen Vorhang zu.
Na toll. Austen ließ sich auf den nun freien Stuhl neben Dee fallen.
Dee hob das dritte vollgeblutete Papiertuch von ihrer Stirn. »Ich glaube, es hat aufgehört zu bluten. So kann man das natürlich auch machen. Man wartet einfach, bis die Patienten entweder sterben oder sich das Problem von selbst löst.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass du es überleben wirst. Aber drück das Papierhandtuch ruhig weiter auf die Wunde. Wir wollen nicht, dass sie wieder zu bluten beginnt.« Kopfschmerz begann, hinter Austens Augen zu pulsieren, wie so oft, wenn sie zu wenig getrunken hatte. Sie sah zum Getränkeautomaten. »Soll ich dir irgendwas holen? Kaffee? Ein Mineralwasser?«
»Kaffee.« Nach einer kurzen Pause fügte Dee hinzu: »Bitte.«
Austen lächelte. »Wer sagt denn, dass man im Alter nichts mehr dazulernen kann?«
»Hast du mich eben alt genannt?«
»Ich? Würde ich nie tun. Meine Mutter hat mich gelehrt, nie über das Alter einer Frau zu reden.« Austen betrachtete Dees Gesicht. Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber sie schien ein paar Jahre älter als Austen zu sein, vielleicht knapp über Mitte dreißig. Kleine Fältchen hatten sich um ihre grauen Augen herum gebildet, aber ansonsten war ihre Haut glatt. Es kribbelte Austen in den Fingern bei dem Gedanken, die Hand auszustrecken und herauszufinden, ob ihre Haut so weich war, wie sie aussah. Spinnst du jetzt komplett? Sie würde dir eine solche Ohrfeige verpassen, dass deine Ohren noch am Sankt-Nimmerleins-Tag klingeln!
»Deine Mutter hat dir Tipps darüber gegeben, wie du Frauen behandeln sollst?« Dees Gesicht verriet Erstaunen.
Hatte sie gerade ihre sexuelle Orientierung ausgeplaudert? Austens Wangen glühten und sie verfluchte ihren hellen Teint. »Äh, nein, nicht wirklich. Also, wie wär’s mit Kaffee?«
»Gerne.«
»Schwarz?«
Dee nickte. »Woher weißt du das?«
»Weibliche Intuition.« Austen stand auf und ging zum Getränkeautomaten. Als sie mit zwei Plastikbechern zurückkam, hatte Dee ihre Kostümjacke ausgezogen und saß nun in einer kurzärmeligen Bluse da. Wow. Schöne Arme. Austen zwang sich, wegzusehen. Sie gab Dee den Becher mit dem schwarzen Kaffee und setzte sich wieder. Ihr Arm streifte den von Dee, was ein Kribbeln durch ihren Körper laufen ließ. Gott. Was ist los mit dir? Ihr Mund war plötzlich trocken, deshalb nahm sie einen großen Schluck Kaffee und verbrannte sich prompt den Mund. »Autsch.«
»Vorsicht. Denk an die Firmenvorschriften über wertvolle Anlagegüter. Wir wollen doch nicht, dass du mit schlimmen Verbrennungen ausfällst.«
Ohne sie anzusehen, blies Austen auf ihren Kaffee.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, nur unterbrochen vom Quietschen der Schuhe am anderen Ende des Wartebereichs und dem Schnarchen des Betrunkenen neben ihnen.
Als der Kaffee ausgetrunken war, stand Austen auf und nahm sich eine Zeitschrift vom Regal in der Ecke, aber sie war schon ein Jahr alt und nicht sonderlich interessant. Schließlich legte sie die Zeitschrift weg und wandte sich Dee zu. »Ist es wahr, was man sich über Wendy erzählt?«
»Wendy? Welche Wendy denn?« Dees Stirnrunzeln zupfte an ihrer Wunde und sie zuckte erneut zusammen.
»Die Assistentin von Ms. Saunders. Hat sie sich wirklich umgebracht?«
»Ach, das erzählen sich die Leute im Büro? Lass mich raten. Ihre Chefin hat sie dazu gebracht, aus dem Fenster im fünfzehnten Stock zu springen.«
Austen nickte. »Ja, so ähnlich. Also stimmt es?«
Dee knurrte. »Nein!«
»Schon gut, du musst mir nicht gleich den Kopf abreißen.« Austen hob beide Hände. »Ich hatte keine Ahnung, dass du solche Beschützerinstinkte für deine Chefin hast.«
»Na ja …« Dee rieb sich den Nacken. »Ich mag nur das ständige Getratsche nicht. Habt ihr von der Marketingabteilung nichts Besseres zu tun? Zum Beispiel zur Abwechslung mal was zu arbeiten?«
Jetzt war es Austen, deren Beschützerinstinkt geweckt wurde. »Das klingt, als würden wir den lieben langen Tag nichts anderes machen, als in der Kantine zu sitzen und den neuesten Klatsch und Tratsch austauschen. Soweit ich das jetzt schon beurteilen kann, arbeiten die Leute in der Marketingabteilung wirklich hart.«
»Stimmt. Aber das hält sie nicht davon ab, zu tratschen.«
»Tja, wir haben viele weibliche Mitarbeiterinnen«, sagte Austen grinsend. »Die beherrschen Multitasking.«
Dee warf ihr einen finsteren Blick zu, aber schon nach wenigen Sekunden konnte sie nicht an ihrer schlechten Laune festhalten und erwiderte Austens Lächeln. »Sieht so aus.«
»Wendy ist also nicht aus dem Fenster gesprungen?«
»Nein! Sie ist mit ihrem Verlobten nach Florida gezogen.«
Austen fragte sich, ob die anderen Gerüchte, die sie über Attila … über Ms. Saunders gehört hatte, ebenso falsch oder zumindest stark übertrieben waren. Tja, sie würde es wohl bald herausfinden. Immerhin war die Frau ihre stellvertretende Geschäftsführerin und die Schwester ihres Chefs, also würden sie sich eher früher als später begegnen.
Eine Frau mit feuerrotem Ausschlag im Gesicht nahm gegenüber Platz.
Austen und Dee sahen sich an. Oh, oh. Was immer sie auch hat, ich hoffe, es ist nichts Ansteckendes.
