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In diesem paranormalen Liebesroman trifft Vampirin Robin eine Frau, die sie zum Anbeißen findet. Fürs neue Jahr hat Robin den Vorsatz gefasst, ihre Ernährungsgewohnheiten zu ändern. Doch anders als bei Millionen anderer Frauen sind es nicht Schokolade, Kuchen und Chips, die sie in Versuchung führen, sondern ein Glas Null negativ, denn Robin ist eine Vampirin. Bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker erhofft sie sich Hilfe beim Kampf gegen ihre uralten Instinkte. Stattdessen trifft sie Alana, eine Frau, die sie vom ersten Moment an zum Anbeißen findet. Alana kämpft gegen ihre Alkoholabhängigkeit an und weiß, dass eine Beziehung ihre Fortschritte gefährden würde. Doch die Anziehung zwischen den beiden Frauen ist überwältigend. Robin ist nicht sicher, ob es wirklich Liebe oder lediglich Blutlust ist, die sie in Alanas Arme treibt. Aber vielleicht spielt es ohnehin keine Rolle mehr, als Alana herausfindet, wer Robin wirklich ist …
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Seitenzahl: 343
Veröffentlichungsjahr: 2015
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WEITERE BÜCHER VON JAE
Die Mondstein-Serie:
Cabernet und Liebe
Verführung für Anfängerinnen
Vollmond über Manhattan
Liebe à la Hollywood
Vorsicht, Sternschnuppe
Auf schmalem Grat
WEITERE BÜCHER VON ALISON GREY
Richtig verbunden
Zwei Seiten
Heiße Schokolade für zwei
DANKSAGUNG
Ein herzliches Dankeschön an Susanne und Kirstin fürs Korrekturlesen.
INHALT
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
EPILOG
ÜBER JAE
ÜBER ALISON GREY
EBENFALLS IM YLVA VERLAG ERSCHIENEN
DEMNÄCHST IM YLVA VERLAG
KAPITEL 1
Ein Vampir ging zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker. Es klang wie der Anfang eines schlechten Witzes und vielleicht war es das auch. Andere Girah würden das jedenfalls denken, wenn sie wüssten, wo sie gerade war.
Tja, aber bisher bist du nicht zu dem Treffen der Anonymen Alkoholiker reingegangen, Feigling. Robin saß in ihrem Auto auf dem Parkplatz der Kirche. Sie war von ihrer Wohnung in der Nähe des Central Parks bis nach Brooklyn gefahren, um zu vermeiden, dass sie einem Bekannten begegnete. Andere Girah wären nicht amüsiert gewesen, Robin mit einem Haufen menschlicher Alkoholiker zu sehen. Seit einer halben Stunde hockte sie jetzt hier und starrte das romanische Gebäude mit dem hohen Turm auf der anderen Straßenseite an, konnte sich aber nicht dazu durchringen, es zu betreten. Es war nicht das Kreuz über dem Haupteingang, das sie davon abhielt. Ihresgleichen gab es schon länger als das Christentum, deshalb konnte ihr ein Kruzifix nicht schaden, auch wenn viele Menschen das glaubten. Die Farbe des Nebeneingangs schien sie jedoch zu verspotten. Jemand hatte die Tür rot gestrichen, genau in der Farbe frischen Bluts.
Drei Menschen standen vor der Tür, rauchten und unterhielten sich. Robin bezweifelte, dass sie zum AA-Treffen da waren. Dazu sahen sie zu gesund aus. Zu glücklich. Zu normal.
Sie selbst war weder glücklich noch normal und nachdem sie seit vier Tagen kein Blut getrunken hatte, fühlte sie sich auch nicht sonderlich gesund.
Das hier ist nicht richtig. Sie gehörte nicht hierher, zu dieser Gruppe von Menschen. Aber wo sollte sie sonst hingehen? Sie grinste. Schließlich konnte sie nicht zu einem Treffen der Anonymen Blutsauger gehen. Sie hatte es mit den Anonymen Esssüchtigen versucht, aber der Anblick all der wohlgenährten Menschen gab ihr das Gefühl, sie hätte ein Restaurant mit einem All-you-can-eat-Büfett betreten.
Ihr Gaumen schmerzte, wenn sie nur daran dachte, und ihr brach der Schweiß aus. Sie klappte die Sonnenblende herunter, um nachzusehen, ob sie noch als Mensch durchging. Noch so ein Aberglaube, den Menschen hegten. Die Vampire, die Robins Schriftstellerkollegen in ihren Romanen beschrieben, hatten kein Spiegelbild, Robin jedoch schon. Und ihres sah verschwitzt und zittrig aus, aber die Leute im AA-Treffen würden das vermutlich für Entzugssymptome halten. Zum Glück waren ihre Reißzähne nicht ausgefahren, sodass ihr Gebiss völlig menschlich aussah.
Einer der Männer, die vor der Kirche rauchten, sah zu ihr herüber.
Schnell tat Robin so, als überprüfte sie im Spiegel, dass keine Essensreste zwischen ihren Zähnen festsaßen. Als er wegsah, klappte sie die Sonnenblende zurück und starrte wieder die Kirche an. Ihre Beine zitterten, aber selbst sie wusste nicht, ob es an ihrer Nervosität oder am Nahrungsmangel lag. Wenn sie nicht bald Blut bekam, zumindest synthetisches, dann würde ihr zunächst schwindelig werden, anschließend würde sie das Bewusstsein verlieren und schlussendlich sogar sterben. Synth-O war teuer, deshalb wartete sie meistens bis kurz vor dem Zubettgehen damit, das Zeug zu trinken. Aber bevor sie nach Hause fahren und eine Flasche Synth-O leeren konnte, musste sie erst das AA-Treffen überstehen.
Die Zahl zweiundachtzig ging ihr durch den Kopf und sie merkte, dass sie unbewusst die Backsteine in der hellen Fassade der Kirche gezählt hatte. Sie hatte gedacht, diese alte Angewohnheit endlich losgeworden zu sein, aber scheinbar war dem nicht so.
Mit einem Knurren öffnete Robin die Fahrertür und stieg aus.
Ihr Atem kondensierte in der kalten Januarluft. Der Geruch von Waschpulver, Öl und Chiligewürz stach ihr in die Nase. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Kirche von Saint Mary zwischen einem Waschsalon und einem Fast-Food-Restaurant lag, das frittierte Hähnchenflügel und Waffeln verkaufte. Sie rümpfte die Nase über diese seltsame Kombination von Speisen. Die Essgewohnheiten der Menschen waren wirklich seltsam. Natürlich aß sie hin und wieder menschliches Essen, um nicht aufzufallen, aber es enthielt nicht die Nährstoffe, die sie brauchte, und es schmeckte ihr nicht.
Auf wackeligen Beinen überquerte sie den Parkplatz und ging an den drei rauchenden Männern vorbei. Sie ignorierte ihre neugierigen Blicke. Kein Blitz fuhr vom Himmel herab, als sie das Gotteshaus betrat, und Robin ging auch nicht in Flammen auf. Sie grinste und zuckte mit den Schultern. Schätze, das ist ein gutes Zeichen.
Die Webseite, auf der sie das AA-Treffen gefunden hatte, besagte, dass die Selbsthilfegruppe sich im Keller der Kirche traf, deshalb führte ihr Weg die steinerne Wendeltreppe hinab.
Gelächter hallte empor.
Robin konnte nicht über das Thema Abhängigkeit lachen. Es war eine Angelegenheit von Leben und Tod, ihrem oder dem eines Menschen. Sie wollte eine Nacht wie die an Silvester nicht noch einmal durchmachen. Eine Frau, die leblos in ihren Armen lag, war mehr als genug.
Als sie unten ankam, folgte sie dem Gang.
Noch lauteres Lachen ertönte hinter einer Tür.
War sie hier wirklich am richtigen Ort? Es gab wohl nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Entschlossen drückte sie die Klinke herunter.
Einundzwanzig Menschen saßen auf Klappstühlen. Einige unterhielten sich, andere starrten ins Leere. Alle tranken Kaffee aus Pappbechern.
Ein Blick und ein rasches Schnuppern verrieten Robin, dass sie aus allen Schichten stammten, angefangen bei einem Mann im Anzug, der roch, als zählte er den lieben langen Tag lang nur Geld, bis hin zu einem Typen in farbbefleckten Arbeitshosen.
Im Gegensatz zu den Leuten bei den Anonymen Esssüchtigen waren die meisten Anwesenden hier Männer. Das war einer der Gründe, warum sie zu den Anonymen Alkoholikern gewechselt war. Robin bevorzugte das schönere Geschlecht und das nicht nur im Schlafzimmer. Einen Mann würde sie nur im äußersten Notfall beißen.
Robin trat ein, nickte in die Runde und schloss die Tür hinter sich, bevor sie sich weiter umsah. Der Raum sah aus, als diente er tagsüber als Kindertagesstätte. Bunte Kinderzeichnungen hingen neben Postern mit den zwölf Schritten der AA. Eine riesige Kaffeekanne, ein Berg Donuts und ein Stapel Pappbecher standen auf einem Tisch in der Ecke.
Die Tür ging auf und der Geruch von Zigarettenrauch strömte in den Raum, gefolgt von den drei Männern, die Robin vor der Kirche gesehen hatte. Die Stuhlreihen füllten sich, deshalb eilte Robin zum einzigen freien Stuhl, der es ihr erlauben würde, mit dem Rücken zur Wand zu sitzen. Ein dickes, blaues Buch lag darauf. »Entschuldigen Sie bitte.« Ihr Mund war trocken und brannte vor Durst. Sie musste sich räuspern, bevor sie weitersprechen konnte. »Ist der Platz noch frei?«
Der grauhaarige Mann links von dem Stuhl mit dem Buch nickte und lächelte sie freundlich an. »Ja, natürlich. Setz dich doch.« Er nahm das Buch in die Hand, legte es auf seinen Schoß und fuhr mit den Fingern über die Buchstaben, die in den Einband eingraviert waren. »Du bist zum ersten Mal hier, oder?«
Robin nickte und rutschte im Klappstuhl nach unten.
»Es ist doch sicher okay, wenn ich du sage, oder?« Ohne Robins Antwort abzuwarten, sprach er weiter und zeigte zum Tisch in der Ecke. »Du kannst dir gerne einen Kaffee holen. Der ist für alle gedacht.«
Robin schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nie verstanden, warum Menschen so besessen von dem bitteren Zeug waren.
»Wie wäre es dann mit einem Donut?«
Sie verneinte. Wenn er doch nur endlich den Mund halten würde.
Aber das tat er natürlich nicht. »Warst du schon mal bei einem Tr…?«
Robin fuhr herum und sah ihm direkt in die Augen. Klappe! Sie wandte ihre Fähigkeit zur Gedankenkontrolle an, um es zu einem Befehl zu machen, dem er Folge leisten musste.
Die Augen des Mannes wurden glasig. Er schloss den Mund so schnell, dass seine Zähne aufeinander klackerten.
Endlich herrschte Ruhe. Auch wenn es nicht immer einfach war, ein bluttrinkender Girah zu sein, so wusste sie in Augenblicken wie diesen durchaus zu schätzen, die Gedanken und das Verhalten von Menschen manipulieren zu können. Erleichtert atmete sie aus, wandte den Blick von Mr. Plappermaul ab und entließ ihn so aus seiner Trance. Sie hoffte, seine Überlebensinstinkte würden nun endlich erwachen und ihn davon abhalten, sich weiter mit ihr zu unterhalten.
Der Jugendliche, der auf ihrer anderen Seite saß, kaute an einem Fingernagel herum. Er war ganz in Schwarz gekleidet und eine ausgebeulte Hose schlotterte um seine schlaksige Figur. Er roch nach etwas, das weit schlimmer als Alkohol war. Heroin? Amphetamine? Robin wusste es nicht, aber was immer es war, machte ihn ziemlich krank. Seine Haut war so blass, dass er einem Vampir mehr ähnelte als sie … oder zumindest der Vorstellung, die Menschen im Allgemeinen von einem Vampir hatten. Er wippte mit dem Knie, und Robin ertappte sich dabei, wie sie die Auf- und Abbewegungen zählte.
Sie riss den Blick von ihm los. Die ganze Situation war irgendwie surreal. Was mache ich eigentlich hier?
Gerade, als sie verschwinden wollte, erhob sich ein bärtiger Mann. »Für alle, die mich noch nicht kennen, mein Name ist Brian und ich bin Alkoholiker. Willkommen zu unserem AA-Treffen.«
Die anderen erwiderten seinen Gruß. Robin schwieg.
»Na dann«, sagte Brian. »Lasst uns das Gelassenheitsgebet sprechen.«
Na toll. Noch mehr Gebete. Das kannte sie schon von dem Treffen der Anonymen Esssüchtigen. Robin hatte damals stur an die Wand gestarrt, weil sie nicht wusste, wie man zum Gott der Menschen betete.
Um sie herum begannen die Leute, im Chor zu murmeln. »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«
Ein Flashback zum Silvesterabend ließ Robin erschauern. Sie sah wieder, wie Meghan sich zu ihr umdrehte. Blut tropfte von ihren Reißzähnen, während sie sagte: »Warum wehrst du dich dagegen? Du kannst nicht ändern, wer du bist.«
Anstatt sie zu entmutigen, machte die Erinnerung an diese Nacht sie nur noch entschlossener. Mit beiden Händen umklammerte sie die Kante des Klappstuhls. Vielleicht kann ich ja nicht ändern, wer ich bin, aber ich kann ändern, was ich tue.
Der Gedanke daran gab ihr die Kraft zu bleiben, obwohl sie am liebsten davongerannt wäre, als Brian die Präambel der AA vortrug und dann einige andere Gruppenmitglieder abwechselnd aus dem blauen Buch lasen.
Das meiste davon schien eher spiritueller als praktischer Rat zu sein. Wie bitte sollten ihr diese kitschigen Mottos, das Psychogelaber und der religiöse Unsinn helfen?
Robin zählte mit, wie oft Gott oder eine höhere Macht erwähnt wurde, nur um beschäftigt zu sein.
Gerade als sie erwog, alle in Trance zu versetzen und zu flüchten, schloss der Mann, der zuletzt vorgelesen hatte, das Buch, und Brian fragte: »Sind heute Abend Neulinge anwesend?«
Der Jugendliche neben Robin nahm seinen Fingernagel aus dem Mund und setzte sich ein bisschen aufrechter hin. Er hörte auf, mit dem Knie zu wippen, und hob die Hand. »Hi, ich bin Kevin und ich … ich schätze, ich bin Alkoholiker.«
»Hi, Kevin«, sagte die Gruppe im Chor. Ihre Begrüßung hallte von den Wänden des Kellerraums wider.
Wie amüsant. Sie war das einzige übersinnliche Wesen hier, aber trotzdem fühlte sich Robin wie die einzig Normale inmitten eines seltsamen Kults.
»Ist sonst noch jemand zum ersten Mal hier?«, fragte Brian und sah sie direkt an.
Zögernd hob Robin ebenfalls die Hand. Sie wollte der Gruppe ihren Namen nicht verraten, wollte aber auch nicht lügen, also sagte sie: »Ich bin nur zum Zuhören hier.«
»Das ist okay. Alles, was während der Sitzung gesagt wird, ist streng vertraulich. Wir überlassen es dir, ob du dich vorstellen willst oder nicht.« Brians Lächeln war halb hinter seinem Bart versteckt. »Unsere heutige Rednerin wird jetzt ihre Geschichte mit uns teilen. Bitte begrüßt mit mir Alana.«
Ein wunderschöner Name. Es juckte Robin in den Fingern, das Notizbuch aus ihrer hinteren Hosentasche zu ziehen und sich den Namen zu notieren, damit sie ihn irgendwann für eine ihrer Protagonistinnen benutzen konnte. Aber dann erregte die Frau, die nun zum Podium schritt, ihre Aufmerksamkeit und sie dachte nicht mehr an das Notizbuch.
Alana war genauso wunderschön wie ihr Name. Mit ihrer schlanken Figur, dem hübschen Gesicht und Haaren, die wie Kupfer schimmerten, sah sie überhaupt nicht wie eine Alkoholikerin aus. Robin wusste nur zu gut, dass der Schein oft trog. Niemand hier beim AA-Treffen würde je denken, dass sie wie jemand aussah, der sich heimlich danach sehnte, ihre Reißzähne in Alanas Halsschlagader zu bohren.
Alana ging mit zügigen Schritten und zuversichtlichem Blick, als sie ihren Platz hinter dem Rednerpult einnahm, aber Robin konnte ihren Angstschweiß riechen und hören, wie ihr Blut durch Venen und Arterien rauschte. Der Puls, der in Alanas Hals pochte, schien ihr zuzurufen: Beiß mich! Beiß mich!
Und als wäre das noch nicht schlimm genug, enthüllte Alanas Geruch auch noch, dass sie Null negativ war. Robin hatte eine ausgeprägte Vorliebe für diese Blutgruppe. Für sie war Null negativ wie für die meisten Menschen eine Packung Häagen-Dazs-Eis, eine große Pizza mit doppelt Käse oder ein Stück Schokoladentorte.
Lecker. Das Dessert ist angerichtet, sagte eine Stimme in Robins Kopf, die sich seltsamerweise wie Meghan anhörte.
Heftiger Durst überkam sie. Sie konnte den salzigen Geschmack fast auf ihrer Zunge spüren. Hör auf damit! Sie war hier, um genau diesen Impuls zu bekämpfen, nicht um darin zu schwelgen. Robin riss den Blick von Alana los und begann zu zählen: die Anzahl der Stühle im Raum, die übrigen Donuts auf dem Tisch, die Silben in den zwölf Traditionen, die auf den Postern an der Wand geschrieben standen, die Knöpfe an Alanas Bluse.
Wie bei einem Menschen in Trance wanderte ihr Blick fast zwanghaft immer wieder zurück zu Alana. Schließlich gab sie den Versuch auf, sich abzulenken, und hörte stattdessen zu, was die Frau zu sagen hatte.
Mit beiden Händen umklammerte Alana das Rednerpult. Normalerweise half es, etwas Festes unter ihren Fingern zu spüren, aber heute verfehlte selbst das seine beruhigende Wirkung. Ihr Blick wanderte über das Publikum und verharrte bei den beiden Neulingen. Während der zappelnde Teenager auf seine wippenden Knie starrte, war der Ausdruck in den Augen der neuen Frau so durchdringend, dass Alana nur schwer der Versuchung widerstehen konnte, sich von ihr abzuwenden. Die kurzen, braunen Haare und die blasse Haut waren nicht wirklich ungewöhnlich. Ganz im Gegenteil. Außer ihren tiefblauen Augen gab es nichts an ihr, das irgendwie hervorstach. Doch trotz der Distanz zwischen ihnen konnte Alana spüren, dass irgendetwas mit dieser Neuen nicht stimmte. Und wie kommst du darauf?Ist ja nicht so, als ob du noch irgendwelche Kräfte hättest.
Jemand räusperte sich.
Reiß dich zusammen! Sie ist nur jemand, der Hilfe sucht. Genau wie du. Alana holte tief Luft. »Hi, mein Name ist Alana und ich bin Alkoholikerin.«
Brian, Pete und die anderen lächelten sie aufmunternd an. »Hi, Alana.«
Die Neue starrte sie immer noch an. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine merkwürdige Mischung aus Emotionen, einige davon nicht zu deuten. Doch Alana hätte schwören können, dass sie Überraschung und so etwas wie Verlangen sah.
Alana schüttelte den Kopf über sich selbst und konzentrierte sich auf Brian. Obwohl er ihre Geschichte kannte, half es, sich vorzustellen, dass sie nur zu ihm sprach. »Mein Lieblingsgetränk war Gin.« Sie schmunzelte. Niemand außer ihr konnte die Ironie darin erkennen. »Gin Fizz, Fallen Angel, Gin direkt aus der Flasche, was immer ich in die Finger bekam.«
Jemand hustete und Alana wartete, bis es wieder ruhig im Raum war.
»Ich habe mit dem Trinken angefangen, nachdem ich meine Freundin mit ihrer Fängerin im Bett erwischt habe.« Als der neue Junge die Stirn runzelte, fügte Alana hinzu: »Sie hat Baseball gespielt. Als sie mir erzählte, dass sie ihren Mitspielerinnen näherkommen wolle, hatte ich keine Ahnung, dass sie diese Art von Näherkommen meinte.« Alana zuckte mit den Schultern, in der Hoffnung, gleichgültig zu wirken, doch sie bezweifelte, dass ihr das irgendjemand abnahm. Egal wie oft sie diese Geschichte erzählte, es schmerzte immer noch. »Nennt mich ruhig naiv, aber ich habe wirklich geglaubt, sie liebt mich und Baseball. In dieser Reihenfolge. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie nur Baseball spielte, um Frauen aufzureißen, und dass sie mich in Wahrheit nie geliebt hat.« Sie umschloss die Seiten des Pults mit ihren Händen so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. »An diesem Abend trank ich zum ersten Mal in meinem Leben Alkohol. Ich ging in eine Kneipe und sagte dem Mann hinter der Bar, er solle mir was Hartes geben. Irgendetwas. Er schlug einen Cocktail namens Suffering Bastard vor und ich war einverstanden. Es schien passend.« Für einen Moment schloss Alana die Augen, während sie sich an das Brennen im Hals, den teils süßen, teils bitteren Geschmack und die darauf folgende Benommenheit erinnerte. Als sie ihre Augen wieder öffnete, traf ihr Blick den der Neuen.
Doch die unterbrach den Kontakt und sah zu Boden, als wäre sie beschämt.
Schätze, sie hat eine ähnliche Geschichte erlebt. Alana konzentrierte sich wieder auf Brian.
Er zwinkerte ihr zu.
»Für diejenigen, die diesen Cocktail nicht kennen: Es handelt sich dabei um eine Mischung aus Brandy, Ginger Ale, Zitronensaft, ein paar Spritzer Bitter und wie ihr vermutlich erraten könnt …« Alana grinste, als alle zusammen mit ihr sagten: »Gin.« Sie wurde ernst. »Ich leerte das Glas in Sekunden und bestellte ein zweites. Mein ganzer Körper begann zu kribbeln. Je mehr ich trank, desto besser fühlte ich mich. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich wieder in unserer Wohnung. Ich lag in dem Bett, das ich mit meiner Freundin teilte. Na ja, meiner Exfreundin, schätze ich. Irgendwie hatte ich es nicht nur geschafft, nach Hause zu kommen, sondern auch, mich total lächerlich zu machen, indem ich meine Ex anflehte, mich zurückzunehmen, als wäre ich diejenige, die Mist gebaut hatte.«
Mehrere Zuhörer schüttelten mitfühlend den Kopf.
»Rückblickend bin ich nicht sicher, was erniedrigender war. Herauszufinden, dass meine Freundin mich betrogen hat, oder nackt neben ihr aufzuwachen, während sie mich selbstgefällig angrinste.«
Alana rieb über das Holz unter ihren schwitzenden Fingern. »Ich zog noch am selben Tag aus. Zuerst in ein Hotel, dann in eine eigene Wohnung. Ich war allein. Und wenn ich sage allein, meine ich, dass ich absolut niemanden hatte. Ein Koffer mit ein paar Kleidern war alles, was ich besaß.« Sie schloss ihre Augen für einen Moment, als sie sich an die Hoffnungslosigkeit dieser Tage erinnerte. »Ich hatte für diese Person alles aufgegeben. Mein Leben, meine Familie, meine Freunde. Und es gab kein Zurück mehr. Mein altes Leben, meine gesamte Existenz, war für immer verloren. Und das alles für eine Frau, die mich betrogen hatte. Ich war so ein Volltrottel. Wie hatte ich jemals denken können, es wäre eine gute Idee, gegen alles, was ich hatte und war, zu handeln?« Ihre Worte waren mehr geflüstert als gesprochen. »Wie dem auch sei, ich konnte nicht zurück in meine … in mein altes Leben, hatte aber auch keine Ahnung, wer ich ohne sie war. Und so vergingen zwei Jahre, in denen es keinen einzigen Tag gab, an dem ich nicht Gin trank. Durch den Alkohol verlor ich meine Selbstkontrolle. Je mehr ich trank, desto mehr wollte ich.«
Als Alana aufsah, begegnete sie dem durchdringenden Blick der Neuen. Tiefes Verständnis spiegelte sich in deren blauen Augen, als ob diese Frau genau wüsste, wovon Alana sprach.
»Ohne Gin hatte ich keine Energie. Ich konnte nicht funktionieren. Ich trank, um mich normal zu fühlen.«
Diesen Teil der Rede hasste sie am meisten. Übelkeit stieg in ihr auf und es fühlte sich an, als wäre kein einziger Tag seit damals vergangen. Sie saß wieder hinter dem Steuer. Die Lichter entgegenkommender Autos blendeten sie und das Schreien hallte in ihren Ohren. »Ich hatte an diesem Tag einen Fall verloren, deshalb ging ich aus und trank mehr als sonst. Nicht, dass ich an diesem Punkt irgendeinen Grund brauchte, um mich zu betrinken.« Alana starrte auf das Podium hinab, damit sie niemandem in die Augen sehen musste. Sie zögerte, bevor sie sagte: »Auf meinem Weg von der Kneipe nach Hause verlor ich die Kontrolle über meinen Wagen. Ich schlitterte auf den Gehweg und erfasste dabei beinahe eine Frau mit ihrem kleinen Sohn, der schlafend in seinem Kinderwagen lag.« Sie schluckte und zwang sich, ihre Zuhörer anzusehen.
Auf den Gesichtern einiger Mitglieder zeigte sich Verständnis. Die meisten hatten vermutlich ähnliche Erfahrungen gemacht, waren betrunken Auto gefahren und dabei nur knapp Katastrophen entgangen.
Sie räusperte sich und zwang sich weiterzureden. »Ich überfuhr ihren Hund, einen gelben Labrador. Er war sofort tot.« Sie wischte sich einige Tränen weg. »Als ich erkannte, was ich getan hatte, war ich entsetzt und übergab mich in meinem Auto. Ich liebe alle Lebewesen dieser Welt. Die Schuld, ein unschuldiges Tier getötet zu haben, alles nur, weil ich es nicht ertragen konnte, nüchtern zu sein, wird mich bis in mein Grab verfolgen.« Ihre Stimme zitterte, als sie hinzufügte: »Nur ein paar Zentimeter zur Seite und ich hätte Mutter und Kind getötet. Ich hätte ebenso die beiden auf dem Gewissen haben können.« Die letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Der Richter verurteilte mich, zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker zu gehen und Gemeindearbeit zu leisten.« Sie sah die anderen offen an. »Als ich hierherkam, wart ihr alle nur Fremde für mich. Ich fühlte mich verloren, als ob ich hier nicht hingehören würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, auch nur einen einzigen Tag ohne Gin zu sein. Wie sollte ich meine Arbeit erledigen oder ohne Alkohol einschlafen können?« Sie atmete aus. »Es war nicht einfach, und die Selbsthilfegruppe brachte auch nicht die Wunderheilung, auf die ich gehofft hatte. Ich wache immer noch jeden Morgen auf und möchte etwas trinken, aber diese wunderbaren Menschen hier haben mich aufgenommen und mir beigebracht, dass es nicht darum geht, kein Verlangen mehr zu haben, sondern darum, stark genug zu sein, dagegen anzukämpfen.« Neue Tränen bildeten sich in Alanas Augen, als sie sich daran erinnerte, was für ein besonderes Datum heute war. »Heute ist der Tag, an dem ich seit achtzehn Monaten trocken bin.«
Die Gruppe applaudierte.
Alana wischte ihre Tränen weg und trat lächelnd vom Podium zurück. Was auch immer passierte, niemand konnte ihr diesen Erfolg wieder nehmen.
Immer noch klatschend stand Brian auf und kam auf sie zu. Er gab ihr eine seiner berühmten innigen Umarmungen, bevor er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche hervorholte und das Kästchen unter dem Podium öffnete. Er lächelte, während er ihr eine der glänzenden Nüchternheitsmünzen mit der Nummer achtzehn überreichte.
Die Münze fühlte sich gut in ihrer Hand an. Sie hatte sie verdient und war stolz darauf, besonders weil sie, mit Ausnahme ihres Jurastudiums, zum ersten Mal ohne die Kräfte, die sie früher besessen hatte, etwas Wichtiges geschafft hatte. Wie ein Idiot grinsend, hielt sie die Münze hoch, damit jeder sie sehen konnte.
Die anderen Teilnehmer jubelten.
Neidisch blickte Robin auf den Bronzechip, der durch die Luft wirbelte, als Alana ihn auf dem Weg vom Podium hochwarf und geschickt wieder auffing. Auf dem Chip stand die Nummer achtzehn.
Alana war seit achtzehn Monaten trocken.
Robins Respekt stieg. Ihr war klar, dass sie es nicht einmal achtzehn Tage schaffen würde, kein Blut zu trinken. Der Versuch würde sie umbringen. Aber vielleicht stimmte es ja, was Alana sagte. Die Worte hallten immer noch durch ihren Kopf: Es geht nicht darum, kein Verlangen mehr zu haben, sondern darum, stark genug zu sein, dagegen anzukämpfen. Sie würde gegen den Drang, Blut frisch von seiner menschlichen Quelle zu trinken, ankämpfen und sich mit synthetischem Blut zufriedengeben, obwohl es teuer war und schmeckte, als leckte man an einem staubigen Fünfcentstück. Wenn sie ein paar zusätzliche Kurzgeschichten schreiben musste, um sich ein paar Liter von dem Zeug kaufen zu können, dann war das eben so.
Vielleicht war es ja doch nicht so sinnlos, hier zu sein, unter Menschen, die die wahre Natur ihres Problems nicht verstehen konnten. Sie hatte weghören wollen, als Alana sprach, konnte es aber nicht. So sehr sich die Geschichte auch von ihrer eigenen unterschied, hatte sie doch tief in ihrem Inneren etwas angestoßen, denn ihre Gefühle waren sich gar nicht so unähnlich.
Je mehr ich trank, desto mehr wollte ich.
Das hätten ihre eigenen Worte sein können, aber sie stammten von Alana.
Sie zuckte zusammen und wurde aus ihren Gedanken gerissen, als die Menschen sich erhoben und einen Kreis bildeten.
»Lasst uns die Sitzung mit einem Gebet beenden«, sagte Brian.
Robin verdrehte innerlich die Augen. Na toll. Noch ein Gebet.
Alle fassten sich an den Händen.
Als Robin zögerte, winkte Brian sie in den Kreis und bedeutete ihr, den Platz zwischen ihm und Alana einzunehmen.
Verdammter Mist. Sie wollte mit keinem Menschen Händchen halten und schon gar nicht mit der verlockenden Rednerin. Allein der Gedanke daran zu spüren, wie das Blut durch deren Adern rauschte, machte sie schwindelig.
Aber Brian grinste sie an. »Keine Sorge, wir beißen nicht.«
Nein, aber ich vielleicht. Robins Magen rebellierte, als sie vortrat. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, griff Brian nach ihren Fingern. Seine Handfläche war rau, voller Schwielen, aber dann glitt eine andere Hand, die warm und weich war, in ihre linke.
Energie lief kribbelnd Robins Arm hinauf und floss dann wie Strom durch den Rest ihres Körpers. Sie wollte ihre Hand wegziehen, wusste aber, dass es nur Aufmerksamkeit erregen würde. Verblüfft drehte Robin den Kopf.
Alana sah von ihrer Hand auf und lächelte Robin zu. Ihre grünen Augen waren so tief und mysteriös wie ein verborgener Waldsee. Als ahnte sie, dass Robin am liebsten geflüchtet wäre, drückte Alana ihre Hand.
Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, stand Robin stocksteif da, als die Gruppe das Vaterunser sprach. Sie kannte das Gebet nicht auswendig, aber sie bewegte lautlos die Lippen und tat, als bete sie mit den anderen.
Alana stand ebenfalls stumm da.
Durch ihre miteinander verbundenen Hände fühlte Robin das Pulsieren in ihren Adern mit jedem Herzschlag, sodass sie das Gebet fast nicht mehr hörte.
Ihre Zähne begannen zu schmerzen und sie zwang sich, stur geradeaus zu schauen, statt den Kopf zu drehen und die glatte Haut von Alanas Hals anzustarren.
Als Brian endlich »Amen« sagte, zog sie rasch ihre Hände zurück und schob sie in die Hosentaschen.
Statt die Versammlung aufzulösen, blieben die meisten Gruppenmitglieder, um noch mehr Kaffee zu trinken und sich zu unterhalten.
Robin sah zur Tür, aber bevor sie endlich entkommen konnte, räusperte sich Brian.
Alana stand noch immer neben ihm und Robin war sich ihrer Anwesenheit nur allzu bewusst.
»Lass mich dich noch einmal persönlich willkommen heißen«, sagte er. »Ich bin Brian und das hier ist Alana. Wir duzen uns hier alle. Ich hoffe, das ist okay.«
Robin zog einen Moment lang in Betracht, einen Namen zu erfinden, aber als sie Alana ansah, sprudelte die Wahrheit nur so aus ihr hinaus. »Robin Cald…«
Brian hob die Hand. »Wir benutzen hier nur unsere Vornamen.«
Robin schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Eigentlich klar. Immerhin heißen sie nicht umsonst die Anonymen Alkoholiker.
»Wie hat dir dein erstes AA-Treffen gefallen?«, fragte Brian.
Robin zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, es war ganz in Ordnung.« Sie riskierte einen Blick zu Alana. »Deine Rede war sehr gut.«
Ein strahlendes Lächeln erhellte Alanas Gesicht von innen heraus und verwandelte ihre Gesichtszüge von hübsch zu atemberaubend. »Danke.«
»Dann kommst du also nächste Woche wieder?«, fragte Brian.
Eine Stimme in Robins Innerem schrie Ja, aber sie war nicht sicher, ob da die Blutlust aus ihr sprach oder der Teil von ihr, der nach Hilfe suchte. »Ich weiß noch nicht.«
»Wir raten Neulingen immer, zu neunzig Treffen in den ersten neunzig Tagen ihrer Nüchternheit zu gehen, deshalb solltest du zu unseren Treffen und zu anderen Gruppen gehen«, sagte Brian.
Das mochte für Menschen ja vielleicht hilfreich sein. Zumindest gab es bei den Treffen keinen Alkohol. Aber für sie bedeutete ein AA-Treffen, einem Raum voller Verlockungen widerstehen zu müssen. Wenn sie noch hungriger wurde, würden selbst die Männer anfangen, wie Leckerbissen auszusehen. »Ich weiß nicht so recht«, sagte sie. »Ich bin nicht sicher, ob das der richtige Ort für mich ist.«
Brian streckte die Hand aus, als wollte er ihren Arm tätscheln, runzelte aber dann die Stirn und zog seine Hand zurück, bevor er sie berühren konnte.
Sieht so aus, als hätte der Alkohol seine Überlebensinstinkte nicht völlig abgetötet. Robin verkniff sich ein Grinsen.
»Tja«, sagte Brian. »Du hast ja noch etwas Zeit, um es dir in Ruhe zu überlegen. Vielleicht würde es dir helfen, wenn du allein mit jemandem sprechen kannst. Du solltest dich auf die Suche nach einem Sponsor machen. So nennt man bei uns einen Mentor, den man anrufen kann, wenn man reden will. Normalerweise empfehlen wir, eine gleichgeschlechtliche Person zu wählen.« Er sah nach links. »Ich bin sicher, Alana meldet sich freiwillig.«
Robin wusste nicht, wer geschockter aussah: Alana oder sie. Beide starrten erst Brian und dann einander an.
Eine Ablehnung wäre unhöflich, aber sie konnte das Angebot unmöglich annehmen. Das Blut, das durch Alanas Adern floss, war praktisch ihre Version von Gin. Mist. Was mache ich jetzt bloß?
Alana sah Brian ungläubig an. Er hatte schon immer einen merkwürdigen Sinn für Humor gehabt, aber das ging zu weit. Sie war noch nicht bereit, jemand anderen als Sponsorin zu begleiten, schon gar nicht eine attraktive Frau. Wo war dieser Gedanke denn hergekommen? Sicher, Robin sah gut aus, aber Alana hatte sich seit Kelly zu keiner Frau mehr hingezogen gefühlt. Sie räusperte sich. »Brian, ich glaube nicht, dass …«
»Ich brauche keinen Sponsor«, sagte Robin.
Brian runzelte die Stirn. »Das ist eines der Dinge, die die Anonymen Alkoholiker so erfolgreich machen. Einen Sponsor zu haben, ist großartig, wenn das Verlangen nach Alkohol zu …«
»Ich habe kein Alkoholproblem«, sagte Robin mit steinerner Miene.
Ja, klar. Es war immer dasselbe. Wenn die Leute das erste Mal zu einem Treffen kamen, dachten sie alle, sie gehörten nicht hierher. Nicht, dass Alana da anders gewesen wäre. Wie die meisten anderen – vielleicht sogar noch mehr – hatte sie ihre Probleme verleugnet. Sie hatte sich vorgemacht, dass diese Gruppe von Menschen nichts für sie tun konnte. Wie sollten sie auch, wenn sie nicht einmal verstanden, wer sie war, oder besser gesagt, wer sie einst gewesen war? Doch die Zeit hatte bewiesen, dass sie sich geirrt hatte, und dieselbe Erfahrung würde die Neue vermutlich auch machen. Alana konnte ihr allerdings nicht helfen. Sie war nicht in der Lage, eine Sponsorin und ein leuchtendes Vorbild für irgendjemanden zu sein. Am wenigsten für eine Frau, zu der sie sich aus irgendeinem Grund hingezogen fühlte.
Alles in ihr schrie, dass sie sich von dieser Person fernhalten sollte. Sie war seit achtzehn Monaten trocken und wollte nichts riskieren. »Brian, vielleicht solltest du Pete oder Caren fragen, ob sie ihr Sponsor sein wollen.«
»Das wird nicht nötig sein.« Robin schielte zum Ausgang. »Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet. Ich muss gehen.«
Alana sah ihr nach.
»Was war das denn?«, fragte Brian.
»Hä?« Alana riss den Blick von Robins Rücken los und schaute Brian an.
Er gestikulierte in Robins Richtung. »Denkst du nicht, dass sie Hilfe brauchen könnte?«
»Natürlich könnte sie das. Sie ist ein ganz typischer Fall.« Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass irgendetwas an dieser Frau anders war. Aber Alana konnte beim besten Willen nicht sagen, worum es sich dabei handelte.
»Warum willst du nicht ihre Sponsorin sein? Ich habe nicht gezögert, dich zu übernehmen, als du das erste Mal hierherkamst. Glaubst du nicht, es ist Zeit, der Gruppe etwas zurückzugeben?«
Alana senkte den Blick. Sie ließ ihre Schultern hängen und nickte. Brian hatte recht. Robin fühlte sich vermutlich genauso verloren, wie sie sich damals gefühlt hatte, bei ihrem ersten Treffen. Vielleicht hatte sie niemanden, der sie unterstützte. Ohne weiter zu zögern, schnappte sie sich ihre Jacke und Handtasche und rannte Robin hinterher.
Als sie die Kirche verließ, hatte Robin bereits den halben Parkplatz überquert.
»Robin!«
Die Frau hielt inne und wandte sich wie in Zeitlupe zu ihr um. »Ja?«
Alana blieb vor ihr stehen. »Ich hab es auch immer verleugnet.«
Einen Augenblick lang schien Robin auf Alanas Blusenkragen zu schauen, doch dann senkte sie ihren Blick und starrte auf den Boden. »Versteh mich nicht falsch, aber du kannst mir nicht helfen.« Sie wandte sich von Alana ab und ging zu einem hellblauen Toyota Prius. »Aber trotzdem danke«, sagte sie über ihre Schulter hinweg, ohne Alana noch einmal anzuschauen.
Alana knabberte auf ihrer Unterlippe herum. Sie konnte sie nicht zwingen. Trocken zu werden, musste ihre Entscheidung sein. Alles, was Alana tun konnte, war, ihr Hilfe anzubieten. Richtig? Richtig. Aber eine hartnäckige Stimme in ihrem Kopf riet ihr, es ein letztes Mal zu versuchen. »Warte.« Sie eilte ihr nach.
Robin öffnete die Fahrertür, sah Alana jedoch immer noch nicht an. »Was ist denn?« Ihre Stimme klang angespannt.
Alana durchwühlte ihre Handtasche, aber statt eines Zettels, auf den sie ihre Telefonnummer schreiben konnte, fand sie nur eine ihrer Visitenkarten. Sie zögerte. Eine der Grundregeln der Gruppe war Anonymität. Sollte sie wirklich …? Mach es einfach! Sie schnappte sich außerdem einen Stift und schrieb ihre Privatnummer auf die Rückseite der Karte, bevor sie sie Robin hinhielt. »Ruf mich an, falls du irgendetwas brauchst.«
Einige endlose Sekunden betrachtete Robin die ihr hingehaltene Karte, machte aber keine Anstalten, sie anzunehmen. Schließlich zog sie die Karte behutsam aus Alanas Fingern und schob sie in ihre Hosentasche. »Danke.« Sie setzte sich hinters Steuer, zog die Fahrertür zu und fuhr los, ohne zurückzuschauen.
»Na, das lief ja super«, murmelte Alana und ging zu ihrem eigenen Auto. Sie war nicht in der Stimmung, wieder hineinzugehen und Brian zu beichten, dass sie die Neue vermutlich endgültig verschreckt hatte. Es war Zeit, nach Hause zu fahren und sich ihrer leeren Wohnung zu stellen. Es wartete sowieso eine Menge Arbeit auf sie.
KAPITEL 2
Mit zitternden Fingern schloss Robin die Tür ihrer Wohnung hinter sich und drehte den Schlüssel herum. Sie atmete viel zu schnell. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihre Beine schlackerten wie zwei dürre Äste im Sturm. Gegen die Tür gelehnt, presste sie die Hände gegen das solide Holz und zählte die Fischgrätenmuster im Parkettboden.
Als sie schließlich auf einhundertvierundzwanzig gekommen war, eine schöne, gerade Nummer, fühlte sie sich ruhig genug, um von der Tür wegzutreten. Sie durchquerte das Wohnzimmer und stellte sich an das große Panoramafenster. Normalerweise hatte der Anblick des Central Parks, der unter ihr lag, eine beruhigende Wirkung auf sie. Von ihrer Wohnung im achtzehnten Stock sahen Menschen, Bäume und Parkbänke kleiner aus und jedes Problem, das sie plagte, schien viel unwichtiger.
Aber heute blieb dieser Effekt aus. Heute schien der Park vor Leben zu pulsieren und sie stellte sich vor, wie das Herz einer Joggerin hämmerte, wie Schweiß den Nacken der Menschenfrau hinablief und das Blut durch ihre Adern rauschte. Die grünen Augen der Joggerin hatten dieselbe Farbe wie Alanas und verdunkelten sich, als Robin den Kopf senkte, ihr Mund sich ihrem Nacken näherte und …
Abrupt drehte sie sich vom Fenster weg. Vielleicht würde ein Glas Synth-O helfen. Ihr knurrte der Magen, daher war es kein Wunder, dass sie sich auf nichts außer Blut konzentrieren konnte. Sie öffnete den Kühlschrank und nahm eine der Flaschen heraus.
Das Synth-O wurde in braunen Flaschen verkauft. Auf dem Etikett stand Maissirup. Wenn Robins Nachbarn sie mit ihren Einkäufen nach Hause kommen sahen, wunderten sie sich vielleicht, wie sie so schlank blieb, obwohl sie jede Woche mehrere Liter Sirup verbrauchte, aber ansonsten fielen die Flaschen kaum auf.
Ein Tropfen Kondenswasser lief an der Flasche nach unten. Sie fuhr seinen Pfad mit einer Fingerspitze nach, bevor sie schließlich den Deckel aufschraubte und die Flasche an die Lippen setzte. Einen Moment lang erwartete sie fast den himmlischen Geschmack frischen Blutes, der süß und salzig zugleich war. Stattdessen benetzte das künstliche Aroma des Synth-O ihre Geschmacksknospen. Igitt. Sie schüttelte sich und trank widerwillig die Flasche aus. Die ungewohnt kühle Temperatur des Getränks half auch nicht gerade. Normalerweise mochte sie Blut am liebsten körperwarm, aber das synthetische Ersatzzeug wurde schnell schlecht, wenn man es nicht im Kühlschrank aufbewahrte. Auch wenn Gehirn und Geschmacksempfinden protestierten, kümmerte es den Rest ihres Körpers nicht, wo das Blut herkam. Alle Sinne erwachten zum Leben und das Zittern in den Muskeln hörte endlich auf.
Mehr, schrie ihr Körper. Obwohl das synthetische Blut sämtliche Nährstoffe enthielt, die sie brauchte, so fehlte ihr doch der Nervenkitzel der Jagd, der spannende Moment, in dem sie …
Schroff schüttelte sie den Kopf, um die gefährlichen Gedanken zu vertreiben.
Nachdem Robin die Kühlschranktür mit einem Knall zugeschlagen hatte, ging sie in ihr Büro und fuhr den Computer hoch. Es war an der Zeit, eine Besessenheit durch eine andere zu ersetzen.
Sie war wild entschlossen, frisches Menschenblut, das sie keinen Cent kosten würde, von ihrem Speiseplan zu streichen. Deshalb musste sie versuchen, ein paar Kurzgeschichten an Verlage zu verkaufen, um bis zur nächsten Auszahlung ihrer Autorentantiemen über die Runden zu kommen.
Glücklicherweise waren übernatürliche Liebesgeschichten ziemlich beliebt, seit ›Bis(s) zum Morgengrauen‹es auf die Bestsellerliste der ›New York Times‹ geschafft hatte.
Robin knurrte und ihre Reißzähne traten hervor, so wie immer, wenn sie an diese lächerliche Romanserie dachte. Glitzernde Vampire! Pah! Sie würde dieser ahnungslosen Menschenfrau zeigen, wie Vampirromane geschrieben werden sollten.
Energisch öffnete sie ein neues Dokument auf ihrem Computer, spreizte die Finger und machte sich an die Arbeit.
Einige Stunden später hielt sie inne und las sich die letzten Absätze durch. Hmm. Langes, wallendes Haar, das wie Kupfer in der Sonne glänzte, bezaubernde grüne Augen, Haut wie Alabaster … Die Frau, in die ihre Vampirin sich verlieben würde, besaß eine verdächtige Ähnlichkeit mit Alana.
Sie brauchte aber noch einen Beruf. Robin nahm die Hände von der Tastatur und begann, mit einem Kugelschreiber zu spielen. Vielleicht konnte die Frau, Alissa, ja Ärztin sein. Dann konnte sie ihrer Liebsten Blut vom Krankenhaus besorgen. Sie selbst versuchte auch hin und wieder, an abgelaufenes Material von der Blutbank zu kommen, auch wenn das gar nicht so einfach war.
Ihr wurde ganz warm bei dem Gedanken. Nein! Hör endlich auf, daran zu denken. Ihren Charakter zur Ärztin zu machen, war ohnehin keine gute Idee. Das hatte es schon zu oft in Vampirromanen gegeben. Sie musste sich etwas Neueres einfallen lassen, etwas, das zu einer Person passte, die so faszinierend wie Alana war. Alissa! Die Hauptfigur heißt Alissa, verdammt!
Als ihr nichts einfiel, zog sie die Visitenkarte aus der Hosentasche und betrachtete sie.
Alana Wadd
Rechtsanwältin
Familienrecht und Scheidungen
Hmm, eine Scheidungsanwältin … Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Das war eine hervorragende Idee!
Sie pinnte die Visitenkarte an die Magnettafel über ihrem Schreibtisch und begann wieder, auf die Tastatur einzuhämmern.
Als sich Robin sechs Tage später in ihr E-Mail-Konto einloggte, fand sie eine Antwort vom Fangs & Claws Verlag vor. »Wow, das war schnell.« Der Verlag, bei dem sie normalerweise ihre Bücher veröffentlichte, war toll, aber die Lektorinnen brauchten sehr viel länger, um über Annahme oder Ablehnung eines Manuskripts zu entscheiden. Aus diesem Grund hatte sie es diesmal mit einem Kleinverlag versucht, der für zügiges Arbeiten bekannt war. Wenn alles gut ging, konnte sie dort vielleicht sogar eine längere Geschichte veröffentlichen, vielleicht eine Novelle über ihre Vampirin und deren Freundin, die Scheidungsanwältin. Das würde genug Geld einbringen, um für eine Weile ihr Synth-O zu bezahlen.
Sie klickte auf die E-Mail und begann zu lesen. Wie bitte? Hatte sie etwa Halluzinationen? Sie las die Mail erneut. Mit jedem Wort brodelte es mehr in ihr.
Sehr geehrte Ms. Caldwell,
Danke, dass Sie Ihre Kurzgeschichte »Bis dass der Tod uns scheide« beim Fangs & Claws Verlag eingereiht haben.
Ihre Kurzgeschichte ist unterhaltsam, Ihre Charaktere dreidimensional und liebenswert. Leider sind wir aber der Meinung, dass Ihre Geschichte nicht in unsere Anthologie passt. Unserer Erfahrung nach mögen unsere Leserinnen keine Heldinnen, die in dem von Ihnen genannten Zweig des Rechtssystems arbeiten.
Falls Sie Ihr Manuskript auf Grundlage dieser Rückmeldung überarbeiten möchten, schaue ich mir die Geschichte gerne noch mal an.
Mit freundlichen Grüßen,
Tina McNealy
Cheflektorin
Fangs & Claws Verlag
Robin ließ die ausziehbare Tastaturschublade krachend zurückschnappen. Unsere Leserinnen mögen keine Heldinnen, die in dem von Ihnen genannten Zweig des Rechtssystems arbeiten. Was zum Teufel sollte das denn heißen?
Sie blickte zu der Visitenkarte, die an ihrer Magnettafel hing. Sie hatte genau den richtigen Beruf für ihre Hauptfigur gewählt, aber scheinbar war ihre Zielgruppe nicht der Meinung, dass Scheidungsanwältinnen sexy waren. Schnaubend sprang Robin auf. Pah. Was wissen die denn schon? Ganz offensichtlich hatten sie noch nie eine Scheidungsanwältin wie Alana kennengelernt.
Sie marschierte zum Kühlschrank und öffnete ihn. Vielleicht würde eine Flasche synthetisches Blut ihr dabei helfen, sich zu beruhigen, damit sie sich hinsetzen und die Geschichte nach den Wünschen der Lektorin überarbeiten konnte. Obwohl sie noch immer glaubte, dass der Beruf der Scheidungsanwältin perfekt zu einer Figur in einem übersinnlichen Liebesroman passte, wusste sie, dass sie ihren Stolz herunterschlucken und sich professionell verhalten musste. Mit Eitelkeit konnte sie das Synth-O nicht bezahlen.
Sie griff ins Getränkefach, zog ihre Hand dann aber leer zurück.
Was ist das denn? Sie bückte sich und warf einen Blick in den Kühlschrank.
Der Kühlschrank war leer, mit Ausnahme einiger Flaschen Wasser, die sie benutzte, um den Rostgeschmack des Synth-O loszuwerden. Offensichtlich hatte sie während ihrer Schreibmarathons in den vergangenen Nächten die letzten Flaschen Synth-O geleert.
Na toll.
