Bach und ich - Maarten 't Hart - E-Book

Bach und ich E-Book

Maarten 't Hart

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Beschreibung

Welche Rolle der Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach für das Leben und Schreiben des Schriftstellers Maarten 't Hart spielt, kam schon in seinem Roman »Das Wüten der ganzen Welt« zum Ausdruck. Kenntnisreich rekonstruiert der Autor nun die Biografie Bachs, nähert sich vorsichtig, seriös und dennoch sehr persönlich seinem Lieblingskomponisten, beschäftigt sich mit der Legendenbildung und vor allem mit der Musik des großen Meisters. Eine fundierte und liebevolle Hommage an den Bach der Kantaten, der Kammermusik und der Konzerte.

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Übersetzung aus dem Niederländischen von Maria Csollány

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

9. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-96034-2

© 2000 Maarten 't Hart Deutschsprachige Ausgabe: © 2005 Piper Verlag GmbH, München Erstausgabe: Arche Verlag AG, Zürich-Hamburg 2000 Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagabbildung: Johann Ernst Rentsch d.Ä. ("Bildnis Johann Sebastian Bach", Angermuseum, Erfurt) Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Der große Unbekannte

Im Reich der Musik gibt es zwei Komponisten, die – mit dem 1. Buch Samuel 10, 23 zu sprechen – »um eines Hauptes größer sind denn alles Volk«. Turmhoch überragen Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart ihre komponierenden Zeitgenossen. Auch nach ihnen sind, ohne Beethoven, Schubert, Wagner und Verdi herabsetzen zu wollen, nie wieder Komponisten hervorgetreten, die ihrer Genialität das Wasser reichen konnten. Während jedoch seit Mozarts frühester Kindheit allgemein erkannt wurde, daß man es mit einem unvergleichlichen, überlegenen Talent zu tun hatte, und auch Mozart selbst sich seiner einmaligen Größe durchaus bewußt war, nahm man zu Bachs Lebzeiten dessen kolossales Talent kaum zur Kenntnis. Fraglich ist außerdem, ob es Bach selbst jemals zu Bewußtsein gekommen ist, daß er zu den größten Genies der Menschheit zählte. Oder wie Klaus Häfner sagt: »Daß je seine Werke zum musikalischen Evangelium der Nachwelt werden und von dieser Takt für Takt studiert werden würden, hat er gewiß niemals geahnt.« Dadurch »zieht sich«, wie Friedrich Blume bemerkt, »durch Bachs ganzes Leben und Schaffen als schöner Charakterzug die Anerkennung anderer Musiker und die Hochachtung vor ihnen«. Wie vorteilhaft hebt sich diese Eigenschaft ab gegenüber Mozarts tiefer Verachtung für die Mehrzahl seiner Kollegen!

Dennoch wäre es günstiger für uns gewesen, wenn sowohl Bach selbst als auch seine Zeitgenossen geahnt hätten, daß sein Werk »zum musikalischen Evangelium der Nachwelt« werden sollte. Dann hätte man sicherlich, wie bei Mozart, von Kindheit an möglichst viele Informationen über ihn gesammelt. Man wäre sorgsamer mit seinen Kompositionen umgegangen, so daß aller Wahrscheinlichkeit nach weniger Werke verlorengegangen wären. Denn während wir über Mozart sozusagen von der Wiege an überraschend gut informiert sind und von seinem Werk nur ein geringer Teil verschollen ist, sind unsere Kenntnisse über Bach überaus spärlich. Emil Platen sagt in seinem Buch über die Matthäus-Passion: »Unser gesichertes Wissen über Bachs Lebensweg und seine Persönlichkeit, über die Zahl seiner Werke und deren Entstehung, über seine ästhetischen Ansichten und kompositorischen Absichten ist äußerst gering.« Wenn wir dem Nekrolog glauben dürfen, den Carl Philipp Emanuel Bach 1754 zusammen mit Johann Friedrich Agricola und Lorenz Christoph Mizler verfaßt hat, so sind mindestens zwei vollständige Jahrgänge der Kirchenkantaten und drei Passionen verlorengegangen. Man stelle sich vergleichsweise vor, eine der drei Da Ponte-Opern von Mozart wäre abhanden gekommen! Ein geradezu erschütternder Gedanke. Und doch müssen wir uns im Fall Bachs damit abfinden, daß drei von fünf Passionen und möglicherweise mehr als hundert der insgesamt dreihundert Kirchenkantaten unwiederbringlich verloren sind. Ferner sind überraschend viele weltliche Kantaten spurlos verschollen, und alle Bach-Kenner gehen davon aus, daß von der Instrumentalmusik, die Bach während seines Aufenthalts in Köthen komponiert hat, nur ein Bruchteil erhalten geblieben ist.

Dies bedeutet, daß wir niemals wissen werden, wie groß Bach in Wirklichkeit war. Es ist keinesfalls undenkbar, daß es unter jenen Instrumentalstücken, Passionen und Kantaten Werke gab, die dem Konzert für zwei Violinen, der Matthäus-Passion, der h-moll-Messe und der Kantate »Du Hirte Israel, höre« (BWV 104) gleichkamen oder sie vielleicht sogar übertrafen. Angenommen, Le Nozze di Figaro wäre verlorengegangen, vielleicht wäre Mozart heute in unseren Augen um einen Bruchteil weniger genial. Wir können deshalb nicht ausschließen, daß aus Bachs Œuvre Werke verschollen sind, die für unser Bach-Bild ebenso unverzichtbar wären wie Le Nom di Figaro für unser Mozart-Bild.

All dies bedeutet, daß niemand sich je rühmen kann, ein wirklicher Bach-Kenner zu sein. Wir wissen zuwenig. Wir kennen nicht seine gesamte Musik. Auch über sein Leben sind wir, so viele umfangreiche Biographien auch erschienen sind, sehr schlecht unterrichtet. Über Bachs Kindheit sind wir, wie Friedrich Blume bemerkt, »auf Vermutungen angewiesen«. Bis zu den Jahren in Arnstadt tappen wir im dunkeln.

Wir wissen, daß Johann Sebastian Bach am 21.März 1685 in Eisenach geboren wurde, daß er mit neun Jahren zuerst die Mutter, dann den Vater verlor und bei seinem älteren Bruder in Ohrdruf aufwuchs. Aus den Ohrdrufer Jahren ist uns, außer daß er im Gymnasium zu den besten Schülern gehörte, nur die anrührende Geschichte überliefert, daß er nachts heimlich Musikstücke abschrieb, die sein Bruder in einem verschlossenen Schrank aufbewahrte.

Von Ohrdruf aus ging er – zu Fuß? – nach Lüneburg. Auch über seinen dortigen Aufenthalt ist wenig bekannt. »Leider vermittelt auch aus Lüneburg keine Quelle etwas über Bachs musikalische Bildung.« (Blume) Daß er von dort aus mehrere Fußwanderungen unternommen hat, um berühmte Organisten spielen zu hören, gehört ins Reich der Spekulationen. Wir wissen auch nicht genau, wann Bach Lüneburg verlassen hat. Am 4.März 1703 wurde er am Hof des Herzogs Johann Ernst in Weimar aufgenommen, aber was genau er dort getan hat und welche Instrumente er spielte, ist nicht bekannt. Er blieb einige Monate dort und erhielt anschließend eine Bestallung als Organist in Arnstadt.

Es scheint, als wüßten wir seit Arnstadt mehr über ihn, doch was uns aus dieser Zeit bekannt ist, stammt fast ausschließlich aus erhalten gebliebenen Protokollen über kleine und große »Streitigkeiten« mit Kirchenräten und anderen Würdenträgern, wie sie sich auch in späteren Jahren zutrugen. Dadurch entstand ein völlig verzeichnetes Bild von Bachs Leben, so als sei er auch in seiner Zeit in Leipzig ständig in Konflikte verwickelt gewesen, ja, als hätte er diese Konflikte geradezu gesucht. Tatsächlich läßt sich jedoch die Anzahl der Streitfälle, in die er während der 65Jahre seines Lebens geriet, an den Fingern beider Hände abzählen. Aber da wir lediglich über diese Fälle ausführlich Bescheid wissen, sieht es so aus, als sei Bach ein lästiger Mensch gewesen. In Arnstadt wurde er gerügt, weil er während des Gottesdienstes einen Weinkeller besucht hatte, weil er den Gymnasiasten Johann Heinrich Geyersbach einen »Zippelfagottisten« genannt, weil er eine »frembde Jungfer« zur Orgel hatte singen lassen und weil er seinen Urlaub überschritten hatte insgesamt vier Vorfälle. Das ist alles, was aus den Arnstadter Jahren bekannt ist. Außerdem noch der Vorwurf, er habe »viele wunderliche variationes gemachet« und »viele frembde Thone mit eingemischet, daß die Gemeinde drüber confundiret worden«. Wären aus diesen Jahren vier andere Begebenheiten überliefert, unser Bild des jugendlichen Bach hätte völlig anders ausgesehen.

Von seinem kurzen Aufenthalt in Mühlhausen ist uns ebenfalls fast nichts bekannt. Wir erfahren, daß er, als er dort angestellt war, in Dornheim nahe Arnstadt Maria Barbara heiratete, doch wie sie aussah, was für eine Frau sie war – wir wissen nichts von ihr. Man vergleiche das mit unseren Kenntnissen über Constanze Weber! Der große Bach-Biograph Philipp Spitta vermutet, daß Bach in Mühlhausen in einen Kirchenstreit zwischen Lutheranern und Pietisten geriet, doch gibt es dafür keinerlei Beweise.

Nach der kurzen Amtszeit in Mühlhausen hat er fast neun Jahre in Weimar verbracht, nach Leipzig seine längste Anstellung. Und was wissen wir über diese Weimarer Jahre? So gut wie nichts! In Weimar wurden seine ältesten Kinder geboren. In Weimar war er offensichtlich sehr glücklich (warum sollte er sonst so lange dort geblieben sein?), und doch war er 1717 plötzlich so versessen darauf, bei Fürst Leopold von Anhalt-Köthen in Dienst zu treten, daß er in jenem Winter eine dreiwöchige Gefängnisstrafe in Kauf nahm, um Weimar verlassen zu können. Wie er die Haftstrafe überstanden hat, wissen wir nicht. Daß er im Gefängnis am Orgel-Büchlein oder am ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers gearbeitet haben soll, gehört zu den Legenden. Georg von Dadelsen hat inzwischen überzeugend nachgewiesen, daß das Orgel-Büchlein schon früher, zwischen 1713 und 1716, in Weimar komponiert wurde. Wir wissen auch nicht, warum er Weimar verlassen wollte. Ein möglicher oder zumindest doch nicht unwahrscheinlicher Grund dafür könnte sein, daß man ihm bei einer Bestallung den wenig begabten Sohn seines Vorgesetzten vorzog, doch auch dafür gibt es keine Beweise.

Die Jahre in Anhalt-Köthen gehörten zu den glücklichsten in Bachs Leben – wie er selbst 1730 in einem Brief an einen Jugendfreund aus Leipzig schrieb –, doch war er nur verhältnismäßig kurz, von Ende 1717 bis Anfang 1723, dort angestellt. Außerdem strebte er bereits 1720 nach dem Posten des Organisten an der Jacobikirche in Hamburg. Also wollte er damals schon fort. In dem obenerwähnten Brief nennt er als Grund für seinen Wunsch fortzugehen, daß Fürst Leopold eine amusa geheiratet habe, doch diese amusa starb am 24.April 1723 und war schon tot, als Bach die Stelle in Leipzig antrat. Dieser Grund für Bachs Wegzug von Köthen war längst hinfällig, als Bach sich dazu entschied. Dennoch hat er seinen Entschluß nicht rückgängig gemacht.

In Köthen ist Maria Barbara gestorben. Wie sein Sohn Carl Philipp Emanuel berichtet, erfuhr Bach erst, daß seine Frau gestorben und schon begraben war, als er von einer Reise zurückkehrte, die er in Begleitung seines Fürsten unternommen hatte. »Die erste Nachricht, daß sie krank gewesen und gestorben wäre, erhielt er beym Eintritte in sein Hauß.« Gut ein Jahr später heiratete Bach Anna Magdalena Wilcke, eine Sopranistin, die ebenfalls bei Fürst Leopold angestellt war und die er schon längere Zeit gekannt haben muß. Auch über Anna Magdalena wissen wir fast nichts. Es ist nicht einmal genau bekannt, wie ihr Nachname geschrieben wurde: Wülcken, Wülcke, Wilcke oder Wilcken. Sie liebte Nelken und Singvögel – das ist ungefähr alles. Wie sie aussah – wir wissen es nicht.

In Leipzig wiederholte sich, was sich auch in Arnstadt zugetragen hatte. Vieles, was wir über Bachs dortigen Aufenthalt wissen, beruht auf Quellen, die erhalten geblieben sind, weil sie über Konflikte berichten. Eine Auseinandersetzung 1728 über die Auswahl der Lieder, die in der Nikolaikirche gesungen werden sollten, eine andere 1730 über Bachs entschiedene Weigerung, den Schülern der Thomasschule Lateinunterricht zu erteilen, eine weitere 1736 darüber, wer den Chorpräfekten zu ernennen habe, der Kantor oder der Rektor. Der letzte Streit zog sich über zwei Jahre hin. Alle diese Konflikte werden in den Biographien ausführlich behandelt, einfach weil sie gut dokumentiert sind. Alles, was Bach sonst noch tat, bleibt im dunkeln. Er muß in den ersten Leipziger Jahren ein gewaltiges Arbeitspensum geschafft haben. Kein Komponist, nicht einmal Mozart, hat in so kurzer Zeit so viel unvergängliche Musik komponiert wie Bach in den Jahren 1723 bis 1729. Doch was erfahren wir? Wir erfahren von drei Streitfällen. Das ist herzlich wenig und erweckt doch den Anschein, als hätte Bach sich während der gesamten Leipziger Jahre mit seinen Vorgesetzten gestritten.

Ich wiederhole: Wir wissen überraschend wenig von seinem Leben. Nur gelegentlich erhaschen wir einen Blick darauf und meist dank dem, was Carl Philipp Emanuel über seinen Vater erzählt: »Bey Anhörung einer starck besetzten u. vielstimmigen Fuge, wuste er bald, nach den ersten Eintritten der Thematum, vorherzusagen, was für contrapuncktische Künste möglich anzubringen wären u. was der Componist auch von Rechtswegen anbringen müste, u. bey solcher Gelegenheit, wenn ich bey ihm stand, u. er seine Vermuthungen gegen mich geäußert hatte, freute er sich u. stieß mich an, als seine Erwartungen eintrafen.« Dieses Bild von Bach, der seinen Sohn freudig anstößt, wenn seine Erwartungen eintrafen, gibt unendlich viel mehr darüber wieder, welch ein Mann er gewesen sein muß, als alle Berichte über jene elenden Auseinandersetzungen.

Einen anderen Einblick gewährt uns die unvergeßliche Geschichte des Rektors Johann Matthias Gesner, auf lateinisch geschrieben und in einer Fußnote versteckt in der Ausgabe der Institutiones oratoriae des Marcus Fabius Quintillianus. »Dies alles würdest Du, Fabius, völlig unerheblich nennen, wenn Du, aus der Unterwelt heraufbeschworen, Bach sehen könntest – um nur ihn anzuführen, denn er war vor nicht allzu langer Zeit mein Kollege an der Leipziger Thomasschule; wie er mit beiden Händen und allen Fingern etwa unser Klavier spielt, das allein schon viele Kitharai in sich faßt, oder jenes Grund-Instrument, dessen zahllose Pfeifen von Bälgen angeblasen werden, wie er hier mit beiden Händen, dort mit schnellen Füßen über die Tasten eilt und allein gleichsam Heere von ganz verschiedenen aber doch zueinander passenden Tönen hervorbringt; wenn Du ihn sähest, sag ich, wie er bei einer Leistung, die mehrere Eurer Kitharisten und zahllose Flötenspieler nicht erreichten, nicht etwa nur eine Melodie singt wie der Kitharöde und seinen eigenen Part hält, sondern auf alle zugleich achtet und von 30 oder gar 40Musizierenden diesen durch ein Kopfnicken, den nächsten durch Aufstampfen mit dem Fuß, den dritten mit drohendem Finger zu Rhythmus und Takt anhält, dem einen in hoher, dem andern in tiefer, dem dritten in mittlerer Lage seinen Ton angibt; wie er ganz allein mitten im lautesten Spiel der Musiker, obwohl er selbst den schwierigsten Part hat, doch sofort merkt, wenn irgendwo etwas nicht stimmt; wie er alle zusammenhält und überall abhilft und wenn es irgendwo schwankt, die Sicherheit wiederherstellt; wie er den Takt in allen Gliedern fühlt, die Harmonien alle mit scharfem Ohre prüft, allein alle Stimmen mit der eigenen begrenzten Kehle hervorbringt …«

Als ob man einen kurzen Blick in die Thomaskirche werfen dürfte! Warum sind solche Äußerungen über Bach so selten, während so viele vom Tun und Treiben Mozarts berichten? Warum besitzen wir von Bach nur eine Handvoll persönliche Briefe, während von Mozart Dutzende überliefert sind? Als hätten sich Himmel und Erde zu Bachs Lebzeiten verschworen, möglichst wenig Persönliches von ihm zu bewahren.

Wir besitzen ein Gemälde, von dem wir sicher wissen, daß es Bach darstellt, das Porträt von Elias Gottlieb Haußmann von 1746. Zwar wird behauptet, dieser Haußmann habe 1748 Bach nochmals gemalt, doch jenes Porträt ist eine so genaue Kopie des Bildes aus dem Jahr 1746 (es sind lediglich einige Knöpfe mehr darauf zu sehen), daß Haußmann – leider kein Porträtmaler ersten Ranges – wahrscheinlich nur eine Kopie seines ersten Gemäldes anfertigte. Später wurden noch weitere Kopien erstellt, und aus einem Brief Zelters an Goethe geht hervor, daß ein Leipziger Leinwandhändler beim Anblick der Kopie spontan sagen konnte: »Das ist Bach.« Haußmann hat also in jedem Fall ein wirklichkeitsgetreues Bild abgeliefert. In der Thomas-schule, in der das Gemälde aufgehängt wurde, diente es als Ziel für die Wurfgeschosse der Schüler. Es wurde mehrfach restauriert, und deshalb ist fraglich, ob der Mann, den wir heute auf dem Bild sehen, noch eine gewisse Ähnlichkeit mit Bach zeigt. So tappen wir bei der Frage, wie Bach wirklich aussah, ebenfalls im dunkeln.

Wenn man dazu noch überlegt, wie überraschend wenig von Bachs Musik zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde, dürfen wir zutiefst dankbar sein, daß trotzdem soviel erhalten geblieben ist. Ein gewaltiges Œuvre, doch wie wenig ist es bekannt! Wie ich oft feststelle, haben selbst feurige Bewunderer von Bach kaum eine Ahnung von den wirklichen Höhepunkten in diesem wunderbaren Œuvre: die Sopran-Arien aus den Kantaten BWV 115, 149 und 151; die Alt-Arien aus den Kantaten BWV 34 und 117; die Eingangschöre aus den Kantaten BWV 96, 180, 109, 104 und 105; die Tenor-Arien aus den Kantaten BWV 85, 87 und 97; die Duette aus den Kantaten BWV 3 und 101. Sein schönstes Orchesterwerk mit jener wunderbaren kleinen Melodie im Mittelteil, die Sinfonia aus der Kantate »Am Abend aber desselbigen Sabbats« (BWV 42) – wann wird sie jemals im Konzertsaal aufgeführt? »Warum diese Sinfonia niemals in den Rang eines Meisterwerkes für den Konzertsaal erhoben wurde, bleibt ein Rätsel«, sagt William Gillies Whittaker zu Recht in seinem Buch über Bachs Kantaten.

Viele sehen in Bach den Großmeister des Kontrapunkts, der er gewiß auch war, aber er war vor allem ein Melodien-Erfinder sondergleichen. Wilhelm Furtwängler bemerkt, daß es in der Musik zwei herausragende Melodien-Erfinder gegeben hat: Bach und Verdi. Meiner Ansicht nach können zu diesen beiden noch die Namen von Mozart und Schubert hinzugefügt werden. Auch Mozart hat hinreißende Melodien erfunden, zum Beispiel die Arie »Ruhe sanft, mein holdes Leben« aus dem Singspiel Zaide (KV 344) oder die unvergängliche Melodie, die plötzlich im letzten Satz des Klavierkonzerts KV 503 auftaucht, während Schubert in dem Lied »Der Fluß« schon Verdi vorwegnimmt.

Doch wie groß Mozart, Schubert und Verdi als Melodien-Erfinder auch gewesen sind, sie alle werden von Bach übertroffen. Verdis Einfälle, manchmal überwältigend schön, sind meistens kurz. Bei Mozart sind sie verhältnismäßig selten, seine Kraft äußerte sich in vielen anderen Dingen. Wie kein anderer wußte er seine Melodien zu variieren und mit Gegenmelodien zu kombinieren, wie beispielsweise aus dem Anfang der Symphonie A-Dur (KV 201) hervorgeht. Als Melodien-Erfinder tritt vielleicht nur Schubert in Bachs Fußstapfen, doch nicht einmal er hat Melodien erschaffen wie die der Baß-Arie »Die Welt ist euch ein Himmelreich« aus der Kantate BWV 104, die man sein Leben lang vor sich hinpfeifen kann, ohne daß sie jemals langweilt oder etwas von ihrem Glanz und Zauber verliert. Das rührt auch daher, weil Bach seine Melodien stets so überwältigend schön harmonisiert. Die Baß-Arie ist ein anschauliches Beispiel dafür.

Daß Bach der größte Melodien-Erfinder im Reich der Töne war – dem werden nicht viele zustimmen. Der Grund liegt darin, daß die weit über zweihundert Kantaten kaum bekannt sind. Auch mit diesem Buch werde ich wohl nichts daran ändern können. Ich kann nur über Johann Sebastian Bach schreiben, der mich als Kind mit der Bearbeitung des Chorals »Wohl mir, daß ich Jesum habe« aus der Kantate BWV 147 in seine Obhut genommen hat und den ich über alles liebe mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstand und all meiner Kraft.

I

Bach –

der Organist und Komponist,

der Vater und Lehrer

»Das Bild der großen Meister unserer musikalischen Vergangenheit ist in steter Wandlung begriffen …«

Friedrich Blume

»Beide rollten auf dem Boden herum«

Der Vorfall in Arnstadt

Johann Sebastian Bach, der Jüngste der Geschwisterschar, war ein Nachkömmling. Seine Mutter, geboren am 24.Februar 1644, war bereits 41Jahre alt, als er am 21.März 1685 in Eisenach geboren wurde. Neun Jahre später starb sie. Sein Vater, Johann Ambrosius Bach, heiratete in zweiter Ehe eine Frau, die selbst zweimal verwitwet war. Sie brachte ein mit Sebastian gleichaltriges Töchterchen in die Ehe. Kurz darauf – Sebastian war noch immer neun Jahre alt – starb auch Ambrosius. Die nun schon zum drittenmal verwitwete Frau war offenbar außerstande, für Johann Sebastian zu sorgen.

Zusammen mit seinem um drei Jahre älteren Bruder kam er zu dem ältesten Bruder, Johann Christoph, nach Ohrdruf, wo er die Lateinschule besuchte. Erhalten gebliebene Schriftstücke bezeugen, daß er zu den besten Schülern gehörte. Wie Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel erzählt – die Geschichte erscheint zum erstenmal in dem von ihm, Johann Friedrich Agricola und Lorenz Christoph Mizler verfaßten Nekrolog für Mizlers Musikalische Bibliothek (1754) –, soll der kleine Johann Sebastian nachts heimlich Partituren aus einem verschlossenen Schrank entwendet haben, um sie bei Mondlicht abzuschreiben. Einige Biographen sehen darin die Ursache des Augenleidens, dessentwegen Bach an seinem Lebensende zweimal operiert wurde. Doch schadet es den Augen nicht, wenn man bei Kerzen- oder auch Mondlicht Partituren abschreibt. Friedrich Blume bemerkt in seinem Aufsatz Der junge Bach zu dieser rührenden Anekdote: »Einerlei, ob wahr oder nicht: so viel geht daraus hervor, daß von einer planmäßigen oder rasch fortschreitenden Ausbildung Sebastians bei seinem Bruder nicht die Rede gewesen sein kann.«

Als Bach fünfzehn Jahre alt war, ging er, da er offensichtlich nicht länger bei seinem Bruder wohnen bleiben konnte, zusammen mit dem um drei Jahre älteren Schulkameraden Georg Erdmann nach Lüneburg, demselben Georg Erdmann, dem er später aus Leipzig einen der wenigen erhaltenen Briefe schreiben sollte. Dort besuchte Bach die Michaelisschule. Über die Zeit in Lüneburg gibt es viele Vermutungen, doch nur sehr wenig ist dokumentiert. »Wir wissen nicht einmal genau, wann er Lüneburg verlassen hat«, hält Friedrich Blume fest. Jedenfalls hat er im Alter von achtzehn Jahren mehr als vier Monate in Weimar verbracht. »… was er dort in den vier Monaten seines Aufenthalts getrieben hat, ist unbekannt«, sagt Blume.

Vom 9.August 1703 bis zum 29.Juni 1707 war Bach als Organist in Arnstadt angestellt. Da Bach vermutlich immer recht kurz angebunden war, kam es regelmäßig zu Auseinandersetzungen. So auch in Arnstadt. Blume bemerkt wohl zu Recht: »… das Maß an Geduld, über das Bach verfügte, ist in seinem ganzen Leben nie sehr groß gewesen.« Einem solchen Konflikt verdanken wir die erste Geschichte über Bach, in der er für uns sprechend und handelnd auftritt.

Merkwürdigerweise wird es Bachs Biographen kaum richtig bewußt, daß wir bei diesem Vorfall in Arnstadt Bach plötzlich aus der Dämmerung eines dichten biographischen Nebels über seinen ersten zwanzig Lebensjahren für einen kurzen Augenblick in hellem Licht hervortreten sehen. In der berühmten Biographie von Philipp Spitta fehlt die Geschichte. Sie ist nämlich erst seit 1904 bekannt und zwar dank Diakon Weißgerber. Dieser hielt 1904 zum 73. Geburtstag des regierenden Fürsten zu Arnstadt eine Festrede über Johann Sebastian Bach in Arnstadt, worin er die ganze Geschichte preisgab. Seitdem findet man sie in allen Biographien. Überraschend ist, wie sie immer wieder ein wenig anders erzählt wird und wie manche Details variieren.

Charles Sanford Terry gibt die Geschichte folgendermaßen wieder: »Bach kam in Begleitung seiner Kusine Barbara Catharina vom Schloß zurück. Er ging über den Ledermarkt zum Marktplatz, weiter entlang der Galerie vermutlich Richtung Kohlgasse, als ein Schüler des Gymnasiums, ein Fagottist namens Geyersbach, in Begleitung von fünf anderen Burschen mit drohend erhobenem Spazierstock auf ihn zutrat und eine Entschuldigung für eine angebliche Äußerung über seine Fähigkeiten als Fagottist verlangte. Bach wies die Behauptung zurück, worauf Geyersbach ihn mit ›Hundsfott‹ anschrie und mit dem Stock auf ihn losging. Bach parierte mit seinem Degen, so daß der reizbare Fagottist kurzerhand in Gefahr schwebte, bis seine Begleiter eingriffen. Die Rauferei beschäftigte die Gemeinde: Am 5.August 1705 wurde Bach vor das Konsistorium im Schloßbezirk geladen und gestand, Geyersbach einen ›Zippelfagottisten‹ genannt zu haben.«

Der merkwürdige Ausdruck »Zippelfagottist« ist das erste Wort, das aus dem Munde Bachs verbürgt ist. Er war damals – wie gesagt – zwanzig Jahre alt, eine Äußerung von ihm vor dieser Zeit ist nicht überliefert. Einige Biographen geben zwar die Geschichte wieder, lassen aber gerade dieses prächtige erste Wort weg. So zum Beispiel Eva Mary und Sidney Grew 1947 in ihrem Bach-Buch. Nachdem sie die Episode mehr oder weniger ähnlich erzählt haben wie Terry, aus dessen Biographie sie sie wohl auch abgeschrieben haben, fügen sie hinzu: »Wer immer auch das Mädchen Barbara war, sie bewunderte zweifellos ihren Begleiter wegen seines Mutes und seiner ritterlichen Qualitäten. Und wahrscheinlich bedauerte der Fechter selbst keineswegs die Gelegenheit, sich in so bemerkenswerter und herausragender Weise darzustellen.« Das ist pure Spekulation, der nicht der geringste Beweis zugrunde liegt. Merkwürdigerweise leiten sie ihre Geschichte mit dem Satz ein: »Im Juli oder frühen August des Jahres 1705 machte Sebastian eine besonders unangenehme Erfahrung.« Doch gerade über das Datum besteht kein Zweifel. Es ist belegt, daß der Vorfall sich am 4.August 1705 ereignet hat.

Es geschah »nach einem Besuch in Schloß Neudeck«, berichtet Malcolm Boyd in seinem Buch über Bach. Boyd nennt auch die Namen von zwei der fünf Studenten, die Johann Heinrich Geyersbach begleiteten: Hoffmann und Schüttwürfel. Er gibt außerdem das Wort »Zippelfagottist« wieder (bei ihm »Zippel Fagottist« geschrieben). Von allen Biographen ist er der einzige, der sich eingehender mit der Frage beschäftigt, welches Mädchen denn Bach begleitet hat. »Entweder handelte es sich«, schreibt Boyd, »um eine Tochter Johann Michael Bachs aus Gehren, geboren 1679, also eine ältere Schwester von Bachs späterer Frau Maria Barbara.« Allerdings wohnte zu jener Zeit noch eine andere Kusine Bachs in Arnstadt, eine Tochter von Johann Christoph Bach, die ebenfalls Barbara Catharina hieß. So erfahren wir in dem von Karl Müller und Fritz Wiegand herausgegebenen Arnstädter Bachbuch, diese sei das fragliche Mädchen gewesen. Doch laut Boyd ist das wiederum nicht möglich, denn diese Barbara Catharina starb 1709, nachdem sie mehr als vier Jahre bettlägerig gewesen war.

Karl Geiringer dagegen erzählt die Geschichte in seinem Buch Johann Sebastian Bach. The Culmination of an Era folgendermaßen: »Geyersbach, seit drei Jahren Schüler von Sebastian, arrangierte ein Treffen mit Bach in dunkler Nacht und griff ihn mit einem Stock an, wobei er ihn einen ›dreckigen Hund‹ nannte, da sich der Organist über ihn als ›Ziegen-Fagottisten‹ lustig gemacht hatte. Sebastian zog seinen Degen, ein Kampf begann, und es wäre wohl Blut geflossen, wenn nicht Augenzeugen interveniert hätten, nachdem Geyersbachs Kamisol bereits allerlei Löcher abbekommen hatte.« In dieser Version kommt Barbara Catharina gar nicht vor, die Begleiter Geyersbachs sind zu »Augenzeugen« geworden, und wir hören plötzlich, daß Bach bereits »allerlei Löcher« in Geyersbachs Kamisol gestochen habe.

In einem Büchlein von Tim Dowley, Bach. His Life and Times (1981), lesen wir sogar, daß die wechselseitige Animosität zwischen Bach und Geyersbach dermaßen zunahm, »daß die beiden auf der Straße mit den Fäusten aufeinander losgingen. Von einem bestimmten Moment an zog Sebastian den Degen und hieb die Kleider seines Feindes in Fetzen.« Das klingt nun schon sehr viel schlimmer als ein paar Löcher in einem Kamisol!

In einem kürzlich erschienenen Bändchen von Christopher Headington, Johann Sebastian Bach. An Essential Guide to his Life and Works, lautet die Geschichte so: »Ein Student namens Johann Geyersbach, ein schlechter Fagottist, der in der Neukirche spielte und älter war als Bach, wurde von dem jungen Organisten heftig kritisiert, er klänge wie eine Ziege. Natürlich war Geyersbach beleidigt, und am 4.August 1705, auf dem Heimweg von einer Taufe und vermutlich leicht angetrunken, rächte er sich. Er traf Bach und Maria Barbaras ältere Schwester auf der Straße und verlangte eine Entschuldigung. Bach weigerte sich, woraufhin Geyersbach ihn mit seinem Stock schlug, ihn einen ›Hundsfott‹, einen Schurken, nannte. Bach zog daraufhin ein Messer, Umstehende allerdings brachten die beiden auseinander. Bach legte Beschwerde bei den Kirchenobersten ein, er könne sich nicht sicher bewegen, wenn Geyersbach nicht bestraft und inhaftiert würde, aber man sagte ihm, daß er dafür teilweise selbst verantwortlich sei. Beide jungen Männer wurden daraufhin verwarnt.«

In dieser Version ist Geyersbach »vermutlich leicht angetrunken«, und Bach zieht nicht den Degen, sondern ein Messer. Das Wort »vermutlich« bedeutet auch hier wie meistens im Sprachgebrauch der Biographen, daß es dafür keine Beweise gibt. Merkwürdigerweise ist der Degen zu einem Messer geworden, und sehr sonderbar ist auch, daß er behauptet, Geyersbach »schlug ihn mit seinem Stock«, denn in allen anderen Varianten hat Geyersbach zwar einen »Brügel« bei sich, schlägt aber nie damit zu.

Sehr viel korrekter verhält sich der Bach-Biograph Alec Robertson, der die Geschichte in einem Nebensatz abtut: »Der Student Geyersbach, dessen Person oder Fagott Bach so schwerwiegend beleidigte, daß sich daraus eine Auseinandersetzung auf offener Straße ergab, war bereits 21Jahre alt, als Bach nach Arnstadt kam.« Hier stimmt wiederum Geyersbachs Alter nicht.

Ich selbst habe die Geschichte zum erstenmal in einem Prisma-Taschenbuch gelesen, in der niederländischen Übersetzung einer in der Schweiz erschienenen Biographie von Antoine-E. Cherbuliez, einem Geschenk von Onkel und Tante, als ich 1962 meine Abschlußprüfung an der HBS-b bestanden hatte. Cherbuliez schreibt: »Einen Primaner (der drei Jahre älter als sein Lehrer Bach war!) mußte er wegen unbefriedigenden Fagottspiels tadeln; dieser fühlte sich beleidigt und stellte später seinen Lehrer einmal in der Straße, unter Drohungen mit einem Stock Genugtuung verlangend; er wurde aber von Bach mit heftigem Degengefuchtel vertrieben!« Keine zerrissenen Kleider oder Löcher in einem Kamisol in dieser Variante. Und auch keine Nichte oder Zippelfagottisten.

In dem vorzüglichen Bach-Buch von Hans Brandts Buys findet sich wohl die schlichteste Schilderung des Vorfalls, die mir untergekommen ist. »Die erhaltenen Schriften berichten von einem Handgemenge mit dem Gymnasiasten Geyersbach, den Bach einen ›Zippelfagottisten‹ genannt haben soll.« Dies ist alles, immerhin steht darin das erste Wort, das aus dem Munde Johann Sebastian Bachs überliefert ist.

In der deutschsprachigen Bach-Literatur ist die Geschichte selbstverständlich in allen Biographien enthalten, die nach 1904 erschienen sind. Zum Beispiel heißt es bei Albert Schweitzer: »Vor seiner Lübecker Reise hatte es einen wüsten Auftritt zwischen ihm und dem Schüler Geyersbach gegeben. Dieser war auf der Straße mit einem Stock auf ihn losgegangen, weil er von ihm durch Schimpfworte beleidigt worden war. Bach hatte den Degen gezogen. Zum Glück hatten sich andere Schüler dazwischen geworfen und sie getrennt. Die Sache war vor das Konsistorium gekommen, wo festgestellt wurde, daß Bach das betreffende Schimpfwort wirklich gebraucht hatte.« Sollte Schweitzer nicht bekannt gewesen sein, was Bach gesagt hatte? Oder sollte er es aus Prüderie verschwiegen haben? Doch welcher Biograph läßt einen solch prächtigen, charakteristischen Ausdruck unerwähnt?

Bernhard Paumgartner dagegen zitiert den Ausdruck in seiner monumentalen Bach-Biographie, von der bislang nur der erste Teil Bis zur Berufung nach Leipzig erschienen ist. Paumgartner gibt Einzelheiten wieder, die sich bei keinem anderen der bisher zitierten Biographen finden. Er weiß zu berichten, daß der Vorfall »beim ›Langen Stein‹ vor dem Rathaus« stattfand. Er sagt ferner, Geyersbach sei vor allem deshalb so beleidigt gewesen, weil Bach ihm »die schmerzhafte Apostrophe wahrscheinlich ›in Corona musicorum«‹ zugefügt habe. Außerdem teilt Paumgartner uns mit, daß Bach »in Begleitung einer Cousine – war es Onkel Johann Christophs Tochter, Barbara Catharina aus der Kohlgasse, oder gar Maria Barbara? – vom Schloß herab über den Ledermarkt kam«, als Geyersbach ihn »mit fünf Kerlen stockbewehrt« anrempelte. Laut Paumgartner setzte Bach »dem Angreifer mit seinem Degen so energisch zu, daß die Kumpane alle Mühe hatten, ihn vor weiterer Bedrängnis zu schützen«. Nach dieser Version hat Bach sofort den Degen gezogen, und es war offensichtlich nicht einfach, die Kämpfenden zu trennen. Von einem Schaden am Kamisol oder an der Jacke Geyersbachs ist gleichfalls nicht die Rede. Bemerkenswert ist außerdem, daß Paumgartner seiner Darstellung den Satz hinzufügt: »Natürlich flog die Affaire wie ein Lauffeuer durch die kleine Stadt und fand ihr Nachspiel vor dem Konsistorium.« Aus dem Wort »natürlich« dürfen wir ähnlich wie aus dem Wort »vermutlich« bei Headington folgern, daß der Biograph hier das Reich der Mutmaßungen betritt.

In dem reichillustrierten Buch von Werner Felix kommt es »am Abend des 4.August 1705 beim Marktplatz sogar zu einer tätlichen Auseinandersetzung, die der Schüler Geyersbach anzettelte, und in der Bach wohl keineswegs nur mit Besonnenheit reagiert zu haben scheint«. Was genau geschah, brauchen wir offensichtlich nicht zu erfahren, dennoch folgert Felix für uns: Bach habe nicht »besonnen« reagiert. Ehrlich gesagt, sehe ich nicht recht ein, wie Bach in einem solchen Fall hätte »besonnen« reagieren sollen. Rasch weglaufen? Sich entschuldigen?

Die kurioseste Version der Geschichte findet sich in der 1969 erschienenen Rowohlt-Monographie von Luc-André Marcel. Das Büchlein ist so atemberaubend schlecht, daß es schon drei Jahre darauf im Verlag Contact in der niederländischen Übersetzung von Theodor Duquesnoy erschienen ist. Marcel erzählt uns, daß Bach, als er den Chor in Arnstadt leitete und »ein Schüler keine Lust hatte zu arbeiten«, anfing »zu schelten«. Er »wurde zornig, verlor schnell alle Haltung und machte sich lächerlich durch seine komische Wut. So behandelte er seine Schüler auch in Arnstadt. Zwei Jahre hindurch gab es dauernd Zusammenstöße, Zornausbrüche, Beleidigungen und heftige Proteste, die eines Abends mit einer Schlägerei endeten. Anlaß war eine Probe, bei der ein Schüler namens Geyersbach, drei Jahre älter als Bach, Albernheiten mit seinem Fagott trieb. Der junge Meister stampfte gleich mit den Füßen und schalt ihn einen ›Zippelfagottisten‹, was eine allgemeine Heiterkeit bewirkte. Voller Wut beschloß Geyersbach, den Organisten zu verprügeln; in einer dunklen Nacht überfiel er ihn, schlug mit dem Stock auf ihn ein und schimpfte ihn einen ›Hund‹. Unser Virtuose, der seinen Degen bei sich hatte, zog vom Leder, besann sich schnell auf das Wenige, was er vom Fechten wußte, und fing an, das Hemd des Angreifers kreuz und quer zu zerfetzen. Schlag fiel auf Schlag, und es hätte weiß Gott einen Mord geben können, ohne das Eingreifen der Nachbarn, die durch den Lärm aufgeschreckt worden waren.«

Dies ist schlichtweg unerhört. Nur der Name Geyersbach, der Ausdruck »Zippelfagottist« und die Tatsache, daß Geyersbach drei Jahre älter war als Bach, entsprechen der Wahrheit. Den Rest hat sich Marcel von A bis Z aus den Fingern gesogen, einschließlich der plötzlich auftauchenden ominösen Nachbarn. Nachbarn von wem, Monsieur Marcel? So empörend dies alles sein mag: Wie ich erfahre, ist das Buch immerhin 1993 im Rowohlt Verlag durch die kluge Bach-Monographie von Martin Geck ersetzt worden.

In dem kulturhistorischen Porträt Johann Sebastian Bachs von Guido van Hoof lautet die Geschichte wie folgt: »An einem Sommerabend kehrte Sebastian mit seiner Base Catharina vom Schloß Neideck zurück und wurde auf dem Marktplatz von dem 23jährigen Lyzeumsschüler J. Heinrich Geyersbach überfallen. Dieser hatte auf einer Tauffeier offensichtlich zu viel gebechert und griff nun den Organisten und Chordirigenten mit seinem Spazierstock an, weil dieser ihn vormals einen ›Ziegenfagottisten‹ genannt hatte. Sebastian zog seinen Degen (des Hofmusikers?), und beide rollten auf dem Boden herum, bis die Umstehenden die Kämpfenden trennten. Nachdem man die Parteien und die Zeugen bis zu dreimal auf der Neidecksburg verhört hatte, wurde das Verfahren nach Erteilung von Verweisen eingestellt. Bemerkenswert: Sebastian war damals schon Pfeifenraucher, wie aus dem Protokoll hervorgeht.«

In dieser Variante gibt es ein Detail, das bislang noch nicht vorkam: »Beide rollten auf dem Boden herum.« Mitsamt »Spazierstock« und »gezücktem Degen«? Das Rollen dürfte ihnen schwergefallen sein. Und wie kommt van Hoof darauf, daß Geyersbach dem Komponisten mit seinem Spazierstock zu Leibe rückte?

Von Peter Washington wird die Geschichte folgendermaßen erzählt: »In einer dunklen Nacht begegnete Bach Geyersbach auf dem Heimweg vom Schloß, wo er gespielt hatte. Anscheinend konnten die beiden einander nicht ausstehen. Geyersbach, ein Raufbold, der drei Jahre älter war als Bach, lauerte ihm mit fünf Kameraden auf. Bach war möglicherweise besonders aufgeregt durch die Anwesenheit seiner Kusine Barbara Catharina, die ihn begleitete. Übermütig geworden durch das Bier und die Anwesenheit seiner Kameraden, nahm Geyersbach die Gelegenheit wahr, den Chordirigenten zur Rede zu stellen wegen dessen geringschätzigem Urteil über Geyersbachs Charakter und musikalischen Fähigkeiten. Bach hatte ihn einen ›Ziegenfagottisten‹ genannt. Die Beleidigungen flogen hin und her, Geyersbach nannte Bach einen ›schmutzigen Hund‹, ging mit dem Stock auf ihn los, und Bach zog den Degen. Die beiden wurden voneinander getrennt, doch Bach erhob Anklage beim Kirchenrat, wo sich das Verfahren wochenlang hinschleppte.«

Woher weiß Washington, daß es eine »dunkle Nacht« war? Hat er die Mondphasen im August 1705 studiert? War damals Neumond? Und woher weiß Washington, daß »die beiden einander nicht ausstehen konnten«? Und wieso weiß er so genau, daß Geyersbach bei der Taufe, von der er weiter nichts berichtet, Bier getrunken hatte? Könnte es nicht auch Wein gewesen sein? Oder Schnaps? Und woher stammt die Aussage »die Beleidigungen flogen hin und her«? Warum nimmt er an, Bach sei durch die Anwesenheit von Barbara Catharina besonders aufgeregt gewesen? Walter Kolneder weiß in seinem Bach-Buch von Details zu berichten, die sich bei keinem anderen Autor finden. Bach hatte »die Tabackspfeife im Munde«, als er mit »seiner Base Barbara Catharina, die in Arnstadt verheiratet war, vorbeikam und offenbar von Geyersbach angestänkert wurde. Dieser ging ›mit einem Brügel‹ auf ihn los, worauf Bach den Degen zog. Es kam zum Handgemenge mit den Schülern, Geyersbach behauptete nachher, ›und währen in seinem Camisol noch die Löcher von den Stichen zu ersehen. Schließlich hat die Base beruhigend auf ihren Vetter eingewirkt.«

Die Löcher in Geyersbachs Kamisol sind wieder da. Die Base erweist sich plötzlich als verheiratet. Bach raucht Pfeife, als Geyersbach ihn anredet. Und das verheiratete Bäslein tritt als Friedensstifterin auf!

Die Pfeife finden wir auch bei Friedemann Otterbach. Doch dieser beginnt seine Geschichte mit der folgenden Feststellung, die bei keinem anderen Autor auftaucht: »Wie der Vorfall sich wirklich zutrug, ist im einzelnen nicht mehr genau feststellbar.« Otterbach hält sich bei der Wiedergabe der Begebenheit penibel an jene Schriften, die in dem 1969 herausgegebenen Band 2 der Bach-Dokumente über den Vorfall berichten. Deshalb ist Otterbach im Augenblick der zuverlässigste Biograph, was diese Geschichte angeht. Bevor ich auf die Dokumente zu sprechen komme, will ich noch die beiden Versionen der Geschichte vorstellen, die Karl Eidam in seiner 1999 erschienenen Biographie Das wahre Leben des Johann Sebastian Bach und Wolfgang Sandberger in seinem ebenfalls 1999 veröffentlichten Buch Bach 2000 geben.

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