Bianca Extra Band 130 - Allison Leigh - E-Book

Bianca Extra Band 130 E-Book

ALLISON LEIGH

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Beschreibung

WEIHNACHTEN AUF DER RANCH DER HOFFNUNG von Allison Leigh

Winterzauber auf ihrer Ranch – und ein dunkler Verdacht! Die hübsche Rory fürchtet, dass ihr neuer Gast, der milliardenschwere Investor Gage Stanton, es insgeheim auf ihren Besitz abgesehen hat. Warum nur vergisst sie bei Gages erstem Kuss unterm Mistelzweig alle Bedenken?

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EIN BESTER FREUND ZUM HEIRATEN? von LAUREL GREER

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Seitenzahl: 704

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Allison Leigh, Melissa Senate, Brenda Harlen, Laurel Greer

BIANCA EXTRA BAND 130

IMPRESSUM

BIANCA EXTRA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© Deutsche Erstausgabe 2023 in der Reihe BIANCA EXTRA, Band 130

© 2020 by Allison Lee Johnson Originaltitel: „Something About the Season“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Andrea Cieslak

© 2020 by Melissa Senate Originaltitel: „The Long-Awaited Christmas Wish“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Patrick Hansen

© 2019 by Harlequin Enterprises ULC Originaltitel: „Maverick Christmas Surprise“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Renate Hochmann

© 2022 by Lindsay Macgowan Originaltitel: „Lights, Camera…Wedding?“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Rainer Nolden

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751516914

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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Weihnachten auf der Ranch der Hoffnung

1. KAPITEL

„Was zur Hölle ist das nun wieder?“

Gage Stanton ignorierte die Frage seines Bruders, als sie vor der Einfahrt zur Angel River Ranch anhielten. Sie hatten Stunden gebraucht, um den Ort, der nur ein winziger Punkt auf der Landkarte nahe der Grenze zwischen Wyoming und Montana war, zu erreichen.

Noah beugte sich vor und schaute durch die Scheiben von Gages BMW über die Gegend. „Das ist ja zum Kotzen“, murmelte er nicht zum ersten Mal, seit sie morgens das Gericht in Denver verlassen hatten.

„Willst du die nächsten Monate lieber im Gefängnis sitzen?“

Noah presste die Lippen zusammen. Er war zweiundzwanzig Jahre alt. Verzogen. Egoistisch.

Und reich, abgesehen davon, dass Gage die Kontrolle über Noahs Erbschaft hatte. Dafür verschwendete Noah regelmäßig sein extrem großzügig bemessenes Taschengeld.

„Ich wäre nicht im Gefängnis“, sagte er. „Archer hätte mich freibekommen.“

„Kleiner, du bist nur deshalb nicht in Haft, weil ich den Richter überzeugt habe, dich mit Arbeit wieder auf den rechten Weg bringen zu können.“ Nicht dass Noah jemals auf dem rechten Weg gewesen war. Das hatte ihre Mutter vor ihrem Tod am meisten bekümmert. „Außerdem ist Archer Templeton mein Anwalt. Nicht deiner.“ Gage würde nicht zugeben, wie oft sein Anwalt schon wegen seines Bruders interveniert hatte. Aber selbst Archer hatte genug.

Noah richtete sich starr auf. „Nenn mich nicht Kleiner.“

„Dann hör auf, dich wie ein kleines Kind zu benehmen“, entgegnete Gage scharf. Er bog auf die unbefestigte Straße ab und fuhr durch das schmiedeeiserne Tor auf die Ferienranch.

Er hätte einen SUV mieten sollen. Das wäre besser für die Fahrt durch die tiefste Provinz geeignet gewesen als sein M8.

Angesichts der hohen Preise von Angel River überraschte ihn die primitive Straße. Er nahm sich vor, die Zufahrtswege zur Rambling Rad Ranch daraufhin zu überprüfen.

Gage war sich immer noch nicht sicher, was ihn bewogen hatte, als Hauptpartner in ein Gästeranch-Projekt einzusteigen. Er baute Luxusresorts. Entwickelte Wohnanlagen. Industriekomplexe. Keine Orte, an denen Leute Cowboy spielten. Und normalerweise arbeitete er nicht mit Partnern zusammen – auch nicht, wenn es sich um frühere Angestellte handelte, denen er vertraute.

Es war nicht etwa ein schlechter Plan. The Rad lag direkt am Rambling Mountain. Der Berg in Wyoming war in Privatbesitz gewesen. Inzwischen war Otis Lambert, der Eigentümer, gestorben, und Gage hatte die heruntergekommene Rinderranch ersteigert. Mit April Dalloway und ihrem Mann Jed als Partnern an seiner Seite standen die Aussichten auf Erfolg gut. Ungewiss war allerdings noch, was mit dem Land ringsum geschehen sollte.

In seinem Testament hatte Otis Lambert verfügt, dass der Berg jenseits der Ranch öffentlich – idealerweise als State Park – genutzt werden sollte, doch bisher war nichts beschlossen.

„Sieht nicht gerade toll aus.“ Noahs mürrische Stimme riss Gage aus seinen Gedanken.

Er musste seinem Bruder zustimmen. Links und rechts der kurvigen Straße war buchstäblich nichts. Es gab keine Bäume. Es gab überhaupt nichts Grünes. Selbst die Felder waren nicht mehr golden, sondern braun.

Er konnte es nur auf die Jahreszeit schieben. Es war Ende Oktober. Zu Hause in Denver hatte es diesen Monat schon einmal geschneit. Sean McAdams, der Eigentümer von Angel River, hatte ihm gesagt, dass es bei ihnen wahrscheinlich erst nach Thanksgiving Schnee geben würde. Aber Gage solle sich darauf einstellen. Nur für den Fall.

Da der Ausflug ins Nichts nicht geplant gewesen war, hatte Gage nicht lange darüber nachgedacht, was er mitnehmen sollte. Er reiste viel und hatte einfach wie üblich gepackt.

Sein Anwalt hatte ihm vor einigen Monaten von der Angel River Ranch erzählt. Sie war mit vielen Travel Awards ausgezeichnet und eine der renommiertesten Ferienranches im Westen der Vereinigten Staaten. Gage hatte es arrangiert, dass sein Mitarbeiter Wade Jenkins dort ein paar Wochen hinter die Kulissen schauen durfte. Dafür zahlte Gage neben den reinen Unterbringungskosten auch eine Entschädigung, denn schließlich würde er die Informationen eines Tages nutzen, um Angel River Konkurrenz zu machen.

Dann war die Sache mit Noah passiert.

Gage hatte nicht vorgehabt, selbst herzukommen, noch viel weniger mit seinem missratenen Bruder im Schlepptau. Aber an diesem Morgen vor Gericht hatte er sich gezwungen gesehen zu handeln.

Denn er hatte seiner Mutter versprochen, immer auf ihn aufzupassen.

Diesmal hatte Noah vor dem Richter gestanden, weil er mit dem Auto in die Glasfront eines Hochhauses gekracht war. Eines Hochhauses, das Gage gehörte.

Zum Glück war niemand verletzt worden. Nicht einmal Noah selbst.

Natürlich war er betrunken gewesen, obwohl er gerade erst eine Entziehungskur hinter sich hatte. Und er war sauer auf Gage, weil er ihm gesagt hatte, dass ihm das Taschengeld gestrichen würde. Dass er sich einen Job suchen und ein produktives Mitglied der Gesellschaft werden müsse.

Überflüssig zu erwähnen, dass Noah nicht erfreut darüber war. Er war der einzige Erbe eines Pharma-Magnaten. Er hatte es nicht nötig zu arbeiten.

Gage hatte vor der Wahl gestanden, seinen Bruder ins Gefängnis wandern zu sehen oder persönlich zu garantieren, dass Noah nüchtern bleiben und arbeiten würde.

Er hatte den Eigentümer von Angel River angerufen und ihm seine Planänderung mitgeteilt. Noah für eineinhalb Monate mit auf die Ranch zu nehmen, könnte sich entweder als seine beste Idee überhaupt oder als eine seiner schlechtesten herausstellen.

Gage unterdrückte einen Seufzer und folgte der Schotterstraße, bis hinter einer scharfen Kurve plötzlich ein grüner Streifen Land auftauchte. Bäume mit herbstlich verfärbtem Laub standen am Ufer eines glitzernden Flusses, der an einer großen Lodge auf einem Hügel vorüberfloss. Einige kleinere Gebäude waren auf beiden Seiten des Flusses verteilt.

Pferde grasten auf einer Koppel, und noch weiter entfernt sah Gage Vieh weiden und ein paar Reiter. Die Szenerie wirkte genauso malerisch wie auf der Website der Ranch.

„Was soll ich hier überhaupt machen?“ Noahs trotziger Tonfall ging Gage auf die Nerven.

Er hielt an einem Stoppschild vor einem besseren Schuppen. „Es ist eine Ranch“, sagte er. „Ich bin mir sicher, dass es hier viele Dinge gibt, die du tun kannst.“

Noah murrte vor sich hin, während sich eine junge Frau mit kurzem pinkfarbenen Haar der Beifahrerseite des Wagens näherte.

Lächelnd lehnte sie sich zum offenen Fenster herunter. „Willkommen auf Angel River. Sie müssen Mr. Stanton sein.“

„Er ist das.“ Noah deutete mit einer Kopfbewegung auf Gage.

Trotz seines mürrischen Tons lächelte sie weiter. „Ich bin Marni. Sie werden schon in der Lodge erwartet.“ Sie zeigte zum Blockhaus auf dem Hügel. „Hier haben Sie eine Karte des Anwesens.“ Sie reichte Noah eine Broschüre. „Genießen Sie Ihren Aufenthalt!“

Gage schaute ihr nach, als sie zum Wärterhäuschen zurücklief. „Niedlich.“

Noah knurrte nur vor sich hin. Ob ihm das Mädchen gefiel, würde er offensichtlich nicht verraten.

Gage hatte keine Ahnung, was Noah gefiel. Seines Wissens hatte sein Bruder sich nie öfter als ein paar Male mit einer Frau getroffen.

Aber das könnte man sich auch über ihn erzählen. Er war einmal verheiratet gewesen. Kurz und vor langer Zeit. Als geschiedene Leute verstanden er und Jane sich viel besser als während ihrer Ehe. Sie war mittlerweile mit einem anständigen Kerl verheiratet, der ihr die Zeit widmete, die ein Mann seiner Frau widmen sollte. Sie hatten sogar Kinder.

Doch Gage hatte seine Lektion gelernt. Er setzte auf seine Stärken. Beziehungen gehörten nicht dazu.

Er fuhr weiter zur Lodge, wo er erleichtert ausstieg und sein Handy hervorholte. Die Signalstärke war nur schwach. Da er aus der Ferne ein Unternehmen zu leiten hatte, hoffte er, dass es auf der Ranch wenigstens WLAN gab.

„Komm schon“, sagte er zu seinem Bruder, der im Auto geblieben war. „Hier trübsinnig zu sitzen, wird nichts ändern.“

Noah murmelte, dass er ihn mal könne.

Gage hätte beinahe gelächelt.

Sein Bruder war wenigstens konsequent.

Im Büro der Lodge stand Rory McAdams am Fenster und beobachtete, wie der hochgewachsene Mann aus dem tief liegenden schwarzen Auto stieg. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber alles an ihm wirkte ungeduldig. Von der Geste, wie er sich durch das dunkle Haar strich, bis zu der Art, wie er auf sein Handy und seine Armbanduhr schaute.

Das bedeutete zu allem Überfluss, dass er einer von jenen war.

Einer von jenen Gästen, die völlig angespannt ankamen und frustriert erkennen mussten, dass ihre schicken kleinen technischen Geräte ihnen hier nicht viel nützten. Es gab zwar kabelloses Internet auf der Ranch, aber es war nicht gerade das schnellste. Die Telefone hingen an einem altmodischen Ding namens Draht. Es gab nicht einmal Fernseher auf den Zimmern, und die Zeitung, auf deren Abonnement ihr Vater bestand, wurde immer ein paar Tage verspätet geliefert.

Rory sah ihren Vater über die Schulter an. Obwohl der Krebs bei Sean McAdams auch nach zwei Jahren nicht zurückgekehrt war, hatte der Kampf gegen die Krankheit seine Spuren hinterlassen. Er war nur ein Schatten des Mannes, der fast ihr ganzes Leben lang Angel River geleitet hatte.

„Er ist da.“

Ihr Vater nickte. „Ich habe dir gesagt, dass er kommen wird.“ Er warf ihr einen scharfen Blick zu. „Egal, wie sehr du gehofft hast, dass er nicht auftaucht.“

Rory schluckte ihren Widerspruch herunter, denn ihr Vater hatte recht.

„Geh ihn lieber begrüßen“, drängte er sie. „Er ist ein zahlender Gast.“

„Gage Stanton ist ein Konkurrent“, murmelte sie. Einer, der ihr Erfolgsrezept erfahren wollte, um ihnen später damit Konkurrenz zu machen.

Da ihr Dad sie beobachtete, nahm sie die Geschenktüten, die alle Gäste bei ihrer Ankunft erhielten, und verließ das Büro.

Das Arrangement mit Stanton hatte ihr Dad ohne ihr Wissen getroffen. Was mochte er noch planen, wovon er ihr nichts erzählte?

Rory setzte ein Lächeln auf, nach dem ihr nicht zumute war, und zog die schwere Eingangstür auf. Wind zerrte an ihrem Pferdeschwanz, als sie über die breite Veranda ging.

Die meisten Gäste reisten per Flugzeug an. Wymon, die nächste Stadt, hatte eine Landepiste, für deren Erhalt die Ranch zahlte. Dass Stanton mit einem so unpraktischen Auto kam, unterstrich nur die Tatsache, dass er kein gewöhnlicher Gast war.

Rory konnte immer noch nicht sein Gesicht sehen. Er war zu sehr mit seinem Handy beschäftigt.

Sie trat absichtlich laut auf, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Endlich hob er den Kopf und schaute in ihre Richtung.

Sie war sofort froh, dass sie schon die Verandastufen hinuntergegangen war, sonst wäre sie über ihre eigenen Füße gestolpert.

Gage Stanton – angenommen, der Neuankömmling war Gage Stanton – sah fantastisch aus. Auf eine sexy Art einfach nur fantastisch.

So fantastisch, dass ihr die Sprache wegblieb. Ihr lief beinahe das Wasser im Mund zusammen. Ihr Verstand wollte, dass dieser Mann so schnell wie möglich seiner Wege ging. Sie war dreiunddreißig und eine alleinerziehende Mom, die versuchte, den Familienbetrieb am Laufen zu halten. Sie hatte keine Zeit zu sabbern. Schon gar nicht wegen eines Mannes, der ihnen ein Vermögen für ihre sogenannten Erfolgsgeheimnisse zahlte.

Das letzte Mal, dass sie jemanden angeschmachtet hatte, war Killian dabei herausgekommen. Und obwohl sie ihren Sohn gegen nichts in der Welt eintauschen würde – schließlich war er ihre Welt –, war sie nicht bereit für eine Wiederholung.

Nicht dass der attraktive dunkelhaarige Mann mit den unglaublich schönen braunen Augen sich jemals für sie interessieren würde.

Zweifellos war seine kurzfristig angekündigte Begleitung eine Frau.

Wie auch immer, Rory ließ sich nicht mit Gästen ein. Schon gar nicht mit Gästen, die hinter ihrem Rücken Deals mit ihrem Vater aushandelten.

Sie bemühte sich um ihr übliches Begrüßungslächeln. „Guten Tag. Willkommen auf der Angel River Ranch.“ Sie reichte ihm eine Tüte mit dem Ranch-Logo, das aus ausgebreiteten Flügeln über einem gewundenen Flusslauf bestand. „Ich bin Rory McAdams, die Managerin. Sie müssen …“

„Gage Stanton“, sagte er mit tiefer Stimme. Der Art Stimme, bei der einer Frau Schauer über den Rücken liefen.

Ihr einstudiertes Lächeln blieb unverändert. „Ich freue mich, dass Sie sicher hergefunden haben. Noch länger, und wir hätten einen Suchtrupp nach Ihnen losgeschickt.“ Es war kein Scherz, auch wenn es so geklungen haben mochte.

Er verzog die perfekt geformten Lippen. „Tut mir leid.“ Er hielt sein Telefon hoch. „Ich hätte Sie angerufen, um Ihnen unsere Verspätung mitzuteilen, aber …“ Sein Lächeln vertiefte sich. „Ich vergesse immer wieder, dass es noch Flecken auf der Erde gibt, wo diese Dinger nicht funktionieren.“

Das selbstironische Lächeln hätte fast gereicht, sie zu verwirren.

Fast.

„Jetzt sind Sie hier, das ist die Hauptsache.“ Rory schaute zum Auto. Die Windschutzscheibe war fast so dunkel getönt wie die Seitenfenster, und sie konnte nur undeutlich eine schlanke Person mit dunklem Haar auf dem Beifahrersitz erkennen. „Ich zeige Ihnen Ihre Unterkunft.“

Stanton öffnete die Tür auf der Fahrerseite und sah ins Wageninnere. „Beweg dich.“ Sein Ton war knapp, wenn nicht gar grob.

Rory verspürte plötzlich Mitleid mit der Begleitung des Mannes.

Er nahm ihr die Tüte ab. Dabei streiften seine Finger ihre nur ganz leicht, doch es genügte, um Rory schon wieder erschauern zu lassen.

Verdammt noch mal.

Sie bewegte sich bewusst von ihm weg und ging zur anderen Seite des Luxusschlittens.

„Guten Tag“, sagte sie mit heller Stimme, als sie der armen Frau die Tür öffnete. „Willkommen auf Angel River.“

Aber es war keine Frau, die ausstieg.

Es war ein Mann.

Jung.

Furchtbar dünn.

Er war fast so attraktiv wie Gage, aber auf eine unfertige Art. Und sein Gesicht hatte eine bestimmte Blässe, die sie an die ihres Vaters erinnerte.

Ihr Lächeln wurde weich. „Ich bin Rory.“ Sie streckte ihm die Hand hin. „Wenn ich etwas tun kann, um Ihren Aufenthalt hier angenehmer zu machen, brauchen Sie es nur zu sagen.“

Er lächelte. Seine blauen Augen bildeten einen auffallenden Kontrast zu seinem dunklen Haar. „Abgemacht“, erwiderte er und umfasste ihre Hand.

Seine Finger waren kühl. Sie lösten kein Erschauern bei ihr aus.

„Gib der Frau ihre Hand zurück, Noah.“ Gage hatte den Kofferraum geöffnet und holte das Gepäck heraus. „Sie müssen meinen Bruder entschuldigen, Rory.“ Er drückte die Heckklappe herunter. „Er weiß offensichtlich nicht, wie man sich in Gegenwart einer hübschen Frau benimmt.“

2. KAPITEL

Bruder?

Hübsch?

Rory war sich nicht sicher, was sie mehr überraschte.

Gage konnte „hübsch“ unmöglich ernst meinen. Sie machte sich keine Illusionen, was ihr Aussehen betraf. Alleinerziehende Mütter wie sie hatten Dringenderes zu tun, als regelmäßig ins Kosmetikstudio zu gehen.

Für Gage war es wahrscheinlich nur eine Floskel. Trotzdem freute sich Rory über das Kompliment, ob es nun ernst gemeint war oder nicht.

Mit federndem Schritt ging sie den beiden Männern voran. „Da Sie länger als ursprünglich geplant bleiben wollen, haben wir Ihnen die Brown Cabin reserviert. Dort haben Sie viel Platz. Aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch ein Zimmer in der Lodge anbieten.“

„Zwei Zimmer“, sagten Gage und Noah gleichzeitig.

Rory schaute die Brüder an, die es grundsätzlich zu vermeiden schienen, einander anzusehen.

Außer dem espressobraunen Haar konnte Rory keine große Ähnlichkeit zwischen den beiden feststellen. Ihrem Gesichtsausdruck nach hätten sie jedoch Zwillinge sein können – keiner schien begeistert, hier zu sein. Was sie sich fragen ließ, warum Gage nicht nur persönlich gekommen war, sondern auch noch Noah mitgebracht hatte.

Sie schloss die Tür zur Hütte auf, ließ den Schlüssel in Gages aufgehaltene Hand fallen, ohne sie zu berühren, und trat vor den Männern ein.

Die zweistöckige Einheit mit zwei Schlafzimmern war tadellos sauber, aber die Einrichtung im Westernstil war über zehn Jahre alt und Rorys Meinung nach modernisierungsbedürftig. Wären nicht die Arztrechnungen ihres Vaters, hätte sie schon längst einige notwendige Renovierungen veranlasst.

„In der Küche finden Sie Lebensmittel, aber Sie können uns gern bei den Mahlzeiten Gesellschaft leisten. Wie Sie wissen, ist alles im Preis inbegriffen. Was das Programm betrifft, brauchen Sie nur rechtzeitig zur Event-Scheune zu kommen. Sie ist Ausgangspunkt für alle Ausflüge.“ Rory schaute auf ihre Armbanduhr. „Für heute ist es zu spät, aber da Sie Lunch verpasst haben, könnte ich Ihnen einen Imbiss vorbereiten lassen.“

„Das ist nicht …“, begann Gage.

„Das klingt großartig“, sagte Noah über ihn hinweg.

Sie zögerte, von einem zum anderen sehend.

Gage stellte das Gepäck ab. Sein Blick schweifte von seinem Bruder zu ihr. „Das Angebot nehmen wir gern an, Rory.“

Wieder Schauer.

Verdammt.

Sie konzentrierte sich auf sein rechtes Ohr, um nicht von seinem Blick gefangen genommen zu werden. „Richten Sie sich erst einmal ein“, schlug sie vor. „Kommen Sie in die Lodge, wenn Sie so weit sind. Falls ich nicht da bin, wird Chef Bart sich um Sie kümmern.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie hinaus.

Kies knirschte unter ihren Stiefeln, während sie die Straße überquerte. Normalerweise waren zu dieser Jahreszeit – wenn das Laub in Herbstfarben leuchtete und das Wetter immer noch viele Aktivitäten im Freien zuließ – alle Einheiten belegt. Vielleicht gäbe es ein oder zwei freie Zimmer in der Lodge, aber mehr auch nicht.

Außer dieses Jahr.

Es war eine unangenehme Wahrheit, dass das Honorar, das Gage Stanton gezahlt hatte – und das auch noch im Voraus –, mehr als willkommen war.

Rory schaute wieder auf die Uhr, als sie die Lodge betrat. Bald würde der Schulbus kommen, und sie ging schnell in die Küche. Der Koch Bartholomew Lavigne, kurz Chef Bart genannt, saß auf einem Hocker am Edelstahltresen und hatte einen großen Kalender vor sich. Sie wusste, dass er dabei war, die Speisekarte für November zusammenzustellen. Dazu gehörte normalerweise auch eine besondere Thanksgiving-Woche, aber noch war unklar, wie stark sie dann überhaupt belegt sein würden.

Rory hatte sogar schon mit dem Gedanken gespielt, den Betrieb in der Zeit zu schließen – was in der Geschichte von Angel River noch nie geschehen war –, bis ihr Vater ihr erzählt hatte, dass Gage Stanton seinen Aufenthalt verlängert hatte.

„Die neuen Gäste sind da“, verkündete sie.

„Wieder ein Mann, der eine Frau mitbringt, die nicht seine Frau ist?“

Barts trockener Humor heiterte sie etwas auf. „Ich weiß nicht, woher dein Misstrauen kommt. Es sind zwei Brüder: Gage und Noah. Macht es dir etwas aus, Lunch für sie zuzubereiten?“

Bart sah sie über den Rand seiner Hornbrille an. „Und wenn es mir etwas ausmacht?“

Sie lächelte. „Du wirst es trotzdem tun, weil du immer tust, was getan werden muss. Deshalb liebe ich dich.“

„Das sagen alle hübschen Mädchen.“

Da war das Wort „hübsch“ schon wieder.

Diesmal jedoch hörte sie es von Bart, einem sehr agilen Fünfundsechzigjährigen, der sie kannte, seit sie Kind war.

„Ich fahre jetzt zum Bus, aber wenn ich zurück bin, können wir deine Vorschläge durchgehen.“

„Dann bist du dir also schon über die Thanksgiving-Woche im Klaren?“

„Die Woche wird kommen, ob wir mehr Buchungen haben oder nicht“, erwiderte sie betont forsch. „Natürlich wird nicht so viel los sein wie in der Woche davor mit der Pith-Hochzeit.“ Die Gruppenreservierung war beinahe so viel wert wie das „Beraterhonorar“ von Stanton. „Plan erst einmal wie immer.“

„Bist du sicher?“

Trotz ihrer Zweifel nickte sie. „Es bringt nichts, damit noch länger zu warten. Wenn wir es jetzt machen, habe ich wenigstens reichlich Zeit, die Speisekarten und Programme auszudrucken, bevor die Hochzeitsgesellschaft anrückt.“ Sie hatte diese Aufgabe übernommen, als ihre Büroassistentin im vorigen Jahr gekündigt hatte, und bislang hatte sie noch keinen Ersatz für Kaisley gefunden. Es war nicht jedermanns Sache, auf einer abgelegenen Ferienranch zu leben und zu arbeiten.

„Da wir gerade von der Gruppe sprechen.“ Er blätterte eine Mappe durch und holte ein Bestellformular heraus. „Du schuldest mir zehn Dollar.“ Er wedelte mit dem Zettel. „Statt Cupcakes wollen sie einen mehrstöckigen Kuchen. Vier Etagen.“

„Vier!“ Rory verzog das Gesicht. „Das ist viel für sechsunddreißig Personen.“

„Kleine Etagen“, schränkte er ein. „Aber ich freue mich darauf, mal etwas anderes zu machen. Die meisten wollen Cupcakes oder Pie-Büfetts.“

„Schön für dich“, sagte sie trocken, bevor sie durch das Vorratslager zum Hinterausgang ging. „Ich wünschte, alles andere wäre auch schon beschlossen. Mrs. Pith ist sich immer noch nicht darüber im Klaren, wo die Trauung stattfinden soll.“

„Ich habe ein paar Muffins für Killy zurückgelegt“, rief Bart ihr nach. „Schick ihn zu mir, wenn ihr zurück seid.“

„Mach ich!“

Sie nahm eins der UTVs, die hinter der Lodge standen, und fuhr mit dem quadähnlichen Geländefahrzeug über die holprige Straße. Es waren eineinhalb Meilen bis zu der Kreuzung, wo der Bus hielt. Viel Zeit, sich Sorgen zu machen.

Außer einer Büroassistentin brauchte sie dringend Ersatz für die Spa-Managerin, die vor drei Monaten aufgehört hatte. Außerdem musste Rory entweder Frannie zum Head of Housekeeping befördern und ihr Gehalt erhöhen oder riskieren, dass eine langjährige Mitarbeiterin aus Frust kündigte.

Rory wollte nicht, dass Frannie ging. Aber sie hielt sie auch nicht für geeignet für einen leitenden Posten, denn Frannie neigte zu einer gewissen Unzuverlässigkeit.

Warum hatte Gage Stanton sich nicht für ihr Erfolgsrezept interessieren können, als sie wirklich noch erfolgreich gewesen waren? Dann hätte sie sich keine Sorgen zu machen brauchen, dass ihr Dad heimlich mit einem Entwickler verhandelte, der dafür bekannt war, schwächelnde Unternehmen aufzukaufen.

An der Bushaltestelle standen schon zwei andere Fahrzeuge. Der staubige Pick-up gehörte Seth Riggs, der für die Viehhaltung zuständig war und seine Tochter Toonie abholen wollte. Frannies Tochter Astrid wartete in einem UTV auf ihren kleinen Bruder Damon, der Killys bester Freund war.

Rory hörte tuckerndes Motorengeräusch, lange bevor die gelbe Schnauze des Busses auftauchte.

Am liebsten wäre sie ausgestiegen, um ihrem Sohn entgegenzugehen, aber er ging mittlerweile in die erste Klasse und wollte nicht, dass seine Mommy schon an der Tür wartete, wenn er aus dem Bus sprang.

An dem Tag, als sie das begriffen hatte, hätte sie heulen können.

Damon hüpfte als Erster aus dem Bus, dicht gefolgt von Killy. Die Jungs warfen sich gegenseitig einen Football zu, bis Astrid nach Damon rief. Selbst von Weitem konnte Rory sehen, wie die Kinder sich gegenseitig eine Grimasse schnitten.

Killy warf Damon den Ball zu, dann rannte er zu ihrem UTV, hievte seinen Rucksack hinein und kletterte auf den Sitz. „Können wir zu Halloween gehen?“, fragte er atemlos. Er kramte im Rucksack, holte ein zerknittertes Blatt Papier heraus und hielt es ihr vor die Nase.

Rory nahm es ihm ab. „Ich habe es dir schon gesagt. Wir werden sehen.“

Er ließ die Schultern hängen. „Das heißt Nein.“

Sie steckte das Blatt unter ihren Oberschenkel, damit es nicht fortwehen konnte. „Nein, das heißt es nicht.“ Sie bog langsam auf die Straße zur Lodge ab. „Gib mir einen Kuss.“

Außer Sichtweite seines Freundes gab ihr kleiner Sohn ihr einen kurzen Schmatz, gefolgt von einer zufriedenstellend festen Umarmung.

Rory hielt ihn eine Sekunde fest. „Wie war es in der Schule?“

„Ich habe hundert Prozent im Buchstabiertest bekommen.“

„Gut gemacht!“ Sie hielt ihre Handfläche hoch, und er klatschte mit seiner dagegen. „Ich habe dir gesagt, dass du es schaffen kannst.“ In Mathe war er den anderen weit voraus, aber Buchstabieren und Englisch war eine andere Sache.

„Dann gehen wir also zu Halloween?“

Sie sah ihn kurz von der Seite an und zerzauste sein Haar. „Nur unter der Bedingung, dass du bis Samstag all deine Aufgaben erledigst, ohne zu maulen.“

Der Ausdruck seiner dunkelblauen Augen wurde sehr ernst, während er darüber nachdachte, dann zuckte er mit den Schultern. „Okay. Ich habe Hunger.“

Sie lächelte. Was brauchte sie mehr, solange sie ihren Jungen hatte? „Zum Glück hat Chef Bart für dich gesorgt. Er hat einen oder zwei Muffins für dich.“

„Ich mag seine Muffins. Sie sind besser als deine“, erklärte Killy unverblümt.

Rory lachte. „Das stimmt, aber es ist nicht sehr nett, mir das ins Gesicht zu sagen.“ Sie wusste, dass sie nicht mit Barts Koch- und Backkünsten konkurrieren konnte, und wechselte das Thema. „Als was möchtest du dich denn zu Halloween verkleiden?“

„Cap’n America“, antwortete er sofort.

„Das passt ja gut.“ Die Grundelemente für das Kostüm waren schon vorhanden. Sie brauchte nur den Schutzschild aus Pappe aufzupeppen, den sie letztes Jahr gebastelt hatte. „Hast du Hausaufgaben auf?“

Killy verzog das Gesicht. „Drei ganze Arbeitsblätter.“

„Vielleicht kann Grandpa dir dabei helfen.“ Sie parkte hinter der Lodge. „Geh zu Chef Bart und hol dir deinen Snack. Ich nehme deinen Rucksack.“

Er sprang vom Sitz. „Hey, Chef Bart, ich habe ein A plus im Buchstabier…“, hörte sie ihn noch rufen, bevor die Tür hinter ihm zufiel.

Lächelnd folgte Rory ihm und las dabei den Halloween-Flyer. Die Veranstalter verlangten nicht wie sonst eine Teilnahmegebühr, sondern baten stattdessen um Sachspenden für den Schulbedarf. Dazu hatten sie eine Liste aufgestellt, die von Schreibheften zu Handreinigern in Großabfüllungen reichte.

Auf dem Weg durchs Lager fragte sich Rory, wie sie etwas davon auf die Schnelle besorgen sollte. Schließlich hatten sie keine Einkaufswelt um die Ecke. Mit mehr Vorlauf hätte sie etwas im Internet bestellen können, so aber würde es nicht mehr vor dem Wochenende ankommen.

Sie betrat die Küche, kopfschüttelnd auf die Liste schauend. „Warum nehmen sie nicht einfach wieder eine Teilnahmegebühr und überlassen der Schule das Einkaufen?“ Sie wedelte mit dem Zettel und blickte auf in der Erwartung, Bart und Killy am Tresen sitzen zu sehen.

Doch stattdessen saß Gage Stanton allein am Tresen, wieder mit dem Telefon in der Hand. Neben ihm stand ein Teller mit einem Hamburger und Pommes frites aus Süßkartoffeln, wovon er nur einen Teil gegessen hatte.

Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich vermute, dass die Frage nicht mir galt.“

Rory faltete den Flyer zusammen. „Schulangelegenheiten“, erwiderte sie und steckte das Blatt in die Gesäßtasche. Sie sagte sich, dass sie es sich nur einbildete, dass Gages Blick ihrer Hand folgte.

„Haben Sie einen kleinen Jungen gesehen?“

„Ungefähr so groß?“ Er streckte die Handfläche aus. „Blaue Augen so wie Sie und Sommersprossen?“

Dass er die Farbe ihrer Augen bemerkt hatte, war kein Grund, sich ablenken zu lassen. „Genau.“

Gage deutete mit einem Nicken zur Tür. „Ist mit Ihrem Koch weggegangen.“

„Danke.“ Sie wollte schon die Küche verlassen, doch ihr Gewissen als Gastgeberin ließ sie zögern. „Wie ist Ihr Lunch? Brauchen Sie noch etwas?“ Sie schob ihm einen Korb mit Keksen und Brownies hin. „Etwas Süßes vielleicht? Die Triple-Chocolate-Brownies von Chef Bart sind mein persönlicher Untergang.“

Gage schaute nicht einmal auf den Korb, aber er lächelte leicht. „Das werde ich mir merken.“

Wärme durchflutete sie. Gleichzeitig fragte sie sich, warum er allein in der Küche saß. „Und Ihr Bruder? Noah?“

Er sah wieder auf sein Handy. „Es geht ihm gut.“

Das Gespräch war offensichtlich für ihn beendet.

Jeden anderen Gast hätte Rory nach diesem Wink in Ruhe gelassen. Doch Gage war kein typischer Gast. Er zahlte ihnen eine astronomische Summe, um ihre Betriebsabläufe kennenzulernen. Auch wenn er das Geschäft mit ihrem Vater ausgehandelt hatte, lag die Durchführung bei ihr. „Wann möchten Sie anfangen, die … die …“ Sie hatte Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden.

Er hatte das Problem nicht. „Die Grundlagen zu lernen?“

Sie nickte. „Sobald ich mich um Killy gekümmert habe, hätte ich Zeit … Oder möchten Sie vielleicht eine Woche lang einfach nur Gast sein?“ Bei dem Gedanken keimte Hoffnung in ihr auf. „Die Dinge zuerst aus dieser Perspektive sehen?“

Gage machte ihre Hoffnung schnell zunichte. „Die Bewertungen durch Ihre Gäste sind überaus positiv. Daher kann ich diesen Teil wohl überspringen. Wie wäre es, wenn wir morgen früh anfangen?“ Sein Ton war weich. „Geben Sie mir Ihren Zeitplan, und ich werde Ihnen …“, sein Blick schweifte kurz über sie, „… wie ein Schatten folgen.“

Ein Kribbeln überlief sie. Sie ignorierte es entschlossen. „Ich stelle Ihnen bis zum Dinner einen Plan zusammen.“

„Perfekt.“ Er schaute wieder auf sein Telefon. „Ihr Koch hat mir den WLAN-Schlüssel gegeben. Das Internet ist verdammt langsam.“

„Ja, das ist es“, stimmte Rory sachlich zu und ging.

Sie fand ihren Sohn und ihren Küchenchef bei ihrem Vater im Büro und ließ den Rucksack auf die Couch fallen, auf der Killy lümmelte. „Mach es dir hier nicht zu gemütlich, Mister. Denk an die Hausaufgaben.“

Er kramte im Rucksack, holte ein paar zerknüllte Zettel heraus und reichte sie ihr. „Ich hab auch noch das hier für dich.“

Rory nahm die Blätter, fast besorgt, worum es ging. Beim letzten Mal war es die Empfehlung gewesen, Killy wegen seiner mathematischen Begabung auf eine andere Schule zu schicken.

Doch das würde bedeuten, dass er einen noch längeren Schulweg hätte. Nach einem langen Gespräch mit seinem Lehrer hatte sie beschlossen, mit der Entscheidung noch ein Jahr zu warten. Diesmal handelte es sich nur um Anmeldeinformationen für das nächste Schuljahr, das erst in zehn Monaten begann.

Sie legte die Zettel auf den Schreibtisch und schaute Bart an. „Wollen wir jetzt die Speisekarte durchgehen?“

Er stand auf. „Morgen habe ich Biscotti für dich, mein Freund.“

Killy sah lächelnd zu ihm hoch. „Ich mag Biscotti.“

„Du magst alles, Killy. Deshalb wächst du auch wie Unkraut.“

Der Junge stellte sich plötzlich auf die Couch und streckte die Arme nach oben. „Ich werde so groß. Wie mein Dad.“

Rory fing den Blick ihres Vaters auf. Es war nicht das erste Mal, dass Killy seinen Dad in der letzten Zeit erwähnt hatte. „Steh nicht auf der Couch“, ermahnte sie ihn und verließ mit Bart das Büro.

„Woher weiß er …?“

„Er weiß es nicht“, sagte Rory, bevor Bart seine Frage beenden konnte. Killian war seinem Vater nie begegnet. Sie hatte keine Bilder von Jon behalten, der tatsächlich sehr groß gewesen war. Nachdem er sie und ihr ungeborenes Kind verlassen hatte, hatte sie alle Fotos von ihm vernichtet. Ihr war klar, dass sie Killy die Abwesenheit seines Vaters eines Tages erklären musste, aber fürs Erste zog sie es vor, so zu tun, als hätte der Mann nie existiert.

Während sie mit Bart durch die Lounge ging, begrüßte sie die Gäste, die gerade hereingekommen waren.

Tig Pantano, ein attraktiver Geschäftsmann mittleren Alters aus Colorado, war regelmäßig zu Gast auf der Ranch – meistens gleich für vier Wochen. Seine Flamme des Monats war diesmal eine kichernde, übertrieben gestylte Blondine namens Willow, die von jedem Grashalm schwärmte, als hätte sie noch nie zuvor einen gesehen.

Vielleicht glaubte sie, dass sie Tig damit beeindruckte, und vielleicht tat sie das auch. Bislang hatte Rory keine Gemeinsamkeiten bei Tigs Begleiterinnen festgestellt, außer dass keine von ihnen seine Frau war.

Plötzlich kam Noah herein, und Willow hörte sofort mit ihrer Schwärmerei vom Bootsausflug an diesem Nachmittag auf. Ihr Blick folgte dem jungen Mann beinahe hungrig, und Rory empfand unerwartet einen Anflug von Mitleid für Tig.

Zum Glück traten hinter Noah vier weitere Gäste ein.

Da er verloren wirkte, ging Rory zu ihm. „Suchen Sie Ihren Bruder?“

„Ich wundere mich, dass er mich nicht sucht“, murmelte er. „Da er mein neuer Aufpasser ist. Und er ist nur mein Halbbruder.“

Halb oder nicht, für Rory war ein Bruder ein Bruder. Aber sie war sich nicht sicher, wie sie auf die Bemerkung über den „Aufpasser“ reagieren sollte, daher deutete sie auf die kleine Gruppe, die es sich in der Lounge gemütlich machte. „Hatten Sie schon Gelegenheit, andere Gäste kennenzulernen?“

Er schüttelte den Kopf.

Rory hatte immer noch genug Zeit, die Speisekarte mit Bart durchzugehen. Vor allem, da ihre Aufgabe im Wesentlichen nur darin bestand, die Bestellungen abzuzeichnen. „Was halten Sie davon, wenn ich Sie den anderen vorstelle?“ Sie merkte, dass Gage hinter ihr hereingekommen war. Nicht nur an dem leisen Kribbeln in ihrem Nacken, sondern auch an Noahs angespanntem Gesichtsausdruck.

Diesmal hatte Gage ausnahmsweise kein Telefon in der Hand. „Sie können uns beide vorstellen“, sagte er, als er zu ihnen trat.

Schon wieder überlief sie ein Schauer.

Sie lächelte schwach und begann mit den Vorstellungen.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen war die Luft eisig.

Rory fuhr eine Stunde früher als sonst zur Lodge, nachdem sie Killy zum Schulbus gebracht hatte. Wenn Gage Stanton vorhatte, ihr von diesem Tag an wie ein Schatten zu folgen, wollte sie vorbereitet sein.

Als sie jedoch über den Flur ging, konnte sie das Murmeln männlicher Stimmen hören, noch bevor sie das Büro erreicht hatte.

„… und Rory war noch ein Krabbelkind, als ihre Mutter und ich die Ranch kauften“, erzählte ihr Vater. „Ich hätte nie mit diesem Erfolg gerechnet. Wahrscheinlich lag es an ihrer Mom. Eleanor gab jedem Einzelnen das Gefühl, von Herzen willkommen zu sein.“

Rory blieb zögernd stehen, die Hand auf dem Türgriff. Ihre Mutter war vor acht Jahren gestorben, und seitdem hatte es keinen Tag gegeben, an dem sie sie nicht vermisst hatte. Der Schmerz war vielleicht nicht mehr so stark, aber er war immer noch da.

„Haben Sie je daran gedacht zu verkaufen?“

Rory zuckte zusammen, als sie Gages Stimme erkannte, und trat schnell ein. „Guten Morgen“, grüßte sie frisch, ihrem Vater keine Chance lassend, die Frage zu beantworten. „Du bist heute früh auf.“

Sie ging zu ihm und küsste ihn auf die Stirn, dann blieb sie neben ihm stehen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dabei schaute sie Gage in die Augen, auch wenn es ihr nicht leichtfiel.

Sie wusste nicht, wie alt er war, schätzte ihn aber auf etwa vierzig. Sein dunkles Haar war an den Schläfen silbern gesträhnt. Am Tag zuvor war er glatt rasiert gewesen, doch jetzt war sein Kinn leicht stoppelig. Der Anblick beschwor ein Bild von ihm morgens im Bett herauf.

Es war ein Bild, das sie nicht gebrauchen konnte. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie vor mir im Büro sind, nachdem ich Sie gestern Abend in so geselliger Runde zurückgelassen habe.“

„Ihre Gäste sind alle sehr interessant, aber ein guter Whiskey hat noch nie gereicht, um mich am nächsten Tag von Geschäften abzuhalten, egal wie früh.“

Rory hoffte, dass er mit Geschäften nicht den Kauf von Angel River meinte. „Es sind wirklich interessante Leute“, stimmte sie zu. „Gäste kommen und gehen, doch jeder einzelne ist erinnerungswürdig.“

„Genau das hat deine Mama auch immer gesagt.“ Ihr Dad warf ihr einen anerkennenden Blick zu und stand auf. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich hole mir meinen täglichen Haferbrei von Chef Bart ab.“ Auf dem Weg hinaus rückte er eine der eingerahmten Urkunden an der Wand gerade.

Rory blieb neben dem Stuhl stehen. „Mein Vater wird Angel River niemals an Sie verkaufen“, sagte sie mit fester Stimme, die nichts von ihrer inneren Unsicherheit verriet.

Gage zog die Brauen hoch. „Ich kann mich nicht erinnern, diesbezüglich ein Angebot gemacht zu haben.“

Sie krallte die Finger in die gepolsterte Stuhllehne. „Aber Sie sind dafür bekannt“, erwiderte sie. „Sie kaufen schwächelnde Unternehmen und verwandeln sie in ein weiteres Juwel in der Krone von Stanton Development.“

Seine Miene blieb unverändert. „Ist Angel River ein schwächelndes Unternehmen?“

Rory biss sich auf die Zunge.

Gage winkte ab. „Sie brauchen darauf nicht zu antworten.“ Er stand auf. „Ich habe nicht vor, irgendjemandes Ferienranch zu kaufen.“ Er lächelte. „Ich bin mir nur nicht sicher, was ich mit der Ranch anstellen soll, die ich bereits gekauft habe.“

Rory nahm ihm die Selbstironie nicht ab.

Sie wechselte das Thema. „Wie geht es Ihrem Bruder heute Morgen?“

Er sah sie unverwandt an. „Vermutlich ist er immer noch sauer auf mich. Ist es das, was Sie wissen wollten?“

Sie wurde etwas verlegen. Als sie am Abend die Lodge verlassen hatte, waren die Spannungen zwischen beiden Männern offensichtlich gewesen. Dank des Flurfunks – sprich Marni und Megan – wusste Rory, dass es später Streit wegen eines Biers gegeben hatte, das Gage seinem Bruder aus der Hand genommen hatte. Marni hatte sich zuvor Noahs Ausweis zeigen lassen, und da er zweiundzwanzig war, hatte sie ihn, nichts Böses ahnend, bedient.

„Ich habe gehört, dass es eine kleine Unstimmigkeit gab.“ Untertreibung des Jahres. „Falls es einen Grund gibt, weshalb Noah keinen Alkohol trinken sollte, dann lassen Sie es mich wissen, damit wir das beim nächsten Mal ohne Aufsehen regeln können. Ist sein Ausweis echt?“

„Ja. Aber mein Bruder hat gerade erst einen Entzug hinter sich, und ich möchte nicht, dass er bald wieder einen machen muss.“

„Hat er Sie deshalb seinen Aufpasser genannt?“ Rory hatte nicht vergessen, wie schroff Gage bei der Ankunft mit Noah umgegangen war.

„Vermutlich. Er will nicht hier sein. Das haben Sie sicher schon gemerkt.“

„Vielleicht ändert sich Noahs Einstellung zu Angel River noch“, sagte sie. „Das passiert öfter.“

„Ihrem Vater zufolge liegt es nicht an dem Ort, sondern an den Menschen, die die Anziehungskraft der Ranch ausmachen.“

„Vielleicht ist es ein bisschen von beidem.“ Sie räusperte sich und rieb die Handflächen aneinander. „Also, Sie sind sehr früh dran, aber wir können ebenso gut gleich anfangen.“ Sie musterte ihn. „Sie haben sich doch den Plan angesehen, den ich Ihnen gegeben habe?“

„Ja. Wieso?“

Rory zuckte mit den Schultern und hätte beinahe gelacht. Sie trug ihre älteste Jeans, ein Kapuzenshirt und ihre ältesten Stiefel. Gage trug auch Jeans. Aber sie war nicht alt oder abgetragen, so wie auch nichts anderes von dem, was er anhatte, alt oder abgetragen war. Er sah aus, als wäre er dem Cover einer Zeitschrift entstiegen. Rory konnte nur hoffen, dass seine handgearbeiteten Lederstiefel den Morgen überstehen würden oder dass er sich zumindest ein Ersatzpaar mitgebracht hatte. Denn ein Schuhgeschäft gab es nicht in der Gegend.

„Ach, nichts“, erwiderte sie unbekümmert und ging voran aus dem Büro. „Brauchen Sie vorher auch noch eine Portion Haferbrei?“

Er schüttelte sich. „Meine Mutter hat mich jeden Morgen damit gefüttert, als ich Kind war. Ich hasse das Zeug.“

Sie auch, aber sie sagte nichts.

„Außerdem haben Sie die Küche in der Hütte gut ausgestattet. Inklusive Kaffee. Viel Kaffee.“ Ein Lächeln erhellte so plötzlich sein Gesicht, dass Rory beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. Gage hielt sie am Arm fest. „Alles in Ordnung?“

Sie konzentrierte sich auf den Teppich. „Alles bestens.“

Draußen stülpte sie sich die Kapuze über. Gage schien die Kälte nichts auszumachen. „Sie haben sich doch eine Jacke mitgebracht, oder?“ Der eng anliegende Kaschmirpullover stand ihm zwar fabelhaft, aber er war nicht für diese Witterung geeignet. „Nur mit einem Pullover kommen Sie nicht aus, wenn das Wetter so bleibt.“

„Ihr Vater hatte mir geraten, mich sicherheitshalber auf Schnee einzustellen.“

„Klug.“ Sie kletterte in ein UTV, wartete, bis Gage neben ihr eingestiegen war, und fuhr los.

Die Reifen hüpften über die Spurrillen, sodass seine Schultern unvermeidlich an ihre stießen, und sie gab mehr Gas, damit die Fahrt schnell vorbei war.

Vor dem Heuschuppen sprang Rory aus dem UTV, ohne sich nach Gage umzusehen. Abwesend rieb sie sich die Stelle, wo seine Schulter ihre berührt hatte, dann wurde ihr bewusst, was sie tat, und sie ließ die Hand sinken.

Das gut geölte Tor glitt sanft auf, als sie am kalten Griff zog. Sofort hoben die drei Katzen, die auf dem Fußboden lagen, den Kopf.

„Huey, Stewie und Louie“, stellte Rory sie nacheinander vor. „Sie sind nicht sehr freundlich“, warnte sie Gage. „Aber sie fangen die Mäuse.“ Sie ging zum Traktor mit dem Strohverteiler, der schon mit Heu- und Strohballen beladen war. „Sie können hinten auf den Ballen mitfahren oder mit dem UTV zum Pferdestall nachkommen. Das überlasse ich Ihnen.“ In der Traktorkabine war nicht genug Platz für sie beide.

Rory war mehr als ein wenig überrascht, dass Gage auf den Strohverteiler kletterte. Und wie lässig er es schaffte.

Sie setzte sich hinters Steuer und startete den Motor. Rumpelnd fuhren sie die kurze Strecke zum Pferdestall. Die breiten Tore an jedem Ende des langen Gebäudes standen schon offen, sodass sie gleich hineinfahren konnte.

Als sie in der breiten Boxengasse anhielt, stellte Gage sich auf dem Strohverteiler hin. „Was soll ich tun?“

Aufhören, mich nervös zu machen?

Sie schob die Kapuze vom Kopf. „Werfen Sie die Ballen herunter. Und verrenken Sie sich dabei nicht den Rücken.“ Nicht dass er so aussah, als bestünde bei ihm die Gefahr, doch sie hatte es schon bei übereifrigen Gästen erlebt.

Natürlich erledigte er die Aufgabe mit Leichtigkeit.

Sobald die Ballen entlang der Boxen gestapelt waren, sprang Gage herunter, und Rory holte Heugabel, Schaufel, Harke und Besen aus einem Verschlag. „Haben Sie schon einmal einen Stall ausgemistet?“

„Nein. Aber ich habe eine gewisse Vorstellung davon.“

Da war wieder dieses ironische Lächeln. „Sie würden sich wundern, wie viele Leute nicht einmal das haben.“ Sie reichte ihm Heugabel und Harke. „Ziel ist, das Stroh zu retten, das nicht verdreckt oder durchgeweicht ist. Der Rest wird in den Verteiler geworfen. Megan – die Chefin unserer Cowboys – hat uns schon einen Teil der Arbeit abgenommen, als sie heute früh die Pferde auf die Koppel gebracht hat.“ Rory ging in die erste Box und sah in die Eimer, die an der Wand hingen. „Sie hat schon Wasser nachgefüllt, also brauchen wir uns darum nicht zu kümmern.“

Gage schaute sich um. „Vierundzwanzig Boxen?“

„Ja. Alle belegt.“

„Sie haben mehr Pferde als Personal.“

„Zu dieser Jahreszeit, ja.“ Rory wollte nicht ausführen, dass ihnen einige Leute fehlten. Da er auch nicht nachfragte, schob sie die Ärmel ihres Sweatshirts hoch und nahm Gage die Heugabel ab.

„Am einfachsten ist es, wenn man von einer Ecke zur anderen arbeitet.“ Sie stach die Zinken ins Stroh, hob es hoch und schüttelte es, bevor sie es ans hintere Ende der Box warf. „Lassen Sie nichts liegen, das nass ist.“ Sie spießte einen Klumpen auf und hievte ihn in den leeren Verteiler. „Das wird alles verwertet.“

Sie erklärte Gage, dass sie einen Teil des Pferdemistes direkt als Dünger auf die Felder ausbrachten und den Rest in einer Kompostieranlage verarbeiteten, um ihn später zu verwenden oder zu verkaufen.

„Effizient“, sagte Gage anerkennend.

„Wir tun unser Bestes. Ich weiß nicht, was für ein Konzept Sie für Rambling Mountain haben …“ Rory zögerte, als er sie scharf ansah. „Darf ich nichts darüber wissen?“

„Doch, ich bin nur überrascht, dass Sie es tun.“

Sie lachte kurz auf, aber es war ein freudloses Lachen. „Jeder in Wyoming hat es mitbekommen und ist gespannt, wie es weitergeht. Ihre Ranch ist umgeben von unberührter Natur. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wie wertvoll das ist. Jeder macht sich seine Gedanken, welche Auswirkungen das auf sein eigenes Geschäft haben wird.“ Sie auch.

„Das ist viel Druck für eine kleine Ranch wie meine.“

Sie hielt ihm die Heugabel hin und deutete zur nächsten Box. „Sie scheinen mir ein Mann zu sein, der unter Druck zu Höchstform aufläuft.“

Seine Finger streiften ihre, als er ihr die Gabel abnahm. „Ich laufe bei vielen Dingen zu Höchstform auf.“

Rory erschauerte. „Hoffentlich auch beim Ausmisten“, erwiderte sie knapp und drehte sich um. „Ich hole noch eine Heugabel.“

Erst in der Gerätekammer konnte sie wieder richtig Luft holen. Sie presste eine Handfläche an ihre Brust und fühlte den unregelmäßigen Schlag ihres Herzens.

Als sie zurückging, lehnte Megan am Traktor und beobachtete Gage ungeniert bei der Arbeit. Dabei lag ein gewisses Funkeln in ihren Augen, das Rory nur zu gut kannte.

Megan war ihre beste Freundin und auf die meisten Männer nicht gut zu sprechen, trotzdem zog sie Rory gern wegen ihres Mangels an männlicher Gesellschaft auf. Und weil sie keinen Sex hatte.

Rory fing an, bevor Megan etwas sagen konnte. „Schon alles vorbereitet für den Ausritt?“

Megan zwinkerte ihr zu. „Vielleicht solltest du ihn übernehmen.“ Sie schielte zu Gage. „Unser neuer Gast würde bestimmt gern mitkommen.“

„Ich stelle dich vor.“ Rory ging in die Box, in der sie mit dem Ausmisten angefangen hatte, und schaute durch die Gitterstäbe über der Trennwand. „Gage Stanton, das ist Megan, von der ich Ihnen vorhin erzählt habe. Megan Forrester, Gage Stanton.“

„Chefin der Cowboys“, sagte Megan lächelnd.

„Sie ist verantwortlich für die Saisonarbeiter“, ergänzte Rory. „Und für alle Aktionsangebote – nicht nur die Ausritte.“

Gage hievte eine Ladung Stroh in den Verteiler. „Das klingt so, als ob Sie alle mehr als einen Job haben.“

„Vor allem seit dem vorigen Jahr“, erzählte Megan bereitwillig, bevor Rory sie mittels Telepathie stoppen konnte. „Spa-Managerin. Büroleiterin. Head of Housekeeping. Jeder Bereich ist unterbesetzt.“

„Ein vorübergehender Engpass.“ Rory wechselte schnell das Thema. „Vielleicht hätte Ihr Bruder Lust zu dem Ausritt.“ Sie schaute Gage an. „Mag Noah Pferde? Kann er reiten?“

„Das bezweifle ich.“ Er stellte die Gabel auf die Zinken, verschränkte die Arme über dem Griff und sah Megan an. „Haben Sie heute eine große Gruppe?“

„Es sind nur sechs Leute. Und es spielt überhaupt keine Rolle, ob er schon einmal in der Nähe eines Pferdes gewesen ist.“ Sie stieß sich vom Traktor ab, als ob sie plötzlich die mentalen Nachrichten empfing, die Rory ihr schickte. „Ich werde ihn einfach fragen und überlasse euch beide eurer … Arbeit.“ Sie warf Rory einen vielsagenden Blick zu. „Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Gage.“

Nachdem Megan gegangen war, fand Rory die Atmosphäre im Stall auf einmal zu intim. Sie wich Gages Blick aus, während sie die letzten Reste Mist zusammenharkte und in den Verteiler beförderte. Gage war mit seiner Box auch fertig und hatte das saubere Stroh locker in einer Ecke angehäuft. „Gut gemacht.“

„Dreck wegmachen. Das tue ich die meiste Zeit.“

Rory lächelte unwillkürlich. Es war plötzlich leicht, Gage zu mögen, aber da sie ihm nicht vertraute, war das nicht unbedingt eine gute Sache. „Jetzt verteilen Sie das Stroh wieder und werfen frisches dazu, bis ein schönes weiches Bett entsteht.“

Während er damit anfing, brach sie zwei Portionen von einem Ballen ab und reichte Gage eine davon. „Diese Box gehört Moonbeam.“ Sie zupfte ihre Portion auseinander und warf das frische, duftende Stroh herum, wobei sie automatisch rückwärtsging. „Er ist ein großer Kerl und mag ein dickes Polster. Man braucht ziemlich viel …“ Sie stockte, als ihre Hand gegen seine schlug. „Entschuldigung“, murmelte sie und kam sich dabei vor wie eine Drittklässlerin, die den Jungen, der neben ihr saß, süß fand.

Gage sah sie an. „Berufsrisiko.“

Rory kämpfte gegen die aufsteigende Hitze an und brachte ein kurzes Lachen zustande. Sie ließ das restliche Stroh fallen und ging in die Boxengasse, wo sie sich hinhockte, um noch mehr Stücke vom Ballen abzureißen. „Wie ich schon sagte, man braucht ziemlich viel Stroh. Also schnappen Sie sich, was immer Sie brauchen.“ Sie schaute beim Aufstehen zu ihm hoch.

Sein Blick schien sie zu umfangen, und seine Brauen ging leicht in die Höhe. „Danke für das Angebot.“

Die Hitze in ihr durchströmte sie ungehindert.

4. KAPITEL

„Was ist, wenn es an Halloween regnet?“

Rory schaute zu Killy, der in der offenen Tür ihrer Hütte stand und in den düsteren Himmel sah. „Dann regnet es.“ Sie stellte seinen Abendbrotteller auf den Tisch. „Mach die Tür zu und komm essen.“

Missmutig schloss er die Tür. „Die Parade ist aber draußen.“

„Sie verlegen sie nach drinnen, wenn es sein muss.“ Sie goss ihm ein Glas Milch ein. „Mach dir nicht so viele Gedanken.“

Er setzte sich ihr gegenüber, stützte einen Ellbogen auf und legte das Kinn in die Hand. „Aber …“

„Killy“, unterbrach sie ihn sanft, aber entschlossen. „Iss. Halloween ist übermorgen. Wer weiß, wie das Wetter dann sein wird.“

„Aber …“

„Killian.“ Sie tippte mit ihrer Gabel an seinen Teller. Er musste essen, die restlichen Hausaufgaben machen, baden und ins Bett, denn am nächsten Morgen mussten sie wieder früh aufstehen.

Schwer seufzend stocherte er mit der Gabel in Makkaroni mit Käse, die er normalerweise liebte, selbst wenn sie sie gekocht hatte. Zum Glück meldete sich mit dem ersten Bissen sein Appetit. Nach dem Essen machte er seine Hausaufgaben, dann badete er und ging ins Bett.

Und dann, endlich, war alles still.

Rory machte sich eine heiße Schokolade, schlang sich einen dicken Schal um die Schultern und setzte sich mit dem Becher auf die Veranda.

Tief ausatmend, legte sie die Füße in Hausschuhen auf das Geländer. Da sie die Außenbeleuchtung nicht eingeschaltet hatte, konnte sie in der Ferne ein Leuchten am Himmel sehen, das vom Lagerfeuer unten am Fluss kam.

Sie fragte sich, ob Gage zusammen mit den anderen Gästen dabei war.

Nach dem Ausmisten hatte er sich mit der Begründung, dass er etwas Geschäftliches zu erledigen hätte, entschuldigt. Erst beim Lunch hatte sie ihn wiedergesehen. Wie sie hatte auch er sich nach der Stallarbeit umgezogen, und Rory konnte nur hoffen, dass sie ihn nicht allzu offensichtlich angestarrt hatte. Was der Mann aus einer schwarzen Jeans und einem schlichten weißen T-Shirt machte, sollte verboten sein.

Noah war nicht zum Lunch erschienen, und Rory wusste von Megan, dass er auch beim Ausritt nicht dabei gewesen war. Sie fragte sich, ob er wohl zum Dinner und zum Lagerfeuer gekommen war.

Bei einem Windstoß zog Rory den Schal fester um sich, während sie den heißen Becher mit einer Hand umklammerte. Sie wünschte, sie wäre zufriedener. So zufrieden wie damals, als sie nach ihrer Scheidung auf die Ranch zurückgekehrt war. Bevor ihr Dad an Krebs erkrankt war. Bevor sie die Leitung von Angel River hatte übernehmen müssen.

Als sie Kies unter Schritten knirschen hörte, schaute sie angestrengt in die tiefschwarze Nacht. Wahrscheinlich war es Megan, die mit ihrem eigenen Becher heiße Schokolade – und zwar mit Schuss – vorbeikam.

„Ich dachte, du wärst noch beim Lagerfeuer“, sagte Rory.

„Lagerfeuer habe ich schon zu College-Zeiten aufgegeben“, erwiderte eine Stimme, die eindeutig nicht Megan gehörte.

Hastig nahm Rory die Füße vom Geländer und hätte dabei beinahe ihr Getränk verschüttet. Sie konnte den Sprecher noch nicht sehen, aber sie erkannte seine Stimme. Es war Gage.

Sie beobachtete, wie er sich aus den Schatten löste. „Das ist eine Überraschung.“

„Hoffentlich keine unangenehme.“

„Natürlich nicht“, log sie. „Passen Sie auf. Da ist ein Baumstumpf, und ich möchte nicht, dass Sie stolpern.“

Gage blieb auf der anderen Seite des Geländers stehen. „Was dagegen, wenn ich Ihnen Gesellschaft leiste?“

„Natürlich nicht“, log sie wieder. „Nehmen Sie Platz.“ Sie deutete auf den Schaukelstuhl neben ihrem und ignorierte ihr nervöses Erschauern, als Gage sich zu ihr setzte.

Er trug endlich eine Jacke, doch es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. Sie hielt ihren Becher hoch. „Kann ich Ihnen etwas Heißes zu trinken anbieten?“

„Das Angebot nehme ich gerne an. Es ist kälter, als ich gedacht habe.“

Seine Ehrlichkeit war ärgerlich charmant.

Rory stand auf. „Wenn Sie hereinkommen möchten, wo es warm ist …“

„Nein danke.“ Seufzend streckte er die langen Beine aus. „Es ist ein schöner Abend.“

Bei einem Windstoß flogen ihm die langen Fransen ihres Schals ins Gesicht.

Sie musste lachen. „Das merke ich.“ Sie hielt die Enden des Schals fest. „Es dauert nur ein paar Minuten. Möchten Sie lieber Kaffee oder heiße Schokolade?“

„Im Moment würde sogar heißes Wasser helfen.“

Sie lachte wieder und ging schnell hinein. Von innen lehnte sie sich einen Moment schwach an die Tür, bevor sie in die Küche eilte und den Topf mit Milch und Schokolade wieder auf den Herd stellte. Danach sprang sie kurz ins Badezimmer. Ihr Schal war alt. Die Filzslipper sogar noch älter. Die Tatsache, dass sie etwas Lipgloss auftrug, beschämte sie so sehr, dass sie ein Taschentuch nahm und ihn sofort wieder abwischte.

Gage ist ein Gast, rief sie sich eindringlich ins Gedächtnis. Der Aufenthalt eines Gastes war immer irgendwann vorbei.

Sie kehrte in die Küche zurück und füllte zwei Becher mit heißer Schokolade. Sich spontan an Megans Rezept erinnernd, holte sie eine Flasche Irish Cream und einen Teelöffel und brachte alles auf einem Holzbrett nach draußen. Dabei drückte sie mit dem Ellbogen auf einen Schalter.

Gage hatte seine Position nicht verändert. Er blinzelte nur leicht im plötzlichen Licht der Außenlampe.

Rory stellte das Brett auf den kleinen Tisch zwischen den beiden Stühlen und reichte Gage einen Becher, bevor sie sich hinsetzte. „Ich war mir nicht sicher, ob Sie vielleicht etwas Stärkeres möchten“, erklärte sie, als er die Flasche Likör beäugte. Dann durchzuckte es sie. Sein Bruder hatte ein Alkoholproblem, und gerade sie hätte es besser wissen müssen. Ihr Ex-Mann war trockener Alkoholiker. „Tut mir leid, wenn das unsensibel war.“

Als Antwort öffnete er die Flasche und goss einen Schuss Likör in die beiden Becher. Dann rührte er seine heiße Schokolade mit dem Löffel um und reichte ihn danach Rory.

Ihre Finger streiften seine, als sie den Löffel nahm, und zitterten ein wenig beim Umrühren. Schnell legte sie ihn beiseite.

Gage trank einen Schluck und lehnte sich zurück. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal heiße Schokolade hatte. Mit Schuss oder ohne.“ Sein Stuhl knarrte leise. „Oder in einem Schaukelstuhl gesessen habe.“ Er seufzte. „Fast so gut wie eine Hängematte.“

„Zur Entspannung, meinen Sie? Mir ist ein Schaukelstuhl lieber. Das letzte Mal, als ich eine Hängematte ausprobiert habe, bin ich sofort herausgefallen. Das war kein bisschen entspannend.“

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich habe zuletzt in meinen Flitterwochen in einer Hängematte gelegen.“

Die heiße Schokolade schmeckte plötzlich bitter. Rory schaute automatisch auf seine Hand, obwohl sie wusste, dass nicht jeder verheiratete Mann einen Ehering trug. Jon hatte es jedenfalls nicht getan. Er hatte behauptet, dass er ihn bei der Arbeit störte. Als Metallkünstler hatte er viel geschweißt.

Als Künstler hatte er viele Dinge gemacht – hauptsächlich mit anderen Frauen.

Gage trug keinen Ring.

„Wenn Sie verheiratet sind, hätten Sie Ihre Frau mitbringen können“, sagte sie steif. „Wir hätten Ihnen eine größere Hütte …“

„Ich vermute, ihr jetziger Ehemann hätte ein oder zwei Einwände dagegen gehabt.“

Ihre Erleichterung war schon fast komisch.

Was kümmerte es sie, ob Gage verheiratet war oder nicht? Es ging sie nichts an.

Rory trank einen großen Schluck, ohne an den Likör zu denken. Sie konnte gerade noch ein Husten unterdrücken, als der Alkohol brennend durch ihre Kehle rann.

„Wir sind schon lange geschieden“, erzählte Gage. „Janie ist in Ordnung, aber wir hätten gar nicht erst heiraten sollen.“ Er nahm die Flasche und schenkte sich etwas nach.

Rory schüttelte den Kopf, als er sie fragend ansah. „Danke, ich habe genug“, brachte sie heiser hervor. „Haben Sie …“, sie räusperte sich, „… Kinder?“

„Gott sei Dank nein.“

Sie dachte an Killy. „Mein Sohn ist das einzig Gute, das aus meiner Ehe entstanden ist.“

„Was ist passiert?“

Sie spielte mit den Fransen ihres Schals.

„Ist die Frage zu persönlich?“

Sie öffnete den Mund, nicht sicher, was sie antworten sollte, obwohl sie selbst das Thema angeschnitten hatte.

„Keine Sorge“, fuhr er fort. „Mein Personal hält mir das ständig vor.“

Rory ergriff die Chance, das Thema zu wechseln. „Wie viele Leute arbeiten für Sie?“

„In meinem Büro in Denver oder insgesamt?“

„Beides.“

„Zweiunddreißig im Büro. Insgesamt zwischen zwei- und dreitausend. Das hängt von der Jahreszeit ab.“

„Ich wusste nicht, dass Stanton Development so groß ist.“ Sie hatte nicht gründlich genug recherchiert.

Gage zuckte mit den Schultern. „Ich bin Immobilienentwickler. Sobald ein Projekt steht, überlasse ich das Management anderen. Dafür habe ich sehr kompetente Leute.“

„Und doch sind Sie selbst gekommen, um sich unseren Betrieb anzusehen?“ Rory schüttelte den Kopf, verwirrt und alarmiert zugleich. „Sie hätten einen Ihrer Mitarbeiter schicken können.“

„Ich weiß gern genau, worauf ich mich einlasse, bevor ich ein Projekt in die Hände anderer gebe.“ Er trank noch einen Schluck und schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch. „Wenn ich jemanden bitte, Pferdemist zu schaufeln, will ich sagen können, dass ich weiß, wie das ist.“

Rory musterte ihn. „Wie finden Sie die Zeit, gleichzeitig der Boss zu sein, wenn Sie alles selbst ausprobieren müssen? Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden.“

Er wirkte amüsiert. „Jetzt verstehen Sie, warum Ehe und Beziehungen im Allgemeinen für mich nicht funktionieren. Weil mein Leben nur aus Arbeit besteht. Sie ist die eine Sache, für die ich perfekt geeignet bin.“

Rory nahm an, dass er so sein musste, um dermaßen erfolgreich zu sein.

Sie wechselte wieder das Thema. „Hat Ihr Bruder heute Nachmittag etwas unternommen?“

Gage klopfte sich abwesend auf die Brust, als ob er etwas suchte. „Mein Bruder ist erst kurz vorm Dinner aufgestanden.“ Er ließ die Hand sinken. „Als Aufpasser mache ich keinen besonders guten Job.“

„Sie sind doch nicht wirklich sein Aufpasser?“

„Er hatte die Wahl zwischen mir und Gefängnis, nachdem er wieder einmal wegen Trunkenheit am Steuer erwischt worden war. Was ist der Unterschied?“ Er klang sehr müde.

Rory presste die Lippen zusammen. Unabhängig davon, ob er ein Auge auf die Angel River Ranch geworfen hatte, verspürte sie Mitleid mit ihm. „Kann ich irgendwie helfen?“

„Machen Sie morgen den Ausritt mit“, schlug er vor. „Noah wird mitkommen, wenn Sie dabei sind.“

Sie wusste nicht, warum das so sein sollte, aber da sie ihre Unterstützung angeboten hatte, konnte sie schlecht ablehnen. „Das kann ich einrichten.“

„Wunderbar.“ Gage trank aus und stand plötzlich auf, als ob er erreicht hätte, wofür er hergekommen war. „Vielen Dank für die heiße Schokolade.“ Er ging von der Veranda herunter. „Sie hat so gut geschmeckt wie die von meiner Mutter.“

Verwirrt murmelte Rory ein Danke, doch da war er schon fort.

„Du hast gesagt, sie würde hier sein“, sagte Noah leise. „War das gelogen, nur damit ich mitkomme?“

Gage atmete die klare Morgenluft ein und erinnerte sich daran, dass es nichts bringen würde, Noah den Kopf abzureißen. „Nein. Ich rechne damit, dass Rory noch auftaucht. Da drüben stehen noch zwei Pferde.“ Der Sattel knarrte unter ihm, als er zum Gatter des Reitplatzes deutete, wohin Megan sie alle nach dem Aufsitzen geführt hatte.

Das Cowgirl gab ihnen eine kurze Einführung in die Grundlagen des Reitens und schien dabei abzuschätzen, wie sicher er und die anderen sich fühlten. Gage kam zurecht, auch wenn es lange her war, dass er geritten war, aber die Selbstverständlichkeit, mit der Noah im Sattel saß, überraschte ihn.

Natürlich hatte Noah ihm eine seiner patzigen Antworten gegeben, als er ihn danach gefragt hatte.

Dann sah er, wie Noah den Oberkörper aufrichtete, und folgte dem Blick seines Bruders.

Rory schritt auf sie zu.

Ihr langes goldbraunes Haar wehte um ihre Schultern. Sie trug eine abgewetzte Jacke in einem schmutzigen Rotton. Das einzig Vorteilhafte an dem Kleidungsstück war, dass es an ihren Hüften endete. Eine ebenso abgetragene Jeans betonte ihre schlanken Beine. Ihre Wangen waren vor Kälte gerötet und ihre Augen so blau wie der Himmel, der zwischen den grauen Wolken hervorblitzte.

Gage hatte sich mit Frauen getroffen, die weit schöner waren als Rory. Geschliffener. Aber während er sie beobachtete, konnte er sich an keinen einzigen Namen erinnern.

Ein Seitenblick auf Noah, und er wusste, dass sein Bruder ebenso empfand.

Kein Problem, sagte sich Gage. Er wollte keine Beziehung, und er war nicht hier, um eine Affäre anzufangen.

Rory winkte ihnen zu, bevor sie zu dem größeren der beiden Pferde ging und sich geschmeidig in den Sattel schwang. Ihre Blicke trafen sich kurz, bevor Noah ihm die Sicht versperrte.

Gage schüttelte einen Anflug von Ärger ab und schaute zu Megan, die ihren Vortrag beendet hatte.

„Also schön“, rief sie über die Schulter, während sie im Schritt vom Platz ritt. „Der nächste Halt ist Angel’s Lookout. Die Pferde kennen den Weg.“

Wie auf ein Stichwort setzten sich die Tiere nacheinander in Bewegung.

Einschließlich Megan und Rory bestand die Gruppe nur aus sieben Personen: Gage, Noah, die redselige Willow und das Ehepaar Cooper, das am Abend zuvor eingetroffen war.

Gage reihte sich auf Moonbeam hinter dem Paar ein, dann folgten Willow und hinter ihr Noah.

Rory ritt am Ende.

Gage konnte sie nicht sehen, ohne sich im Sattel umzudrehen. Dennoch war er sich ihrer bewusst.

Bewusst auf eine Art, die er lange nicht gespürt hatte.