Bilder des Klaus Störtebeker - Kurt Dröge - E-Book

Bilder des Klaus Störtebeker E-Book

Kurt Dröge

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Beschreibung

Wie ein Seeräuber und Gleichteiler Klaus Störtebeker, so es ihn gegeben hat, ausgesehen haben könnte, ist vollkommen unbekannt. Wenn über Jahrhunderte hinweg von ihm erzählt worden ist, haben sich die Menschen Vorstellungsbilder von ihm gemacht. In Form von konkreten Abbildungen wurden solche Vorstellungen verfestigt, vor allem in einem Kupferstich-Porträt, das bis heute allgemein bekannt ist. Störtebeker ist aber im 19./20. Jahrhundert auf vielfältigste Weise auch anders abgebildet worden: als nahezu austauschbarer Held, dessen Figur stets von anderen Heldengestalten beeinflusst wurde. Die Darstellung zeigt auf der Basis von 125 Abbildungen, welche Rollenbilder oder Figurentypen des Nord- und Ostseepiraten entwickelt worden sind und wie sie in den verschiedenen Phasen des 20. Jahrhunderts von Grafikern und Illustratoren den Zeitumständen angepasst wurden.

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Inhalt

Einleitung

Kurze Hinweise zum Forschungsstand und zur literarischen Entwicklung

„Das“ Störtebeker-Bild

Die ersten alternativen Verbildlichungs-Versuche

(Kolportage-)Romane als literarische und visuelle Innovatoren

Der Jugendroman-Evergreen von Gustav Schalk (1905) oder: ein Jahrhundert Titelbilder

Der jugendliche Held in frühen Heftromanen mit wechselnden Titelbildern (1908/09)

Störtebeker-Konjunkturen der 1920 /30er Jahre: Wilhelm Lobsien in progress

Störtebeker im Nationalsozialismus – am Beispiel eines Sammelbildalbums

Kriegs-Unsicherheiten

Sozialistische Störtebeker-Bilder

Der Störtebeker-Jüngling der jungen Bundesrepublik

Grenzenlose Auffächerungen eines Heldenbildes: neue Medien und Werbemittel

Die literarische Situation in Richtung Gegenwart

Bilder des Klaus Störtebeker: Rückschau

Anmerkungen

Nachwort

Einleitung

Fest steht nur eins: Es gibt von Klaus Störtebeker kein irgendwie geartetes authentisches Bildnis. Ob er selbst gelebt hat, ob er als Sagen- und Heldenfigur aus mehreren historischen Personen sozusagen zusammengesetzt worden ist oder ob irgendjemand ihn irgendwann komplett erfunden hat: All dies ist unsicher und hat die Figur zu einem Mythos gemacht.

Offenkundig ist freilich, dass sich Vorstellungsbilder dieser Figur festgesetzt haben, deren Entwicklung und Geschichte längst noch nicht abgeschlossen ist. Der Mythos Störtebeker als Erzählstoff und literarisches Phänomen existiert und wird immer mal wieder besungen nach dem Motto: Störtebeker lebt!

Die Geschichte des Seeräubers Klaus Störtebeker ist eine Legende, seine Taten sind in Form von Sagen überliefert, die an verschiedenen Stellen vornehmlich im norddeutschen Sprachraum im Lauf der Zeit feste Muster oder „Motivtypen“ entwickelt haben. Über die historische Person eines – oder mehrerer – Störtebeker wird immer wieder neu diskutiert, wenn der Name in – neu entdeckten – spätmittelalterlichen Quellen auftaucht, sozusagen zwischen London, Marienhafe, Hamburg, Rostock, Rügen, Pommern und Danzig.1

Der Figur des Klaus Störtebeker wurden im Verlauf ihrer Überlieferung vielfältige Zuschreibungen zuteil: heldenhafte, charismatische, kraftvolle, trinkfeste, herrscherartige, caritative oder sozialreformerische. Häufig wurde er als rau und gefährlich, aber auch als gütig geschildert – die sagenbezogene Ethik der breiten Bevölkerung hat hierin offenbar keine Inkonsequenz gesehen. Hinzu kommt bis heute der Wunsch vieler Orte und Regionen, den heldenhaften Piraten als einen der ihren zu vereinnahmen und sich – mit vornehmlich touristisch ausgerichteten Absichten – in seiner zwar sünderhaften, aber auch mutig-erfolgreich glänzenden Sonne zu wärmen.

Jahrhundertelang sind die Geschichten um Klaus Störtebeker hauptsächlich in mündlicher Form tradiert worden. Mehr und mehr wurden sie dann aufgeschrieben und neue kamen hinzu. Neben die sagenhaften Erzählungen traten Störtebeker-Lieder und -Gedichte und später Schauspiele und noch später Romane über sein Leben und Wirken. Die Störtebeker-Überlieferung der Neuzeit ist nahezu vollständig literarisch geprägt gewesen. Sie kann und soll hier nur in groben Zügen nachgezeichnet werden.

Alle Menschen, die von Störtebeker hörten oder lasen, machten sich ein Bild von ihm. Es entstanden rasch die kollektiven Vorstellungsbilder, in denen ihm seine besonderen – und zumeist überhöhten – Eigenschaften zugeschrieben waren, wenn man will zwischen dem „Robin Hood der Meere“ und dem gerecht denkenden Sozialrebellen bis hin zum irrsinnig-berserkerhaften Wüterich oder brutalen Gewalttäter mit frühkindlichem Trauma: als Opfer seiner fehlgeleiteten Kraft und unmäßiger Machtmensch. Seine Figur in der Volkssage ist und bleibt jedenfalls reine Projektion und überwindet damit alle potentiell auftretenden Widersprüche.

Wo keine konkreten Bilder, keine Abbildungen vorhanden waren, mussten die Vorstellungsbilder jedes einzelnen Menschen aus seiner Phantasie entspringen oder sich impuls- oder erinnerungsartig an anderen Bildern orientieren. Wie solche Vorstellungsbilder ausgesehen haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Zumeist dürften sie jedenfalls mit dem Meer in Zusammenhang gestanden haben, denn dort ist Störtebeker zu verorten – und Schiff und Wasser besaßen wohl schon immer eine mythische Bedeutung, welche die Vorstellung beflügelt.

In den Sagen selbst sind Aussagen zum Aussehen und zum „Äußeren“ von Störtebeker, wie Annelise Blasel schon vor fast hundert Jahren dokumentiert hat, sehr selten gewesen. In Einzelfällen wurde er als Vampir geschildert. Gelegentlich wurde er als ein älterer Mann mit scharfen durchdringenden Augen gekennzeichnet, das Gesicht von Narben bedeckt, mit langem grauen Zottelbart. Eine solche Beschreibung kann aber auch mehr oder weniger direkt auf eine Abbildung zurück gehen, denn:

Ist die Überlieferungsgeschichte von Störtebeker erwiesenermaßen „von Mund zu Mund“ und hernach weitestgehend literarisch geprägt, so existiert doch auch eine, wie nachfolgend zu zeigen sein wird: vielgestaltige, Bild-Geschichte des Seeräubers. Sie ist über lange Zeit von einem einzigen konkreten Bildnis geprägt gewesen. Über dieses Bildnis hinaus ist diese Abbildungsgeschichte, wohl gerade deshalb, bislang nicht mit betrachtet worden. Im 20. Jahrhundert hat die visuelle Geschichte von Störtebeker sich jedoch so weitreichend aufgefächert, dass ihr zweifellos Bedeutung für die allgemeine Rezeptionsentwicklung der Figur des Störtebeker zukommt. Hier lohnen sich Blicke auf alle Bereiche, in denen Störtebeker „für’s Auge“ dargestellt worden ist und noch wird – bis hin zur Werbefigur des ausgehenden 20. Jahrhunderts und zur Comicfigur unserer Tage.

Zugleich ist freilich in den letzten 600 Jahren die Ikonografie des Störtebeker so überschaubar geblieben, dass sie auf der Basis einer Sammlung von Abbildungsbeispielen gut beschreibbar ist. Die Bild-Geschichte von Störtebeker schreiben, heißt Störtebeker als beliebt-attraktiven Lese- und Hör-Stoff des 20. Jahrhunderts auch in seinen äußeren Erscheinungsformen zu dokumentieren, einschließlich seiner Funktionalisierung und Instrumentalisierung sowie Verortung in der Welt der „Helden des 20. Jahrhunderts“.

Begriff und Figur des Helden, der seit langem in vielfältigsten Zusammenhängen diskutiert wird, sollen nachfolgend nicht eigens thematisiert, sondern aus der konkreten Erzählgestalt von Störtebeker abgeleitet werden.2 Die umfangreichen Fachdiskussionen, Tagungen und Veröffentlichungen zum allgemeinen Phänomen des Heldentums, zu HeldInnen und zum Heroischen seien hier nur erwähnt.

Alle Romanschreiber und Buchgestalter, die sich dem Stoff der Seeräuber-Legende zuwandten, haben ihre eigenen Vorstellungen eingebracht und Beziehungen hergestellt im steten Bestreben, „am Puls der Zeit“ zu sein, mal angepasst an die Hauptströmungen oder gar an den „Massengeschmack“, mal eher kritisch-ambitioniert. Sie alle haben den Stoff damit verändert und, je nach Erfolg und Auflagenhöhen, eine Breitenwirkung erzielt, die (zum Teil) neue Vorstellungsbilder zementiert hat. Am interessantesten erscheint der Blick auf die Einflüsse inhaltlicher und gestalterischer Art, die von außen – vergleichend, ergänzend, verändernd – an den tradierten Stoff herangetragen wurden.

Über Klaus Störtebeker ist nahezu unüberschaubar viel literarisch produziert und phantasiert sowie wissenschaftlich, populärwissenschaftlich, belehrend und unterhaltend geschrieben, wiederholt, ausgeschmückt und miteinander vermengt worden. Den wohl einzigen noch unbetrachteten Aspekt seiner Wirkungsgeschichte bildet seine konkrete, materielle, vorstellungsschaffende visuelle Abbildung, nicht nur im Laufe früherer Jahrhunderte, sondern bis heute. Sich auf der Grundlage einer einschlägigen Bild-Sammlung darauf zu konzentrieren, soll nachfolgend versucht werden.

Dabei sind gelegentliche Seitenblicke erforderlich auf die reichhaltige Literatur zum allgemeinen Piratenwesen (auf der ganzen Erde, insbesondere in der Karibik) und der Bilderwelt der „Korsaren“. Piraten- und Seeräuber-Geschichten und -Bilder stellen an dieser Stelle nur eine sekundäre Quelle dar, wiesen aber immer Berührungspunkte nicht nur literarischer, sondern auch visueller Art auf zum „Störtebeker-Genre“ und dienten im 19. und 20. Jahrhundert häufig als Ansatz für eine – manchmal nur versuchsweise – Verschränkung von Stoff, Inhalt und äußerer Form.

Seitenblicke gelten auch ikonografischen Aspekten eines allgemeinen „Helden“-Typus sowie ganz besonders der Geschichte der Hanse, deren Erforschung im 19. Jahrhundert forciert wurde, als parallel dazu ein neues Interesse auch an Störtebeker erwachte.3 Die Hanse mit ihrer eigenen Geschichtsdeutung und Rezeptionsgeschichte spielt auf ambivalente Weise in die Störtebeker-Überlieferung hinein, bis hin zur generalisierten Anschauung, dass sie außerordentlich erfolgreich aus Reputationsgründen die „Kriminalisierung“ der Vitalier und Gleichteiler betrieben hat. Dazu gehörte „die ungestüme bis wahnhafte Wildheit, die man offenbar von einem Seeräuber erwartete“. Hamburger Münzen etwa haben bereits um 1700 Störtebeker karikiert, ihn zum wilden Gewaltmenschen gemacht und „vom stolzen Recken zum sabbernden Kranken umgedeutet“.4 Heute kann Störtebeker schon mal – umgekehrt – als zeichnerische Mischung aus Rübezahl und Seebär, die Stadt auf Händen tragend, die Funktion eines touristisch-folkloristischen Stadtführers von Hamburg übernehmen.

Alternativtouristischer Stadtführer durch Hamburg, 2010

Kurze Hinweise zum Forschungsstand und zur literarischen Entwicklung

Zum „historischen“ Störtebeker in einer Zeit, als das Handelskapital als neue Macht und das städtische Patriziat als neue Oberschicht entstanden, ist in den letzten Jahrzehnten eine intensive Diskussion in Gang gekommen, die als noch längst nicht abgeschlossen gelten darf. Denn es dürfte in Zukunft auch noch weitere „neue“ oder neu interpretierbare Quellen historischer oder auch archäologischer Art geben, die zu Mutmaßungen über den „Seeheld“, „Admiral“, „Piratenhäuptling“, „Vitalier“, „Edelmann“ oder „gefallenen Kaufmann“ führen können.5 Sie spielen im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle.

Anders ist dies bezüglich der Rezeptionsgeschichte der erzählten Figur des Störtebeker. Dieses Objekt der Verherrlichung taucht seit dem 19. Jahrhundert als Bestandteil „wissenschaftlich“-dokumentarischer Erörterung auf im Rahmen des – vergeblichen – Versuches, ihren historischen Realitätsgehalt aufzuhellen (mit einem Zentrum in Hamburg). Zugrunde liegt dieser Beschäftigung seit eh und je die sagenhafte Überlieferung einer hauptsächlich in norddeutschen Küstengebieten angesiedelten Heldenfigur, nicht ohne Vorläufer und Überschneidungen mit anderen Heldengeschichten.

Als Gattungen dieser Überlieferung dienen bis heute die Erzählung und das Bild, in einer kleinen Nische seit längerem das Schauspiel, in Richtung Gegenwart ergänzt durch den Film.

Der Freibeuter ist in nahezu allen überlieferten Geschichten umgeben von seinen Alter Egos Gödecke Michel, typisiert zum deutschen Kraftmenschen, und Magister Wigbold, dem Freigeist und Intellektuellen. Störtebeker repräsentiert die Ausbruchs-Sehnsucht des neuzeitlichen Bürgertums in Verbindung mit einem sozial eingestellten Gutmenschentum, welches nur außerhalb der neuzeitlich-bürgerlichen Regelwerke mit ihren Klassenstrukturen denkbar ist. Eine besondere, weitere Schiene stellt seine Vereinnahmung für frühe sozialistische Ideen und Visionen dar, bis hin zur kommunistischen Vitalier-Gesellschaft und ihrer Fortsetzung in der DDR-Propaganda, unter anderem repräsentiert durch die Störtebeker-Festspiele auf Rügen.

Klaus Störtebeker kann in bürgerlichen Gruppierungen und Überlieferungszusammenhängen nur Held sein jenseits der Grenze zur Legalität. In einigermaßen pluralistischen oder gar demokratischen Gesellschaftsformationen bildet das nicht wirklich ein Problem, weil die Exotik und Fiktionalität seiner Starkheits- und Gerechtigkeitsträume allenfalls als tragisch geformtes Ventil und damit letztlich immer systemerhaltend fungiert und funktioniert. Dieses Funktionsgefüge macht in totalitären Zusammenhängen mit klaren ideologischen Vorgaben größere Schwierigkeiten und fordert entweder so etwas wie eine größere Klarheit oder eine bewusste Unklarheit des literarischen oder Bildenden Künstlers.

Systematisch und nahezu erschöpfend aufgearbeitet worden ist seitens der Germanistik die literarische Überlieferung Störtebekers im Anschluss an die in groben Zügen bekannte mündliche Tradierung des auf diese Figur bezogenen Sagenstoffes. Dieter Möhn hat sich „die Faszination“ des erzählerischen Stoffes Störtebeker mitsamt seinen Modifikationen „in der deutschen Literaturgeschichte“ zu eigen gemacht6 und die bekannten literarischen Bearbeitungen der letzten etwa 200 Jahre in Gestalt einer kommentierten Bibliografie zusammengestellt.7 Seine Auflistung hat als ein Ausgangspunkt für die hier vorgestellte Sammlung gedient und die von ihm hergestellten Bezüge liegen den Abschnitten im vorliegenden Büchlein an zahlreichen Stellen zugrunde, indem sie, zum Teil vergleichend, auf die Bildüberlieferung ausgeweitet wurden.

Unabhängig von der literarhistorischen Bearbeitung hat zuvor, bereits 1979, eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem „Phänomen Störtebeker“ stattgefunden. Die breit angelegte Analyse von Gerrit Confurius8 stellte die Figur vor dem Hintergrund marxistischer Geschichtsauffassung in sowohl historische als auch überlieferungsgeschichtliche und psychologisch ausdeutende Beziehungszusammenhänge:

„Ob Störtebeker nun frondierender Kleinadliger, aufständischer Bauer oder revoltierender Kleinbürger war, oder ob er sich vom kriegerischen Söldner zum Sozialrebellen gewandelt hat, muss wohl ungeklärt bleiben. In der Legende ging es weniger um seine tatsächliche Herkunft und Biographie als vielmehr um den Effekt seines Handelns. Wichtig war, dass er die Großbürger schädigte. Dass sich die Legende um eine Randfigur des Geschehens ranken konnte – der führende Kopf der Organisation war wahrscheinlich Gödeke Michael – , kann als Hinweis darauf gelten, dass gerade die relative Unschärfe seiner Konturen und das Geheimnisvolle seiner Herkunft die Mystifikation seiner Person durch seine Zeitgenossen begünstigt hat. Wenn er auch zum eindeutigen Rächer der Mühseligen und Beladenen stilisiert wurde, so ist doch nicht ausgeschlossen, dass er ganz und gar keine sozialrevolutionären Motive gehabt hat. Viel wahrscheinlicher ist, dass dieser Mann, der zu einem an die heidnischen Gottheiten erinnernden Mythos erhoben wurde, in einer uns kaum vorstellbaren Brutalität mit seinen Opfern umgegangen ist, die von den Urhebern seiner Legende ignoriert worden ist. […] Später wird seine Faszination trivialisiert und dient nur noch der Auffrischung des Lokalkolorits.“9

Im Anschluss an die Ausführungen von Dieter Möhn und als Basis der nachfolgenden Beschäftigung mag die Überlieferungsgeschichte des literarischen Stoffes „Störtebeker“ wie folgt zusammengefasst werden.

Als eine Art mächtiger, überschreitender Erzählstoff mit großer Überlebensdauer ist Störtebeker anderen wichtigen Außenseiter-Stoffen zuerst mündlicher Überlieferung wie Reinke de Vos oder Eulenspiegel an die Seite zu stellen (nicht ohne Bezüge zur Figur des Narren). Seine abenteuergespickte Attraktivität des mutigen, raubeinigen Seemannes hat in verklärender und mythisierender Manier früh zu Kontinuität und einer Aufhebung seiner konkreten zeitlichen Existenz geführt sowie im Lauf der Zeit auch zum Eingang in eine Vielzahl von Gattungen, Formen und Medien.

Früh wurde dem Stoff der „Likedeeler“ (Gleichteiler) der Aspekt der sozialen Gerechtigkeit zugeschrieben und Störtebeker zum Sozialrebellen oder auch Sozialbanditen in einer „Gegengesellschaft“10 hochstilisiert, was ein Wissen auch um die ritterlichen Rebellen des Mittelalters umfasste und durchaus als Vorgriff auf den neuzeitlichen Sozialismus gesehen werden kann. Parallelen zu den Legenden oder Sagen vom Schinderhannes oder auch Eulenspiegel sind gegeben. „Wahrscheinlich war Störtebeker eine nicht so seltene soziale Erscheinung des ausgehenden 14. Jahrhunderts. Anführer einer sozial bedrängten Gruppe von Leuten, die sich durch das Aufbringen von Schiffen das Überleben sicherten.“11

Seit wann Störtebeker als „Robin Hood der Meere“ bezeichnet worden ist, bedarf noch der Aufhellung. Die Parole „Gottes Freund und aller Welt Feind“ war etwa 1928 titelgebend für ein literarisches Rebellen-Porträt von Störtebeker aus der Feder von Erich Müller.12 Sie hat die gesamte Rezeptionsgeschichte maßgeblich mit bestimmt und soll seit dem 14. Jahrhundert (als Motto französischer Söldner) bezeugt sein, nicht als Zitat, sondern als eine Art zeitgenössisches, zuschreibendes Gruppenabzeichen.

Im Störtebeker-Stoff der Neuzeit sind zahlreiche wichtige Aspekte enthalten, die mit seiner zeitgleichen und späteren Verbildlichung in zum Teil ursächlicher Beziehung stehen. Zu diesen gehört die Zusprache des Machtmenschen und Beherrschers der Weltmeere. Die Sagen-Motive des Stoffes wurden im späteren 19. Jahrhundert um den Freiheits-Begriff erweitert, der mit dem Status des Gesetzlosen eng verbunden