Brieftauben und Reisetaubensport in erzählender Literatur - Kurt Dröge - E-Book

Brieftauben und Reisetaubensport in erzählender Literatur E-Book

Kurt Dröge

0,0

Beschreibung

Wenn von Literatur zu Brieftauben und Reisetaubensport die Rede ist, sind gemeinhin Handbücher, Anleitungen und Erlebnisberichte zur Taubenzucht und ihren Sachthemen gemeint im Sinne von Fachbüchern. Aber auch in der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts können die Brieftaube und die spezifischen Kulturformen, die sie begründet hat, eine Rolle spielen. Der Brieftaube, die auch über weite Entfernungen nach Hause findet, als Symbol, Thema und Motiv in belletristischen Texten geht die Darstellung nach. Sie ist nach Art einer Sammelbesprechung gestaltet und kreist letztlich immer um das Thema Heimat und Beheimatung. Der Bogen reicht von der Botentaube über die Melde- und Kriegstaube bis zur wettkampfsportlich eingesetzten Reisetaube, oft apostrophiert als Rennpferd des kleinen Mannes in der Industriegesellschaft.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 300

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Einleitung

Die Friedens-Botschafterin: genreübergreifende Taubensymbolik

Nachrichtenübermittlung in Altertum und literarisierter Neuzeit: vom Briefträger bis zur Liebesbotin

Die motivische Vielfalt des literarischen Stoffes „Taube“

Militär- und Kriegstauben – Stoff für Heldengeschichten

„Spannungsreiche“ Verbrechen und Missetaten – und ihre Aufklärung

Brieftaubenbelletristik

Das „Rennpferd des kleinen Mannes“: Ruhrgebiets-Topos und Jungen-Traum

Reisetaubengeschichten – vom Sachbuch zum literarischen Versuch

„Taubenbücher“ – eine zufällige Auswahl zur Abrundung

Schlussbemerkung

Verzeichnis der Erzählwerke

Vorwort

Zuhause ist wo meine Tauben sind.

Einleitung

Das Heimfindevermögen der Brieftaube, das man als ein symbolbehaftetes Alleinstellungsmerkmal sehen darf, hat vor 150 Jahren dazu beigetragen, neue bürgerliche Kulturformen zu begründen. Das geschah, indem der besondere Orientierungssinn nicht nur zu Zucht-, sondern neben militärischen Einsatzgebieten auch zu sportlich definierten Wettkampfzwecken genutzt wurde, denen sich ein regelrechtes Wettwesen hinzugesellte. Organisiert wurde dieser alltagskulturelle Sektor in Vereinen, die unter anderem auch eine Selbstkontrolle über die geregelte und geordnete Haltung der Brieftauben ausübten sowohl unter sportlichen als auch zugleich unter züchterischen (Tierwohl-)Aspekten.

Nach einer langen und intensiven Zeit existiert das nach wettkampfsportlichen Gesichtspunkten aufgebaute Brieftaubenzüchter-Vereinswesen zwar immer noch, ist jedoch in den letzten Jahrzehnten bezüglich der Zahl der beteiligten Menschen und Tiere stark reduziert worden.

Nahezu von Beginn an entstand eine reisetaubenspezifische Fachliteratur, die sich ratgeberartig mit allen Fragen der Zucht, des Ausstellungswesens und vor allem der erfolgreichen Reise der Flugtauben auseinandersetzte. Obgleich die Reisetaubenzucht in manchen mitteleuropäischen Regionen etwa Belgiens, der Niederlande und Deutschlands sehr weit verbreitet gewesen ist, blieb sie doch insgesamt eine Nische in gesellschaftlicher, kultureller und sportlicher Hinsicht und wurde nicht selten als „kleinbürgerliches Hobby“ belächelt, was der tatsächlichen Struktur dieses Segmentes im bürgerlichen Vereinswesen insgesamt nur bedingt angemessen gewesen ist.

So reichhaltig die Fachliteratur zur Zucht von Reisetauben als Angebot für alle Insider, die sich selbst gern als Brieftaubenliebhaber bezeichnen, war und ist, so wenig scheint dieses spezifisch definierte alltagskulturelle Milieu, das wohl in gewisser Weise zwischen Land und Stadt anzusiedeln ist, Eingang in erzählende Literatur, in Romane, Geschichten oder Gedichte gefunden zu haben. Dabei ist das mündliche Erzählen von Selbsterlebtem, von Erfolgen und Anekdoten aus dem Alltag der Flüge im internen Kreis bis heute weit verbreitet.

Ob sich aus der mündlichen Kommunikation unter den Züchtern und den auch gedruckten, sachbuchartigen oder autobiografischen Erfolgsgeschichten in irgendeiner Form eine Art eigenständige Sparte belletristischer Literatur entwickelt hat, etwa unter dem Einfluss des sozialkundlich basierten Schlagwortes vom Rennpferd des Kleinen Mannes im Ruhrgebiet, bildet eine Ausgangsfrage, der hier nachgegangen werden soll. Eine solche Sparte würde die Brieftaube als Literaturstoff enthalten, als eine zentrale und wiederkehrende Handlungsstruktur im Rahmen unterschiedlicher literarischer Entwürfe sowie auch von Erzählhaltungen und Darstellungsperspektiven.

Aber auch wenn es eine solche eigenständige Sparte mit der Brieftaube als zentraler Thematik einer schriftstellerisch-narrativen Aufarbeitung nicht geben sollte, so lohnt sich doch ein Blick auf die „Brieftaube in der erzählenden Literatur“, auf die Sporttaube und ihr Kulturmilieu als literarisches Motiv, vielleicht aber auch nur als – reale Verhältnisse mitspiegelnde – gesellschaftlich-kulturelle Begleiterscheinung im Sinne von Nebenmotiven.

Ein solcher Blick ist wohl neu und noch nicht versucht worden, und er scheint nicht möglich zu sein, ohne die Brieftaube von der Taube ganz allgemein, aber vor allem auch von der Stadttaube als „wildem“ Bestandteil urban-industrieller Siedlungs- und Wohnkultur abzugrenzen, immer in Hinsicht ihrer literarisch-narrativen Behandlung in belletristischer Prosa, in Romanen, Erzählungen, Novellen oder Kurzgeschichten.

Die Taube als Tierart, mit der freilich mehrheitlich bereits die Brieftaube assoziiert werden dürfte, bildet ein geradezu riesiges Thema für die menschliche Geistesund Kultur- und besonders auch für die Religionsgeschichte und für deren literarische Überlieferungen. Dieses Thema verengt sich, wenn die spezifischen Eigenschaften und Befähigungen – ausgehend vom Namen selbst – der Brieftaube in den Blick kommen, auf deren kommunikative Funktionen im historischen Alltagsleben verschiedener Zeiten.

Erst an der Schnittstelle zum dritten Themenaspekt setzt das Hauptinteresse dieser Darstellung ein, nämlich an dem Punkt, der die institutionelle Nutzung der Eigenarten und Kompetenzen von Tauben markiert und seit dem späteren 19. Jahrhundert in Gestalt von gezielter Brieftaubenzucht nicht mehr nur für Nachrichten-, sondern auch für Wettkampfzwecke einen neuzeitlich-modernen Umgang mit den Tieren begründet. In dieser Phase verbinden sich militärische Funktionen des Taubeneinsatzes mit der Herausbildung von Taubenvereinen und ihrer spezifischen Kultur im Rahmen des bürgerlichen Vereinswesens, das in dieser Ausprägung seine erste Profilbildung im Kaiserreich erhält.

Zugleich beginnt die spezielle Gattung von Fachliteratur nicht mehr zur Geflügelzucht, sondern zum Reisetaubenwesen zu entstehen. Deren Weiterentwicklung wirft die Frage auf, wie und unter welchen Begleitumständen nicht mehr nur die Taube oder Brieftaube an sich, sondern auch die wettbewerbsmäßig betriebene Reisetaubenvereinskultur in das Blickfeld auch belletristisch-literarischer Bestrebungen rückt – weniger zu Informations- oder Bildungs- als zu Unterhaltungszwecken.

Einen erweiterten Rahmen würde die Frage bilden, wie unter solchen Umständen die Brieftaubenkultur Eingang nicht nur in die „schöne“ Literatur, sondern auch in weitere Künste bildnerischer Art gefunden hat. Auf Anhieb wäre ein solches Thema „Die Reisetaube in der bildenden Kunst“, das hier nicht weiterverfolgt wird, wohl allerdings als noch entlegener und spezieller (und aus der Sicht konventioneller Kunstgeschichte: noch profaner, bagatellartiger oder trivialer) anzusehen als jenes, das wie hier auf literarische Ausdrucksformen und Vorstellungsbilder ausgerichtet ist – ganz gleich, ob einer „höheren“ oder „niederen“ Erzählkultur zugehörig.

Brieftaubenzüchter bilden, so man ein solches Gruppenstereotyp für zulässig hält, keine fleißige Leserschaft für schöngeistige Literatur. Das dafür verantwortlich gemachte Argument: „Zum Lesen lassen mir meine Tauben keine Zeit.“ ist aus der Perspektive des engagierten Züchters sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Weiteren Gründen für dieses Nichtzueinanderpassen oder gar diese Unvereinbarkeit auf die Spur zu kommen, würde auch grundsätzlichere Überlegungen zum Thema Bildung, Unterhaltung, Hobbys und Events in der bürgerlichen Freizeitgesellschaft lohnen bis hin zu deren spätmoderner – digitaler – Ausformung. Auf jeden Fall scheint diese „Sachlage“ maßgeblich dazu beigetragen zu haben, dass Brieftauben und die sie umgebenden Kulturformen als Thema, Motiv oder Sujet in literarisch-belletristischen Werken nicht allzu häufig vorkommen – das sei hier vorweggenommen.

Dass es sie dennoch gibt in den unterschiedlichsten Varianten, Funktionen und Ausdrucksformen, mag in diesem Büchlein im Mittelpunkt des Interesses stehen, eines Interesses, das auf der einen Seite von einer neugierigen Liebe zu Brieftauben ausgeht und auf der anderen Seite eine Freude an poetischen Texten und wohlgesetzter Sprache voraussetzt. Eine solche Verbindung ist dem gemeinhin als „typisch“ qualifizierten Reisetaubenzüchter wohl eher fremd wie auf der anderen Seite auch dem Feuilleton-Journalisten, der sich mit der jeweils angesagten Literatur-Produktion befasst. Der spezifischen Verbindung von Brieftauben und schriftlicher Erzählkultur muss wohl ein Nischendasein zugesprochen werden, das in eine zugesprochene Bedeutungslosigkeit zu münden droht.

Da so etwas oder Ähnliches aber sicher auch für große Teile der Erzählliteratur an sich sowie auch der germanistisch-akademischen Fachliteratur darüber zutrifft, wird an dieser Stelle ans Werk gegangen mit der Lektüre von insgesamt mehr als 100 literarischen Erzeugnissen jedweder Art, vom historischen Roman bis zum Comic, immer auf der Suche nach Brieftauben und der Schilderung ihrer Eigenarten sowie nach dem Reisetaubensport als Bestandteil einer neuzeitlichen, als kleinbürgerlich angesehenen Vereinskultur und seiner Darstellung in narrativen Kontexten. Vollständigkeit ist dabei in keinerlei Richtung angestrebt.

Dass das daraus entstandene Büchlein also wohl weder von Taubenzüchtern noch von Germanisten gelesen werden wird, bildet sein Schicksal – welches die Freude über sein Entstehen in keinster Weise schmälert. Und es bildet auch ein bleibendes gutes Gefühl, einmal die wenigen, aber zumindest zu einem Teil originellen, anrührenden und erzählerisch überzeugenden literarischen Denkmäler des zu Ende gehenden Brieftaubenwesens festgehalten zu haben, mit kurzen Beschreibungen und zum Teil, wo es zu lohnen scheint, mit längeren Zitaten.

Die besondere Fähigkeit der Brieftaube, den heimatlichen Schlag wiederzufinden, und ihr Drang, ihn auch aus größeren Entfernungen wiederaufzusuchen, haben seit dem 19. Jahrhundert zu mehreren interessanten Konsequenzen geführt.

Nachdem die Epoche der „Meldetaube“ in postalischen und vor allem militärischen Zusammenhängen vorüber gegangen war, hat sich der gesellschaftliche Zugriff auf „die Brieftaube“, sowohl das Phänomen als auch die konkrete, haus- oder wohnungsaffine Kleintierart, fokussiert auf den vereinsmäßig betriebenen und seit der Kaiserzeit verbandsmäßig straff durchorganisierten Reisetaubensport. Es entstanden hierarchische Strukturen auf der einen Seite und romantisierende Tendenzen auf der anderen, die nicht selten in Richtung Harmonisierung funktionalisiert wurden und zuweilen sogar eine Art Ideologisierung der Brieftaubenzucht beinhalteten. Das sehr konservative Gesellschafts- und insbesondere Frauenbild der organisierten Züchterschaft mit einem konstitutiv ausgebildeten Leistungsgedanken diente unter anderem dazu, sich gegenüber Kritik von außen abzugrenzen, ganz im Sinne einer soziokulturellen Nische und wohl auch nicht ohne kompensatorische Aspekte.

In Verbindung mit der ausschließlich leistungsbezogen agierenden Brieftaubenzucht orientiert sich seit mehr als 100 Jahren der Inhalt der besonderen Sparte von ratgeberartiger Fachliteratur eng an dem Leitbild „Von erfolgreichen Züchtern für ehrgeizige Züchter“. Wie das gesamte Reisetaubenwesen (und mit ihm das Ausstellungswesen erfolgreicher Tiere), so hat auch diese Fachliteratur in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Rückgang verzeichnen müssen, es gibt sie aber immer noch, wie auch die Brieftaubenkultur als eine nischenartig existierende, kleine und inzwischen reliktartige Vereinswelt, bestehend aus, wenn man so will, „Vereinen neben den Vereinen“.

Die Blickfokussierung auf die hochgezüchtete Sporttaube oder Reisetaube zeigt, dass die hinter ihr stehende Vereinskultur mitsamt ihrer inzwischen bemerkenswerten Traditionalität sowie ihrem ausgeklügelten, bis heute technisch immer mehr vervollkommneten Wettkampfwesen in der allgemein bekannten literarischen Belletristik kaum aufzutauchen scheint. Ein noch näherer Blick betrifft dann die „Arbeiterliteratur“ seit den 1960/70er Jahren, denn es liegt die Vermutung nahe, dass dort das Rennpferd des Kleinen Mannes als plakativer, toposartiger Ausdruck der sozialen Übernahme von Kultur- und Prestigemustern oberer Gesellschaftsschichten nicht nur, aber vor allem im Ruhrgebiet eine gebührende Aufmerksamkeit erfahren hat.

Eine andere Frage ist in Richtung Internationalität von belletristischer Tauben-Literatur gerichtet, die sich vielleicht im Anschluss an den üblichen, länderübergreifenden Austausch im Brieftauben(zucht)wesen als parallele Erscheinung herausgebildet haben könnte. Zumindest einzelne Beispiele vermögen dies zu bestätigen.

Zum Hintergrund oder Rahmen gehören die „Arbeiterkulturen“, das Themenfeld „Heimat und Identität“ mit dem vielzitierten Schlagwort „Heimat ist wo meine Tauben sind“ und die postulierte, aber auch vielfach problematisierte „Kultur des deutschen Kleinbürgertums“. Angesichts der Tatsache, dass es in der Geschichte der Brieftaubenzucht nicht wenige Unternehmer, Ärzte, Rechtsanwälte oder Pfarrer gegeben hat, die Tauben gezüchtet haben und mit ihnen gereist sind, bleibt an dieser Stelle die Frage offen, worin deren „kleinbürgerliches Denken“ bestanden hat, das offenbar unabhängig vom Sozialstatus und von der Wertigkeit der jeweiligen Lebens- und Wohnkultur im gemeinsamen Umgang mit den Tauben vorhanden gewesen ist. Hier spielen mehrere kulturwissenschaftlichvolkskundliche Gesichtspunkte der gesellschaftlichen Entwicklung unter der Industrialisierung und Verstädterung hinein.1

Thematisch eingeschlossen sind an dieser Stelle die Kleintierhaltung in Zeiten der auch urbanen Selbstversorgung im Übergang zur Industriegesellschaft, die Vereinskultur als sich verfestigende gesellschaftliche Konstituente des 20. Jahrhunderts und das wettkampfmäßig betriebene Sportwesen dieses Zeitraums – mit dem Pferde- und Hundesport als direkten Parallelen.

Dabei wird die allgemeine Relevanz des Sportwesens seit langem von den Sozial- und Kulturwissenschaften massiv unterschätzt. Der Brieftaubensport mit seiner Tiernutzung besitzt zweifellos eine Sonderstellung an der Peripherie von „Sportkultur“. Aber vielleicht gerade deshalb bildet er ein aussagekräftiges Beispiel für die Bedeutung einer „natur-verbleibenden“ Sportkultur im gesellschaftlichen Übergang sowie im Bewusstsein und im Alltag von Bevölkerungsgruppen, deren Zusammensetzung bis zu einem gewissen Grad durchaus schichtenübergreifend gewesen ist.

So wie die – unspezifische – Taube als Nutztier zur ländlich-agrarischen Alltagskultur gehörte, wobei es sich zumeist um Zier- und Schlachttauben ohne größere züchterische Ansprüche gehandelt hat, so war die Brieftaube Bestandteil einer im Ansatz urbanen sowie von industriellen Einflüssen zu Beginn unmittelbar und späterhin zumindest mittelbar betroffenen Freizeitkultur. Die Brieftaubenzüchtervereine sind in ihrer Frühzeit von dem Volkskundler Dietmar Sauermann, der ihre kulturellen Ausformungen dokumentiert und untersucht hat, geradezu als „Indikator für den Verstädterungsprozess“ bezeichnet worden. Dabei spielte die verträgliche Polarität zwischen der „Liebe“ zum Tier und dessen „Nutzung“ noch eine selbstverständlichalltägliche Rolle.2

Aus der vorauszusetzenden Urbanität (in der Siedlungsweise, im Alltagsablauf wie auch im Selbstverständnis) folgt unter anderem, dass das literarische Genre der ländlichen Idylle oder der Dorferzählung vor, neben oder trotz der Industrialisierung die Brieftauben nicht kennt, sondern die Tauben nur als atmosphärische, lebendig-bewegte Gattung von herumflatterndem Federvieh vorführt, das konstitutiv zur Hofkultur gehört wie Enten, Hühner oder Gänse. Die volkstümlichen Abbildungen des Bauernhofes im 19. Jahrhundert mit dem fast obligatorischen kleinen Taubentürmchen unweit der Stallungen bilden hier als Bildüberlieferungsbeispiele eine illustrierende Veranschaulichung, die mit der Reisetaubenzucht nichts zu tun hat. Bauernhof und Arbeitersiedlung waren auch im Hinblick auf die Tauben und noch durch das ganze 20. Jahrhundert Gegensätze, die sogar soziales Konfliktpotential beinhalteten.

Für die Brieftauben als Milieu oder als handelnde Figuren in fiktionaler Literatur sind stets Veränderungseinflüsse der Moderne erforderlich, die in verschiedenerlei Hinsicht „Bewegung“ mit sich bringen – nicht zuletzt durch die Tauben und ihre Wettflüge selbst: Mobilität als Kennzeichen neuzeitlicher Kultur, die ihre Grundlagen in der Natur noch nicht sogleich ganz aufgibt.

Brieftauben in Zechensiedlungen und kleinstädtischen (nicht dörflichen) Baustrukturen können als Zwischenstufe, als Wandelerscheinung, als Symbol für die allmähliche Abkehr von den kreatürlich-natürlichen Grundlagen der menschlichen Umwelt gesehen werden, auch als Ersatz oder Kompensation. Brieftauben und die Erzählungen über ihre „besonderen Kultureigenarten“ können, im Rückblick, durchaus als reliktartiger, endgültiger und wehmütiger Abgesang des ehedem selbstverständlichen Zusammenlebens von Mensch und Tier in Gestalt von Wohnung und Stall betrachtet werden. Übrig geblieben sind hier Hund und Katze, nicht mehr wie die Tauben im „eigenen“ Schlag gehalten, sondern eingesperrt in wenig artgerechte städtische Lebens- und Wohnverhältnisse.

An dieser Stelle kann ein Teilergebnis der vorliegenden Dokumentation erzählender Literatur vorausgeschickt werden: Die kritische Frage, ob die wettkampfmäßig betriebene Taubenhaltung irgendwann in eine Form von Tierquälerei übergegangen ist, wurde und wird zwar gelegentlich in der journalistischen Diskussion3, nicht jedoch in einer wie auch immer gearteten literarischen Form gestellt.

Insbesondere die sogenannte Witwerschaftsmethode im Reisetaubensport ist in diesem Zusammenhang immer wieder kontrovers diskutiert worden. In den wenigen Prosawerken, in welchen die Witwer genannten männlichen Vögel, die während der gesamten Flugsaison getrennt von ihren Weibchen leben müssen, zuweilen handlungsbegleitend auftreten, geschieht dies durchweg in einer unkritisch-erklärenden Form.

Die Zahl der deutschsprachigen Werke (bis auf wenige Ausnahmen werden nachfolgend nur diese behandelt), in denen Brieftauben als „Figuren“ auftauchen, ohne freilich selbst das Thema oder die Hauptmotivik auszumachen, ist bedeutend größer als man gemeinhin annehmen könnte. Insofern kann und muss die Darstellung in gewisser Weise bei der Taube Noahs einsetzen, die von ihrem Rundflug zurückkam. Ihr folgten zahllose Artgenossen, die im Lauf von Jahrhunderten Vorstellungen und Glaubensinhalte befestigten, mit bestimmten Funktionen und Aufgaben im Alltagsleben der Menschen belegt wurden und nicht selten legendäre, märchenhafte, vorbildliche oder symbolische Heldentaten vollbrachten. Neben die konkrete Schilderung von Ereignissen mit Brieftauben muss recht früh in der Zivilisations- und Religionsgeschichte sowie in der zugehörigen erzählerischen Überlieferung die Taube als Metapher für menschliche Handlungen, Befindlichkeiten und Wertvorstellungen getreten sein.

Nachfolgend werden etliche literarische Werke und Produkte, deren Bandbreite und Unterschiedlichkeit kaum größer sein könnte, unter dem Gesichtspunkt ihrer thematischen Beziehung zu Brieftauben (mehr oder weniger kurz) und zum Reisetaubensport (mehr oder minder ausführlich) besprochen. Auf diese Weise mag, wie im Untertitel formuliert, eine „Sammelbesprechung mit Bildern“ entstehen, denn auch die eine oder andere (Titel-)Abbildung ist mit aufgenommen worden, ganz im Sinne der kleinen Buchreihe, unter deren Rubrum diese Darstellung erscheint.

Aus diesen einzelnen Besprechungen entsteht keine analytisch-kritische Gesamtdarstellung, aber vielleicht und hoffentlich doch ein Bild aus unterschiedlichsten und zum Teil nachdenklichen oder sehnsüchtigschönen oder wehmütigen oder einfach gelungenen literarischen Brieftauben-Texten, vor allem im später nachfolgenden Hauptkapitel „Brieftaubenbelletristik“.

Das Hauptziel der zumeist kurzen Rezensionen oder auch nur Titelhinweise soll nicht darin bestehen, literaturkundliche Vergleiche anzustellen, zumal die Genres und auch die Zielgruppen der zusammen besprochenen und motivisch benachbarten Bücher zum Teil sehr weit auseinanderdriften. Man erwarte deshalb auch keine komparative Analyse von unterschiedlichen Erzählhaltungen, Stilausprägungen und literarischen Feinheiten.

Aber es soll versucht werden, einen Überblick zu erhalten bezüglich der Vielfalt an motivischen und literarischen Zugriffsweisen, in denen die Tauben – in irgendeiner Form – eine oder „ihre“ Rolle spielen, wenn man so will: stofflich und motivisch „funktionalisiert“ werden. Bei dieser Bestandsaufnahme, die thematisch-additiv („positivistisch“) und nicht germanistisch-literaturkritisch ausgerichtet ist, wird trotzdem keine Neutralität angestrebt, sondern gemäß dem Wesen jeder Buchbesprechung mag mancher behandelte Text kurz inhaltlich beschrieben, aber auch einer mehr oder weniger bewertenden, subjektiven Beurteilung unterzogen werden.

Die Friedens-Botschafterin: genreübergreifende Taubensymbolik

Es gibt wohl nicht viele Tierarten, die im Verlauf der Menschheitsgeschichte so stark und so dauerhaft mit symbolischen Werten belegt worden sind wie die Taube. Ihre weit in historische Glaubensvorstellungen und mythologische Zusammenhänge zurückreichende Bedeutung in der menschlichen Vorstellungswelt mag hier nur pauschal angesprochen werden. Die Bedeutungshaftigkeit der Taube bildet nicht zuletzt ein starkes Fundament für die religiös-christliche Überlieferung, von der ganz konkreten Taube Noahs, die als Hoffnungsträger und Himmelsbotschafterin auf die Arche zurückkehrt, bis zur allumfassend die göttliche Dreieinigkeit komplettierenden Taube als Symbol des Heiligen Geistes.

In der biblischen Überlieferung bildet die Taube wohl unzweifelhaft das Tier, welches am häufigsten genannt ist. Ihre Personifizierungen umfassen eine ganze Bandbreite symbolischer Bedeutungen, nicht nur die Sehnsucht oder leidenschaftliche Suche nach Gott, sondern auch die Schönheit, die Treue der Liebe und die zwischenmenschliche Zärtlichkeit, aber auch die Unschuld und Reinheit sowie die Freiheit des einzelnen Menschen.

Wie sich die durchweg positiv besetzten Taubensymboliken, bis hin zur menschlichen Seele selbst, im Einzelnen im Verlauf von Jahrtausenden entwickelt haben mögen, sei an dieser Stelle dahingestellt. Den sakralen Vorstellungen von höchster Spiritualität haben sich jedenfalls verwandte, ausdrucksstarke und wirkungsvolle Werte-Symboliken hinzugesellt: Die Friedenstaube in einer globalen und weltweit verständlichen Anwendung in Gestalt eines einschlägigen Logo stellt wohl das bezeichnendste Beispiel dar, nachdem Picasso ihr den künstlerischen Weg gewiesen hat.

Zumeist auf einer anderen, eher alltagsweltlichen und medial arg geschundenen persönlichen Ebene gesellt sich die Liebestaube hinzu, deren göttlich-spirituelle Bedeutung einem Aneignungsprozess in Richtung weltlicher und sogar körperlich-erotischer Liebe unterzogen worden ist, wohl nicht erst seit der Neuzeit, aber dort in steigender Heftigkeit, in steter auch visueller Konkurrenz zum zeichenhaft-inflationären Einsatz des Herz-Symbols.

Hier mag ein kurzer Blick genügen auf die bildliche Überlieferung dieser beiden symbolischen Liebesdinge Herz und Taube, die wohl gemeinsam das religiöse Umfeld verlassen haben. In der massenhaft produzierten profanen Grafik bis hin zu den grafischen Umsetzungen in neuen Medien hat das Herz wohl weitestgehend die Taube im thematischen Umfeld von Liebe und Glückwunsch abgelöst, auch wenn die Turteltaube zuweilen noch existiert.

Sofern es daneben überhaupt noch die inhaltliche Verbindung von Taube und Brief gibt, wurde sie auf den Liebesbrief reduziert und dann entsprechend visuell verfälschend umgesetzt, indem auf zweckbestimmter Kleingrafik nahezu durchgehend keine Brieftauben mehr gezeigt werden, sondern die viel attraktiveren Ziertauben, vermeintlich passend zu Frauen und Kindern sowie Blumen als parallel notwendigen oder als lohnenswert angesehenen Accessoires.

Die Behandlung der Motive Taube und Brief in der erzählenden Literatur (die Bibel selbst einmal außenvor gelassen) ist aber einen anderen Weg gegangen, indem sie zumindest zum Teil nicht von der enthaltenen Symbolik, sondern ganz wörtlich vom Namen des Tieres ausging und das historische Wissen um die Nachrichtenfunktionen einbezog. Ein erneuter, tieferer Symbolgehalt als bewegendes künstlerisches Moment trat wohl im Wesentlichen erst im 20. Jahrhundert hinzu.

Bei alledem ließe sich trefflich Material sammeln und kategorisieren zur Frage, wann und wie die für die Geistesgeschichte so wichtigen Tauben eine Nähe zum heutigen Begriff der Brieftaube aufweisen, sowohl visuell in ihrer überkommenen bildlichen Darstellung als auch im Hinblick auf ihre Fertigkeiten, zurückkommen zu können, „vom Himmel herab“ zu fliegen oder in jenen aufzusteigen. Diese große Frage würde das hier zu besprechende Thema jedoch bei weitem sprengen.

Auf jeden Fall galt die Taube bereits vor Christi Geburt als ein Tier mit starken symbolischen Werten. Für die Griechen war die Taube nicht nur das Symbol der Liebe, sondern auch die Botschafterin der Göttin Aphrodite. Im antiken Ägypten wurde sie ganz praktisch als Brieftaube genutzt, um Mitteilungen zu verschicken, und zugleich soll sie als – verhältnismäßig preiswerte – Opfergabe für den Gott der Juden Verwendung gefunden haben.

Beide Beispiele mögen, an dieser Stelle abschließend, erweisen, dass es sich sehr früh bei den so symbolbeladenen Tauben durchaus real um Brieftauben nahezu im heutigen Sinne gehandelt hat oder haben dürfte.

Auch in der neuzeitlichen künstlerischen Epik kommen – folgerichtig – zahllose Tauben vor mit symbolischer Bedeutung oder in metaphorischer Verwendung, die solche Bedeutung nutzt oder ausformt. Und auch hier bildet die Nähe in der Ansprache als „Taube“ oder „Brieftaube“ fortwährend ein Element, mit dem Literaten gespielt haben, ohne die genaue Bestimmung dieses Tieres (allgemein wie auch auf den erzählten Einzelfall bezogen) einer zu detallierten Betrachtung zu unterziehen.

Belletristische Literatur mag anhand einiger ausgewählter – und verschiedenartiger – Beispiele vorgestellt werden, in denen die Taube bereits symbolbeladen im Titel erscheint. Hier bildet es oft eine schlichtweg unwichtige Frage, wie „real“ der Umgang mit einer solchen – symbolisch oder metaphorisch oder parabelartig agierenden oder wirkenden – Taube ist und ob sie, was die Handlung nicht selten (zusätzlich) erfordert, die spezifischen Fähigkeiten einer Brieftaube aufweist.

Auf jeden Fall beinhalten solche Prosawerke unterschiedlichsten Charakters immer auch eine Annäherung – oder Funktionalisierung – des so allgemeinen literarischen Stoffes der „Brieftaube in der menschlichen Welt“.

PATRICK SÜSKIND:

DIE TAUBE. ROMAN. 1987

In Romanen wie dem berühmten Bestseller ist es vollkommen unerheblich, ob es sich bei der lebenszäsurbegründenden Taube um eine Brieftaube oder nicht handelt – wenngleich die Covergestaltung der meisten Ausgaben des Werkes üblicherweise eindeutig von einer solchen ausgeht (warum, wäre durchaus einmal zu fragen).

Hier wie auch in zahlreichen anderen Tiererzählungen, einzelnen Gedichten oder Romanpassagen wird im Grundsatz nicht erkenntlich, ob es sich bei den zuweilen mitwirkenden Akteuren um Brieftauben, Stadttauben, andere Taubengattungen oder einfach Tauben ohne das Erfordernis einer näheren Definition handelt.

WOLFGANG KOEPPEN:

TAUBEN IM GRAS. ROMAN. 1951

In dieser Hinsicht durchaus ähnlich liegt der Fall beim zweiten, vom Romantitel her naheliegenden und ebenfalls bekannten Werk. In dem Episodenroman wird philosophisch-literarisch räsonierend eine überaus vielfältige Kombination menschlicher Figuren der Nachkriegszeit, die sich rein zufällig durchs Leben bewegen, verglichen mit einer Gruppe von undefinierten, gemeint höchstwahrscheinlich Stadttauben im Gras, deren Bewegungsmuster keinen tieferen Sinn erkennen lässt und die sich zuweilen auch mal zu einem Schwarm zusammenfinden können.

Die Vögel sind zufällig hier, wir sind zufällig hier, und vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig hier [...] vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes, keiner weiß warum wir hier sind. (S. 171)

CHRISTIAN GARCIN:

DER FLUG DER BRIEFTAUBE. ROMAN.

DEUTSCH 2001

Der philosophische Roman mit lyrischem Charakter, der sich aufgrund seines Titels vermeintlich als Pflichtlektüre eines Taubenzüchters zu empfehlen scheint, hat mit dem Brieftaubenwesen sowie auch mit der Brieftaube als Botentier nichts zu tun, und auch mit ihrer Fähigkeit, heimzufinden, nur auf einer hohen metaphysischen oder, wenn man will, auf einer tiefsinnigen Ebene philosophischer Welterklärung.

Der schriftstellernde Journalist aus Frankreich, der sich auftragsgemäß in Peking und weiteren Orten Chinas aufhält, um eine abhanden gekommene junge Frau aus Paris zu suchen, begibt sich – selbstständig denkend, aber zugleich hin- und hergeschoben zwischen mehreren chinesischen Gesprächspartnerinnen und -partnern – hinein in das Wesen fernöstlichen Denkens und Glaubens, zugleich aber auch in die politische und gesellschaftliche Situation des Landes unter dem totalitären kommunistischen Regime um die letzte Jahrtausendwende.

Die Brieftaube im Titel des Romans wird im Werk selbst nur zweimal ganz kurz erwähnt. Sie steht metaphorisch für die Suche des Menschen nach sich selbst und nach der Heimat in seiner eigenen Persönlichkeit.

Das Nebeneinander von chinesischer und westlicher, christlich geprägter Kultur und Geschichtstradition einschließlich ihrer literarischen Ausformungen zieht sich als roter Faden durch das ganze Werk. Es kann wohl auch als Parabel auf den – insbesondere: französischen – Literaturbetrieb aufgefasst werden. Die Gespräche des Romans kreisen um die als chinesischbuddhistisch angesehene Lehrmeinung, seine Ziele besser nicht direkt anzusteuern, sondern Umwege als notwendig zu erachten und „durchlässig“ zu bleiben bis hin zum Glauben, es wäre besser, seine eigenen Ziele gar nicht genau zu kennen – vielleicht in durchaus direkter, wenngleich schlichter Parallelität zum geflügelten Wort christlicher Provenienz: „Der Weg ist das Ziel“.

Der Flug der Brieftaube symbolisiert wohl zuallererst das verinnerlichte, unbewusste und unreflektierbare Wissen, auch über Schwierigkeiten hinweg den jeweils besten Weg finden zu können. Mit dem Verzicht auf das „Wollen“ zugunsten des „Sich-Treibenlassens“ erweist sich die Brieftaube fast als ein metaphysisches Medium zwischen Geisteswelten und Weltkulturen.

Manchmal darf man nicht allzu viel wissen, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Wollte man einer Brieftaube Geographieunterricht erteilen, fände sie ihren Bestimmungsort mit Sicherheit nie. […] Einige Minuten später wanderte Eugenio die Liulichang entlang und ließ den Blick in jeden der Läden gleiten, die mit Vasen, kleinen Figuren und anderen Ziergegenständen vollgestellt waren, ohne ihn jedoch irgendwo festmachen zu können. Die Sonne war verschwunden, es herrschte ein eigenartiges bläuliches Licht. Er dachte an das Foto von Anne-Laure, das Choisy-Legrand ihm gegeben hatte. Eine junge Frau, dunkle Augen, dunkles Haar, rundliches, fast puppenhaftes Gesicht. Offen gesagt, ein recht alltägliches Gesicht, keinerlei Besonderheiten. Wenn Herrn Lis Geschichte von den Brieftauben zutraf, sagte er sich, würde er sie ganz bestimmt finden, denn eine Überfülle an Informationen macht ihm nicht gerade zu schaffen, um es gelinde auszudrücken. (S. 35f.)

Ich glaube, fuhr Zhou fort, Francis Bacon hat einmal gesagt, die Malerei könne das Geheimnis der Realität nur ergründen, wenn der Maler nicht wisse, wie er es bewerkstelligen soll. Recht beachtlich, für einen westlichen Menschen. […] Eugenio verzog zweifelnd den Mund. Etwas ganz Ähnliches hat man mir über den Flug der Brieftauben gesagt, murmelte er. Sehen Sie, sagte Herr Zhou mit einem Lächeln. (S. 89f.)

ROLF ITALIAANDER UND LUDWIG

BENNINGHOFF (HG.):

… UND LIESS EINE TAUBE FLIEGEN.

EIN ALMANACH FÜR KUNST UND

DICHTUNG. 1948

Noahs Taube ist zu einem allumfassenden, weltumspannenden Symbol für die glaubende und hoffende Überwindung von Not, Katastrophen und Weltuntergangsszenarien geworden. Der Almanach für Kunst und Dichtung von 1948 umkreist mit literarischen und bildnerischen Mitteln die Situation nach dem Ende des Weltkriegs mit dem Erfordernis der Besinnung, Neufindung und Verarbeitung.

Das geflügelte Wort „…und ließ die Taube fliegen“ in Verbindung mit einer Titelgrafik von Gerhard Marcks markiert den Wunsch der Menschheit, auch geistig wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen angesichts der Unglaublichkeit des Geschehenen. In einem der Prosatexte, die in der Anthologie zahlreiche Verse, Gedichte und Grafiken bekannter Künstler begleiten, von Ludwig Benninghoff heißt es:

Es ist unerfreulich, einseitig nur die Tauben des Friedens girren lassen zu wollen. Tauben girren aus Liebe, aber nicht aus Erbärmlichkeit und Ohnmacht. Der Friede steigt aus der Kraft des Herzens. Aber dem Jammern nach ihm kann man nicht trauen, wenn es nur deswegen geschieht, weil man den Krieg gänzlich verloren hat und in seiner Hilflosigkeit nicht aus noch ein weiß. In unseren Herzen sind die Kräfte der Liebe und die Kräfte des Gegensatzes. Nur die Bestie und die Mechanik sind unmenschlich und verrucht. Beiden sind wir verfallen, weil das Herz nicht genügt. („Pandora“, S. 50)

OTTO NAGEL:

DIE WEISSE TAUBE ODER

DAS NASSE DREIECK.

ROMAN. 1978 (TEXTENTSTEHUNG UM 1930)

Im Buch, das in der Weltwirtschaftskrise 1928 in der Obdachlosen-Kneipe „Das nasse Dreieck“ im Berliner Wedding spielt und zu den sogenannten proletarischen „Wedding-Büchern“ zählt, geht es um die allgemeine oder zeitlose Frage, wie die moderne Gesellschaft mit ihren Ärmsten umgeht, den Ausgestoßenen, Bettlern und Menschen, „die es nicht geschafft haben“.

Der linke, sozialkritische und „realistisch“ geschriebene Roman von Otto Nagel, der zuerst als kommunistischer Arbeitermaler bekannt wurde, zeitweise im Konzentrationslager Sachsenhausen einsaß und nach dem Weltkriegsende in der DDR zum Präsidenten der Akademie der Künste wurde, endet mit einer Gefängnisstrafe für seinen Hauptprotagonisten und lässt die weiße Taube, als vages Hoffnungssymbol im Romantitel plakativ genannt, eher ohnmächtig, wenngleich aufrüttelnd, zurück.

JOSEF REDING:

UND DIE TAUBE JAGT DEN GREIF.

KURZGESCHICHTEN. 1985

In einer seiner Kurzgeschichten, der Titelgeschichte einer kleinen Anthologie, thematisiert der Ruhrgebiets-Schriftsteller die Hilf- und Wehrlosigkeit in Verbindung mit Sanftheit und Mildtätigkeit, für welche die Taube gemeinhin symbolisch in Anspruch genommen wird. Die junge Frau, die als Pflegekraft einer alten Frau hilft, überzeugt den „Halbstarken“ mit seiner Gewaltbereitschaft davon, einen neuen Weg einzuschlagen, und nutzt dafür die biblische Heilsbotschaft.

Das junge Mädchen lächelt: Und die Taube jagt den Greif, sagt es nachdenklich. Wer jagt wen? fragt der Mann. Die Taube jagt den Greif! Ist ein Satz aus dem Alten Testament. - Aus dem Testament von Frau Besekow? fragt der Mann. Aus der Bibel, sagt das Mädchen. Da steht, dass eines Tages alles anders, umgedreht sein wird. Die Angreifer werden zahm und man folgt den Wehrlosen. (S. 12)

GERHARD EDZARD RIESE:

OB EINE BRIEFTAUBE LESEN KANN?

RUDOLPH HENRICH TAUTE: BERICHT ÜBER

JONAS EILERS. 2003

In dem kleinen ostfriesischen Ort Timmel wird das Gedächtnis des „Kinderpredigers“ und „kleinen Missionars“ Jonas Eilers gepflegt, unter anderem mit einer Gedenktafel in der Kirche. Vom seinerzeitigen Seelsorger des Kindes, Pastor Taute, stammt ein Text, der anlässlich des Todes von Jonas Eilers 1778 entstanden ist und noch im 19. Jahrhundert wiederaufgelegt wurde, letztmals 1881 unter dem Titel: Wahrhafter Bericht von dem seltenen und merkwürdigen Gnadenwerk Gottes in einem zehnjährigen Kinde Jonas Eilers.

Aus zwar gedanklich nachvollziehbaren, aber wenig plausiblen Gründen wurde eine Neuauflage des Werkes unter dem Titel Ob eine Brieftaube lesen kann? 2003 in Timmel veröffentlicht. Allein der Namensbezug von Jonas (hebräisch für Taube, symbolisch für den biblischen Propheten, die göttliche Botschaft, den Heiligen Geist und den Frieden) mag hier als Begründung für eine Erwähnung ausreichen.

SOFI OKSANEN:

ALS DIE TAUBEN VERSCHWANDEN.

ROMAN. DEUTSCH 2012

Der ruhige und fast düstere Roman bildet ein Beispiel für die metaphorische Verwendung der Taube vor allem auch in historisch-politischen Zusammenhängen, hier im Rahmen einer Gesellschafts- und Liebesgeschichte in Estland zur Zeit der nationalsozialistischen deutschen Besatzung.

MELINDA NADJ ABONJI:

TAUBEN FLIEGEN AUF. 2010

Die Autorin, in der Schweiz lebend, war Angehörige der ungarischen Minderheit im alten Jugoslawien. Sie hat seit ihrem sechsten Lebensjahr (1974) in der Schweiz gelebt und ist dort zur Schule gegangen. Dieses „Grenzgängertum“ in Verbindung mit Heimatlosigkeit bildet einen zentralen Inhalt oder auch Rahmen des Romans. Die Erzählerin kommt nicht zur Ruhe und findet keine dauerhafte Lebensbleibe.

An einer Stelle vergleicht sie sich mit Stadttauben, die aufflattern müssen, sobald menschliche Schritte sie stören und aufscheuchen. Der Titel Tauben fliegen auf wirkt durchaus widersprüchlich, wenn man das Bild der Stadttauben mit dem Brieftaubenzüchter, der im Roman eine wesentliche Rolle spielt, und seinen Problemen in Beziehung setzt. Stadttauben sind nicht die verwurzelten Brieftauben.

Die Eltern der Ich-Erzählerin Ildiko sind zu Beginn der 1970er Jahre aus der jugoslawischen Wojwodina im Norden Serbiens in die Schweiz ausgewandert. Nach vier Jahren, in denen sie einigermaßen Fuß fassen konnten, holen sie die beiden Töchter nach, die bis dahin bei der Großmutter geblieben waren. In einzelnen, nicht-chronologischen Kapiteln des Romans wird vom Weggehen, Wiederkommen, Ankommen und Dazwischen-Stehen erzählt und vom Balkan-Krieg, der sich über Jahre hinweg langsam ankündigt und schließlich auch die eigene Familie erreicht.

Der Cousin und Taubenzüchter Béla am Heimatort wird in die jugoslawische Volksarmee eingezogen. Die Brieftauben, die Béla züchtet, können einerseits als Sinnbild der Überwindung von Grenzen und Symbole für Freiheit gelten, andererseits sind sie Symbol der Heimatliebe und Geborgenheit, weil sie immer nach Hause fliegen – und kein anderes Zuhause akzeptieren.

Seine Brieftauben bieten für Béla vor dem Kriegsausbruch, letztlich also als enttäuschte Hoffnung, auch die Aussicht auf Wohlstand und Reichtum. In einer Situation, in der Béla seine reichen Cousinen aus dem Westen beeindrucken will, zeigt er ihnen seine Tauben: Seine Tauben, mit denen er seit Jahren fast jeden Wettbewerb gewinnt, wisst ihr, ich hab schon aus Deutschland und England Besuch bekommen, United Kingdom!, ich will nichts von denen, aber die wollen was von mir, na, was sagt ihr dazu?

Im Verlauf des Romans stellen sich seine Hoffnungen: als Illusionen angesichts der politischen Realitäten heraus.

Als er heiratet, zieht Béla aus seinem Elternhaus aus und in ein Haus auf der anderen Straßenseite. Seine Tauben lässt er im Elternhaus aus Sorge, sie könnten zu empfindlich für den Umzug sein.

Angesichts des Krieges flüchtet Béla vor den Soldaten, die ihn zum Militär abholen wollen, vergebens auf seinen Taubenschlag.

Béla, der seine Begabung oder seinen Trieb zum Dompteur im Laufe der Jahre weiter perfektioniert, einer der besten Taubenzüchter des Landes wird, mit seiner Tippler Taubenzucht weit über die Landesgrenzen hinaus Aufsehen erregt […] und als man für die systematische Tötung und die Zerstörung des Landes Männer braucht, wirkt die Geste, mit der Béla auf seine mit akribischer Sorgfalt ausgestellten Pokale zeigt, unübertroffen hilflos, und die Männer in ihren erdfarbenen, nüchternen Uniformen lachen im ersten Moment fast verlegen, als sie die Trophäen erblicken, welche in ihrem aufwändigen vergoldeten Kitsch tatsächlich eine glänzende Laufbahn dokumentieren. Und einer von ihnen muss die Hacken zusammenschlagen, verkünden, dass jetzt, in der heutigen Zeit alles in die Luft fliege, und da, wo Béla nun hinkomme, werde er vieles vergessen, zu allererst aber seine himmlischen Geschöpfe oder besser gesagt: seine fliegenden Ratten. (S. 112)

Was mit den Tauben tatsächlich passiert ist, nachdem Béla in den Krieg gehen musste, bleibt offen wie auch das Schicksal ihres Züchters.

TIM STERN:

LEANDRO UND DER BRIEF AUS VENEDIG.

3 BÄNDE. (2019/20)

Über ein bemerkenswert-seltsames Sujet verfügt die Erzählung über die Brieftaube Leandro aus Damaskus, die in Venedig zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit einem Spezialauftrag versehen wird. Sie soll mit einer Botschaft in ihren Heimatort zurückfliegen, deren Befolgung die Lagunenstadt vor der grassierenden Pest (historisch gesehen der zeitlich letzten um 1630) retten soll. Der Bericht bricht im ersten Band mit dem Abflug der Taube Leandro aus Venedig unvermittelt ab – wohl um den Charakter der Erzählung als Teil 1 einer Trilogie zu betonen.

Der Untertitel der drei Bücher Ein Brieftauben Fantasy Abenteuer deutet auf deren Grundstruktur hin: Die Menschen in Venedig kämpfen mit den Ratten um die Macht und außer den Ratten, die hemmungslos dem Rotwein verfallen sind, können auch alle anderen Tiere sprechen und menschliche Handlungen vollziehen, vor allem die Tauben und eine Fledermaus.

Der Buchtext besteht aus einem Konglomerat aus venezianischer Reisebeschreibung und Stadterkundung, mittelalterlicher Pestgeschichte, phantastischer Story und Tiermärchen. Dass das dreiteilige, literarischsprachlich um eine Art burschikose Schlichtheit bemühte Werk (auch) als Jugendbuch konzipiert worden ist, erscheint kaum glaubhaft, ist aber nicht auszuschließen.

Der Autorenname Tim Stern stellt wohl ein Pseudonym für den Grafiker, Kinder-Tagesvater und Grünen-Lokalpolitiker Thomas Rautenberg im südbayerischen Oberhaching dar, dessen Namen und Biografie sich der Titanic-Redakteur Bernd Fritz in der berühmten „Buntstift-Wette“ bei Wetten-Dass 1988 zu eigen gemacht hat, nachdem Rautenberg als Titanic-Fan die Wett-Idee gehabt hatte.

Ob er im Buch auch satirische Elemente in seinen Text, dem historische Sachverhalte grundsätzlich zweitrangig erscheinen, einweben wollte, könnte möglich sein, wäre dann aber jedenfalls schwerlich gelungen. Im zweiten Teil der Trilogie, deren Lektüre allein schon aufgrund ihrer ausgeprägten Feindschaft zu den Prinzipien der Kommasetzung in deutscher Schriftsprache eine Zumutung darstellt, lauern auf seinem Weg nach Damaskus weitere Gefahren auf Leandro und im dritten Teil kommt es zum „entscheidenden Kampf“.

Leandro ist eine wirkliche Brief-Taube nicht aus genetischen Gründen, sondern weil er Briefe in ledernen Hülsen zu transportieren in der Lage ist. Andere Tiere wie die Stadttauben Venedigs, mit denen Leandro, den ihm fremden, wunderbaren Ort gemeinsam erkundend, muntere Freundschaft pflegt, oder auch eine Fledermaus können, theoretisch wie praktisch „trainierend“, zu Brieftauben umfunktioniert werden. Deren spezifische Fähigkeiten treten im Buchtext gelegentlich zutage, allerdings weniger in realistischer Beschreibung, sondern eher in bunt-fabulierender und jeweils gerade inhaltlich passender Interpretation. Ein Stück weit scheint sich der Autor freilich versuchsweise mit dem Brieftaubenwesen zur Übermittlung von Botschaften im Mittelalter vertraut gemacht zu haben.

GERTRUD FUSSENEGGER:

ZEIT DES RABEN ZEIT DER TAUBE. 1974

Ausschließlich metaphorisch gemeint ist die Gegenüberstellung der beiden Tiere Rabe und Taube im Titel des Romans, der die beiden emotionalen und religiösen Pole Verzweiflung und Hoffnung historisierend bis zum Nachkriegs-Weltgeschehen Mitteleuropas behandelt. Die Autorin war überzeugte Nationalsozialistin und hat wohl zeit ihres Lebens schriftstellerisch an der Bewältigung ihres Irrwegs gearbeitet. Einzig in einem Gedicht, das sie ihrem Romantext vorausschickte, hat die christlich-katholische Literatin die beiden Tiere im biblischen Geschehen der Arche konkret begrifflich verortet. Dort heißt es:

Ihr wisst: Von der Arche wurde der Rabe auf Kundschaft geschickt, ob die Nacht schon weiche. Aber der Rabe kehrte zurück und krächzte: Finsternis. Doch als die Taube ausflog, brachte sie Botschaft: Der Morgen dämmert, dämmert für alle, die in der Arche sind. – Und in der Ferne Himmelslicht, das den farbigen Bogen in das Gewölk schrieb: Hoffnung setze den Fuß auf neues Land.

Weiße Tauben

Einen Brauch, der sich immer mal wieder aufs Neue auszubreiten scheint, aber bisher – gottlob, darf man hinzufügen – kaum Niederschlag in literarischen Werken gefunden hat, stellt das Auflassen von Hochzeitstauben dar, zu dem auch vergangene Olympiaden mit ihrer „Friedensbotschaft“ in den Sinn kommen können. Bei dem Brauch scheinen sich mehrere Entwicklungsstränge des Brieftaubenwesens und der Kultur- und Geistesgeschichte zu treffen, wenn anlässlich einer Hochzeit eine oder mehrere weiße Tauben, darunter auch Brieftauben, aufgelassen werden, wobei der sekundäre Zweck, sie „nach Hause“ fliegen zu lassen, oftmals keinerlei Rolle spielt.