Das Böse im Herzen - J.D. Robb - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Böse im Herzen E-Book

J.D. Robb

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Spannend, leidenschaftlich – einfach richtig gut! Ein neuer Fall für Eve Dallas.

Lieutenant Eve Dallas steht vor einem Rätsel: In einem ehemaligen Frauenhaus in New York werden die skelettierten Leichen zweier Frauen gefunden, ihre Körper in Plastik eingewickelt. Sie muss nun herausfinden, was damals geschah, und schnell wird klar, dass es noch zehn weitere Opfer gab – alles junge Mädchen, die vom richtigen Weg abgekommen waren. Jede hat ihre ganz eigene Geschichte, und jeder wurde die Chance auf ein besseres Leben genommen. Mithilfe ihres geliebten Ehemannes und ihres fantastischen Teams beim New York Police Department, muss sich Eve einer düsteren Geschichte stellen, die in ihr immer wieder Erinnerungen an ihre eigenen dunkle Vergangenheit hervorruft ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 707

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Als in einem ehemaligen Frauenhaus in New York zwei skelettierte Leichen in Plastik eingewickelt gefunden werden, ist es an Eve Dallas herauszufinden, was damals geschah. Es stellt sich heraus, dass es zehn weitere Opfer gab, alles junge Mädchen, die vom richtigen Weg abgekommen sind. Jede hat ihre ganz eigene Geschichte, und jede hat nun keine Chance mehr auf ein besseres Leben … Mit Hilfe ihres geliebten Ehemannes und ihres fantastischen Teams beim New York Police Department, muss sich Eve einer dunklen Geschichte stellen.

Autorin

J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts, einer der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren erfolgreich Kriminalromane.

Liste lieferbarer Titel

Rendezvous mit einem Mörder · Tödliche Küsse · Eine mörderische Hochzeit · Bis in den Tod · Der Kuss des Killers · Mord ist ihre Leidenschaft · Liebesnacht mit einem Mörder · Der Tod ist mein · Ein feuriger Verehrer · Spiel mit dem Mörder · Sündige Rache · Symphonie des Todes · Das Lächeln des Killers · Einladung zum Mord · Tödliche Unschuld · Der Hauch des Bösen · Das Herz des Mörders · Im Tod vereint · Tanz mit dem Tod · In den Armen der Nacht · Stich ins Herz · Stirb, Schätzchen, stirb · In Liebe und Tod · Sanft kommt der Tod · Mörderische Sehnsucht · Ein sündiges Alibi · Im Namen des Todes · Tödliche Verehrung · Süßer Ruf des Todes · Sündiges Spiel · Mörderische Hingabe · Verrat aus Leidenschaft · In Rache entflammt · Tödlicher Ruhm · Verführerische Täuschung · Aus süßer Berechnung · Zum Tod verführt

Mörderspiele. Drei Fälle für Eve Dallas · Mörderstunde. Drei Fälle für Eve Dallas

Nora Roberts ist J. D. Robb

Ein gefährliches Geschenk

J. D. Robb

Das Böse im Herzen

Roman

Deutsch von Uta Hege

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Concealed in Death« bei G. P. Putnam’s Sons, a member of Penguin Group (USA) Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Nora Roberts

Published by Arrangement with Eleanor Wilder

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Blanvalet Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, München

Redaktion: Regine Kirtschig

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: sankai/iStock.com

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

LH ∙ Herstellung: sam

ISBN: 978-3-641-24625-9V003

www.blanvalet.de

Du bist mein Schirm,

du wirst mich vor Angst behüten,

dass ich errettet gar fröhlich rühmen kann.

PSALM 32,7

Ein schlichtes Kind,

dem leicht der Atem geht,

das munter sich bewegt, wer weiß,

wie es den Tod versteht.

WILLIAM WORDSWORTH, WIR SIND SIEBEN

1

Gebäude starben, wenn man sie verfallen ließ. Anders als durch Erdbeben und Stürme, die sie voller Leidenschaft und Zorn zum Einsturz brachten, wurden sie durch die Missachtung ihrer Eigentümer unauffällig und langsam umgebracht.

Wobei seine Betrachtungsweise eines Hauses, das seit über einem Dutzend Jahren nur noch Ratten oder Junkies Zuflucht bot, vielleicht ein bisschen zu romantisch war.

Aber mit einer Vision und einem Haufen Geld könnte man dafür sorgen, dass das alte Haus, das in dem früher als Hells’s Kitchen verrufenen Stadtteil traurig seine Schultern hängen ließ, bald wieder aufrecht stünde und eine neue Bestimmung fand.

Roarke war ein Mann mit zahlreichen Visionen und jeder Menge Geld, er setzte beides gern für Dinge ein, die ihm Freude machten.

Er hatte es bereits seit über einem Jahr auf diese ganz besondere Immobilie abgesehen und wie eine Katze vor dem Mauseloch geduldig ausgeharrt, bis es mit dem Mischkonzern, dem das Haus gehörte, wirtschaftlich bergab gegangen war. Er hatte über Monate hinweg sein Ohr gegen das Mauseloch gepresst, weshalb ihm weder die Gerüchte von einer Sanierung oder einem Abriss der Immobilie noch vom endgültigen Konkurs der Firma entgangen waren. Wie erwartet, hatten sich die Eigentümer am Ende von der Immobilie trennen wollen. Trotzdem hatte er gewartet, bis der seiner Meinung nach zu hohe Preis auf ein vernünftigeres Maß gesunken war.

Auch danach hatte er noch etwas länger abgewartet und die Eigentümer ein wenig schwitzen lassen, weil er wusste, dass die finanziellen Schwierigkeiten, die sie hatten, sie am Ende zwingen würden, sich mit einer erheblich niedrigeren Summe zu begnügen, um das Haus, das sie nicht länger unterhalten konnten, loszuwerden.

Der Kauf und der Verkauf von Immobilien wie von allen anderen Dingen war natürlich ein Geschäft. Aber zugleich war es für ihn ein Spiel, das er mit Freuden spielte, weil er es mit schöner Regelmäßigkeit gewann. Die Rolle des Geschäftsmanns war im Grunde beinah so befriedigend und amüsant wie die des Diebs.

Als Kind hatte er gestohlen, um zu überleben, diese Tätigkeit hatte er als Erwachsener fortgesetzt, weil er verdammt geschickt darin gewesen war und sie auf Dauer ebenfalls ein Spiel für ihn geworden war.

Aber diese Zeiten waren längst vorbei, und er bereute es nur selten, dass er aus der Dunkelheit ins Licht gewechselt hatte. Okay, den Grundstein seines jetzigen Vermögens hatte er noch in besagter Dunkelheit gelegt, inzwischen aber vermehrte er sein Geld und nutzte seine Macht legal und für jeden sichtbar.

Wenn er daran dachte, welches Leben er aufgegeben hatte, und welches er infolgedessen gewonnen hatte, wusste er, in seinem ganzen Leben hatte er nie einen besseren Deal gemacht.

Jetzt stand der hochgewachsene, schlanke, durchtrainierte Mann in dunkelgrauem Maßanzug und sorgfältig gestärktem torfrauchfarbenen Hemd, in seinem jüngst gekauften Haus zusammen mit Pete Staski, seinem hemdsärmeligen Vorarbeiter, und der gut gebauten Architektin Nina Whitt inmitten eines Haufens Schutt. Arbeiter schwirrten um sie herum, schleppten Werkzeuge herein und riefen sich über den Lärm hinweg, den Roarke bereits von unzähligen anderen Baustellen auf und außerhalb der Erde kannte, lautstark Anweisungen und Beleidigungen zu.

»Die Bausubstanz ist wirklich gut«, erklärte Pete und kaute nachdenklich auf seinem Brombeerkaugummi herum. »Und auch die Arbeit schreckt mich nicht, aber ich sage trotzdem noch einmal, es wäre deutlich günstiger, den Kasten einfach abzureißen und ein neues Haus zu bauen.«

»Kann sein«, pflichtete Roarke ihm bei, wobei ihm sein heimatlicher irischer Dialekt deutlich anzuhören war. »Trotzdem hat das Haus es nicht verdient, einfach abgerissen zu werden. Wir werden es entkernen und dann das draus machen, was mir Nina vorgeschlagen hat.«

»Sie sind der Boss.«

»Genau.«

»Es wird sich auf alle Fälle lohnen«, versicherte die Architektin Roarke. »Ich finde immer, dass die Abrissarbeiten der aufregendste Teil eines Projektes sind. Die Dinge, die sich überlebt haben, kommen weg, damit man etwas völlig Neues aus einem Gebäude machen kann.«

»Und man weiß nie, worauf man dabei vielleicht stößt«, erklärte Pete und bückte sich nach einem Vorschlaghammer, der zu seinen Füßen lag. »Einmal haben wir ein ganzes Treppenhaus entdeckt, das hinter Spanplatten verborgen war. Auf den Stufen lag ein Stapel Zeitschriften von 2015, wie meine Großmutter sie gelesen hat.«

Kopfschüttelnd hielt er Roarke den Hammer hin. »Am besten machen Sie den Anfang. Es bringt Glück, wenn der Besitzer selbst die ersten Schläge macht.«

»Wenn’s Glück bringt, will ich nicht so sein.« Amüsiert zog Roarke die Anzugjacke aus, drückte sie Nina in die Hand, warf einen Blick auf die vernarbte, feuchte Wand und lächelte, als er das orthografisch fehlerhafte Graffiti in Höhe seiner Schulter sah.

Fik die verfikte Welt!

»Dann fange ich in dieser Ecke an, okay?« Er wog den Vorschlaghammer in der Hand, holte aus und rammte ihn so kraftvoll in den Gipskarton, dass Pete ein zustimmendes Knurren entfuhr.

Das Billigmaterial zerbarst und spuckte grauen Staub und undefinierbare Brocken aus.

»Eine ordentliche Wand sieht anders aus«, bemerkte Pete. »Wahrscheinlich ist es reines Glück, dass dieses dünne Ding nicht längst von selbst zusammengefallen ist.« Er schüttelte erbost den Kopf. »Wenn Sie wollen, holen Sie noch zweimal aus, dann gibt sie vollends nach.«

Wahrscheinlich war es menschlich, dachte Roarke, dass er einen derart idiotischen Gefallen daran fand, mutwillig etwas zu zerstören. Er schlug noch einmal zu, und während weitere graue Brocken durch die Gegend flogen, holte er zum dritten Mal mit seinem Vorschlaghammer aus. Tatsächlich gab die Gipswand jetzt nach, wie von seinem Vorarbeiter prophezeit, und er entdeckte einen schmalen Raum und eine zweite Wand.

»Was ist das denn für ein Scheiß?« Pete trat neben seinen Boss und blickte durch die Öffnung in der ersten Wand.

»Warten Sie.« Roarke legte seinen Vorschlaghammer fort, zog Pete am Arm zurück und schob sich selber durch das Loch.

In dem knapp einen Meter breiten Raum zwischen der ersten und der zweiten Wand lagen zwei Bündel, die in dickes Plastik eingewickelt waren.

Trotzdem konnte er erkennen, was es war.

»Tja nun, wie lautete noch mal das Graffiti? Fick die verfickte Welt.«

»Ist das … heiliges Kanonenrohr.«

»Was ist?« Mit Roarkes Jacke in der Hand lugte auch Nina durch das Loch. »Oh! Oh mein Gott! Das sind … das sind …«

»Leichen«, beendete Roarke den Satz. »Oder das, was davon übrig ist. Sie müssen Ihren Leuten sagen, dass sie die Arbeit einstellen sollen, Pete. Am besten kontaktiere ich erst einmal meine Frau.«

Roarke zog sein Jackett aus Ninas schlaffen Fingern, nahm ein Handy aus der Tasche, und als Eves Gesicht auf dem Display erschien, erklärte er: »Ich brauche einen Cop.«

Lieutenant Eve Dallas stand vor einem dreigeschossigen, mit Rußflecken und Schmierereien übersäten Backsteinbau mit Brettern vor den Fenstern und rostigen Riegeln an den Türen. Was zum Teufel fand Roarke an dieser Bruchbude?

Okay, sie kannte ihn und wusste, wenn die Immobilie keinen finanziellen oder anderen Wert besäße, hätte er sie sicher nicht gekauft.

Doch deswegen war sie nicht hier.

»Vielleicht sind es ja gar keine Leichen.«

Eve warf einen Blick auf ihre Partnerin. Wie’s aussah, würde das Jahr 2060 mit diversen Frostbeulen an den Füßen von der Bühne gehen, um sich vor dem eisigen Dezemberwind zu schützen, hatte Peabody sich fest in einen violetten Flauschmantel gehüllt, in dem sie aussah wie ein Eskimo. Wobei wahrscheinlich nicht einmal ein Eskimo jemals so weit gegangen wäre, etwas anzuziehen, in dem man aussah wie ein lilafarbener Teddybär.

»Wenn er gesagt hat, dass dort Leichen liegen, liegen dort auch Leichen«, brummte sie.

»Ja, wahrscheinlich«, stimmte Peabody ihr widerstrebend zu. »Wir sind schließlich beim Morddezernat, das heißt, für uns beginnt der Tag, wenn er für andere endgültig geendet hat.«

»Vielleicht sollten Sie sich dieses Motto auf ein Kissen sticken.«

»Ich finde eher, dass es ein netter Aufdruck für ein T-Shirt ist.«

Eve nahm die beiden aufgesprungenen Betonstufen bis zu der Flügeltür, die weniger aus Eisen als aus zentimeterdickem Rost bestand. In ihrem Job fingen tatsächlich ständig neue Tage damit an, dass die von anderen endgültig vorüber waren.

Sie war eine hochgewachsene, schlanke Frau in einem langen Ledermantel und robusten Stiefeln, ihr kurz geschnittenes Haar flatterte im selben warmen Whiskeyton wie ihre Augen im kalten Wind. Sie zerrte an der Tür, die kreischend wie ein Klageweib mit einem entzündeten Kehlkopf aufging.

Ihr schmales Gesicht, in dessen Kinn ein flaches Grübchen war, spiegelte die Überraschung wider, als sie all den Schmutz, den Schutt und den katastrophalen Zustand der wahrscheinlich einst durchaus pompösen Eingangshalle sah.

Dann aber wurde ihre Miene kalt, und sie sah sich mit den ausdruckslosen Augen einer Polizistin um.

Peabody, die hinter ihr hereingekommen war, entfuhr ein leises: »Iiiih.«

Obwohl sie diese Meinung durchaus teilte, enthielt Eve sich eines Kommentars und blickte auf die Gruppe, die vor der teilweise eingestürzten Mauer stand.

Roarke drehte den Kopf, und als er sie entdeckte, kam er mit schnellen Schritten auf sie zu.

Statt in seinem teuren Kaiser-der-Geschäftswelt-Anzug, mit der Mähne seidig weichen, schwarzen Haars, das ihm beinah bis auf die Schultern fiel, und dem von irgendeiner großzügigen Gottheit feingemeißelten Gesicht in all dem Dreck und Unrat deplatziert zu wirken, fügte er sich wie fast immer problemlos und vor allem souverän in die Umgebung ein.

»Lieutenant«, grüßte er und blickte sie aus seinen wilden, blauen Augen an. »Peabody. Tut mir leid, wenn ich euch Umstände bereite.«

»Ihr habt hier irgendwelche Leichen?«

»So sieht’s aus.«

»Dann machst du uns keine Umstände, denn schließlich ist das unser Job. Da drüben, in dem Raum hinter der Wand?«

»Genau. Soweit ich bisher sehen konnte, sind es zwei. Und nein, nachdem ich durch die Wand gebrochen bin und sie gefunden habe, hat dort niemand etwas angerührt. Ich weiß inzwischen schließlich, wie das läuft.«

Tatsächlich kannte er sich sogar ziemlich gut mit ihrer Arbeit aus, und andersherum wusste sie, dass er zwar beherrscht und kontrolliert wie immer, aber gleichzeitig auch spinnewütend war.

Denn schließlich hatte irgendjemand hier in seinem Haus zwei Menschen umgebracht.

Sie passte ihren Ton an seine kalte Stimme an. »Wir wissen erst, was wir hier haben, wenn wir’s gesehen haben.«

»Ich weiß es jetzt schon, denn ich habe es bereits gesehen.« Er berührte flüchtig ihren Arm. »Eve, ich denke …«

»Sag am besten erst mal nichts. Es ist besser, wenn ich diese Dinge angehe, ohne dass bereits ein Bild in meinem Kopf entstanden ist.«

»Natürlich hast du recht.« Er führte sie zu der zerstörten Wand. »Lieutenant Dallas und Detective Peabody, Pete Staski«, stellte er die drei einander vor. »Er leitet meinen Bautrupp.«

»Hi.« Der Vorarbeiter tippte sich mit einem Finger an den Schirm der schmuddeligen Baseballkappe, die er trug. »Bei Abrissarbeiten erwartet man zwar jede Menge Scheiß, aber so etwas ganz sicher nicht.«

»Mit so etwas rechnet man nie. Und wer ist das?«, erkundigte sich Eve und zeigte auf die junge Frau, die mit hängendem Kopf auf einem umgedrehten Eimer saß.

»Meine Architektin Nina Whitt. Sie ist noch ein bisschen zittrig.«

»Okay. Am besten tretet ihr jetzt erst mal alle einen Schritt zurück.«

Eve sprühte sich die Hände und die Stiefel ein und trat entschlossen vor das Loch. Die Ränder waren ungleichmäßig, aber es erstreckte sich vom Boden bis zur Decke und war gute sechzig Zentimeter breit.

Wie zuvor schon Roarke sah sie sofort die beiden Plastiksäcke, die in einer Ecke aufeinanderlagen, und erkannte, dass sie eindeutig nicht grundlos von ihm angerufen worden war.

Sie zog ihre Taschenlampe aus dem Untersuchungsbeutel, schaltete sie ein und schob sich durch das Loch.

»Vorsicht, Lady – Lieutenant«, warnte Pete. »Die Träger in der Wand sind ziemlich instabil. Ich hole Ihnen besser einen Helm.«

»Schon gut.« Sie ging in die Hocke und sah sich die Fundstücke im Strahl der Taschenlampe an.

Wahrscheinlich waren in den Säcken nur noch Knochen, überlegte sie. Nirgends lagen irgendwelche Kleider oder Stofffetzen herum, aber die Stellen, wo die Ratten erst das Plastik und danach die toten Körper angeknabbert hatten, waren nicht zu übersehen.

»Wissen wir, wann diese Mauer hochgezogen worden ist?«

»Nicht sicher, nein«, erklärte Roarke. »Ich habe etwas recherchiert, als wir auf dich gewartet haben, um zu sehen, ob der Einzug dieser Wand von offiziellen Stellen genehmigt worden ist, aber anscheinend ist das nicht der Fall. Auch die Vertreterin der bisherigen Eigentümer habe ich schon kontaktiert, sie behauptet, dass die Wand beim Kauf des Hauses vor vier Jahren schon gestanden hat. Also habe ich auch noch den Vorvoreigentümer angerufen, der aber bisher noch nicht zurückgerufen hat.«

Sie hätte sagen können, dass er ihr diese Recherchen überlassen sollte, doch die Mühe und die Spucke konnte sie sich sparen.

»Peabody, bestellen Sie die Spurensicherung und einen forensischen Anthropologen ein. Sagen Sie der SpuSi, dass sie sich hinter den Wänden und unter den Böden noch nach weiteren Kadavern umsehen soll.«

»Okay.«

»Du denkst, dass es hier vielleicht noch mehr Leichen gibt«, bemerkte Roarke.

»Nachsehen müssen wir auf jeden Fall.«

Sie schob sich wieder durch das Loch und sah ihn an. »Ihr müsst die Arbeiten hier erst mal einstellen.«

»Das habe ich mir schon gedacht.«

»Bevor ihr geht, nimmt Peabody noch eure Aussagen und die Kontaktdaten deiner Leute auf.«

»Und du?«, erkundigte sich Roarke.

»Ich mache mich jetzt an die Arbeit.« Sie zog den Mantel aus, trat wieder durch das Loch und nahm die sorgfältig verpackten Leichname aus allen Winkeln auf.

»Die skelettierten Überreste beider Opfer sind in zwei dicke Plastiksäcke eingepackt, in denen jede Menge Löcher sind. Sieht aus, als hätte irgendwelches Ungeziefer die Säcke angenagt. Deshalb waren die Leichen Luft, Hitze und Kälte ausgesetzt und haben sich wahrscheinlich schneller als geplant zersetzt. Bisher ist nicht bekannt, wann diese zweite Wand errichtet worden ist, und hier vor Ort ist es unmöglich, auch nur einen ungefähren Todeszeitpunkt festzustellen.«

Sie ließ die Säcke erst mal zu, maß nach, wie lang sie waren, und runzelte die Stirn, als sie die Zahlen auf dem kleinen Bildschirm sah.

»Das Opfer Nummer zwei, das oben liegt, war 1,52 Meter, und das Opfer Nummer eins, das unten liegt, war 1,49 Meter groß.«

»Kinder«, hörte sie Roarkes Stimme direkt hinter sich. »Es waren noch Kinder.«

Statt sich zu ihr in den schmalen Zwischenraum zu schieben, stand er in dem Loch, das in die erste Wand gebrochen worden war.

»Das genaue Alter kann nur der Forensiker ermitteln«, meinte sie, schüttelte dann aber den Kopf, denn schließlich sprach sie hier nicht nur mit einem Zeugen, sondern auch mit ihrem Ehemann. Dieser Ehemann hatte ihr schon so oft bei den Ermittlungen geholfen, dass er zwischenzeitlich selbst ein halber Bulle war.

»Ja, wahrscheinlich waren es Kinder«, stimmte sie ihm widerstrebend zu. »Aber offiziell bestätigen kann ich das erst mal nicht. Am besten gehst du jetzt los und gibst deine Aussage zu Protokoll.«

Er drehte seinen Kopf und sah, dass Peabody in mitfühlendem Ton mit der noch immer fassungslosen Architektin sprach. »Gerade ist Nina dran, und es sieht aus, als ob’s bei ihr ein bisschen länger dauern wird. Ich könnte dir also zur Hand gehen, wenn du willst.«

»Das ist keine gute Idee.« Vorsichtig zog sie den Plastiksack des zweiten Opfers auf. »Die Schädeldecke wirkt intakt – ein sichtbares Schädeltrauma liegt nicht vor. Genauso wenig kann ich irgendwelche Schäden, Kratzer oder Bruchverletzungen an Hals und Oberkörper sehen.« Sie setzte eine Mikrobrille auf. »Der Riss im linken Arm, oberhalb des Ellenbogens weist auf eine mögliche Verletzung hin. Und dieser Fingerknochen hier ist ziemlich krumm. Natürlich weiß ich nicht, ob das was zu bedeuten hat, aber er sieht eindeutig anders als die anderen Fingerknochen aus. Tödliche Verletzungen sind bisher nicht zu sehen. Für die Identifizierung der skelettierten Überreste sind ein Pathologe und dazu noch ein Forensiker erforderlich. Von Kleidern, Schuhen, Schmuck oder persönlichen Gegenständen ist hier nichts zu sehen.«

Sie setzte sich auf ihre Fersen und sah wieder auf zu Roarke. »Ich habe nur die blanken Knochen, doch im Allgemeinen ist der Kiefer eines Jungen oder Mannes eher kantig, während dieser hier eher rundlich auf mich wirkt. Da auch die Beckengegend eines Jungen oder Mannes für gewöhnlich etwas ausgeprägter ist, sehen diese Überreste für mich eher weiblich aus.«

»Wie die eines jungen Mädchens«, stellte Roarke mit ausdrucksloser Stimme fest.

»Wobei ich das nicht sicher weiß. Auch der Todeszeitpunkt und die Todesursache stehen noch nicht fest. Vielleicht bringt es uns ja weiter, wenn wir wissen, wann die Wand hier hochgezogen wurde, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie extra errichtet wurde, weil jemand die Leichen verstecken wollte. Wenn wir wissen, seit wann diese Mauer hier steht, finden wir zusammen mit der Forensik ja vielleicht den ungefähren Todeszeitpunkt raus.«

Entschlossen stand sie wieder auf. »Außerdem brauche ich die Forensik, um herauszufinden, wer die beiden sind. Sobald wir ihre Namen kennen, können wir versuchen zu ermitteln, wie und wann sie in das Haus gekommen sind.«

Da sie am Fundort der Leichen nichts mehr unternehmen konnte, stieg sie wieder durch das Loch, bis sie direkt vor ihrem Gatten stand.

»Sie waren ungefähr gleich groß«, bemerkte Roarke.

»Ja. Eventuell waren sie auch der gleiche Opfertyp – hatten ungefähr dasselbe Alter und dieselbe Hautfarbe und wurden hier zusammen umgebracht. Vielleicht aber auch nicht. Ich sehe keine Spuren von Gewalteinwirkung, vielleicht ergeben die genaueren Untersuchungen ja was. Moment.«

Sie ging zu Peabody, die noch immer mit der Architektin sprach.

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht besser helfen kann. Das Ganze macht mich wirklich fertig. Ich habe noch nie …« Nina blickte zu der offenen Wand und wandte sich dann eilig wieder ab. »Im Grunde konnte ich sie gar nicht richtig sehen, aber …«

»Haben Sie die Wände und die Böden untersucht, nachdem Sie den Job bekommen hatten?«, fragte Eve.

»Natürlich waren wir mehrmals hier im Haus, haben uns alles angesehen und Maß genommen. Roarke hat uns die Anweisung erteilt, das Gebäude zu entkernen und neue Räume zu entwerfen. Wir haben alle Unterlagen und Zeichnungen hier – architektonisch, ingenieurstechnisch und statisch. Die Eingeweide …« Sie erbleichte und brach ab. »Ich meine, die Hülle, die Struktur des Hauses ist sehr gut, auch wenn das Innere total marode ist. Hier wurde jede Menge Billigmaterial verbaut, das Design ist einfach schlecht, und im Verlauf von mehreren Jahrzehnten wurden immer wieder einmal auf die Schnelle irgendwelche Reparaturen durchgeführt, wobei man dieses Haus dann irgendwann einfach verfallen lassen hat.«

»Wissen Sie, wann der Verfall begonnen hat?«

»Unsere Recherche hat ergeben, dass das Haus seit circa fünfzehn Jahren nicht mehr offiziell für Wohnzwecke verwendet worden ist. Ich habe mich etwas mit der Geschichte dieser Immobilie befasst, weil der Hintergrund mir bei meinen Entwürfen für die neuen Räumlichkeiten hilft.«

»Schicken Sie mir alles, was Sie haben. Jetzt können Sie erst einmal gehen. Haben Sie einen Wagen hier?«

»Ich kann einfach ein Taxi nehmen. Kein Problem. Normalerweise bin ich nicht so … zartbesaitet. Könnte ich noch kurz mit Roarke sprechen, bevor ich gehe?«

»Sicher«, meinte Eve und wandte sich an Peabody. »Ich denke, dass es Kinder sind.«

»Ah, verdammt.«

»Natürlich weiß ich es noch nicht genau, aber ich gehe erst mal davon aus. Am besten nehmen Sie auch die Aussage von Roarke entgegen, damit niemand sagen kann, dass hier gemauschelt worden ist. Ich knöpfe mir solange seinen Vorarbeiter vor«, erklärte sie, und als der erste Spurensicherer durch die breite Eiseneingangstür des Hauses trat, erklärte sie dem Mann, worum es ging, nahm danach Petes zwar knappe, aber farbenfrohe Aussage entgegen und ging dann zurück zu Roarke.

»Am besten findest du so viel wie möglich über diese Immobilie in den letzten fünfzehn Jahren für mich raus. Wer, was, wo und wann …«

»Du denkst, dass sie in diesem Zeitraum hier gelandet sind.«

»Wenn wir davon ausgehen, dass das Gebäude zu dem Zeitpunkt entweder vollkommen leer stand oder nur gelegentlich jemand zum Übernachten herkam, ja, dann denke ich, dass sie in diesem Zeitraum hier gelandet sind. Wobei es eine ganze Weile dauert, bis ein Leichnam vollkommen verwest. Wenn du mir also die gewünschten Daten und vor allem detaillierte Infos über alles, was bis vor fünf Jahren hier passiert ist, geben könntest, hätten wir schon einmal etwas in der Hand.«

»Dann wirst du diese Infos kriegen«, sagte er ihr zu.

»Was ist das da drüben? Wo ein Teil der Wand verschwunden ist?«

»Die Wand haben offenbar die Vorbesitzer eingerissen, um sich all die alten Kabel anzusehen. Ein ganz ähnliches Loch gibt’s auch im ersten Stock, wobei es dort nicht um Kabel, sondern um Rohre ging.«

»Bedauerlich, dass diese Wand ihnen entgangen ist. Sonst hätten wir die Überreste deutlich eher entdeckt, und du hättest für das Haus noch weniger bezahlt.«

»Es war auch so günstig genug. Die Inspektion der Kabel und der Rohre hat ihnen bereits gereicht. Sie hätten dringend einen weiteren Kredit gebraucht und haben händeringend zusätzliche Investoren für das Haus gesucht, was ihnen aber beides nicht gelungen ist.«

»Dann kamst du und hast ihnen die Bude abgekauft.«

»Genau. Mit allem, was darin enthalten ist.«

Sie verstand, wie er sich fühlte. »Ich kann dir garantieren, dass dir das Haus noch nicht gehört hat, als sie dort gelandet sind. Sie mussten irgendwann gefunden werden, und genau das hast du jetzt erledigt. Du kannst hier nichts mehr tun, deshalb solltest du jetzt gehen und dich um die zehntausend Meetings kümmern, die heute wahrscheinlich wieder einmal in deinem Terminkalender stehen.«

»Heute sind es nur zweitausend, also denke ich, ich bleibe noch ein wenig hier.« Er verfolgte, wie zwei Spurensicherer in weißen Overalls und blauen Überschuhen mit Scannern überprüften, ob auch hinter einer anderen Wand ein Hohlraum war.

»Okay, aber ich muss …«

Noch ehe Eve den Satz beenden konnte, ging die Tür erneut mit einem lauten Kreischen auf, eine Frau, die aussah wie ein Filmstar, blieb im Eingang stehen und sah sich um. Sie trug einen langen, leuchtend roten Mantel, einen weich fließenden Schal, in dem sich dieses Rot mit einem eleganten Silbergrau verband, graue Stiefel mit stecknadeldünnen, meterhohen Absätzen und hatte eine kesse, rote Schirmmütze auf ihrem kurzen, glatten, schwarzen Haar.

Lässig nahm sie ihre rot gerahmte Sonnenbrille ab, die eisblauen Augen bildeten einen exotischen Kontrast zu ihrer seidig weichen, karamellfarbenen Haut. Sie verstaute die Brille in einer grauen Tasche in der Größe des Planeten Pluto, zog ein Handy in einer mit Strass besetzten Schutzhülle hervor und nahm die Eingangshalle damit auf.

»Wer zum Teufel ist das?« Eve durchquerte schnellen Schritts das staubige Foyer. Wahrscheinlich eine Journalistin, dachte sie, die auf der Suche nach dem nächsten Knüller war.

»Das hier ist ein Tatort«, herrschte sie die Fremde an.

»Genau. Und ich finde es immer hilfreich, wenn es eine Aufnahme des Umfelds gibt. Dr. Garnet DeWinter.« Sie ergriff Eves Hand und schüttelte sie zweimal kräftig durch. »Forensische Anthropologin.«

»Ich habe Sie noch nie gesehen. Wo ist Frank Beesum?«

»Frank ist letzten Monat in Pension gegangen und nach Boca umgezogen. Seinen Job mache ich jetzt.« Sie unterzog die Polizistin einer langen, eingehenden Musterung. »Ich habe Sie ebenfalls noch nie gesehen.«

»Lieutenant Dallas«, stellte Eve sich vor und klopfte leicht auf ihre Dienstmarke, die sie am Gürtel trug. »Und wo ist Ihr Ausweis, Dr. DeWinter?«

»Hier.« Wieder griff sie in die Tasche, die wahrscheinlich sogar einem kleinen Pony Platz geboten hätte, und zog ihren Dienstausweis daraus hervor. »Man sagte mir, Sie hätten hier zwei skelettierte Leichen.«

»Stimmt.« Eve hielt ihr den Ausweis wieder hin. »In Plastik eingewickelt, das von Ratten angefressen wurde. Sie wurden zu Beginn der Abrissarbeiten entdeckt. Hinter dieser Wand.«

Sie zeigte auf das Loch und ging voraus.

»Sie kenne ich.« Als DeWinter Roarke entdeckte, erhellte ein breites Lächeln ihr Gesicht. »Erinnern Sie sich noch an mich?«

»Garnet DeWinter.« Zu Eves Überraschung beugte er sich vor, küsste sie auf beide Wangen und fragte sie: »Wie lange ist das her? Fünf oder sechs Jahre?«

»Sechs. Aber wie ich gelesen habe, haben Sie in der Zwischenzeit geheiratet.« DeWinter sah erst ihn und danach Eve mit ihrem breiten Filmstarlächeln an. »Ich gratuliere Ihnen beiden. Dass ich Sie hier treffen würde, hätte ich ganz sicher nicht erwartet, Roarke.«

»Ihm gehört das Haus«, erklärte Eve.

»Das ist natürlich Pech.« Noch einmal schaute sie sich gründlich in der Eingangshalle um. »Eine echte Bruchbude, nicht wahr? Aber schließlich sind Sie ein Genie darin, die Dinge zu verändern.«

»Und Sie sind ein Genie, wenn es um Knochen geht. Wir haben wirklich Glück, sie hier zu haben, Eve, sie gehört eindeutig zu den Besten ihres Fachs.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, dass es auch noch andere mit meinen Fähigkeiten gibt?«, hakte die Anthropologin lachend nach. »In den Laboratorien der Regierung in East Washington wurde mir langsam langweilig, und als sich mir die Chance bot, im Rahmen dieses Jobs mein Wissen endlich wieder einmal praktisch anzuwenden, habe ich begeistert zugesagt. Außerdem dachte ich, der Ortswechsel wäre auch für Miranda – meine Tochter – gut«, fügte sie an Eve gewandt hinzu.

»Super. Toll. Wir können ja später über einem Drink und Erdnüssen noch weiter quatschen, aber vielleicht hätten Sie vorher noch Lust, sich erst mal unsere Leichen anzusehen. Sonst langweilen Sie sich nachher noch.«

»Sarkasmus. Autsch.« Unbekümmert zog DeWinter ihren eleganten Mantel aus und überreichte ihn mit einem »Wären Sie wohl so freundlich?« Roarke.

»Da hinten?«, fragte sie, und auf Eves Nicken trat sie vor die Öffnung in der Wand und nahm auch diesen Raum mit ihrem Handy auf.

»Ich habe bereits alles aufgenommen«, begann Eve.

»Ich habe lieber meine eigenen Bilder. Den oberen Plastiksack haben Sie aufgemacht.«

»Nachdem ich alles aufgenommen hatte.«

»Trotzdem.«

»Dafür haben Sie Ihre Hände und die Stiefel nicht versiegelt«, sagte Eve, als Garnet durch die Öffnung trat.

»Da haben Sie natürlich recht. An die vorgeschriebenen Verfahrensweisen habe ich mich noch nicht ganz gewöhnt.« Sie nahm einen weißen Overall aus ihrer Tasche, stieg aus ihren Stiefeln, zog den Overall über das schmal geschnittene, schwarze Kleid und sprühte sich die Hände ein.

Die Tasche schleppte sie mit in den Zwischenraum.

»Eine Freundin?«, raunte Eve so leise, dass nur Roarke sie hörte.

»Eher eine Bekannte, aber eine recht beeindruckende Frau.«

»Da hast du recht«, pflichtete Eve ihm bei und schob sich hinter Garnet durch das Loch.

»Die Überreste in der Tüte oben …«

»Opfer Nummer zwei.«

»Meinetwegen, Opfer Nummer zwei war circa 1,50 Meter groß.«

»Ich habe bereits selbst gemessen, deshalb weiß ich, dass es etwas größer war. Opfer Nummer eins war fast genauso groß.«

»Ich möchte Ihnen sicher nicht zu nahe treten, messe aber trotzdem gerne selber noch einmal nach.« Als die Vermessung abgeschlossen war, stellte sie nickend fest: »Der Form des Schädels und der Schamgegend zufolge dürfte Opfer Nummer zwei ein Mädchen zwischen zwölf und fünfzehn Jahren gewesen sein. Wahrscheinlich weiß. Sie weist keine sichtbaren Spuren eines Traumas auf. Der Riss in ihrem rechten Humerus direkt über dem Ellenbogen deutet darauf hin, dass dieser Arm einmal gebrochen war. Wahrscheinlich, als sie noch ein Kleinkind war. Der Bruch ist schlecht verheilt, genauso wie der Bruch des rechten Zeigefingers.«

»Für mich sieht es so aus, als wäre dieser Finger nicht gebrochen, sondern eher verdreht gewesen.«

»Stimmt. Sie haben ein gutes Auge. So, als hätte jemand diesen Finger festgehalten und ihn so lange gedreht, bis er am Schluss gebrochen ist.«

DeWinter setzte eine Mikrobrille auf und schaltete durch sachtes Klopfen gegen einen Bügel eine kleine Lampe an. »Sie hatte ein paar Löcher in den Zähnen, und die Zwölfjahrmolaren waren schon da. Einer ihrer Zähne fehlt, und die linke Augenhöhle ist geschädigt, wobei die Verletzung ebenfalls schon älter war.«

Systematisch ging DeWinter alle Knochen dieses Opfers durch. »Die Rotatorenmanschette war einmal verletzt. Sieht ebenfalls so aus, als hätte irgendwer zu fest daran gezerrt – als hätte jemand sie am Arm gepackt und ihn gewaltsam umgedreht. Und hier am linken Knöchel hatte sie mal einen Haarriss.«

»Missbrauch. All das sieht für mich nach körperlichem Missbrauch aus.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht, aber am besten sehe ich mir die Verletzungen trotzdem im Labor noch mal genauer an.«

Mit durch die Brille riesengroßen Augen sah sie zu Eve auf. »Ich kann Ihnen mehr erzählen, sobald sie auf meinem Tisch liegt«, sagte sie ihr zu. »Jetzt muss ich sie vorsichtig bewegen, damit ich mir auch die Überreste des ersten Opfers ansehen kann.«

»Peabody!«, rief Eve, und eilig streckte der Detective ihrem Kopf zu ihr herein.

»Helfen Sie mir, den oberen der beiden Plastiksäcke hochzuheben.«

»Vorsicht«, bat DeWinter. »Vielleicht könnten Sie sie ja nach draußen bringen und Dawson sagen, dass er sie für den Transport verpacken soll. Sie kennen Dawson?«

»Ja«, erklärte Eve und wandte sich erneut an ihre Partnerin. »Wir heben sie jetzt hoch und schaffen sie hier raus.«

»Arme Kleine«, murmelte Peabody, packte dann aber den Plastiksack, und gemeinsam hoben sie ihn hoch, bis er wie eine Hängematte zwischen ihnen hing.

»Wer ist die Modepuppe?«, fragte sie im Flüsterton, als sie mit ihrer Last wieder im Foyer standen.

»Die neue forensische Anthropologin. Dawson!«

Als der Chef der Spurensicherer in ihre Richtung sah, winkte sie ihn zu sich heran. »Sagen Sie ihm, dass er das Skelett verpacken und den Abtransport organisieren soll«, befahl Eve Peabody und kehrte in den Raum hinter der Wand zurück.

»Sie war in derselben Altersklasse wie das Opfer Nummer zwei. Den Schädelmerkmalen zufolge müsste sie halb Asiatin und halb schwarz gewesen sein. Was auch Teile meines eigenen Erbes sind. Auch sie weist keine äußeren Zeichen eines Traumas auf. Sie hatte ein gebrochenes Schienbein, aber das ist gut verheilt.«

Langsam und behutsam bahnte sie sich den Weg vom Kopf bis zu den Füßen des verbliebenen Skeletts. »Andere Verletzungen oder Brüche sind bei ihr nicht feststellbar. Sämtliche Verletzungen von beiden Opfern waren bereits wieder verheilt, das heißt, mit ihrem Tod haben sie nichts zu tun.«

Im Licht der Lampe, die sie an der Mikrobrille trug, fiel Eve mit einem Mal ein Glitzern auf.

»Moment. Ich habe was gesehen.« Sie ging neben dem Schädel in die Hocke, lugte durch die Augenhöhle, nahm eine Pinzette aus dem Untersuchungsbeutel, schob sie in das Loch und zog einen kleinen Gegenstand daraus hervor.

»Sie haben wirklich scharfe Augen«, stellte DeWinter anerkennend fest. »Das Ding habe ich übersehen.«

»Ein Ohrring«, meinte Eve.

»Ich tippe eher auf ein Nasen- oder Brauenpiercing. Es ist ein sehr kleiner Stecker, also schätze ich, dass sie ihn in der Nase hatte und dass er infolge der Verwesung einfach abgefallen ist.«

Eve tütete den Stecker ein.

»Wir fangen mit der DNA und der Rekonstruktion der Gesichter an. Ich nehme an, Sie wollen so schnell wie möglich wissen, wer die beiden waren.«

»Auf jeden Fall.«

»Todesursache und -zeitpunkt könnten etwas länger dauern, wobei die Geschichte des Gebäudes und der Zeitpunkt und der Zweck des Einbaus dieser zweiten Wand wahrscheinlich hilfreich wären.«

»Darauf habe ich bereits jemanden angesetzt.«

»Hervorragend. Dann kann Dawson jetzt auch dieses Skelett hier übernehmen. Ich fange sofort mit den beiden an und melde mich, sobald ich etwas weiß. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, Lieutenant.«

Eve ergriff die angebotene Hand und ließ sie wieder los, als jemand rief: »Wir haben noch ein Skelett!«

Sie sah DeWinter an. »Sieht aus, als hätten Sie hier doch noch was zu tun.«

»Genau wie Sie.«

Tatsächlich fanden sie ein Dutzend Skelette, bis sie mit der Arbeit im Gebäude fertig waren.

2

Eve ging nacheinander sämtliche Bereiche des Gebäudes durch.

Die Spurensicherer hatten aus der Wand, die Richtung Süden wies, ein großes Gipskartonviereck herausgesägt und einen Teil des Staubs und ein paar Brocken für eine genauere Analyse eingepackt. Hinter der schmalen Öffnung waren drei weitere eingepackte Skelette aufgestapelt, zusammen mit DeWinter sah sich Eve die Überreste an.

Es waren drei Mädchen zwischen zwölf und sechzehn Jahren gewesen, genau wie die ersten beiden Opfer wiesen sie zwar eine Reihe älterer Verletzungen auf, doch keine eingeschlagenen Schädel oder andere sichtbaren Schäden, die den Tod verursacht haben könnten.

Es gab im Erdgeschoss noch eine Reihe Wände und zwei kleine, ihrer Armaturen längst beraubte Badezimmer, hinter und in denen aber nichts zu finden war.

Bis Eve jedoch die offene Eisentreppe in den ersten Stock erklimmen konnte, hatten die Kollegen von der SpuSi dort bereits fünf weitere Plastiksäcke mit menschlichen Überresten gefunden.

»Wir haben auch hier verschiedene Ethnien«, stellte DeWinter fest. »Wieder lauter Mädchen in derselben Altersklasse mit Verletzungen, die auf Misshandlungen in den ersten Lebensjahren schließen lassen, aber nichts, was mir verraten würde, wie sie umgekommen sind. Diese Mädchen waren alle in der Pubertät, zumindest einige von ihnen müssen während ihrer Kindheit körperlich misshandelt worden sein.«

»Ein paar Jahre lang war dieses Haus ein Heim.«

»Was für ein Heim?«

»Die Dokumentation ist lückenhaft, aber anscheinend hat das Haus während der innerstädtischen Revolten als Zufluchtsort für Kinder und für Teenager, die ihre Eltern verloren hatten, gedient. Als eine Art behelfsmäßiges Waisenhaus. Nur liegen diese Skelette nicht schon seit den innerstädtischen Revolten hier.«

»Ausgeschlossen ist das nicht«, widersprach DeWinter Eve. »Sobald ich mir die Überreste im Labor genauer angesehen habe, kann ich sagen, wann sie hier in etwa abgeladen worden sind.«

»Sie liegen ganz bestimmt nicht so lange hier«, beharrte Eve auf ihrer Position. »Die zweite Wand steht nie im Leben schon so lange dort. Vor allem hätte man die Opfer damals gar nicht so gut verstecken müssen, weil die Leute zu Zehntausenden gestorben sind und ein paar tote Mädchen auf der Straße deshalb gar nicht weiter aufgefallen wären. Wenn also damals jemand ein paar Mädchen umbringen wollte, hätte er mit der Entsorgung der Leichen kein Problem gehabt. Und«, kam sie dem nächsten Einspruch durch die andere Frau zuvor. »Wie zum Teufel hätte man es anstellen sollen, all diese Mädchen umzubringen, zu verpacken und danach noch ein paar Wände hochzuziehen, um sie dahinter zu verstecken, während das Gebäude voller Leute war? Bei so was muss man ungestört sein, und vor allem braucht man dafür jede Menge Zeit.«

»Ja, okay, Sie haben recht. Auch wenn ich als Forensikerin dabei bleibe, dass es durchaus möglich wäre, dass die Überreste aus der Zeit der Innerstädtischen Revolten stammen, und ich erst nach einer genauen Untersuchung sagen kann, wie alt sie wirklich sind.«

Eve richtete sich auf und drückte Peabody die eingetüteten Beweise in die Hand. »Ist wenigstens dokumentiert, wie lange hier ein Waisenhaus gewesen ist?«

»Das finde ich noch raus«, gab Roarke zurück. »Alles, was ich bisher weiß, ist, dass hier und auch im zweiten Stock verschiedene Schlafsäle und jeweils ein Gemeinschaftsbad waren.«

»Ich nehme an, dass diese Räume gegen oder kurz nach Ende der Revolten eingerichtet worden sind«, mischte sich Pete in das Gespräch. »Darauf deuten die benutzten Materialen hin. Damals hat sich niemand für Genehmigungen, Inspektionen, Bauvorschriften interessiert, was von den Rohrleitungen, Stromkabeln und so noch übrig ist, sieht aus, als hätten sie einfach genommen, was damals zu kriegen war. Genau wie in der Küche hier im ersten Stock und in den beiden Klos im Erdgeschoss.«

»Dann wurde also später nicht saniert?«

»Ah.« Er kratzte sich am Kopf. »Ein bisschen Flickwerk hier, ein bisschen Stückwerk da. Es musste offenbar vor allem billig sein. Deshalb haben wir uns auch nichts dabei gedacht, dass einige der Wände derart schäbig sind. Wir konnten sehen, dass sie nachträglich gezogen worden waren, aber schließlich wurde im Verlauf der Jahre auch an anderen Stellen gepfuscht.«

»Wie hier bei diesem Schlafsaal.« Eve betrachtete den großen, offenen Raum und stellte ihn sich vollgestellt mit schmalen Pritschen und billigen Kommoden oder Truhen für den spärlichen Besitz der Kinder vor.

Sie hatte selber jahrelang im Heim gelebt. Als rechtloses, benachteiligtes, psychisch angeschlagenes Kind. Sie wusste noch genau, wie elend ihre Tage und Nächte dort waren.

»Hier passen sicher 20, 25 oder mit Etagenbetten 50 Kinder rein.«

»Das wäre ganz schön eng«, bemerkte Pete.

»In solchen Heimen ist es immer eng, außerdem muss dort alles möglichst billig sein.«

Sie kehrte in den schmalen Korridor zurück, überließ DeWinter ihrer Arbeit und betrachtete das Zimmer, das dem Schlafsaal gegenüberlag.

»Vielleicht ein weiterer Schlafsaal«, überlegte Pete.

Nein, dachte sie, wohl eher der »Gruppenraum«, in den man gehen musste, wenn die Therapeuten einen in die Zange nehmen wollten oder jemand einen langweiligen Vortrag halten wollte oder wenn es um die Zuweisung von irgendwelchen Aufgaben gegangen war. Sie hatte diesen Raum noch mehr als die verdammten Schlafsäle gehasst.

Stirnrunzelnd ging sie weiter ins Gemeinschaftsbad des ersten Stocks.

Und fühlte sich sofort in das Gemeinschaftsbad in ihrem Heim zurückversetzt.

Platz für sechs bis sieben winzige Kabinen mit Toiletten, eine Wanne, die man nur benutzen durfte, wenn man ganz besonders brav gewesen war, drei Waschbecken sowie drei offene Duschen, die den Namen nicht verdient hatten, weil immer nur ein müdes Rinnsal kalten Wassers aus den Duschköpfen getröpfelt war.

Sie riss sich von den traurigen Erinnerungen los und hörte, dass der Vorarbeiter mit ihr sprach.

»Das alte Kupfer haben sie längst schon rausgerissen, was nicht anders zu erwarten war. Aber sie haben auch die alten Wände aufgebrochen und die Kunststoffrohre mitgehen lassen, die im Grunde völlig wertlos sind. Auch die Toiletten haben sie rausgerissen, und die Wanne, die den Anschlüssen da drüben nach mal in der Ecke stand. Genauso sieht es im Bad im zweiten Stock aus.«

»Wahrscheinlich waren die Mädchen in dem einen und die Jungen in dem anderen Stock. Vor allem, wenn es Heranwachsende waren.« Zumindest hatte sie es so erlebt.

»Lieutenant«, meldete sich Dawson mit erschöpfter Stimme. »Wir haben noch mehr entdeckt.«

Am Ende hatten sie die Überreste von zwölf jungen Mädchen, alle sorgfältig in Plastiksäcke eingewickelt sowie ordentlich gestapelt, einige mit kleinen Schmuckstücken zwischen den Knochen.

Eve tat, was möglich und nötig war, und trat danach mit Roarke vors Haus. Der Lärm, die Kälte und das Leben, das hier draußen auf der Straße tobte, bliesen einen Teil des Drecks, des Gipsstaubs und des Todeshauchs, der an ihr klebte, fort.

»Wir fahren aufs Revier. Schick mir bitte alles, was du über dieses Haus, die bisherigen Besitzer, die Benutzung findest, ganz egal, wie unwichtig es scheint. Mit Hilfe dieser Infos finden wir bestimmt noch mehr heraus.«

»Alles, was ich habe, einschließlich der Infos über die Verkäufer, hast du schon auf dem Computer«, klärte er sie auf und sah sie forschend an. »Du willst deine Toten nicht DeWinter überlassen, stimmt’s?«

»Sie ist die Expertin. Aber nein. Ich will sie ihr nicht überlassen. Nur kann sie im Gegensatz zu mir in ihren Knochen lesen und sich vorstellen, was den Mädchen zugestoßen ist. Zumindest hoffe ich, dass sie das kann.«

»Wie gesagt, sie ist eine der Besten ihres Fachs. Werden sie und Morris in dem Fall kooperieren?«

Auch der Chef der Pathologen war brillant, vor allem aber vertraute Eve ihm blind, anders als DeWinter. »Ja, das werden sie. Ich werde dafür sorgen. Zwölf Opfer«, überlegte sie. »Auf vier verschiedene Verstecke überall im Haus verteilt. Da stellt sich einem doch die Frage, warum er nicht alle irgendwo zusammen eingemauert hat. Die Opfer haben verschiedenen Ethnien angehört, aber in Bezug auf Alter, Größe und wahrscheinlich Körperbau weisen sie große Ähnlichkeiten auf. Der Täter war so nachlässig oder vielleicht so gleichgültig, dass er den Mädchen nicht einmal den ganzen Schmuck, den sie getragen haben, abgenommen hat.«

»Wie dem auch sei«, schloss sie die Überlegungen vorübergehend ab. »Die SpuSi wird das Haus versiegeln, bis die Untersuchungen dort abgeschlossen sind. Keine Ahnung, wann ihr mit der Renovierung weitermachen könnt.«

»Das ist mir vollkommen egal. Ich will wissen, wer die Mädchen waren.«

Sie nickte zustimmend. »Ich auch. Außer ihren Namen werden wir auch herausfinden, was ihnen zugestoßen ist und wer sie hinter diesen Wänden eingemauert hat.«

»Auf jeden Fall. Denn schließlich bist auch du eine der Besten deines Fachs.« Bevor sie den Kopf zur Seite drehen konnte, küsste er sie, weil er die Berührung brauchte, zärtlich auf die Stirn. »Wir sehen uns dann zuhause.«

Sie umrundete die Kühlerhaube ihres Wagens, glitt hinter das Lenkrad und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Oh Gott.«

Neben ihr seufzte auch Peabody. »Ich komme einfach nicht drüber hinweg, dass sie noch Kinder waren. Ich weiß, dass ich das muss, aber ich finde den Gedanken einfach unerträglich, dass jemand ein Dutzend Kinder einfach so in irgendwelche Müllsäcke gepackt und weggeworfen hat.«

»Sehen Sie einfach zu, dass Ihr Entsetzen Ihnen bei der Arbeit hilft.« Eve ließ den Motor des Wagens an und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. »Wobei der Mörder die Opfer nach meiner Meinung nicht als Müll betrachtet hat.«

»Was waren sie dann für ihn?«

»Das kann ich noch nicht sagen. So, wie er sie eingewickelt und in kleinen Gruppen überall im Haus verteilt hat, könnte ich mir vorstellen, dass das etwas zu bedeuten hat. Also beziehen wir Mira ein«, bezog sich Eve auf die Top-Profilerin und -Psychologin der New Yorker Polizei. »Dazu gehen wir alles durch, was mir Roarke über das Haus geschickt hat. Diese DeWinter soll sich bloß nicht einbilden, dass wir hier rumsitzen und Däumchen drehen, bis was von ihrer Seite kommt.«

»Haben Sie die Stiefel dieser Frau gesehen?«, Peabody riss gerade ekstatisch ihre dunklen Augen auf. »Sie waren butterweich. Und das Kleid? Den Schnitt, das Material und diese wirklich süße, kleine Knopfreihe im Rücken?«

»Wer taucht schon in butterweichen Stiefeln und mit süßen, kleinen Knopfreihen an einem Tatort auf?«

»Sie sah echt super darin aus. Auch der Mantel war toll. Nicht so wie Ihrer, sondern eher auf eine mädchenhafte Art.«

»Mein Mantel ist vor allem praktisch und bequem.«

»Und magisch«, fügte Peabody im Wissen um das schusssichere Futter von Eves Mantel neiderfüllt hinzu. »Trotzdem fand ich auch den Mantel von DeWinter wirklich schön. Dazu hat Dawson noch erzählt, sie wäre ein Genie, wenn es um Knochen geht. Ich glaube, dass er für sie schwärmt, was ich bei ihrem Aussehen durchaus nachvollziehen kann, aber vor allem bewundert er anscheinend, dass sie einem Fingerknochen mehr entlocken kann als eine Horde Laboranten einem ganzen Körper.«

»Wollen wir hoffen, dass er recht hat, denn wir haben nichts als Knochen, eine Handvoll Billigschmuck und ein Gebäude, um das sich anscheinend schon seit Jahren niemand mehr gekümmert hat.«

»Außerdem haben wir das Wand- und das Verpackungsmaterial«, fügte Peabody hinzu. »Vielleicht lässt sich ja rausfinden, wie alt der Gipskarton, die Träger in der Wand oder die verfluchten Plastiksäcke sind.«

»Kann sein. Auf alle Fälle ist es lauter Billigkram. Sogar die Säcke sahen billig aus. Wobei es nicht mal echte Säcke, sondern vielmehr Folie war. Die Art von Folie, die man sich auf Riesenrollen kauft und über Sachen wirft, damit sie trocken bleiben, oder auf dem Fußboden auslegt, wenn man die Wände streicht, und dann einfach entsorgt. Genauso ist es mit dem Gipskarton. Der hat nicht viel gekostet, aber trotzdem hat er seinen Zweck erfüllt, denn jahrelang ist keinem Menschen aufgefallen, dass vor den eigentlichen Wänden neue Wände eingezogen worden sind.«

»Dann hat der Killer also handwerkliche Fähigkeiten.«

»Ja, und die haben ausgereicht, um Wände zu errichten, die sich gut genug in die Umgebung fügen, dass sich niemand fragt, was sie dort sollen. Aber warum zum Teufel hat er die zwölf Leichen dort versteckt? Warum hat er keine bessere Möglichkeit gefunden, seine Opfer zu entsorgen? Es wäre deutlich einfacher gewesen, sie woanders hinzubringen und zu vergraben, aber offensichtlich wollte er auf Nummer sicher gehen, dass niemand sie entdeckt und ihn mit diesen Taten in Verbindung bringt. Wobei man ihn auch so mit diesen Taten in Verbindung bringen könnte, wenn herauskommt, dass er in dem Haus problemlos ein und aus gegangen ist. Trotzdem hat er seine Opfer all die Jahre dort aufbewahrt.«

»Weil er sie in der Nähe haben wollte?«

»Ja. Vielleicht war es ihm wichtig, dass er sie besuchen kann.«

»Das ist doch einfach krank.«

»Die Welt ist voller kranker Menschen«, meinte Eve und dachte darüber nach, während sie in die Garage des Reviers einbog.

Sie stellte ihren Wagen auf dem für sie reservierten Parkplatz ab. Obwohl sie bisher keine Namen und Gesichter und nicht die geringste Ahnung hatten, wer die Mädchen waren, gingen sie die Arbeit auch in diesem Fall energisch und entschlossen an.

Sie stieg aus und stapfte Richtung Lift. »Ich schreibe schon mal den Bericht und hänge ein paar Bilder an der Tafel auf. Sie gehen Roarkes Infos zu dem Haus und zur Geschichte des Hauses durch und finden raus, was fehlt. Ich will alles wissen, was es über die Verwendung dieses Baus zu wissen gibt: Wer es genutzt, wem es gehört, wer darin gelebt oder gearbeitet hat. Wobei nicht nur, aber vor allem die Jahre nach den Innerstädtischen Revolten von Interesse für uns sind.«

»Bin schon dabei«, gab Peabody zurück und lehnte sich mit einer Schulter an die Fahrstuhlwand.

»Wenn wir davon ausgehen, dass DeWinters vorläufige Schätzung des Alters und der Zeit, die unsere Opfer dort gelegen haben, halbwegs richtig ist …« Sie legte eine kurze Pause ein und machte Platz, als sich noch eine Reihe von Kollegen in den Fahrstuhl schob. »… dann fangen wir vor fünfzehn Jahren nach der Schließung des Gebäudes an. Wobei wir trotzdem wissen müssen, wer zuvor oder danach eine Verbindung zu dem Gebäude hatte oder daran interessiert war.«

Als die Türen das nächste Mal zur Seite glitten, zerrten zwei Kollegen von der Trachtengruppe einen ziemlich streng riechenden Obdachlosen in den Lift, Eve und ihre Partnerin beschlossen, auszusteigen und mit einem Gleitband bis hinauf in ihren Stock zu fahren.

»Diese DeWinter kennt sich offenbar nicht nur mit Mode aus.«

»Das werden wir ja sehen.« Eve sprang vom Band, marschierte flotten Schritts in Richtung ihres Dezernats und wiederholte: »Wie gesagt, ich möchte alles wissen, was es über dieses Haus zu wissen gibt.« Während ihre Partnerin in dieser Richtung recherchierte, sähe sie sich selbst Dr. Garnet DeWinter etwas näher an.

Sie trat durch die Tür ihrer Abteilung, in der es wie stets nach scharfen Putzmitteln, nach wirklich schlechtem Kaffee und nach Süßstoff roch. Sobald sie diese Mischung einatmete, war ihr bewusst, dass sie zuhause war.

An den Schreibtischen und in den Nischen gingen die Kollegen ihrer Arbeit zu diversen Fällen nach. Nur Officer Trueheart und sein Ausbilder Detective Baxter waren gerade bei Gericht, deshalb waren ihre Schreibtische verwaist.

Eve trennte sich von Peabody, zog den Mantel aus und joggte weiter in ihr winziges Büro, das zwar nur ein schmales Fenster hatte, dafür aber einen Autochef, in dem es anders als in den Geräten draußen immer wunderbaren, echten Kaffee gab.

Wie immer warf sie den Mantel auf den wackligen Besucherstuhl. Zusammen mit der harten Sitzfläche, von der man schon nach kurzer Zeit ein taubes Hinterteil bekam, sollte der Mantel mögliche Besucher daran hindern, Platz zu nehmen und sie davon abzuhalten, ihrer Arbeit nachzugehen.

Dann holte sie sich einen Kaffee und nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz.

Sie schrieb einen Bericht, schickte Kopien an ihren Commander und an Dr. Mira, bat die Psychologin um einen Gesprächstermin zu ihrem neuen Fall und hängte Aufnahmen vom Tatort an der Tafel auf.

Zwölf Skelette, dachte sie.

Die Skelette junger Mädchen, die, wenn die Vermutung der Anthropologin stimmte und wenn sie noch leben würden, ungefähr so alt wären wie sie selbst. Erwachsene Frauen mit Jobs, Karrieren, Familien, Geschichten, Liebhabern und Freunden.

Wer hatte ihnen all das gestohlen? Und warum?

»Computer, liste alle Mädchen zwischen zwölf und sechzehn Jahren auf, die in den Jahren 2045 bis 2050 in New York verschwunden und nicht wieder aufgefunden worden sind.«

Einen Augenblick ….

Das würde eine Weile dauern, genauso hatte es gedauert, bis zwölf Mädchen tot waren, außer jemand hätte ein Massaker angerichtet, sie vergiftet oder so. Danach sah’s nicht aus. Aus ihrer Sicht hätte ein Massenmord nicht zu verschiedenen Verstecken, sondern eher zu einem Massengrab geführt.

Wahrscheinlich waren immer zwei, drei Mädchen gleichzeitig getötet und danach zusammen eingemauert worden.

In einem leerstehenden, verlassenen Gebäude, in dem einen niemand bei der Arbeit störte, hätte man die Zeit dafür gehabt. Sie musste wissen, wann genau die Mädchen umgekommen waren, und dann nach einem Menschen suchen, der sich damals Zugang zu dem Haus verschaffen konnte und geschickt genug war, um diese Wände hochzuziehen.

Es sagte ihr nicht wirklich zu, in ihrem Job von jemand anderem abhängig zu sein, der nicht zu ihrem Team gehörte, aber die zwölf Mädchen, die nie eine Arbeit, einen Liebhaber oder Familien hatten, waren wichtiger als ihr verdammter Stolz. Sie hatten einen Anspruch darauf, dass sie ihre Vorbehalte gegenüber der Person, die ihr die Antwort auf die Frage nach dem Todeszeitpunkt geben könnte, überwand.

Aber trotzdem hatte sie das Recht, Erkundigungen über diesen Menschen einzuziehen, und gab den Namen der Frau in den Computer ein.

Garnet DeWinter. 37 Jahre alt, alleinstehend, Mutter einer Tochter von zehn Jahren. Geboren in Arlington, Virginia, Eltern leben seit 40 Jahren in eingetragener Partnerschaft, beide Wissenschaftler, Einzelkind.

Die Liste ihrer Abschlüsse war ellenlang und, ja, okay, sagte sich Eve, durchaus beeindruckend. Sie hatte einen Doktor in Physik und Anthropologie der medizinischen Fakultät der Boston University, an der sie hin und wieder Gastdozentin war, und Masterabschlüsse in einer Handvoll anderer, damit zusammenhängender Fachbereiche wie forensischer DNA und Toxikologie. Dazu hatte sie in einer Reihe von Laboren wie der Foundry in East Washington geforscht und hatte dort neun Laboranten unter sich gehabt.

Das Geld für ihre Stiefel und den schicken Mantel hatte sie mit Vorträgen und als Beraterin bei Ausgrabungen und Projekten von Afghanistan bis nach Zimbabwe – also in der ganzen Welt – verdient.

Zwei Verhaftungen, bemerkte Eve. Einmal in Zusammenhang mit einer Demo gegen die auch weiter anhaltende Abholzung des Regenwalds und einmal … wegen Diebstahls eines Hundes.

Wer zum Teufel klaute einen Hund?

In beiden Fällen hatte sie die Taten zugegeben, eine Geldstrafe bezahlt und die vorgeschriebenen Sozialstunden geleistet.

Interessant.

Bevor sich Eve jedoch genauer mit den beiden Vorstrafen der Frau befassen konnte, klopfte Mira bei ihr an.

»Na, das ging aber schnell.« Automatisch stand Eve auf.

»Ich komme gerade von einer Besprechung außerhalb, und da ich Ihren Bericht schon auf der Fahrt hierher gelesen habe, dachte ich, ich schaue auf dem Weg in mein Büro noch schnell bei Ihnen rein.«

»Das ist sehr nett.«

»Das sind Ihre Opfer.« Mira ging zur Tafel und sah sich die Fotos der zwölf Skelette an.

Anders als DeWinter wirkte Mira nicht wie eine Modepuppe, sondern einfach elegant. Sie trug ein pfirsichfarbenes Kleid zu einer Jacke in derselben Farbe, die ihr sandfarbenes Haar und ihre weichen blauen Augen vorteilhaft zur Geltung kommen ließ. Die kleinen Goldperlen an ihrem Hals passten zu den Tropfenanhängern an ihren Ohren, und der Pfirsich- und der Goldton tauchten in dem sanft geschwungenen Muster ihrer hochhackigen Schuhe wieder auf.

Eve würde nie verstehen, wie manche Frauen es schafften, ihre Kleidungsstücke derart aufeinander abzustimmen, dass sich ein Gesamtkunstwerk daraus ergab.

»Zwölf junge Mädchen«, murmelte die Psychologin vor sich hin.

»Wir brauchen noch ein paar Informationen, um herauszufinden, wer sie sind.«

»Die Ihnen Garnet DeWinter geben soll.«

»Sieht ganz so aus.«

»Ich kenne sie ein wenig. Eine interessante und vor allem brillante Frau.«

»Das haben mir auch schon andere erzählt. Wobei sie einmal einen Hund gestohlen hat.«

»Was?« Mira hob verwundert ihre Brauen an und runzelte dann neugierig die Stirn. »Was für einen Hund? Warum?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe sie kurz überprüft, dabei kam heraus, dass sie mal wegen Hundediebstahls festgenommen worden ist.«

»Das ist … seltsam. Trotzdem hat sie in der Branche einen tadellosen Ruf. Sie wird Ihnen helfen rauszufinden, wer die Mädchen waren. Dürfte ich mich vielleicht setzen?«

»Oh, natürlich … Warten Sie …« Es gab Besucher und Besucher, deshalb zerrte Eve den Mantel von dem Stuhl und zeigte auf den Sessel hinter ihrem Tisch. »Nehmen Sie den, denn mein Besucherstuhl ist echt brutal.«

»Ich weiß.« Weshalb sich Mira dankbar auf den Schreibtischsessel sinken ließ.

»Wie wäre es mit einem Ihrer Tees? Oder einem Kaffee?«

»Danke, nein. Ich – oh, was für ein schönes Bild!«

Mira stand wieder auf, um sich das Bild von Eve im Kämpferinnenmodus aus der Nähe anzusehen.

»Ja, es ist echt gut. Es ist von Nixie Swisher. Sie hat es im Rahmen eines Schulprojekts als Hausaufgabe oder so gemalt.«

Die kleine Nixie, die aus Zufall, Schicksal oder Glück als Einzige einem brutalen Überfall im Haus ihrer Familie entkommen war.

»Es ist wirklich wunderbar. Mir war gar nicht bewusst, wie gut sie malen kann.«

»Sie hat gesagt, dass Richard ihr geholfen hat.«

»Trotzdem ist es wirklich sehr gelungen, und vor allem trifft es Sie genau. Wahrscheinlich würde sie sich riesig freuen, wenn sie wüsste, dass das Bild hier hängt.«

»Ich habe ihr gesagt, dass ich es über meinen Schreibtisch hängen würde, als sie an Thanksgiving damit kam. Immer, wenn ich es mir ansehe, erinnere ich mich daran, dass man alles überleben kann. Selbst, wenn einem etwas derart Schlimmes widerfährt, dass man sich das erst mal nicht vorstellen kann.«

»Ich habe sie nur kurz getroffen, als Elizabeth und Richard mit den Kindern in New York waren, konnte aber deutlich sehen, dass sie nicht nur überlebt hat, sondern wieder voller Energie und Lebensfreude ist.«

Mira blickte abermals die Tafel an und nahm mit einem leisen Seufzer wieder Platz. »Im Gegensatz zu diesen zwölf Mädchen.«

»Den Untersuchungen am Fundort nach haben sie verschiedenen Ethnien angehört, was heißt, dass sie sich von der Hautfarbe und dem Gesichtstyp her nicht wirklich ähnlich waren. Bleiben also nur das Alter und vielleicht noch die Statur als äußere Merkmale, die allen zwölf gemeinsam waren. Gefühlsmäßig gehe ich davon aus, dass es dem Mörder hauptsächlich ums Alter seiner Opfer ging.«

»Sie waren alle jung, wahrscheinlich körperlich und sexuell noch nicht ganz ausgereift.«

»Vor allem waren sie alle ziemlich klein und zierlich, also haben die ältesten der Opfer sicher jünger ausgesehen, als sie waren. Bisher gibt’s keine Spuren von Gewalteinwirkung kurz vor ihrem Tod. Sämtliche Verletzungen, die diese Mädchen hatten, waren bereits deutlich älter und verheilt.«

»Ja, in Ihrem Bericht haben Sie erwähnt, dass mehrere der Opfer offenkundig irgendwann einmal misshandelt worden sind. Junge Mädchen, die Gewalt gewöhnt sind, fassen nur sehr schwer Vertrauen zu anderen Menschen«, führte Mira aus. »Wenn man bedenkt, dass das Gebäude zu der Zeit, in der sie offenbar ermordet wurden, leer gestanden hat, ist davon auszugehen, dass zumindest einige der Mädchen von zuhause ausgerissen waren.«

»Ich habe mit der Suche nach vermissten Mädchen angefangen. Sie …« Noch ehe Eve den Satz beenden konnte, piepste ihr Computer, sie nickte knapp. »Das wird es sein. Computer, wie viele vermisste Mädchen gab es in der Zeit?«

374 Mädchen dieses Alters wurden in dem Zeitraum als vermisst gemeldet und sind seither nicht mehr aufgetaucht.

»So viele«, sagte Mira, aber ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie die hohe Zahl genau wie Eve nicht wirklich überraschend fand.

»Ein paar von diesen Kindern sind wahrscheinlich einfach abgetaucht und haben sich auf welchem Weg auch immer neue Identitäten zugelegt.«

»Aber wahrscheinlich nur die wenigsten«, schränkte die Psychologin ein.

»Ja, wahrscheinlich nur die wenigsten. Wobei es durchaus möglich ist, dass unsere Opfer unter diesen Kids zu finden sind. Auf jeden Fall ein paar. Dann gibt’s noch die Fälle, in denen die Eltern oder Vormünder sich gar nicht erst die Mühe machen, Meldung zu erstatten, wenn das Kind sich nicht mehr blicken lässt. Für viele ist es vollkommen in Ordnung, wenn ihr Kind das Weite sucht.«

»Sie sind nicht weggelaufen.«

»Nein.« Die Psychologin war eine der wenigen, mit denen Eve problemlos über ihre Kindheit sprechen konnte, deshalb sagte sie: »Zumindest nicht vor Troy.« Nicht vor dem Vater, von dem sie geschlagen, vergewaltigt und misshandelt worden war. »Aber schließlich hatte ich auch keinerlei Kontakt zu anderen Kindern oder überhaupt zur Außenwelt, weshalb ich nie auf die Idee gekommen bin, dass es auch noch was anderes gibt.«

»Die beiden, Richard Troy und Stella, hatten Sie von klein auf eingesperrt und so von allem abgeschirmt, deshalb waren die Gefangenschaft und die Misshandlungen für Sie normal. Woher hätten Sie als achtjähriges Mädchen wissen sollen, wie krank und unnormal das alles war?«

»Machen Sie sich Sorgen, dass der Fall bei mir an alte Wunden rührt?«, erkundigte sich Eve.

»Nur ein bisschen. Es ist immer härter, wenn’s um Kinder geht, und zwar für jeden, der sich berufsmäßig mit dem Tod befasst. Für Sie wird’s noch härter werden, weil es lauter junge Mädchen waren, nur wenig älter als Sie selbst damals, von denen einige wahrscheinlich von den eigenen Eltern oder Vormündern misshandelt worden sind. Schließlich hat jemand diese Mädchen umgebracht. Wobei es vielleicht mehr als einer war.«

»Das wäre eine Möglichkeit.«

»Sie sind entkommen und haben überlebt. Das haben diese Mädchen nicht. Also ja, es wird bestimmt nicht leicht für Sie. Aber ich wüsste niemanden, der so geeignet ist wie Sie, für diese Mädchen einzustehen. Solange wir nur das Geschlecht und ungefähre Alter haben, kann ich kein endgültiges Profil für Sie erstellen. Die Tatsache, dass keine Kleider aufzufinden waren, deutet unter Umständen auf einen sexuellen Übergriff, auf den Versuch, die Opfer zu erniedrigen, oder den Wunsch, eine Trophäe zu behalten, hin. Es könnte jede Menge Gründe dafür geben, dass die Mädchen nackt gewesen sind. Die Todesursache und die Geschichten Ihrer Opfer, wenn Sie wissen, wer sie waren, wären sicher hilfreich, wobei mir auch alles andere, was Sie über die Mädchen sagen können, weiterhelfen kann.«

Nach einer kurzen Pause fuhr die Psychologin fort. »Er hatte bestimmte Fähigkeiten, und er hat die Taten offenkundig sorgfältig geplant. Er hatte Zugang zum Gebäude, zu dem Baumaterial und wusste, wo er diese Mädchen finden kann. Er hat alles gründlich vorbereitet, was bedeutet, dass er diese Mädchen, abgesehen vielleicht vom ersten, nicht spontan getötet hat. Die Überreste weisen keine Spuren körperlicher Gewalt oder Misshandlungen auf, wobei seelische Grausamkeit nicht ausgeschlossen werden kann. Keins der Mädchen war allein versteckt?«

Eve schüttelte den Kopf.

»Er hat sie also nicht allein, sondern paarweise oder zu dritt dort eingemauert. Vielleicht wollte er nicht, dass sie alleine sind. Er hat sie in die Plastikfolie eingehüllt wie in ein Leichentuch und dann etwas wie eine Krypta rund um ihre Leichname gebaut. Das ist ein Zeichen von Respekt.«

»Ich finde das vor allem krank.«

»Oh ja, aber auf eine kranke Art hat er sie respektiert. Er hat misshandelte Mädchen, die von zuhause weggelaufen waren, in einem Haus begraben, das einmal ein Zufluchtsort für Waisenkinder war. Eine interessante Verbindung, finden Sie nicht auch?«