Götter der Nacht - Pierre Grimbert - E-Book

Götter der Nacht E-Book

Pierre Grimbert

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Beschreibung

Phantastisch, voller Abenteuer und spannend wie ein Krimi

Eine Insel, in deren Tiefen ein Portal in eine fremde Welt führt. Ein magisches Geheimnis, das um jeden Preis gehütet werden muss. Sechs Gefährten, die auf der Flucht vor grausamen Mördern einen schicksalhaften Pakt schließen …

Das Mysterium der Insel Ji reicht tief in eine magische Vergangenheit. Auf ihrer Suche nach Antworten werden die sechs Erben der Gesandten von finsteren Dämonenwesen und kaltblütigen Mördern gejagt. Aber warum will deren geheimnisvoller Auftraggeber sie von der Entdeckung der Wahrheit abhalten? Als sich eine Priesterin den Reisenden anschließt, nehmen die Ereignisse eine neue Wendung. Das Ziel der Gefährten ist nun Romin, wo eine uralte Handschrift ihrer Ahnen in einer Bibliothek verborgen liegt. Werden sie hier endlich das Geheimnis um die Pforten der Insel lüften?

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Seitenzahl: 448

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
 
ERSTES BUCH – DAS ALTE LAND
ZWEITES BUCH – DIE HEILIGE STADT
DRITTES BUCH – DER MENSCHHEIT ZUM ANGEDENKEN
 
KLEINES LEXIKON DER BEKANNTEN WELT
DER AUTOR DANKT …
Copyright
Meinem Klan.
Ihr kommt zwar nicht in der Geschichte vor,aber ihr wart immer in ihr …
Ein Zü gibt seinen Namen nur seinesgleichen preis. Und seinen Opfern, kurz bevor er sie tötet.
Hier ist der meine.
Ich bin Judikator Zamerine, Anführer der Boten Zuïas in den Oberen Königreichen. Sechs der reichsten Länder der bekannten Welt stehen unter meiner Macht. Ich befehlige vierhundert Männer, die mit dem heiligen Hati bewaffnet sind und den Tod nicht scheuen. Vierhundert der besten Kämpfer, die bis in die verlassensten Winkel der bekannten Welt für Angst und Schrecken sorgen.
Nicht einmal Könige wagen es, mir zu trotzen. Sie zittern vor Zuïas Urteil. Sie zittern vor mir.
Ich hielt mich für den mächtigsten Herrscher nördlich des Mittenmeers. Das war ein Irrtum.
Ich glaube, dass mein Herr und Meister ein Gott ist.
Oder zumindest eine Inkarnation. Eine Inkarnation Zuïas natürlich, wenngleich sich mein Meister über diese Vermutung lustig macht. Er mag sich dessen nicht bewusst sein, aber er ist ein Instrument in den Händen der Göttin, genau wie ich. Davon bin ich überzeugt.
Davon muss ich überzeugt sein …
Meine Verwundbarkeit lässt sich nur schwer ertragen. Mein Meister verfügt über jeden, wie es ihm beliebt. Er ist unverwundbar. Er kann Gedanken lesen. Er ist imstande, einen fremden Körper zu beherrschen. Er tötet mit einer leichten Berührung – mit nichts als einem kurzen Blick.
Das ist keine Legende. Ich habe es selbst erlebt.
Er hätte einen Sklaven aus mir machen können, einen von Zehntausenden Unglücklichen, die er in seinen Gefangenenlagern zusammenpfercht. Ich zog es vor, sein Verbündeter zu werden.
Ich habe ihm mein Wissen zur Verfügung gestellt. Mein Einfluss in den Oberen Königreichen kommt ihm gelegen. Unser gemeinsames Auftreten sichert seine Herrschaft über die Horde Barbaren, aus der seine Armee besteht. Unsere Armee.
Ich habe mich bewährt, und mein Meister weiß sich erkenntlich zu zeigen. Er hat mir eine Leibgarde zugeteilt, bis mein Gehilfe mit meinen besten Männern zu uns stößt. Bald werden einhundert Boten an einem Ort versammelt sein. Eine solche Zusammenkunft habe ich seit der Prüfung im Lus’an nicht mehr erlebt.
Mein Meister hat mir eintausend Sklaven geschenkt. Ich versuche, sie nach dem Gesetz Zuïas zusammenleben zu lassen. Das ist ein interessantes Experiment. Ich glaube, es sind noch knapp über sechshundert Männer übrig.
Mein Meister hegt große Pläne. Was er vorhat, übersteigt das Verständnis gewöhnlicher Sterblicher. Greift er eine Stadt an, brennt er sie restlos nieder. Bestraft er einen Verräter, wird der Mann mehrere Dekaden lang auf dem Dornenrad gefoltert. Alles, was er in Angriff nimmt, erreicht er auch. Ohne Zaudern, ohne jede Schwäche.
Mein Meister weiß genau, was er will, selbst wenn er kein Wort darüber verliert. Niemand ist so verschwiegen wie er. Ich kenne nicht einmal sein Gesicht.
Ich kenne nur seinen Namen. Er heißt Saat.
 
 
 
Der König der Guori stand nicht gerade in dem Ruf, besonders umgänglich zu sein. Wie so oft bekam der Arkarier Ossrok, der die Söldnerflotte des Schönen Landes befehligte, seinen Zorn zu spüren.
»Das war nun wirklich keine Heldentat«, empörte sich der König. »Schon wieder haben einige Ahnungslose die Heilige Insel betreten. Und das, obwohl Ihr angeblich so wachsam seid!«
»Usuls Insel wird seit mehr als zwei Monden nicht mehr bewacht«, wandte der Söldner zaghaft ein. »Wie Ihr es angeordnet habt, Majestät.«
»Ich habe nie befohlen, die Patrouillen einzustellen!«, herrschte ihn der König an. »Ich habe Euch nur angewiesen, Euch etwas unauffälliger zu verhalten. Wagt es ja nicht, das Gegenteil zu behaupten!«
Ossrok verbiss sich die Antwort, obwohl sein Lohnherr die Unwahrheit sagte. Eigentlich sollte die Heilige Insel in Vergessenheit geraten, und so ankerten nun keine Schiffe mehr vor ihren Ufern. Nur eine einfache Fregatte segelte jeden Tag an dem Eiland vorbei, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war – und um die Bestien zu füttern, die den Ort bewachten. Doch diesmal hatte die Besatzung der Fregatte Spuren von ungebetenen Besuchern entdeckt.
»Bestimmt sind die meisten der Eindringlinge tot«, sagte der Söldner und zwang sich, zuversichtlich zu klingen. »Mit etwas Glück konnte vielleicht einer von ihnen entkommen, was erklären würde, warum wir ihr Schiff nicht gefunden haben. Meine Männer haben sich natürlich nicht bis ins Innere der Insel vorgewagt, aber ich wette, dass sie dort mehrere Leichen gefunden hätten.«
»Ihr begreift aber auch gar nichts!«, fuhr ihn der König an. »Ich wollte nicht, dass diese Menschen sterben!«
Ossrok musste eine Weile nachdenken, bevor er antwortete. Er begriff tatsächlich nicht. »Majestät, verzeiht mir die Kühnheit, aber … Die Fariksratten sind keine Streicheltiere. Wie Ihr wisst, sind sie so aggressiv, dass die Bewohner des Ostens sie im Kampf einsetzen. Schon ein kleiner Biss kann tödlich sein, wenn das Tier die Krankheit in sich trägt. Einige der Eindringlinge, deren Spuren wir auf der Insel gefunden haben, sind sicher infiziert. Und jetzt sagt Ihr mir, dass Ihr ihnen nicht den Tod wünscht?«
»Nein, natürlich nicht«, seufzte der König bekümmert. »Die Ratten sollten sie doch nur abschrecken.«
»Das Schicksal dieser Fremden wird anderen Eindringlingen eine Lehre sein«, sagte der Söldner. »Überlasst es meinen Männern, die Geschichte jedem zu erzählen, der sie hören will.«
Der König nickte zögernd und entließ den Kommandanten seiner Flotte mit einer knappen Handbewegung. Sein Zorn war erschöpft. Fortan würde er mit seinen Schuldgefühlen leben müssen.
»Majestät«, beharrte Ossrok, »was kümmern Euch diese Fremden? Sie haben eines der obersten Gesetze des Schönen Landes gebrochen. Findet Ihr nicht, dass sie die Strafe verdient haben?«
»Die Ratten sind noch gar nichts, Ossrok. Im Grunde können die Fremden froh sein, wenn sie der Krankheit zum Opfer fallen. Denn sollten sie Usul gesehen haben und nicht daran zugrunde gegangen sein, stehen ihnen entsetzliche Qualen bevor. Ich trauere, weil ich es nicht verhindern konnte. Ich trauere aus Mitleid.«
Kopfschüttelnd verließ der Kommandant seinen König. Die Guori waren schon ein seltsames Volk.
 
 
 
Ich erinnere mich an die Arena im Lus’an …
Ich hatte gerade das elfte Lebensjahr erreicht, war also bereits in der Lage, selbst zu urteilen. Jedenfalls verstand ich, dass es auf Zuïa keine Zukunft für den Bastard einer Sklavin gab.
Eines Tages kam ein Bote, um das Urteil an meiner Mutter zu vollstrecken – im Auftrag meines mutmaßlichen Vaters. Ich habe nichts getan, um ihn daran zu hindern. Mein Glaube an die Göttin war bereits sehr stark. Wie gesagt, ich war bereits imstande, selbst zu urteilen.
Ich bat den Vollstrecker, mich in einen Tempel mitzunehmen. Mich trieb nur ein Wunsch: ihm zu gleichen. Ein Priester Zuïas zu werden und zu den Mächtigsten dieser Welt zu gehören.
Damals ahnte ich noch nicht, dass ich dem Tod ins Auge blicken würde. Nicht nur dem Tod anderer, der mich ziemlich kalt ließ, versteht sich – sondern auch meinem eigenen.
Ich blieb nur für kurze Zeit im Tempel der Novizen. Zusammen mit meinen Altersgenossen arbeitete ich auf den Feldern. Vor allem aber lernte ich, anderen zu misstrauen und Intrigen zu spinnen. So scharte ich durch freiwillige oder erzwungene Bündnisse einige leicht zu beeinflussende Jungen um mich. Eine Gabe, die mir schon immer zugute kam und ohne die ich wohl nicht mehr am Leben wäre.
Eines Tages machten sich alle Novizen gemeinsam auf den Weg ins Lus’an. Während wir unter der sengenden Sonne voranmarschierten, beteten wir Zuïas Gesetze herunter, wie es vorgeschrieben war. Unsere Stimmen waren laut genug, um die Hufschläge der berittenen Boten zu übertönen.
Die Reise dauerte vier Tage. Sechs Jungen starben an Erschöpfung oder verdursteten. Ihnen zu trinken zu geben, hätte ihr Leben nicht mehr gerettet. Schwach, wie sie waren, hätten sie einige Tage später unweigerlich den Tod gefunden. Es war ein gnädigeres Ende.
Zwei weitere wollten umkehren. Doch die Grenze ins Lus’an lag schon hinter uns. Nur wer bereits Bote ist, darf das Lus’an wieder verlassen. Die beiden waren nun keine Novizen mehr und wurden von Ebenbürtigen zu Sklaven. Ich glaube, einer der beiden überlebte elf Tage.
Ich nutzte die Zeit, um weitere Bündnisse zu schmieden. Die Leichtgläubigen machte ich mit Versprechungen gefügig, die Schwachen mit Drohungen und die übrigen mit Erpressungen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot.
Ich stachelte die Jungen zu Konkurrenzkämpfen an und schlug mich auf die Seite der Stärkeren. Ich schmeichelte den Empfänglichen, bestach die Gierigen und schwor den Narren Freundschaft. So kam es, dass mir am Ende der Reise von den siebenundsechzig verbliebenen Novizen zwölf treu ergeben waren: meine Garde. Einundzwanzig weitere standen in meiner Schuld: meine Untertanen. Rund zwanzig andere hatten Angst davor, mir zu missfallen: meine Sklaven. Etwa ein Dutzend hatte sich abgesondert und bildete das Lager der Feinde. Selbst der Tugendhafteste hat Widersacher.
Keiner von uns hatte je von der Arena gehört. Am Abend unserer Ankunft im legendären Tempel des Großen Werkes brachte man uns zum ersten Mal seit Beginn unseres Noviziats in Einzelzellen unter.
Die Türen wurden von außen verschlossen, doch daran waren wir gewöhnt. Aber warum trennte man uns voneinander? Und weshalb entband man uns von der üblichen Fronarbeit?
Man riet uns, schlafen zu gehen, und ich gehorchte bereitwillig, da ich von der langen Reise erschöpft war. Außerdem versprach der folgende Tag anstrengend zu werden.
Einige Novizen blieben noch bis spät in die Nacht wach und unterhielten sich durch die Zellengitter mit ihren Nachbarn. Ich hörte mit halbem Ohr zu, wie gewohnt auf der Suche nach möglichen Druckmitteln. Doch schließlich übermannte mich der Schlaf – ein Geschenk der Göttin, denn ich würde alle meine Kräfte brauchen.
Wir blieben bis zum Morgengrauen in unseren Zellen eingekerkert. Als die Boten uns befreiten, führten sie uns geradewegs in die Arena.
Noch nie hatte ich so viele Priester an einem Ort versammelt gesehen. Selbst die höchsten Judikatoren waren gekommen. Sie trugen die geheimen Orden der Göttin, die nur im Lus’an offen zu sehen waren.
Ich hielt mich nicht damit auf, die Anwesenden genauer zu betrachten. Mir war sofort klar, was nun geschehen würde. Die siebenundsechzig Novizen standen auf einem runden, geschlossenen Kampfplatz, auf den die Boten von den voll besetzten Rängen hinunterblickten. An der Mauer hingen in unregelmäßigen Abständen dreißig Hati.
Zuïa würde ihre Diener auserwählen.
Ich versammelte meine Garde um mich und wartete auf das Zeichen der Judikatoren. Doch sie rührten sich nicht. Also kam ich den anderen zuvor und schickte meine Anhänger zur Mauer. Noch bevor sich die übrigen Novizen vom Fleck gerührt hatten, schnappten wir uns dreizehn Hati.
Damit hatte ich das Zeichen gegeben. Alle stürzten sich nun auf die Dolche, und die aufflammenden Kämpfe forderten rasch die ersten Opfer. Einige meiner ›Untertanen‹ eilten hilfesuchend zu mir, aber diese Narren nützten mir nichts. Ich jagte sie mit der Ermahnung davon, einen Hati zu erbeuten. Manche blieben winselnd an meiner Seite und wurden von meiner Garde niedergestreckt.
Drei meiner Männer fielen im Kampf. Ich sicherte mir die Dienste von zweien ihrer Bezwinger und machte sie zu meinen Sklaven. Den dritten, einen meiner zähesten Feinde, erdolchte ich, als er mir den Rücken zuwandte.
Nun war ich im Besitz zweier Hati und damit mächtiger als je zuvor. Einen schenkte ich dem stärksten der noch unbewaffneten Novizen und sicherte mir dadurch seine Dankbarkeit und Treue. Als Erstes trug ich ihm auf, meinen letzten beiden Feinden die Kehle durchzuschneiden.
Als der Kampf zu Ende ging, standen noch sechsundzwanzig Novizen im Ring, davon nur fünfzehn unverletzt. Die Hati waren natürlich nicht vergiftet gewesen. Das hätte den Sieg zu leicht gemacht.
Ich wurde von den höchsten Judikatoren ausgezeichnet. Zuïa hatte in mir einen ihrer besten Diener erkannt. Ein solches Glücksgefühl hatte ich noch nie zuvor empfunden.
Und sollte es nie wieder empfinden, bis ich meinem Meister begegnete. Er wird alle Königreiche der bekannten Welt zu einer einzigen Arena machen.
 
 
 
Emaz Drékin steigt eine unebene, aus rohem Stein gehauene Treppe hinunter. Sie wird nur selten benutzt, und nur die Emaz kennen sie. Er selbst ist seit achtundzwanzig Jahren nicht mehr hier gewesen. Seit Lanas Geburt.
Obwohl die Stufen breit sind, muss er vorsichtig sein, um auf dem mit Staub und Schutt, ja sogar mit den Gebeinen kleiner Tiere übersäten Boden nicht auszurutschen. Im flackernden Kerzenlicht erscheint ihm der Abstieg noch gefährlicher. Aber der Wunsch, das Ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, treibt ihn voran.
Als er endlich am Fuß der Treppe angelangt ist, hastet er durch einen großen leeren Saal, der genauso ausgestorben daliegt wie das übrige Gebäude. Er biegt erst in einen und dann in einen zweiten Gang ein, der zu einer verrosteten Tür führt. Als er den Schlüssel ins Schloss steckt, befürchtet er einen Augenblick lang, dass es zugerostet sein könnte. Doch dann dreht sich der Schlüssel, und die Tür schwingt mit einem lauten Knarzen auf, das in den von Menschenhand erbauten Hallen noch lange nachklingt.
Wieder steht er in einem großen leeren Saal. Ohne die ausgeräumten Regale zu beachten, begibt sich Drékin geradewegs zu einer der Marmorsäulen und geht hinter ihr in die Hocke.
Als er den versteckten Mechanismus betätigt, öffnet sich eine Klappe im Boden. Drékin zieht die Leiter zu sich heran und setzt vorsichtig den Fuß auf die oberste Sprosse. Er misstraut dem Holz, das nach all den Jahren morsch sein könnte. Dann steigt er noch zwei Sprossen hinunter und leuchtet mit seiner Kerze in die Dunkelheit hinein.
Natürlich hat sich nichts verändert. Alles ist noch genauso, wie er es vor achtundzwanzig Jahren zurückgelassen hat.
Behutsam steigt er Sprosse um Sprosse in das Versteck hinab und achtet darauf, seine Kerze nicht fallen zu lassen. Hier unten lagern so viele Hefte, Schriftstücke und Pergamentrollen, dass er im Feuer ersticken würde, noch bevor er wieder nach oben gelangen könnte.
Obwohl ein Brand keine schlechte Lösung wäre …
Sein Blick schweift durch den winzigen Raum, kaum größer als ein Schrank, in dem die Maz seit Jahrhunderten gefährliche Schriften aufbewahren. Turmhohe Bücherstapel und Unmengen achtlos übereinandergeschichteter Dokumente füllen die Kammer, als wäre hier der ganze Unrat des Tempelarchivs angehäuft. Doch Drékin muss das, was ihn hergeführt hat, nicht lange suchen. Er weiß genau, wo es sich befindet.
Das schmale Büchlein liegt an seinem Platz ganz oben auf einem Stapel. Sachte wischt der Priester den Staub vom Einband. Auf dem mit den Jahren steif gewordenen dunklen Leder leuchten ein Titel und ein Name auf. Der Menschheit zum Angedenken. Maz A. von Algonde.
Drékin seufzt traurig. Gedankenverloren öffnet er das Tagebuch und überfliegt einige Zeilen. Dann schlägt er es rasch wieder zu und erschauert bei dem Gedanken an die darin verborgenen Geheimnisse.
Lana ist nicht mehr in Mestebien. Hat man sie getötet? Ist sie geflohen? Er weiß es nicht. Aber er kann nicht länger mit diesen Gewissensqualen leben. Er darf nicht riskieren, dass der Inhalt des Tagebuchs eines Tages ans Licht kommt.
Das ist er sich schuldig. Selbst wenn er dafür gegen all seine Prinzipien verstoßen muss.
 
 
 
Mein Meister schöpft seine Stärke nicht nur aus seiner eigenen Macht. Er versteht es, sich mit außergewöhnlichen Männern zu umgeben. Mit Männern wie mir.
Seine Kräfte erheben ihn in den Rang eines Gottes. Er kann sich seine Verkünder nach Belieben erwählen. Wir sind seine Verbündeten. Seine Hauptmänner.
Seine verdammten Seelen, sagen die Sklaven hinter unserem Rücken.
Mein Meister hat ein so riesiges Heer, dass er treue Gefolgsmänner braucht, denn unsere Armee wird im Laufe ihrer Feldzüge nicht etwa kleiner, sondern wächst von Tag zu Tag.
Wobei unsere Armee eher eine Horde ist. Eine Horde Barbarenkrieger, die archaische Sprachen sprechen, primitive und blutrünstige Rohlinge, die sich ebenso gern auf den Feind stürzen, wie sie sich untereinander zerfleischen. Sie haben kein höheres Ziel. Sie zeigen keine Ehrfurcht. Sie widern mich an. Aber ihre gewaltige Kraft ist berauschend.
Mein Meister ist ein vortrefflicher Stratege. Sein einziger Schwachpunkt ist die Gleichgültigkeit, mit der er unsere Verluste hinnimmt. Auch wenn unsere Truppenstärke anscheinend unerschöpflich ist, widerstrebt es mir, unsere Feinde in der Illusion eines kurzfristigen Sieges zu wiegen, indem wir unnötig einige Hundert Mann opfern.
Manchmal lässt sich mein Meister dazu herab, auf meine Ratschläge zu hören. Dann fügen wir unseren Gegnern vernichtende Niederlagen zu. Viele der Besiegten sind so beeindruckt, dass sie lieber in unseren Reihen kämpfen, als uns als Sklaven zu dienen. Das macht mich sehr stolz. Zur Belohnung dürfen manche ihre ältesten Söhne mitbringen. Mit den Übrigen, den Frauen, Greisen, Kindern, Kranken und Krüppeln, verfährt mein Meister nach Belieben. Unser Großes Werk stopft keine überflüssigen Mäuler.
Vielleicht ist es das, was unser Großes Werk ausmacht: die Nutzlosen, Unfähigen, Schwachen und Minderwertigen auszuradieren. Mein Meister ist gewiss eine Inkarnation Zuïas.
Ich sagte, dass er sich mit außergewöhnlichen Männern umgibt. Ich muss hinzufügen, dass diese mir nicht unbedingt sympathisch sind – allen voran die beiden Männer, die er zu seinen Heerführern ernannt hat.
Den ersten kenne ich noch nicht, doch die Schreiben, die er an uns richtet, lassen mich an seiner geistigen Verfassung zweifeln. An den zweiten verschwende ich gar keinen Gedanken mehr; der Schädel dieses Scheusals ist so hölzern wie eine alte Etulie und so leer wie das Grab von Aluén.
Sein vollständiger Name lautet Gors’a’min Lu Wallos, doch er wird von allen einfach Gors genannt, oder auch Gors der Zimperliche, natürlich nur hinter seinem Rücken. Nicht etwa, weil er Schmerzen scheut, sondern weil er sie anderen so gern zufügt.
Einen Hünen wie ihn habe ich noch nie gesehen. Er überragt sogar noch den Arkarier, der Dyree im Kleinen Palast die Nase gebrochen hat. Und er ist stark. Ich habe erlebt, wie er im Schlingenwurf gegen drei blutig gepeitschte Pferde gekämpft hat. Die Tiere brachen tot zusammen, nachdem er ihnen zehn Schritte abgerungen hatte.
Seine Dummheit, seine Trinksucht, seine ständigen Wutausbrüche und vor allem der Mangel an Respekt mir gegenüber sind unerträglich. Aber ich muss zugeben, dass er seinen Männern absoluten Gehorsam eingedrillt hat. Das Pack ist ja vom selben Schlag.
Auch Dyree wird bald zu uns stoßen. Mein Gehilfe ist der einzige Novize, der die Arena des Lus’an mit zwölf Hati verlassen hat. Anstatt sich mit seiner Waffe zu begnügen, forderte er die anderen Jungen zum Kampf heraus, um auch ihre Trophäe zu erbeuten. Womöglich hätte er sich sämtliche Waffen erkämpft, wenn ich die Prüfung, die ich damals beaufsichtigte, nicht beendet hätte. Dyree ist der beste Krieger, den ich je gesehen habe. Selbst ohne Hati könnte er vielleicht sogar Gors den Zimperlichen schlagen.
Leider ist meinem Gehilfen wenig daran gelegen, als gleichwertiges Mitglied der Dienerschaft Zuïas anerkannt zu werden. Sich ›Zadyree‹ nennen zu dürfen. Ich bezweifle, dass er wirklich an die Göttin glaubt.
Sein Platz an meiner Seite erhebt ihn in den Rang eines Boten. Er kümmert sich um die Verräter, und diese schwierige Aufgabe spornt ihn ungemein an. Er liebt Beute, die sich zu wehren versucht. Er liebt den Sieg.
Er liebt es ganz einfach, zu töten. Bald wird er zu uns stoßen.
Ich werde ihm die Sklaven unterstellen, die mittlerweile zu zahlreich sind, um von einem einzigen Hauptmann geführt zu werden, selbst wenn diesem eine zweihundert Mann starke Kompanie zur Verfügung steht. Ich weiß noch nicht, was mein Meister mit ihnen vorhat. Angesichts seines unermesslichen Reichtums bezweifle ich, dass er sie verkaufen will. Vielleicht wird er sie Frondienst leisten lassen? Aber wofür? Inwiefern hilft uns das auf dem Weg zur Vollendung des Großen Werkes?
Vorläufig ist das Gebet die einzige Pflicht, die den Sklaven auferlegt ist. Sie dürfen ihre Religion nicht wählen. Sie vollziehen einen einfachen Ritus, der ihnen vorgeschrieben wird. Und sie beten die Gottheit mit der ganzen Kraft der Verzweiflung an.
Mein Meister hat eine gewisse Emaz Chebree zur Hohepriesterin dieses Gottes geweiht, der Sombre genannt wird. Ich weiß nicht, ob Sombre sein tatsächlicher Name ist oder nur eine gebräuchliche Anrede, die an die Stelle seines ursprünglichen Namens getreten ist. Mir ist kein anderer Titel für diesen Neuankömmling unter den Unsterblichen bekannt. Chebree jedenfalls weiß ihn zu beschreiben, zu beschwören, zu verklären, sie verehrt ihn und lässt ihn verehren, diesen furchterregenden Gott, den mein Meister auserwählt hat.
Viele unserer Krieger treten zu dieser neuen Religion über. Aus Sombre ist der Bezwinger geworden, und diese Eigenschaft gefällt ihnen. Mein Meister sieht mit Befriedigung, wie schnell sich die neue Religion verbreitet.
Ich bleibe Zuïa natürlich treu, auch wenn Chebree große Überzeugungskraft besitzt. Den Titel der Emaz nehme ich ihr nicht ab. Es würde mich wundern, wenn sie die Heilige Stadt Ith überhaupt schon einmal betreten hätte. Aber sie ist eine leidenschaftliche und berechnende Frau, weshalb sie meine Anerkennung verdient. Außerdem ist sie ehrgeizig und hat damit meine Achtung gewonnen … und mein Misstrauen.
Der Letzte der Verkünder ist kein Geringerer als der Sohn des Meisters. Zumindest halten wir ihn dafür, und der Meister hat dem nie widersprochen. Er ist ein junger Mann von schönem Wuchs, aber seine Gesichtszüge sind für einen Goroner eher untypisch.
Seine Fähigkeiten sind mir unbekannt. Er schläft viel und rührt sich kaum, wenn er wach ist. Er scheint uns weder zu sehen noch zu hören. Allein unser Meister ruft etwas Aufmerksamkeit in seinen Augen wach.
Seine Augen. Ich kann seinen Blick nicht ertragen. Er ist leer. Er ist düster.
ERSTES BUCH
DAS ALTE LAND
Die Tür der Kaschemme sprang auf und fegte Regen, Wind und zwei seltsame Gestalten herein. Worja Stehtrinker war seit fünfunddreißig Jahren Gastwirt, und seit über zehn Jahren führte er nun schon eine Schänke in Trois-Rives an der Mündung der Rochane. Er hatte also genug Erfahrung, um auf den ersten Blick zwei Dinge zu erkennen: Die Neuankömmlinge kamen nicht aus Romin, und sie würden ganz sicher nichts bestellen. Mit einem Blick unter den Tresen vergewisserte er sich, dass sein Dolch in Reichweite lag.
Der größere der beiden war eindeutig Arkarier, obwohl er eine dunklere Haut hatte als seine Landsleute. Aber seine Hautfarbe war Worja so egal wie der pelzige Hintern eines Margolins. Er sah nur die Größe dieses Mannes, der zottelig war wie ein Bär und mindestens doppelt so stark wirkte. Obendrein trug der Riese einen Streitkolben.
Der andere ließ sich nicht so leicht einschätzen: Er mochte Lorelier oder Kaulaner sein. Worja registrierte vor allem das Rapier, das ihm am Gürtel hing, die offenen Wunden der beiden Männer und ihre grimmigen Mienen, die nichts Gutes verhießen.
Als die Unbekannten auf ihn zusteuerten, warf der Wirt einen hilfesuchenden Blick in die Runde. Doch seine fünf Gäste versenkten sich angestrengt in den Inhalt ihrer Becher. In Romin war man Fremden nicht eben freundlich gesinnt – vor allem nicht, wenn sie bewaffnet waren und finstere Gesichter machten.
»Wir suchen einen Heiler«, verkündete der Lorelier mit matter Stimme. »Man sagte uns, Ihr könntet uns helfen.«
Worja verwünschte den Witzbold, der ihm diese Fremden auf den Hals geschickt hatte. Bestimmt war es ein Presdanier gewesen. Phrias sollte sie holen, diese Presdanier! »Das war gelogen, meine Herren. In ganz Trois-Rives gibt es niemanden, der würdig wäre, als Heiler bezeichnet zu werden. Ich fürchte, Euch bleibt nichts übrig, als nach Mestebien zu reiten.«
Der Lorelier übersetzte seinem Begleiter die Worte des Wirts, worauf der Arkarier die Augen aufriss und den Kopf schüttelte. Die Auskunft schien ihnen nicht zu gefallen. Das hätte sich Worja denken können.
»Dazu fehlt uns leider die Zeit«, sagte der Lorelier. »Zu wem bringt Ihr hier in Trois-Rives Eure Verletzten? Es muss in dieser Stadt doch irgendjemanden geben, der sich um Kranke kümmern kann! Muss ich Euch den Namen etwa mit klingender Münze bezahlen?«
»Das wird nicht nötig sein, mein Herr. Wie ich schon sagte: Es gibt hier niemanden, der Euch helfen könnte. Ich kann Euch nur raten, so schnell wie möglich aufzubrechen, wenn die Zeit drängt.«
Wollten die Fremden nicht endlich begreifen, dass sie unerwünscht waren? Worja umklammerte seinen Dolch, nicht nur, weil er sich auf das Schlimmste gefasst machte, sondern vor allem, um sich sein Zittern nicht anmerken zu lassen.
Der Lorelier seufzte und lehnte sich ergeben an den Tresen. Dann fuhr er auf einmal herum und sprang mit einem geschmeidigen Satz über das Hindernis hinweg. Ehe er sich’s versah, spürte der Wirt eine Dolchklinge am Hals.
»Na schön«, stellte der Fremde fest. »Offenbar haben mein Freund und ich uns nicht klar genug ausgedrückt. Wir haben nicht vor, dieses Gasthaus in Schutt und Asche zu legen, obwohl mir diese Vorstellung mittlerweile recht verlockend erscheint. Wir suchen schlicht und einfach einen Heiler. Wenn Ihr uns bis Tagesanbruch keinen Namen nennt, werdet Ihr und Eure Gäste selbst einen brauchen, das verspreche ich Euch.«
Der Gewaltausbruch hatte die Rominer so überrumpelt, dass sie sich nicht vom Fleck rührten. Ohne seinen Griff zu lockern, stieß der Lorelier einen Schwall weiterer Drohungen aus, während Worja vor Angst die Knie schlotterten.
»Mein Freund Bowbaq, den Ihr hier seht, hat vor nicht einmal einer Dekade mit bloßen Händen ein Piratenschiff versenkt. Glaubt Ihr nicht auch, dass es gefährlich wäre, ihn zu verärgern? Bowbaq, mach mal ein böses Gesicht«, forderte Rey den Arkarier auf, der den Wortwechsel auf Romisch nicht verstanden hatte.
Der Riese fletschte die Zähne, als wolle er seinem Löwen Mir Konkurrenz machen. Dann kam er sich lächerlich vor, und so begnügte er sich lieber damit, sich mit verschränkten Armen vor der Tür aufzubauen. Rey musste sich ein Lachen verkneifen. Aber die Grimasse hatte die erwünschte Wirkung.
»Wozu sucht Ihr denn einen Heiler?«, traute sich schließlich eine der Geiseln zu fragen.
»Um ihm ein Fischernetz abzukaufen. Bei allen Göttern und ihren Huren! Wozu wohl? Ein Freund von uns benötigt dringend Hilfe. Ich belohne jeden Hinweis auf einen Heiler, der ihn retten kann, mit einer Goldterz.«
»Lorelisches Geld ist hier nichts wert«, brummte der Mann.
»Ihr habt die Wahl: eine Goldterz oder ein Gespräch mit meinem Freund Bowbaq. Und damit meine ich ein sehr eingehendes Gespräch. Wer meldet sich?«
Es verstrichen noch einige Augenblicke, bevor sich einer der Rominer zu einer Antwort durchrang.
»Mein Bruder Vi’at ist Heiler«, gab der Mann widerstrebend zu. »Gegen eine Terz führe ich Euch zu ihm. Aber ich kann nicht versprechen, dass er bereit ist, Euch zu helfen. Er ist ein waschechter Helanier, genau wie ich. Er spricht noch nicht einmal mit Presdaniern, geschweige denn Fremden wie Euch.«
»Ich werde ihn schon zu überzeugen wissen«, sagte Rey mit heimtückischem Grinsen und ließ von dem Wirt ab. »Meine Argumente sind sehr schlagkräftig.«
 
 
 
Sanft schaukelte die Othenor auf dem klaren Wasser an der Mündung der Rochane auf und ab, als müsste sie sich von den vielen hundert Meilen erholen, die sie im vergangenen Mond zurückgelegt hatte. Das Schiff schien in der gleichen Verfassung zu sein wie seine Passagiere: müde, entkräftet und niedergeschlagen.
Seit ihrer Ankunft in Trois-Rives wachte Yan an Grigáns Seite, damit sich Corenn ausruhen konnte. Der junge Mann hatte die Othenor in Rekordgeschwindigkeit zum Festland gelenkt. Noch in der vorigen Nacht waren sie auf der Heiligen Insel der Guori gewesen. Seither hatte er kein Auge zugetan.
Maz Lana unterbrach ihre Gebete für eine Weile, um den jungen Kaulaner zu beobachten. Yan hatte Usul gesehen. Er hatte mit einem Gott gesprochen. Seitdem waren nicht mehr als zehn Sätze über seine Lippen gekommen. Natürlich machte er sich entsetzliche Sorgen um Grigán, wie alle anderen auch. Aber war das wirklich alles? Wusste Yan etwas, von dem sie nichts ahnten?
Der Anstand gebot ihr, sich zuerst um den verletzten Krieger zu sorgen, bevor sie an die Fortsetzung ihrer Suche dachte. Dennoch betete Lana zu Eurydis, sie möge Yans Qualen lindern. Er war noch viel zu jung, um ein solches Leid zu ertragen.
Da erschien Léti in der Tür zur »Kapitänskabine«, wie sie die kleinere der beiden Kajüten zu nennen pflegten. Während der Überfahrt hatte die junge Frau fast ununterbrochen geweint. Nun waren ihre Tränen versiegt, und ihre Miene wirkte wie versteinert: die Stirn gerunzelt, der Mund verkniffen, der Blick schneidend. Sie verachtete Ungerechtigkeit. Und sie hasste das Gefühl der Ohnmacht.
»Sie kommen«, sagte sie knapp. »Sie haben jemanden mitgebracht.«
Lana ging Corenn wecken, was nicht weiter schwierig war, denn die Ratsfrau hatte keinen Schlaf gefunden. Kurz darauf stießen Bowbaq, Rey und ein kleiner beleibter Rominer zu der Runde um Grigáns Lager.
»Was ist mit Eurem Gesicht passiert?«, fragte Corenn den Unbekannten. »Rey, habt Ihr ihn etwa geschlagen?«
»Er ist gestürzt«, versicherte der Schauspieler. »Nicht wahr, mein lieber Vi’at?«
»Das stimmt«, stammelte der Mann und rieb sich das Kinn. »Ich bin unglücklich aufgetreten und gestolpert.«
Corenn warf Rey einen vorwurfsvollen Blick zu, den dieser nicht zu bemerken schien, und sah dann zu Bowbaq, der bis über beide Ohren errötete. Sie beschloss, bei Gelegenheit Licht in die Sache zu bringen. Doch vorläufig gab es Dringenderes zu erledigen.
»Von welchem Tier stammen die Bisse?«, fragte der Heiler, nachdem er einen kurzen Blick auf Grigán geworfen hatte.
»Von Ratten«, antwortete Corenn, die keinen Grund sah, ihm die Wahrheit zu verheimlichen. »Von einer ganzen Horde.«
»Wohl von der Sorte, die sich bei den Guori herumtreibt, hm?«
»Passt auf, was Ihr sagt, mein lieber Vi’at«, mahnte Rey.
»Immer mit der Ruhe. Eure Geschichten gehen mich nichts an. Ob nun Guori oder Lorelier, Fremde sind Fremde. Mich interessieren nur die zehn Goldterzen, die Ihr mir versprochen habt. Die will ich sehen.«
In Corenns Gegenwart fühlte sich der Rominer sicher genug, um Forderungen zu stellen. Léti trat auf ihn zu, um ihn in die Schranken zu weisen, doch die Ratsfrau zählte dem Heiler zehn Goldstücke in die Hand.
»Ich verspreche Euch noch einmal so viel, Meister Vi’at, wenn es Euch gelingt, ihn zu retten«, sagte sie noch, bevor sie den Raum verließ.
Der Gedanke war kaum zu ertragen. Was, wenn es ihm nicht gelang?
»Ich kann hier niemanden gebrauchen«, sagte der Mann. »Ihr könnt gehen. Es reicht, wenn mir einer von Euch zur Hand geht.«
»Ich«, sagte Yan heiser.
Die anderen fuhren herum. Der junge Mann hatte seit einigen Dekanten geschwiegen. Niemandem kam es in den Sinn, gegen seinen Vorschlag zu protestieren.
»Gut. Die anderen können gehen.«
Nach einem letzten Blick auf ihren reglos daliegenden Freund verließen die Gefährten einer nach dem anderen die Kajüte der Othenor. Sie legten Grigáns Schicksal in die Hände eines Unbekannten, doch es blieb ihnen keine andere Wahl.
Kurz bevor sie hinausging, beugte sich Léti an das Ohr des Rominers. »Wenn er stirbt, ist das allein Eure Schuld«, flüsterte sie mit gepresster Stimme.
Der Mann schloss die Tür hinter der jungen Kriegerin und schluckte vernehmlich. Als er sich umwandte, begegnete ihm der seltsame, leicht drohende Blick des einsilbigen Kaulaners, der ihm helfen sollte. Schaudernd machte er sich an die Arbeit und verwünschte die Fremden und ihre Fremdartigkeit.
 
 
 
Corenn versuchte krampfhaft, nicht daran zu denken, was sich unter Deck abspielte. Also konzentrierte sie sich auf ein anderes Thema. Das Thema. Die Frage, die ihnen allen im Kopf herumspukte.
Yan hatte noch nichts über sein Gespräch mit dem Gott Usul erzählt. Das Einzige, was er verraten hatte, war ein Name gewesen. Der Name des Anklägers. Der Name des Mannes, der die Züu auf die Erben angesetzt hatte. Der Name ihres Feindes: Saat.
Seine Exzellenz Saat der Ökonom, der Gesandte des Kaiserreichs Goran. Er hatte nicht zu denen gehört, die vor einhundertachtzehn Jahren von der Reise auf die Insel Ji zurückgekehrt waren. So war es zumindest überliefert. Aber wie konnte es sein, dass ein Mann, der schon damals alt gewesen war, über ein Jahrhundert später noch lebte?
Womöglich hatten auch Vez und Vanamel, die ebenfalls vermisst worden waren, die Reise überlebt. Ebenso wie Nol der Seltsame.
Corenn rief sich das dreihundert Jahre alte Manuskript ins Gedächtnis, das sie bei Zarbone gefunden hatte. Es erwähnte einen gewissen Nol, vermutlich denselben, der ihre Vorfahren in das Abenteuer geführt hatte. War dieser Mann unsterblich? War Saat es?
Was befand sich hinter der Pforte?
Corenn hoffte, dass Yan ihr einige dieser brennenden Fragen beantworten konnte. Dann erinnerte sie sich an Grigáns Schicksal, und ihre Miene verdüsterte sich.
Sie waren nicht sehr viel klüger als zuvor. Corenn hatte vermutet, dass der Feind der Erben aus ihren eigenen Reihen stammte, und diese Vermutung hatte sich nun bewahrheitet. Sie wusste zwar vieles über die gegenwärtige Generation der Erben, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sich Saat verstecken könnte – und damit nicht die geringste Möglichkeit, seine Pläne zu vereiteln.
Was hatte er überhaupt vor? Angenommen, Saat war nicht in dem Tal hinter der Pforte auf Ji gestorben, sondern hatte es tatsächlich zuwege gebracht, ins Diesseits zurückzukehren: Warum verfolgte er die Erben? Sann er auf Rache? Wollte er ein Geheimnis bewahren? Hatte er vor irgendetwas Angst? Oder vielleicht alles zugleich?
Woher nahm er seine übernatürlichen Kräfte? Corenn schauderte, als sie an die Drohungen zurückdachte, die die besessene Seherin auf der Versammlung der Fürsten der Kleinen Königreiche ausgestoßen hatte. Oder, noch schlimmer, an den Angriff des Dämons im Eroberten Schloss, der Séhane getötet hatte. Von einem so mächtigen Zauber hatte die Ratsfrau noch nie gehört. Hatten etwa die Götter ihre Hände im Spiel?
Traf die Erben der göttliche Zorn?
 
 
 
Yan verfolgte aufmerksam jede Bewegung des Rominers. Bis dahin hatte er Vi’at nur für bestechlich, herablassend und engstirnig gehalten. Doch als er sah, mit welcher Sorgfalt der Mann Grigáns Verletzungen untersuchte, keimte die Hoffnung in ihm auf, dass er womöglich etwas von seinem Beruf verstand.
Der Kaulaner wusste nichts über die modischen Gepflogenheiten der Rominer, staunte aber nicht wenig über die Aufmachung seines Gegenübers. Der Mann trug einen kleinen, flachen Hut, der lediglich aus zwei zusammengenähten Stofflagen bestand und mit einer dünnen Schnur unter dem Kinn festgebunden wurde. Schutz vor der Witterung bot diese Kopfbedeckung jedenfalls nicht, denn der Heiler war nass bis auf die Haut. Er legte den Hut auf einem Stuhl ab, genau wie seinen grünen, mit einem Rosenmuster bestickten Kaftan.
Verwundert stellte Yan fest, dass auch sein übriges Gewand grün und mit Rosen bestickt war. In Romin pflegte man sich offenbar etwas exzentrisch zu kleiden. Neugierig, wie er war, kamen ihm sofort einige Fragen in den Sinn, aber die Antworten konnten warten. Im Augenblick ging es nur um eins: um Grigáns Gesundheit.
»Wie lange ist er schon ohnmächtig?«
»Seit gestern Nacht«, antwortete Yan beklommen. »Manchmal bewegt er sich ein wenig, aber immer nur für kurze Zeit. Und jetzt hat er sich schon seit einigen Dekanten nicht mehr gerührt.«
»Verstehe.«
Der Heiler sah sich die Verbände an, die sie dem Krieger angelegt hatten. Er hatte ihn noch nicht berührt, und er hatte auch noch nichts aus seiner schweren Ledertasche geholt, die er zur Othenor mitgeschleppt hatte. Mit jedem Augenblick, der tatenlos verstrich, schmolzen Yans Hoffnungen dahin.
»Glaubt Ihr, dass es ernst ist?«, brachte er schließlich mit Mühe hervor.
»Kommt ganz darauf an«, lautete die nüchterne Antwort. »Ich habe von den Ratten der Guori gehört. Es sind Fariksratten. Sie stammen aus den Ländern des Ostens. Manche dieser Tiere, so heißt es, sind mit einer seltsamen Seuche infiziert, der sogenannten Farikskrankheit. Sie versetzt die befallenen Ratten für einige Monde in Raserei. Die Tiere beißen ihre Artgenossen tot, um sich Nahrung, Paarungspartner und anderes, was für das Überleben in freier Wildbahn nötig ist, zu sichern. Aber die Krankheit verläuft in jedem Fall tödlich.«
Yan wartete geduldig darauf, dass der Heiler seine Ausführungen fortsetzte, doch er wurde enttäuscht. Vi’at vertiefte sich wieder in die Betrachtung der noch unverbundenen Wunden, wobei er sich keine Mühe machte, seinen Ekel zu verbergen. Yan bemerkte, dass er sich immer noch nicht traute, den Krieger zu berühren. Das war eindeutig kein gutes Zeichen.
»Und weiter?«, hakte er nach. »Glaubt Ihr, dass die Ratten die Krankheit auch auf Menschen übertragen können?«
»O ja, das können sie. Welche Folgen das hat, kann ich allerdings nicht sagen. Diese Krankheit habe ich noch nie behandelt. Ich kann seine Wunden reinigen, den Schmerz lindern, für einen ruhigeren Schlaf sorgen. Mehr steht nicht in meiner Macht. Alles Übrige …« Er winkte verächtlich ab.
»Dann tut wenigstens das«, flehte Yan. »Lasst uns anfangen. Wie kann ich Euch helfen?«
»Zuerst nehmen wir ihm diese Verbände ab. Ich habe verschiedene Salben, mit denen ich die Wunden bestreichen werde, damit sie besser verheilen und sich nicht entzünden, wenn es nicht schon zu spät ist.«
Yan machte sich sofort ans Werk und entfernte behutsam die Tücher, mit denen Corenn und Lana die Beine des Kriegers verbunden hatten, die besonders schlimm zugerichtet waren. Vi’at nahm sich die Hände und Arme vor, wobei er weitaus weniger sanft verfuhr.
Der Heiler hatte kaum den ersten Griff getan, als Grigán hochfuhr und ihn jäh am Handgelenk packte. Mit einem Aufschrei starrte Vi’at in die vom Fieberwahn glänzenden Augen des Kriegers. Dann sackte der Kranke genauso unvermittelt wieder in sich zusammen.
»Er leidet an der Farikskrankheit!«, stammelte der Heiler und wich hastig zurück. »Er hat sich in einen rasenden Irren verwandelt!«
»Keine Sorge«, beschwichtigte ihn Yan, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. »Im Grunde ist das ein gutes Zeichen. So benimmt er sich sonst immer.«
Rey und Léti stürzten wie aufgescheuchte Stehschläfer ins Zimmer. Mit gezogenen Rapieren gingen sie geradewegs auf Vi’at zu.
»Was ist hier los?«, fragte Rey scharf. »Hat der Kerl schon wieder eine falsche Bewegung gemacht?«
»Grigán hat ihn am Handgelenk gepackt!«, rief Yan. »Fast hätte er nach seinem Krummschwert verlangt!«
Léti und Rey sahen sich an und fielen einander in die Arme. Yans Lächeln gefror. Doch dieser Hoffnungsschimmer stimmte ihn so froh, dass er seine Eifersucht gleich wieder vergaß. Léti und Rey wandten sich dem Rominer zu und gratulierten ihm überschwänglich, bevor sie das Feld räumten.
Mit höchster Vorsicht machte sich Vi’at wieder an die Arbeit. Ihm war ganz und gar nicht daran gelegen, diesen wild dreinblickenden Ramgrith noch einmal aufzuwecken.
War er etwa der Einzige auf diesem Schiff, der seine sieben Sinne beisammenhatte?
 
 
 
Obwohl sie seit dem Vortag kein Auge zugetan hatte, fand Corenn keinen Schlaf. So hatte sie angeboten, an Grigáns Seite zu wachen, auch wenn Yan ihr diese Aufgabe nur widerstrebend überließ. Doch der junge Mann hatte dringend Ruhe nötig, mehr noch als alle anderen.
Der Heiler hatte sein Bestes gegeben. Jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten und zu hoffen. So wachte Corenn allein in der Dunkelheit, lauschte dem gleichmäßigen Atem des kranken Freundes und ließ ihre Gedanken schweifen.
Es war der Quint der Dekade der Heimstatt, der Tag der Frauen. Im ganzen Matriarchat wurden die letzten Dekanten dieses Tages mit einem Fest begangen. Die letzten Momente vor dem Anbruch der Jahreszeit der Erde. Die letzten Vorbereitungen vor der großen Kälte. Die letzten Arbeiten im Freien, bevor der Winter eine Ruhepause einkehren ließ.
Ein ordentlicher Brennholzvorrat, ein gut gefüllter Keller und ein festes Dach über dem Kopf, diese einfachen Freuden waren Corenn schon immer wichtig gewesen. Dabei wohnte sie selbst seit vielen Jahren im Großen Haus und hatte noch nie Not gelitten. Als Mutter der Tradition und Mitglied im Ständigen Rat hatte sie von Anfang an dafür gekämpft, dass alle anderen ebenso gut versorgt waren. Und sie hatte viel erreicht.
Nun war wohl eine andere mit dieser Aufgabe betraut. Beinahe fünf Dekaden waren vergangen, seit sie Kaul verlassen hatte. Nach so langer Zeit hatte man sicher die Hoffnung aufgegeben, dass sie noch lebte. Vielleicht war ihr Arbeitszimmer schon leer geräumt. Vielleicht sogar ihre Privatgemächer.
Die Dekade der Heimstatt … Sie hatte keine Heimstatt mehr. Und sie würde keine mehr haben, solange Saat die Gildenbrüder, die Züu und einen todbringenden Dämon auf sie hetzte. Sie würde keine mehr haben, bevor ihre Suche nicht zu Ende war.
Doch welche Aussichten hatten sie ohne Grigán?
Außerdem … Was hatte das alles für einen Sinn, ohne Grigán?
Sie ergriff die Hand des Kriegers und hielt sie fest umklammert. Vor den anderen hätte sie sich dazu niemals hinreißen lassen. Sie durfte weder Schwäche noch Mutlosigkeit zeigen. Dabei hätte sie selbst ein wenig Zuspruch so bitter nötig …
»Ihr dürft nicht aufgeben, Meister Grigán«, flüsterte sie. »Wir brauchen Euch. Ich brauche Euch.«
Grigán streichelte Corenns Finger mit dem Daumen. Die Ratsfrau erfuhr nie, ob die Bewegung nur ein Reflex war oder ob er sie tatsächlich gehört hatte. Lange wagte sie sich nicht zu rühren.
 
 
 
Auf dem Weg in die Kombüse der Othenor stieß sich Yan zweimal den Kopf und wäre beinahe auf der Treppe gestolpert. Dass er eine sehr schlechte Nacht verbracht hatte, war noch gelinde ausgedrückt. Er hatte eine grauenvolle Nacht verbracht. Zwar hatte er noch nie so viel Alkohol getrunken, dass ihm davon übel wurde, aber so wie er sich gerade fühlte, konnte er sich diesen Zustand ziemlich gut vorstellen.
Als er die Tür zur Kombüse aufstieß, brach das Gelächter, das bis zu seiner Hängematte gedrungen war, unvermittelt ab. Auch wenn er sich denken konnte, dass er nicht unbedingt aussah wie das blühende Leben, begriff er nicht, warum ihn seine um den Esstisch versammelten Freunde so überrascht anstarrten. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Yans Gedanken kreisten noch immer um den allwissenden Gott und seine Weltuntergangsprophezeiungen. Er konnte ihren Worten nur mit Mühe folgen.
»Yan, dein Haar!«
»Was ist?«
»Es ist weiß geworden!«
Er ließ es sich mehrmals versichern, bevor er sich auf die Suche nach einem Spiegel machte. Kaum hatte er den Raum verlassen, erklang wieder munteres Lachen. Trotz seiner Benommenheit fand Yan die Reaktion seiner Freunde etwas herzlos. Falls ihre Behauptung stimmte, war das nicht besonders lustig, und wenn sie gelogen war, hatten sie sich einen reichlich merkwürdigen Streich ausgedacht …
Er erinnerte sich, in der Kapitänskabine einen Spiegel gesehen zu haben, und tappte mit unsicheren Schritten hin. Als er fündig geworden war, betrachtete er sein Gesicht. Tatsächlich hatte die Haarsträhne, die ihm immer in die Stirn fiel, alle Farbe verloren. Unbeholfen legte er den Handspiegel zurück. Verunstaltet war er dadurch nicht, das Ganze war ihm so egal wie der pelzige Hintern eines Margolins. Ihn bedrückten andere, viel schwerwiegendere Dinge. Was war es doch gleich?
Er fuhr herum, starrte auf Grigáns Krankenlager und war mit einem Schlag hellwach. Diesmal stolperte er nicht, als er in die Kombüse lief und mit ein paar Sätzen das Zimmer durchquerte, um Grigán, der gesund und munter wirkte, unter dem Beifall seiner Freunde um den Hals zu fallen.
»Ihr seid geheilt! Ihr seid geheilt!«, rief er immer wieder mit Tränen in den Augen.
»Ehrlich gesagt, ich leide Todesqualen. Du musst mich nicht gleich erdrücken.«
Grigán gab sich hart, doch seine Miene verriet, wie sehr er sich freute. Er konnte die anderen nicht täuschen. Sie kannten seine Art.
Yan ließ den Blick über seine Freunde wandern, die sich um den Tisch versammelt hatten. Sechs Erben. Und er selbst. Noch hatte keiner von ihnen sein Leben gelassen. Solange sie zusammen waren, würden sie es mit allem und jedem aufnehmen. Komme, was wolle.
»Haben deine weißen Haare etwas damit zu tun, dass du ihm den Schnurrbart abrasiert hast?«, scherzte Rey und löste damit erneut schallendes Gelächter aus.
»Wir mussten doch die Wunden im Gesicht versorgen«, erklärte Yan verlegen.
»Was?«, polterte Grigán mit gespielter Empörung. »Diese Schmach habe ich also dir zu verdanken? Léti, bring mir mein Schwert, aber schnell!«
»Ärgert Euch nicht«, sagte Corenn, als sich das Gelächter legte. »So wirkt Ihr weniger streng.«
»Aber er ist doch streng!«, spottete Rey.
So ging es noch eine Weile munter hin und her, während sich die Anspannung der letzten Tage allmählich löste. Schließlich erklärte Grigán, dass er müde sei, und zog sich in seine Kajüte zurück. Ohne sein Schwert und die schwarze Lederkluft sah man dem von Wunden gezeichneten Krieger an, wer er tatsächlich war: ein gealterter Kämpfer, ausgezehrt von über zwanzig Jahren auf der Flucht.
Yan bestand darauf, ihn zu begleiten. Grigán protestierte zunächst, aber dann überlegte er es sich anders, denn ihm fiel plötzlich ein, dass er eine wichtige Frage loswerden musste.
»Yan … Weißt du, wer unser Feind ist?«
Der Junge bezweifelte, dass der Zeitpunkt günstig war. Aber der Krieger würde sicher nicht zu Bett gehen, bevor er es erfahren hatte. »Es ist Saat. Der Gesandte aus Goran. Er lebt noch.«
Grigán machte schon den Mund auf, um die nächste Frage zu stellen, doch dann hielt er inne und dachte kurz nach. Sein Blick fiel auf die weiße Strähne des Jungen, und er gab sich einen Ruck. »Und Usuls Fluch, von dem die Rede war? Das übermenschliche Wissen?«
Yan sah das erschöpfte Gesicht Grigáns, seinen zerschundenen Körper und die Sorgen, die er sich um andere machte, während er doch selbst am Ende seiner Kräfte war.
Usul hatte Yan prophezeit, dass Grigán noch vor Ablauf eines Jahres sterben werde.
»Es gibt keinen Fluch«, sagte Yan mit gespielter Fröhlichkeit. »Alles bestens. Wir werden diesen Saat schon finden, stimmt’s?«
»Ich bin dabei«, sagte der Krieger mit grimmigem Lächeln und zwinkerte ihm zu.
Er drehte sich zur Seite und schlief sofort ein. Yan kehrte in die Kombüse zurück und lauschte der ausgelassenen Unterhaltung seiner Freunde. So aufregend ihm dieses Abenteuer bislang erschienen war, nun sah er es wie seine Gefährten: als qualvolle Prüfung.
 
 
 
Da Grigán noch zu schwach auf den Beinen war, beschlossen sie, den Wasserweg nach Romin zu nehmen. Zunächst würden sie an der Küste der Provinz Helanien entlang bis zur Mündung der Urae segeln. Von dort aus ginge es dann flussaufwärts bis zur Hauptstadt des Alten Landes. Alles in allem würde die Reise nicht länger als drei Tage dauern.
Corenns Hoffnungen – und damit auch die ihrer Gefährten – ruhten auf der Königlichen Bibliothek von Romin, besser bekannt als Bibliothek des Tiefen Turms, in der es der Legende nach seit Jahrhunderten spukte. Die Legende besagte außerdem, dass ihre Mauern das gesamte Wissen der Menschheit in sich bargen. Nur hier konnten die Erben hoffen, überhaupt irgendetwas über die Pforte von Ji, den Großen Sohonischen Bogen oder die anderen Pforten, deren Existenz sie nur vermuteten, in Erfahrung zu bringen. Ganz zu schweigen von Nol, der anderen Welt und dem Dämon Mog’lur.
Als Grigán kurz nach Mit-Tag aufwachte, stellte er erfreut fest, dass sich die Othenor bereits auf offener See befand. Die anderen nutzten die Gelegenheit, um Yan an sein Versprechen zu erinnern: Er sollte ihnen endlich von seinem Gespräch mit Usul erzählen. Yan erkannte, dass er sich nicht länger davor drücken konnte, und begann seinen Bericht.
Bowbaq zitterte, als ihm klar wurde, dass Yan beinahe ertrunken wäre. Léti erschauerte bei der Beschreibung des Hais. Lana dachte ehrfürchtig daran, dass der Junge mit einem Gott gesprochen hatte. Nachdem sie ihr ganzes Leben dem Glauben an Eurydis gewidmet hatte, ohne auch nur einen einzigen Beweis für ihre Existenz zu haben, machte dieses Erlebnis großen Eindruck auf sie.
Usul hatte Yan verraten, wo das Tagebuch von Maz Achem versteckt war. Es befand sich in Ith, im Geheimarchiv des Großen Tempels. Als sie das hörte, hätte Lana beinahe losgeweint. Vor Freude, weil sie nun sicher sein konnte, dass dieses Tagebuch, das ihnen viele Antworten liefern würde, tatsächlich existierte. Und vor Unmut, weil es sich die ganze Zeit unter ihren Füßen befunden hatte, ohne dass sie etwas davon geahnt hatte. Aber sie schluckte die Tränen hinunter, denn sie standen einer Maz nicht zu.
Einen Augenblick später weinte sie dann doch, als Yan verkündete, dass die Pforte ins Jal’karu führte.
»Die schwarzen Götter«, schluchzte sie. »Weise Eurydis! Unsere Vorfahren wurden den schwarzen Göttern ausgeliefert. Möge ihr Geist in Frieden ruhen.«
Rey legte der Priesterin seinen Arm um die Schultern, doch sie schob ihn sanft beiseite. Sie war eine Maz. Sie durfte kein Mitleid erregen, sondern musste mit gutem Beispiel vorangehen und die drei Tugenden der Weisen vertreten: Wissen, Toleranz, Frieden.
»Er hat auch von Jal’dara gesprochen«, fügte Yan hinzu, um Lana zu trösten. »Sagt Euch das etwas?«
»Nein«, erwiderte die Priesterin entschuldigend, während sie sich die Tränen trocknete. »Diesen Namen habe ich noch nie gehört. Bestimmt ist damit dasselbe gemeint.«
»Vielleicht auch nicht«, sagte Corenn leise.
»Natürlich ist es dasselbe«, mischte sich Rey ein. »Die Pforte führt ins Jal’karu. ›Das Land, in dem die Dämonen geboren werden und aufwachsen‹, wie es Lana ausgedrückt hat. Sonst gibt es dort nichts.«
»Das Jal’dara beschreibt vielleicht eine andere Ebene … Eine spirituelle Interpretation …«
»Wie kann ein Ort gleichzeitig zwei verschiedene Orte sein?«, fragte Bowbaq.
Niemand antwortete. Für ihre Theorien gab es keinerlei Anhaltspunkte, und diese Vermutungen überstiegen ihr Verständnis bei weitem. Nur Lana glaubte Corenns Gedankengang zu erahnen, doch die Diskussion erübrigte sich, solange sie nicht mehr darüber erfuhren.
»Wenn wir schon wissen, woran wir sind, was wollen wir dann noch in Romin?«, fragte Rey. »Es wäre doch nur logisch, direkt nach Ith zu reisen und das Tagebuch von Achem zu holen.«
»Romin liegt nur zwei Tagesreisen entfernt. Nach Ith brauchen wir mehr als zwei Dekaden, ganz davon abgesehen, dass unser Schiff die Strecke nicht schaffen würde. Wenn wir schon den Landweg nehmen müssen, können wir genauso gut einen kleinen Umweg machen. Darauf kommt es nun auch nicht mehr an.«
»Na gut, Corenn, Ihr habt wieder einmal recht. Sonst noch irgendwelche guten Neuigkeiten, Yan?«
Usul hatte ihm Grigáns Tod vorausgesagt. Er hatte von einem entsetzlichen Krieg gesprochen, der die Oberen Königreiche verwüsten würde, vom Untergang der größten Zivilisationen der bekannten Welt, und all das noch vor Ablauf eines Jahres.
Andererseits spielte Usul mit der Zukunft. Indem er sie preisgab, versetzte er sie in Bewegung. Alles, was der Gott prophezeit hatte, würde Yan durch den verzweifelten Versuch, dieses Schicksal zu verhindern, nur noch schneller herbeiführen, während er durch den Versuch, es wahr zu machen, alles verändern könnte. In jedem Fall war die Zukunft ungewiss. Usul fand das unterhaltsam. Yan hingegen litt darunter – und würde weiter leiden.
Der Gott hatte auch seinen Bund mit Léti vorhergesagt. Nichts wünschte er sich sehnlicher – aber wie sollte er sich verhalten? Er hatte sich seither jedes Wort und jeden Schritt zweimal überlegt und angestrengt versucht, sich nichts anmerken zu lassen. War das die beste Lösung? Was sollte er tun? Sollte er versuchen, die Zukunft um jeden Preis zu verändern, selbst auf die Gefahr hin, alles zu verschlimmern?
Oder sollte er sich der Verantwortung entziehen und darauf hoffen, dass sich alles von selbst einrenken würde? Usul hatte recht. Wer nichts tut, tut damit auch schon etwas.
»Yan? Hast du gehört?«
»Ja, Rey. Ich habe Euch alles gesagt. Ihr wisst so viel wie ich.«
Nur in einem war er sich absolut sicher. Es würde nichts nützen, den Fluch an seine Freunde weiterzugeben. Diesen inneren Dämon würde er allein bezwingen müssen.
 
 
 
Die zweitägige Reise verging wie im Flug. Um sich abzulenken, nutzte Yan die freie Zeit für magische Übungen. Eine Münze umfallen zu lassen, bereitete ihm mittlerweile keine Mühe mehr, es war schon fast ein Kinderspiel. Also konzentrierte er sich darauf, sie aufzurichten, wenn sie flach auf dem Boden lag. Er legte sie immer wieder hin und hob sie erneut auf, allein durch die Kraft seines Willens. Nach zwei Tagen stand sein Rekord bei vierzehn Mal in Folge. Er hörte nur auf, weil er den Rückschlag fürchtete: die Reglosigkeit, wie Corenn das Gefühl der Benommenheit nannte, das einen Magier nach der Entfesselung seines Willens ergriff.
Yan musste ohne die Ratsfrau üben, denn diese verbrachte viel Zeit am Bett des Kranken, auch wenn Grigán inzwischen häufiger an Deck als in seiner Koje anzutreffen war. Der Krieger wollte beweisen, dass er vollständig genesen war, und hatte zu diesem Zweck wieder seine schwarze Kluft angezogen. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass Corenn die Einzelteile seiner groben Lederrüstung geflickt und neu zusammengenäht hatte. Er war es nicht gewohnt, dass man sich um ihn kümmerte, und zu Létis Belustigung stürzte ihn diese Fürsorge in tiefe Verlegenheit.
Léti und Bowbaq widmeten sich in diesen zwei Tagen dem Kätzchen Frosch. Da er die Fähigkeiten eines Erjak besaß, hatte sich der Riese vorgenommen, das Tier durch enge Freundschaft an Léti zu binden, so wie er es schon mit seinem Löwen und seinem Pony getan hatte. Doch dieses Unterfangen erforderte ebenso viel Zeit wie Feingefühl. Zuallererst mussten sie das Vertrauen des Tiers gewinnen. Die bereits ausgewachsene Zwergkatze war kaum an den Umgang mit Menschen gewöhnt und ließ sich nur schwer dazu bewegen, ihnen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Irgendwann musste sich Bowbaq eingestehen, dass er sein Versprechen nur mit großer Mühe würde halten können.
Lana gab Reys Bitten nach und begann, ihm die wichtigsten Werte der eurydischen Moral zu erläutern. Im Grunde interessierte sich ihr Schüler herzlich wenig für die Religion, und seine Wissbegier war nichts weiter als ein Vorwand, um so viel Zeit wie möglich mit der Maz zu verbringen. Er hörte ihren Ausführungen nur mit halbem Ohr zu, warf bei jeder Gelegenheit einen kleinen Scherz ein oder lockte sie mit einer persönlichen Frage aus der Reserve. Lana ließ sich davon nicht entmutigen, doch am zweiten Tag legte sie sittsam ihre religiöse Maske an. Rey sollte sich für Eurydis interessieren, nicht für ihre Priesterinnen.
»Ich würde Euch raten, die Maske abzunehmen«, sagte Grigán zu ihr, als das Schiff die Urae erreichte. »Wie Ihr sicher wisst, sind die Rominer den Itharern seit der Zeit der Zwei Reiche feindlich gesinnt. Daran hat sich nichts geändert.«
»In Mestebien habe ich davon nichts bemerkt«, sagte Lana ehrlich erstaunt.
»Mestebien liegt in Presdanien, Romin dagegen in Uranien. Wir betreten im Grunde ein neues Königreich. Die Kriege der Provinzen im letzten Äon sind den Leuten noch lebhaft in Erinnerung. Jeder romische Volksstamm hat seine eigene Identität, und jeder kämpft um seine Unabhängigkeit.«
»Dieses Land ist einfach zu alt«, sagte Rey. »Zu groß. Zu zersplittert. Seid Ihr schon einmal einem Jerusnier begegnet? Sie haben nichts mit den Händlern von Manive gemeinsam, das könnt Ihr mir glauben. Wenn Ihr mich fragt, so werden die Oberen Königreiche in der nächsten Generation fünf neue Länder hinzugewinnen – und eins verlieren.«
Die nächste Generation, dachte Yan bedrückt. Wer konnte wissen, ob die Oberen Königreiche auch nur das nächste Jahr erleben würden?
»Die Rominer können recht exzentrisch sein«, fuhr Grigán fort. »Und empfindlich. Vermeidet es also lieber, sie anzustarren.«
»Das klingt ganz nach Euch«, spöttelte Rey.
»Ihr habt den Nagel auf den Kopf getroffen. Angeblich fackeln sie nicht lange. Und soweit ich weiß, können sie auch die Lorelier nicht leiden.«
»Wie undankbar. Mir zu drohen, nach allem, was ich für Euch getan habe! Wäre da nicht diese stinkende Kloake, die man einen Fluss schimpft, würde ich sofort das Schiff verlassen, um meine Empörung kundzutun.«
Léti verzog das Gesicht, als sie sich diesen Sprung vorstellte. In der Tat war die Urae der dreckigste Fluss der bekannten Welt. Der Rumpf der Othenor