Das mach' ich doch mit links - Evelyn Sanders - E-Book

Das mach' ich doch mit links E-Book

Evelyn Sanders

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Beschreibung

Der Journalist Florian ist mit seiner kleinen Familie eigentlich recht glücklich. Doch dann soll er vorübergehend in das Haus seines Bruders ziehen, um dessen vierfachen Nachwuchs zu hüten. »Pah«, meint Florian, »das mach ich doch mit links!« Doch wie so oft im Leben stellt sich die Realität dann als ein klein bisschen komplizierter und fieser heraus, als gedacht …

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Evelyn Sanders

Das mach’ ich doch mit links

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Ein Brief mit KonsequenzenFrau Antonie ist dagegenDer LuxusschuppenFlorians ReformpläneMalventee mit saurer SahneDer HausdrachenPfefferminzlikör wirkt WunderTante KlärchenOsterspaziergangTeures SuppengrünMan wird nur einmal im Leben achtzehnWas heißt Tante auf Französisch?Pfingsten, das liebliche Fest …Endlich FerienJe früher der Morgen, desto schlimmer die Gäste»Wer? Ich?«Kehraus
[home]

Ein Brief mit Konsequenzen

Der Herr Professor hat geschrieben!«

»Dann ist entweder sein Telefon kaputt oder seine Sekretärin krank. Vermutlich beides.«

Misstrauisch nahm Florian den Brief in Empfang. Die steile Handschrift auf dem Umschlag war unverkennbar die seines Bruders: Raum füllend, kaum leserlich und bezeichnenderweise mit Bleistift hingeschmiert.

»Da muss irgendetwas passiert sein, sonst hätte Fabian seine kostbare Zeit nicht für einen simplen Brief geopfert. Das letzte Mal hat er sich schriftlich gemeldet, als Julia geboren wurde. Und das ist immerhin fünf Jahre her.«

»Nun mach doch schon auf!«, befahl Tinchen ungeduldig. Sie mochte ihren Schwager zwar nicht besonders, ihre Schwägerin noch weniger, beide waren genauso staubtrocken wie die Mumien, mit denen sie sich in ihrer Eigenschaft als Archäologen befassten, aber Neugierde war nun einmal Tinchen hervorstechendste Eigenschaft, und wenn der überbeschäftigte Professor Bender seinem kleinen Bruder einen Brief schrieb, dann musste es sich um etwas Wichtiges handeln.

Mit dem Finger schlitzte Florian den Umschlag auf und zog einen eng mit Maschine beschrifteten Bogen heraus.

»Hat ja doch seine Sekretärin getippt«, meinte Tinchen enttäuscht. »Wahrscheinlich ist es bloß wieder die Kopie seines nächsten Referats. Ewig dieses langweilige Geschwafel! Wer außer ihm interessiert sich schon für eingemachte Könige?«

Inzwischen hatte Florian die ersten Zeilen überflogen. »Diesmal ist es ein richtiger Brief.«

»Aber ein diktierter«, widersprach Tinchen. »Das MA da oben heißt ja wohl Mahlke und nicht Mittelalter, obwohl es auf diese vertrocknete alte Schachtel auch zutreffen würde, die sich Sekretärin nennt und nicht mal die Kommaregeln kennt. Siehste, hier hat sie schon wieder eins ausgelassen!« Tinchen tippte auf die fragliche Zeile.

»Wenn auf ›und‹ ein vollständiger Hauptsatz folgt, muss man ein Komma setzen.« Stirnrunzelnd las sie weiter. »Was soll das überhaupt heißen: ›Und deshalb haben wir ein Attentat auf Euch vor‹? Sollen wir etwa wieder diesen grässlichen Papagei in Pflege nehmen? Kommt nicht in Frage! Das letzte Mal hat Tobias sein Repertoire an Kraftausdrücken verdoppelt, und ich wurde in die Schule zitiert, weil seine Lehrerin wissen wollte, wo er diese ganzen Schimpfwörter aufgegabelt hat.«

»Jetzt lass mich doch erst einmal zu Ende lesen, ich weiß ja selbst noch nicht, worum es geht. Du solltest lieber mal in der Küche nachsehen, ich glaube, das Wasser brennt an.« Schnuppernd zog er die Luft ein.

»Himmel, die Bratkartoffeln!«, schrie Tinchen und stürzte zur Tür hinaus. Sekunden später ein neuer Aufschrei: »Bist du verrückt geworden, Tobias? Du kannst doch nicht eine ganze Kanne Wasser über den Herd gießen!«

»Aber es hat doch alles gequalmt, Mami, und da habe ich gedacht, es brennt.«

»Mach bloß, dass du rauskommst, sonst brennt es gleich hinter deinen Ohren!« Angewidert betrachtete Tinchen die verkohlten Kartoffelscheiben, die in einer nicht weniger schwarzen Brühe schwammen.

»Das Essen ist hin«, stellte sie lakonisch fest. »Mach mal die Klotür auf, Julia!«

Während sie die unappetitlichen Überreste in die Toilette kippte, überschlug sie in Gedanken ihre Vorräte. »Wollt ihr lieber Pizza oder Ravioli?«

»Ravioli«, entschied ihr Sohn. »Pizza gab es erst vorgestern, als die Bohnensuppe so salzig war.«

»Ich kann aber auch Eierkuchen machen«, bot seine Mutter als Alternative an, »und das mit der versalzenen Suppe ist bloß deshalb passiert, weil Papi mal wieder den Deckel vom Salzstreuer nicht richtig zugeschraubt hatte.«

»Vorher ist ja nichts rausgekommen.« Florian hatte sich in der Tür aufgebaut und betrachtete kopfschüttelnd das Stillleben in der Toilette. »Jetzt spül endlich die Kartoffeln runter, am besten schmeißt du die verbrannte Pfanne gleich hinterher. Dann erübrigen sich wenigstens die Eierkuchen, die bei dir ja doch immer nach gerösteter Wellpappe schmecken, und dann mach in Gottes Namen die Raviolibüchsen auf. Aber nicht wieder mit dem Hammer! Die weiße Farbe reicht nicht mehr für einen neuen Anstrich.«

Schuldbewusst stellte Tinchen die verkohlte Pfanne auf den Herd zurück. »Kochen ist nun mal nicht meine starke Seite. Bei meiner Mutter habe ich doch bloß Diätrezepte mitgekriegt, und damit bekomme ich euch nicht satt.«

»Dafür fütterst du uns jetzt mit künstlichem Aroma, Kaliumnitrat, Benzoesäure und Glutamin«, sagte Florian, nachdem er das Etikett der Konservendose studiert hatte. »Gib mal den Büchsenöffner her!«

»Der ist abgebrochen, und ich habe vergessen, einen neuen zu kaufen. Aber das ist nicht so schlimm. Du musst erst mit dem Hammer und einem Nagel ein paar Löcher in den Rand schlagen, dann kann man den Deckel einfach mit der Kombizange hochziehen.«

»Ist das dein Patent?«

»Nein, das stammt aus Karstens Repertoire für Campingreisende.«

 

Florian machte sich an die Arbeit. Als er vor acht Jahren das Fräulein Ernestine Pabst zum Altar geführt und gelobt hatte, in guten wie in schlechten Tagen ein treusorgender Gatte zu sein, hatte er allerdings nicht geahnt, dass seine Sorge sich in erster Linie darin erschöpfen würde, seine kleine Familie vor dem Verhungern zu bewahren. Und das hatte nichts mit dem finanziellen Aspekt zu tun. Als Redakteur des Düsseldorfer Tageblatts verdiente er zwar keine Reichtümer, aber er hatte ein geregeltes Einkommen, das er durch gelegentliche Artikel über Kindererziehung für eine Fachzeitschrift noch aufstockte. Der Traum, ein ganzes Buch über dieses Thema zu schreiben und sich darin hauptsächlich mit der Psychologie von Teenagern zu befassen, musste er notgedrungen noch etwas zurückstellen. Seine bevorzugten, weil einzigen Studienobjekte in Gestalt seiner beiden Nachkommen hatten das erforderliche Alter noch nicht erreicht, und eine Abhandlung über das Phänomen, weshalb Kinder niemals um eine Regenpfütze herumgehen können, würde bestenfalls ein Kapitel des geplanten Buches füllen können. Also war Florian bestrebt, seinen Nachwuchs zunächst einmal vor den Folgen unzulänglicher Ernährung zu bewahren und das häufige Konservenfutter durch eigenen Kochkünste abzuwandeln. Die allerdings stammten noch aus seiner Junggesellenzeit und bestanden im Wesentlichen aus Variationen in Ei oder sehr gehaltvollen Soßen auf der Basis von Rotwein und Sherry. Sie schmeckten auch den Kindern, waren aber von Tinchen mit dem Hinweis auf den zunehmenden Jugendalkoholismus vom Speisezettel gestrichen worden.

Florian hatte Kochbücher angeschleppt. Größtenteils hatte es sich hierbei um Rezensionsexemplare gehandelt, die er lobend besprochen und dann in der häuslichen Küche aufgereiht hatte, aber viel genützt hatten auch sie nicht. Einmal musste er drei Tage hintereinander Risotto essen (»Da stand, dass man pro Person eine Tasse Reis nehmen soll, das hätte doch höchstens für zwei gereicht und nicht für vier«, hatte Tinchen hinterher behauptet.), ein anderes Mal hatte es eine halbe Woche lang täglich Nudelauflauf gegeben, weil sie die angegebenen Mengen großzügig aufgerundet hatte, und nun hatte Florian endlich beschlossen, seine Frau in einen Kochkurs für angehende Ehefrauen zu schicken. Der begann aber erst in zwei Wochen, außerdem fehlte noch Tinchens Einwilligung, die sich an der Beziehung »angehende Ehefrau« stieß, und bis der Kurs die ersten und hoffentlich genießbaren Ergebnisse zeitigen würde, kamen weiterhin Konserven oder kurz nach Ultimo auch mal tiefgefrorene Fertiggerichte auf den Tisch.

Natürlich hatte Florian damals gewusst, dass sein Tinchen vom Kochen keine Ahnung hatte. Woher denn auch? Sie hatte ihre Brötchen als Redaktionssekretärin verdient und später als Reiseleiterin in Italien, wohin er ihr im Urlaub nachgefahren war und sie noch rechtzeitig diesem eingebildeten Computermenschen ausgespannt hatte. Wie hatte der doch noch geheißen? Braun oder so ähnlich. Ach nein, Brandt war sein Name gewesen, Klaus Brandt aus Hannover. Ein geschniegelter Affe und eigentlich gar nicht der Typ Mann, auf den das damalige Tinchen Pabst geflogen wäre. Und trotzdem hätte sie sich beinahe mit diesem Menschen verlobt. Florian konnte das heute noch nicht begreifen. Zugegeben, er selbst war seinerzeit nur ein kleiner Lokalreporter gewesen, während dieser Brandt gerade seine Dissertation beendet hatte und sich wenig später den Doktorhut auf seine blonden Strähnen hätte stülpen können. Mehr verdient hatte er natürlich auch und eine Erbtante, die an der Riviera eine gutgehende Boutique besaß, aber deshalb heiratet man doch nicht gleich! Nun ja, er, Florian, hatte noch rechtzeitig dazwischenfunken und das Schlimmste verhindern können. Und damit Tinchen ihr spontanes Jawort auf dem Düsseldorfer Hauptbahnhof nicht doch wieder zurückziehen konnte – genau genommen hätte Florian ihr das nicht einmal verdenken können –, hatte er auf einer möglichst baldigen Hochzeit bestanden. Noch vor Weihnachten, obwohl seine Schwiegermutter den Frühling für eine passendere Jahreszeit (»Das Kind erkältet sich ja in dem dünnen Tüllkleidchen!«) und die fünf Monate bis dahin für eine weitaus schicklichere Frist gehalten hatte.

»Das gibt doch in der Nachbarschaft nur Gerede. Am Ende glauben die Leute noch, ihr müsst so schnell heiraten. Oder müsst ihr wirklich?«

Obgleich Tobias am 11. Oktober und somit nach genau zehn Monaten und sechs Tagen geboren wurde, war Frau Antonie Pabst ihre Zweifel nie ganz losgeworden. »Es hat auch schon Fälle gegeben, in denen Kinder übertragen worden sind«, hatte sie behauptet und gleich das passende Beispiel aus ihrem weitläufigen Bekanntenkreis zur Hand gehabt.

Unter diesen Umständen war es Tinchen nicht möglich gewesen, sich unter fachkundiger Anleitung die notwendigen Kenntnisse in Haushaltsführung anzueignen. Einen Säuglingskurs hatte sie besucht und Schwangerschaftsgymnastik betrieben, hatte sich von ihrer Mutter gesundheitsbewusst ernähren lassen und Florian mittags in die Kantine vom Pressehaus geschickt, aber der hatte dafür volles Verständnis aufgebracht. Wenn das Baby erst einmal da und die ersten kritischen Wochen überstanden sein würden, dann würde sich der Alltag normalisieren, und statt zäher Schnitzel würde Florian Sauerbraten mit Klößen und Pfeffersteaks vorgesetzt bekommen. Immerhin war seine Schwiegermutter eine respektable Köchin, auch wenn sie viel zu häufig ihren Diätfimmel bekam und die Familie mit Rohkostsalaten und kalorienarmen Hefesuppen traktierte. Geholfen hatten diese spartanischen Menüs allerdings nur dem Inhaber des Reformhauses, bei dem Frau Pabst die Zutaten kaufte, denn die jedes Jahr neu geeichte Badezimmerwaage hatte sich irgendwo an der 80-Kilo-Marke eingependelt und zeigte niemals auch nur die geringste Tendenz, nach unten auszuschlagen. Im Gegenteil. Tinchens Bruder Karsten, der trotz seiner sechsundzwanzig Jahre noch genauso dünn und schlaksig war wie damals, als Florian ihn kennen gelernt hatte, hatte erst unlängst ernüchternd festgestellt: »Da soll bloß einer behaupten, wir hätten keine Inflation. Was bei Mutti vor kurzem noch fünfundsiebzig Kilo waren, sind jetzt schon achtzig.«

Leider hatte Florian ziemlich schnell herausgefunden, dass Tinchen von den kulinarischen Talenten ihrer Mutter nicht das Geringste geerbt hatte. Dafür besaß sie andere Vorzüge, die bei ihm weitaus höher zu Buche schlugen. Sie hatte Humor, nahm nur ganz selten mal etwas übel, akzeptierte die manchmal recht unorthodoxe Lebensauffassung ihres Mannes und lehnte die pedantische Ordnungsliebe ihrer Mutter rundweg ab. »Bei ihr sieht’s immer aus wie in einem Möbelkatalog. Bei uns merkt man wenigstens, dass hier jemand wohnt«, behauptete sie jedes Mal, wenn Florian sich erst einen Weg bahnen musste durch Legosteine, Spielzeugautos, Hundeknochen und zerfledderte Zeitschriften.

»Kannst du das Zeug nicht trotzdem mal ein bisschen zusammensuchen?«

»Mach’ ich, wenn du endlich deinen Schrank aufräumst. Der ist so voll gestopft, dass die Motten darin niemals fliegen lernen werden.«

Nein, noch keine Sekunde hatte Florian bereut, dass er sein verrücktes, unpraktisches Tinchen geheiratet hatte, und das Kochen würde sie auch noch lernen. Mit ihren sechsunddreißig Jahren war sie schließlich noch keine alte Frau!

 

»Was hat der Fabian denn nun wirklich gewollt?«, fragte Tinchen und rührte mit dem Finger die Eiswürfel in ihrem Campariglas um. Sie hatte sich auf ihrem Lieblingsplatz, einem schon etwas ramponierten Ohrensessel mit Plüschbezug, zusammengerollt und genoss die Stille nach dem Sturm. Die Kinder waren endlich im Bett, die Fliesen im Bad halbwegs trockengelegt, die Winterolympiade war vorbei, und Florian hatte keinen Grund mehr, auch heute wieder vor der Röhre zu hängen. Zwar hatte er als Lokalredakteur mit Sport auch im weitesten Sinne nichts zu tun, aber nach seiner Ansicht musste er über aktuelle Ereignisse der übrigen Ressorts ebenfalls informiert sein, und welche andere Möglichkeit gab es da schon als den Fernsehapparat?

»Deine Zeitung«, hatte Tinchen geantwortet, aber Florian hatte abgewinkt. »Wer liest die denn schon? Ich bestimmt nicht.«

Stattdessen hockte er mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Schreibtischstuhl und sortierte Belege. Neben ihm lag ein Taschenkalender.

»Ich weiß nicht, wie das kommt, aber die meisten Rechnungen stammen alle von Wochenenden. Der Jerschke kauft mir doch nie ab, dass ich samstags und sonntags Spesen mache.«

»Und immer die gleichen! Zwei Bier und zwei Korn.«

Florian ließ seine Lesebrille auf die Nasenspitze rutschen und plierte zu Tinchen hinüber. »Du willst mir doch nicht etwa meinen Feierabendtrunk und meinen Frühschoppen ankreiden?«

»Nö, mir tut’s nur Leid um das schöne Geld. Du solltest es lieber in Steuern investieren. Die steigen bestimmt.«

Lachend knipste er die Schreibtischlampe aus und setzte sich auf Tinchens Sessellehne. »Du hast ja Recht, Tine, alles wird teurer. Heute kann einer allein schon genauso billig leben wie früher zwei.«

»Mhmm, und wenn ein Kind kam, sprach man von Zuwachs. Jetzt redet man von Abzugsposten. Auf deinem Nachttisch liegt übrigens wieder ein Brief vom Finanzamt.« Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf. »Du hast mir noch immer nicht gesagt, was in Fabians Brief steht.«

Er zog den zerknitterten Umschlag aus der Hosentasche. »Weiß ich selber nicht. Bevor ich fertig lesen konnte, kam ja deine Katastrophenmeldung aus der Küche.«

»Nun mecker doch nicht immer, wenn mir mal was danebengeht. Es ist ja schließlich meine erste Ehe.«

Mit gerunzelter Stirn überflog Florian den Brief. Zwischendurch schüttelte er immer wieder den Kopf. »Der Junge spinnt!«, verkündete er endlich. »Der will uns mieten.«

»Der will was?«

»Uns mieten! Mit Kind und Kegel. Und gleich für ein halbes Jahr.«

»Gib mal her!« Sie nahm ihm den Briefbogen aus der Hand, kuschelte sich wieder in ihre Ecke und begann halblaut zu lesen.

Lieber Florian,

wenn ich heute schriftlich und nicht nur telefonisch bei Dir melde, dann hat das einen sehr triftigen Grund, wie Du Dir denken kannst. Du brauchst Zeit, Dir meinen Vorschlag zu überlegen, und Ernestine muss ebenfalls einverstanden sein.

(Warum nennt der mich bloß immer Ernestine?, dachte Tinchen erbost. Kann er nicht Tina sagen wie die anderen auch, dieser überkorrekte Holzkopf?)

Vor einigen Wochen habe ich die Einladung bekommen, für ein halbes Jahr als Wissenschaftler und Gastdozent nach Amerika zu gehen, und zwar an die renommierte Universität Princeton. Du wirst Dir denken können, dass mich diese Aufgabe reizt, zumal die Einladung auch meine Frau einbezieht. Gisela hat in den letzten beiden Jahren auf dem Gebiet der Massenspektrumsanalyse bzw. der Aktivitätsmessung große Fortschritte gemacht und wird mir bei meiner Arbeit eine wesentliche Hilfe sein können.

(Massenspektrumsanalyse, was ist das überhaupt? Ich kann das nicht mal ohne Stottern aussprechen. Muss er uns denn dauernd seine geistige Überlegenheit beweisen?)

Nun haben wir allerdings ein Problem, für das sich noch keine befriedigende Lösung gefunden hat, und deshalb haben wir ein Attentat auf Euch vor. Während unserer Abwesenheit sollte eine vertrauenswürdige Person (resp. deren mehrere) das Haus bewohnen, sich um den Garten kümmern und auf diese Weise u.a. potenzielle Einbrecher von ihrem evtl. Vorhaben abbringen. Martha wird selbstverständlich auch hierbleiben, aber mit ihren nunmehr 72 Jahren kann ich ihr die ganze Verantwortung nicht mehr zumuten.

Des weiteren sollten die Kinder nicht gänzlich ohne Aufsicht sein. Wir können sie leider nicht mitnehmen in die Staaten, obwohl ich die Möglichkeit, ihren Gesichtskreis zu erweitern, gern wahrgenommen hätte, aber dem stehen triftige Gründe entgegen: Clemens befindet sich mitten im Vorphysikum und kann seine Studien jetzt nicht unterbrechen. Urban hat noch zehn Monate Wehrdienst vor sich, deren Ableistung sich nicht verschieben lässt, und Rüdiger wird in anderthalb Jahren sein Abitur machen. Ließe ich ihn von der Schule beurlauben, dann ginge ihm ein Jahr verloren, und das möchten weder er noch ich. Bleibt noch Melanie, die wir durchaus mitnehmen könnten, aber unbegreiflicherweise weigert sie sich. Sie möchte nicht als Einzige den Vorzug eines Auslandsaufenthalts genießen – eine Einstellung, die ihr soziales Verhalten unterstreicht und die ich deshalb nur akzeptieren kann.

Wie du weißt, lieber Florian, leben wir in recht guten finanziellen Verhältnissen, die sich dank meiner Berufung nach Amerika in Zukunft noch wesentlich verbessern werden. Aus diesem Grunde wäre ich auch bereit und in der Lage, unserem »Hausbesorger« ein entsprechendes Gehalt bei freier Station zu bieten. Dabei habe ich erster Linie an Dich gedacht. Auf Grund Deiner langjährigen Zugehörigkeit zum Redaktionsstab wird es Dir sicher möglich sein, Dich für sechs oder sieben Monate beurlauben zu lassen. Ich bin davon überzeugt, dass Du diese Zeit der Muße und bar der beruflichen Pflichten auf andere Weise produktiv nutzen könntest.

Sicher würde es auch für Deine Frau reizvoll sein, den Trubel der Großstadt vorübergehend gegen das ruhige und beschauliche Leben auf dem Land einzutauschen. Darüber hinaus hat Heidelberg, das mit dem Wagen in maximal zwanzig Minuten zu erreichen ist, kulturell nicht weniger zu bieten als etwa Düsseldorf. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass unsere beiden Autos hierbleiben und selbstverständlich zu Eurer Verfügung stehen. Auch Euren Kindern würde ein längerer Aufenthalt mitten im Grünen gut bekommen. Besonders Julia erschien mir bei meinem Besuch etwas blass, eine Tatsache, die wohl auf Mangel an frischer Luft zurückzuführen ist. Nun, darunter braucht sie bei uns nicht zu leiden, der große Garten ist speziell für die Kinder ein idealer Spielplatz.

Überlege Dir mein Angebot, Florian, aber Du müsstest Dich innerhalb der nächsten drei Wochen entscheiden. Wir sollen am 1. April unsere Arbeit in Princeton aufnehmen, möchten aber wenigstens vierzehn Tage vorher abreisen, um uns mit den dortigen Verhältnissen vertraut zu machen. Solltest Du wider Erwarten meinen Vorschlag ablehnen, so lass es mich baldmöglichst wissen, damit wir noch eine andere Lösung finden können.

Für heute verbleibe ich mit den

besten Grüßen, auch an Ernestine

und die Kinder,

Dein Bruder Fabian

»Mangel an frischer Luft!«, empörte sich Tinchen. »Ich möchte mal wissen, wie dein Bruder aussehen würde, wenn man ihm gerade die Mandeln rausgenommen hat! Aber der besitzt wahrscheinlich gar keine. Der ist ja schon ohne Fehl und Tadel auf die Welt gekommen.«

»Reg dich doch nicht über solche Kleinigkeiten auf! Sag mir lieber, was du von Fabians Vorschlag hältst.«

»Gar nichts!«, fauchte sie wütend. »Dienstmädchen spielen für eine Horde verzogener Halbstarker, die bloß Pullover mit dem Krokodil drauf tragen und in den Sommerferien nach Kenia fahren. Papa bezahlt’s ja!«

»Wenn du auf Clemens’ Urlaubsreise anspielst, dann musst du aber auch gerecht sein. Er ist von einem Freund eingeladen worden, weil dessen Vater dort unten ein deutsches Hotel leitet und den beiden ein Doppelzimmer kostenlos zur Verfügung gestellt hat. Den Flug hat er selber bezahlt und dafür drei Wochen auf dem Großmarkt gearbeitet.«

»Na schön. Aber Rüdiger hat sich eine unanständige Bräune auch nicht auf der heimischen Terrasse geholt. Der war in Portugal.«

»Dahin ist er getrampt. Und genächtigt hat er in einem Schlafsack am Strand. Ich weiß ja nicht, ob dir das vier Wochen lang gefallen würde.«

»Ich bin ja auch keine siebzehn mehr«, giftete sie zurück.

»Nein, du bist ein missgünstiges altes Weib, das sich vor der Verantwortung drücken will, seine schutzlose und zum Teil noch minderjährige Verwandtschaft unter seine Fittiche zu nehmen. Dabei würden wir das doch mit links machen«, sagte Florian und ging vorsichtshalber hinter dem Schreibtisch in Deckung. Aber die sonst übliche Attacke mit allen erreichbaren und nicht immer unzerbrechlichen Wurfgeschossen blieb aus. Tinchen hatte sich wieder in den Brief vertieft. »Klausdieter ist gar nicht erwähnt. Dürfen wir den etwa nicht mitnehmen?«

»Für Fabian ist ein Hund kein Familienmitglied, sondern bestenfalls ein Gegenstand, und Gegenstände führt man nicht extra auf. Natürlich kommt Klausdieter mit. Wer soll denn sonst den Garten umgraben?«

Klausdieter, das Produkt eines illegalen Schäferstündchens zwischen der edlen Dackeldame Mona von der Waldheide und einem Pudelmischling niederer Herkunft, war vor einem halben Jahr von seinen Besitzern heimlich ins Tierasyl abgeschoben worden, weil dieser so sichtbare Fehltritt den ganzen Stammbaum derer von der Waldheide ruiniert hätte. Anlässlich einer Reportage über vierbeinige Findlinge hatte Florian das kleine Häufchen Unglück entdeckt und kurzerhand mit nach Hause genommen. Ein vollwertiger Ersatz für den verstorbenen Hund Bommel, ebenfalls ein Findling, wenn auch italienischen Geblüts, war er zwar noch nicht, zeigte aber die besten Ansätze. Genau wie sein Vorgänger lehnte Klausdieter die artgemäße Fertignahrung ab und trat in einen mehrstündigen Hungerstreik, wenn er nicht das bekam, was sein Frauchen auch aß. Dass die Auswahl nicht groß war und meistens auch aus der Dose kam, störte ihn nicht. Allerdings bevorzugte er Ravioli einer ganz bestimmten Marke und hockte mit vorwurfsvollem Blick vor seinem Fressnapf, sobald Tinchen ihm ein anderes Produkt zumutete. Der Tierarzt bemängelte zwar ständig die unsachgemäße Ernährung, musste aber zugeben, dass der Hund kerngesund war, weder überfüttert noch neurotisch und deshalb keine nennenswerte Bereicherung seiner Patientenkartei darstellte.

Klausdieter liebte Mülleimer, Bettvorleger, saure Gurken, Kaninchenlöcher, wollene Pudelmützen, die er hingebungsvoll zerkaute, jede Art von Papier und Tee mit Rum; dagegen hasste er Staubsauger, den Tierarzt, Hundeleinen, Gewaschenwerden und Jeans.

»Da muss es irgendein Schlüsselerlebnis gegeben haben«, hatte Florian vermutet, nachdem Klausdieter das dritte Paar zerfetzt hatte. »Vielleicht hat er von seinem Peiniger bloß die Hosenbeine gesehen und assoziiert Jeans mit Prügeln.« Worauf die Familie Bender dem Hund zuliebe auf Cordhosen und ähnliche pflegeleichte Materialien umstieg und Klausdieters Zerstörungswut in andere Bahnen lenkte. Zurzeit bevorzugt er Pantoffeln und Tempotaschentücher.

»Ob er sich mit Willi verträgt?«, grübelte Tinchen.

Willi war Urbans Papagei, ein blauer Amazonas-Ara und letztes Glied eines langen Tauschhandels, der mal mit zwei alten Fahrradfelgen angefangen hatte. Sein Sprachschatz war ebenso groß wie unanständig, aber Urban hatte glaubhaft versichert, dass Willi dieses Repertoire bereits mitgebracht und nicht etwa erst bei ihm gelernt habe.

»Sollte dein Interesse für Detailfragen etwa bedeuten, dass du Fabians Vorschlag annimmst?«, fragte Florian hoffnungsvoll.

»Vorher müsste natürlich noch einiges geklärt werden, zum Beispiel, wie weit die Verantwortung geht. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Melanie nur aus Selbstlosigkeit zu Hause bleibt? Die wittert eine sturmfreie Bude, und ich kann ewig mit der Pille hinter ihr herrennen.«

»Das Kind ist erst sechzehn.«

»Das Kind ist schon sechzehn. Und weil die Halbwüchsigen außerdem zu alt sind für das, was die Kinder tun, aber zu jung für das, was die Erwachsenen tun, tun sie Dinge, die sonst niemand tut. Und die sind unberechenbar.« Tinchen rappelte sich aus ihrem Sessel hoch und hielt Florian das leere Glas entgegen. »Gib mir noch einen, und dann lass uns die ganze Geschichte mal durchrechnen.«

Sie ging zum Schreibtisch und fischte aus dem herumliegenden Durcheinander einen Zettel heraus. »Brauchst du den noch? Ist eine Quittung über drei Mark achtzig, also sowieso zu wenig. Außerdem hat sie zwei Fettflecke.«

»Das kann ich auch im Kopf«, behauptete Florian. »Die tausend Mark Haushaltsgeld pro Monat fallen weg, weil uns Fabian ernähren will. Das Auto wird geschont, wir brauchen keinen Strom und kein Heizöl zu bezahlen, und das Bier in der Dorfkneipe wird bestimmt auch billiger sein als hier.« Er sah sehnsüchtig zu dem blauen Schnellhefter hinüber, der auf dem Bücherregal lag und in dicken schwarzen Buchstaben die Aufschrift trug: »Psychologie der Jugendlichen zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig.«

»Hast du eigentlich schon daran gedacht, welche Möglichkeiten sich für mich eröffnen? Ein halbes Jahr lang kann ich mit vier Prachtexemplaren von Teens und Twens zusammenleben. Bessere Studienobjekte könnte ich mir gar nicht wünschen.«

»Das hört sich an, als ob du von weißen Mäusen sprichst.«

»Blödsinn! Überleg doch mal, Tinchen! Bis Tobias und Julia das richtige Alter erreicht haben, vergehen noch mindestens zehn Jahre. Da bin ich fünfzig, und ob ich dann noch die Nerven habe, ihr Verhalten unvoreingenommen zu beurteilen und zu interpretieren, weiß ich nicht. Außerdem steht man seinen eigenen Kindern sowieso nicht objektiv genug gegenüber.«

»Das stimmt!«, bestätigte seine Frau. »Wenn Tobias mal mit einer Zwei im Diktat nach Hause kommt, hältst du ihn schon für ein Genie.«

»Die Intelligenz hat er ja auch von mir.«

»Ich glaube schon«, sagte Tinchen trocken, »meine habe ich nämlich noch.« Sie stand auf und räumte die Gläser in die Küche. Mit einem Blick auf den seit Tagen tropfenden Wasserhahn rief sie über die Schulter: »Hast du den Klempner erreicht?«

»Ja«, tönte es zurück. »Er kommt um elf.«

»Morgen?«

»Den Tag hat er nicht gesagt.« Florian zog seine Lederjacke an und pflückte die Hundeleine vom Schlüsselbrett.

Der Hund schob die Schnauze über den Rand seines Körbchens und blinzelte schläfrig zu seinem Herrn empor, machte aber keine Anstalten, seine warme Behausung zu verlassen.

»Los, du Faultier, komm schon! Ich will auch ins Bett. Wenn du jetzt nicht deinen Stammbaum besuchst, pinkelst du heute Nacht wieder den Philodendron an, und du weißt genau, dass ich dann von deinem Frauchen eins aufs Dach kriege.«

Im Schneckentempo schob sich Klausdieter über den Flur. Er hatte nicht die geringste Lust, bei dieser Kälte spazieren zu gehen, nur weil Herrchen das so wollte. Bei solchem Wetter jagte man keinen Hund auf die Straße. Vorsichtig steckte er die Nase durch den Türspalt, zog sie aber sofort wieder zurück und stemmte sich mit allen vier Pfoten gegen die Zumutung, die warme Wohnung gegen die schneebedeckte Vorortstraße einzutauschen.

»Das ist gar kein richtiger Hund!« Florian schnappte sich das Tier und klemmte den sich heftig sträubenden Halbdackel unter seinen Arm. »Bommel ist ganz verrückt nach Schnee gewesen.«

»Der war auch größer und hing nicht immer mit dem Bauch im Kalten«, verteidigte Tinchen ihren geschmähten Liebling. »Und jetzt macht endlich, dass ihr rauskommt. Es zieht.«

Während Florian frierend im Hauseingang stand und darauf wartete, dass Klausdieter die ihm genehme Marschroute einschlug, überlegte er, dass ein Garten außer lästigem Rasenmähen auch unbestrittene Vorteile hatte. Fabians war sehr groß und hatte viele Büsche hinten am Zaun. Einer davon würde sich bestimmt als neuer Stammbaum eignen.

[home]

Frau Antonie ist dagegen

Guten Morgen, Herr Bender«, sagte Fräulein Fröhlich, als Florian das Vorzimmer zum Allerheiligsten betrat. »Herr Dr. Vogel ist nicht im Hause und wird auch vor dem frühen Abend nicht zurück sein. Ich kann Sie für morgen Vormittag vormerken, wenn es etwas Wichtiges ist.«

Im Gegensatz zu ihrem Namen zeigte Fräulein Fröhlich eine ausgesprochen sauertöpfische Miene, die durch das Pferdegesicht und die unkleidsame Frisur noch unterstrichen wurde. Portierszwiebel nannte Florian insgeheim den Dutt, um den das korrekte Fräulein Fröhlich stets ein dünnes Haarnetz trug, damit sich auch nicht ein Härchen selbstständig machen konnte. Innerhalb der Redaktion ging das Gerücht, Frau Vogel selber habe seinerzeit die Sekretärin für ihren Mann ausgesucht und von vornherein alle Bewerberinnen abgelehnt, die Nagellack benutzten, Miniröcke trugen und unter dreißig waren. Nichts von dem konnte man Fräulein Fröhlich nachsagen. Sie war bereits auf der falschen Seite der Dreißiger angekommen, bevorzugte Jackenkleider mit dreiviertellangen Röcken und hatte stets kurz geschnittene Fingernägel. Sie sah ungemein tüchtig aus und war es auch.

»Kein Wunder, dass der Chef so erfolgreich ist«, hatte Florian einem Kollegen gegenüber geäußert. »Er hat eine Frau, die ihm sagt, was er tun soll, und eine Sekretärin, die es tut.«

Nur beliebt war Fräulein Fröhlich nicht, aber das war ihr gleichgültig. Sie genoss das Vertrauen ihres Vorgesetzten, wurde von dessen Gattin regelmäßig am zweiten Sonntag im Dezember zum Adventskaffee eingeladen und bekam alle drei Jahre Gehaltserhöhung. Morgens war sie fast immer die Erste im Büro, und abends häufig die Letzte, wie sie es für ihre Pflicht hielt, auch das pünktliche Kommen der Besenbrigade zu überwachen. Deshalb verwaltete sie neben vielem anderen auch noch die Schlüssel der Gerätekammer.

»Ein Privatleben scheint die überhaupt nicht zu kennen«, hatte Gerlach, der Gerichtsreporter, vermutet, und Florian hatte geantwortet: »Was den meisten als Tugend erscheint, ist um die vierzig herum nichts anderes als Mangel an Gelegenheit.«

Nein, beliebt war die Chefsekretärin keineswegs, aber eben sehr tüchtig und folglich unkündbar. So hämmerte sie noch jetzt minutenlang auf ihre Maschine ein, bevor sie wieder den Kopf hob und Florian fragend ansah. »Ich sagte Ihnen bereits, dass Herr Dr. Vogel nicht da ist.«

»Das habe ich auch zur Kenntnis genommen«, erwiderte Florian freundlich. »Sie sagten aber auch, er käme noch heute zurück, und dann hätte ich ihn gern gesprochen. Es handelt sich in der Tat um etwas sehr Wichtiges.«

»Was kann bei Ihnen schon wichtig sein!« Die Lokalredaktion rangierte bei Fräulein Fröhlich ganz unten, obwohl sie für die Leser des Tageblatts zu den wichtigsten Ressorts gehörte. Immerhin war sie für alle gesellschaftlichen Veranstaltungen zuständig, also für den Brieftaubenwettbewerb genauso wie für Rockkonzerte – Dr. Laritz hatte sich bisher immer geweigert, die dort verursachten Geräusche als Musik zu bezeichnen und ihnen einen angemessenen Platz in seinem Kulturteil einzuräumen –, aber da sich der Chefredakteur nur in Ausnahmefällen um die Lokalseiten seiner Zeitung kümmerte, interessierte sich auch Fräulein Fröhlich nicht dafür. Außerdem hatte die Lokalredaktion die meisten freien Mitarbeiter, von denen viele stundenlang im Schreibsaal herumhingen und ihre Zwölf-Zeilen-Meldungen zusammenschmierten, häufig unrasiert, aber immer sehr geräuschvoll und sehr vorlaut – nein, mit dieser Spezies Mensch wollte Fräulein Fröhlich so wenig wie möglich zu tun haben. Und mit dem Häuptling des ganzen Vereins schon überhaupt nicht.

»Was wichtig ist und was nicht, überlassen Sie bitte mir«, sagte Florian patzig. »Außerdem ist es privat.«

»Wenn Sie schon wieder Vorschuss brauchen, dann muss ich Sie enttäuschen. Herr Jerschke hat erst kürzlich die Anweisung gegeben, dass Vorschüsse von ihm selbst …«

»Ich habe in den letzten drei Monaten keinen Vorschuss gebraucht und werde auch in Zukunft keinen brauchen!«, unterbrach Florian die Stimme seines Herrn. »Ich möchte lediglich den Sperling … äh, den Dr. Vogel sprechen, und zwar noch heute.«

Vorsorglich überhörte Fräulein Fröhlich den hausinternen Spitznamen ihres Chefs und blätterte gelangweilt im Terminkalender. »So gegen halb acht könnte ich für Sie ein paar Minuten einschieben«, gestattete sie gnädig und kritzelte eine entsprechende Notiz aufs Papier, »aber wahrscheinlich werden Sie warten müssen. Dr. Vogel hat vorher eine Besprechung mit dem Verleger.«

»Ich warte gern«, versicherte Florian, »ganz besonders in Ihrer Gesellschaft.«

Bevor sie überlegt hatte, ob es sich nun um eine Anzüglichkeit oder um eins der seltenen Komplimente handelte, die man ihr gönnte, war Florian schon zur Tür hinaus.

Vergnügt pfiff er vor sich hin, während er über den langen Flur stapfte. Er würde heute Abend bestimmt nicht warten müssen. Es war allgemein bekannt, dass der Herr Verleger niemals später als neunzehn Uhr fünfzehn das Haus verließ, um pünktlich zum Beginn der Tagesschau in Meerbusch vor dem Bildschirm zu sitzen. Dort notierte er die ihm wichtig erscheinenden Meldungen und prüfte am nächsten Morgen, ob sie auch die gebührende Würdigung in seiner Zeitung gefunden hatten. Da das fast immer der Fall war, herrschte zwischen ihm, dem Chefredakteur und Herrn Dr. Mahlmann, seines Zeichens Leiter der Politik, bestes Einvernehmen. Allerdings ahnte er nicht, dass seine Frau jeden Abend das Notizblatt vom Schreibtisch nahm, von der Küche aus ein kurzes Telefongespräch mit der Redaktion führte und den Zettel anschließend wieder zurücklegte. So war der häusliche Friede gesichert, der ohnehin zu hohe Blutdruck ihres Mannes nicht zusätzlich gefährdet, und die Jungs im Pressehaus brauchten sich nicht unnütz den Kopf zu zerbrechen. Es waren doch alles so reizende Leute! Niemals vergaßen sie, zu ihrem Geburtstag Blumen zu schicken, und der Präsentkorb zum 40. Hochzeitstag im vergangenen Jahr musste ein Vermögen gekostet haben.

Als er sein kleines und äußerst spartanisch eingerichtetes Büro betrat, konnte Florian vor lauter Rauchschwaden nichts erkennen – nur vermuten. »Jetzt habe ich dein Zeilenhonorar schon zum dritten Mal erhöht, und noch immer qualmst du diesen billigen Knaster. Der legendäre russische Machorka kann auch nicht schlimmer sein.« Er tastete sich zum Fenster durch und öffnete beide Flügel. »Du kriegst Hausverbot, wenn du weiterhin deine alten Matratzen in die Pfeife stopfst!«

»Die sind immer noch gesünder als deine namenlosen Glimmstängel«, verteidigte sich Peter Gerlach, klopfte aber dennoch seine Pfeife aus und steckte sie in die Tasche. »Wieso bist du schon hier? Du kommst doch sonst nie vor zehn. Und ich hatte geglaubt, hier in Ruhe meinen Bericht fertig pinnen zu können. Nicht mal auf deine Unpünktlichkeit ist mehr Verlass.«

Offiziell war Gerlach Gerichtsreporter, schrieb aber unter einem Pseudonym die wöchentliche Klatschspalte, wer wo mit wem und wann, kannte Gott und die Welt und kam Florian im Augenblick wie gerufen.

»Sag mal, Peter, weißt du nicht jemanden, der eine möblierte Wohnung mieten möchte?«

»Nee«, erklärte der rundheraus. Und dann: »Warum? Ist einer aus der Verwandtschaft gestorben?«

»Das nicht gerade, aber ich kenne jemanden, der seine Wohnung ein halbes Jahr lang nicht braucht und sie deshalb komplett vermieten will.«

»Muss der in den Knast?«

»Kannst du nicht ausnahmsweise in normalen Bahnen denken?«, lachte Florian. »Es gibt doch auch noch andere Gründe, weshalb ein Mensch vorübergehend seine Wohnung nicht benutzt.«

»Und deshalb will er sie vermieten? Das muss ein schönes Kamel sein. Wer weiß, ob und in welchem Zustand der sein Mobiliar wiederfindet.«

»Das Kamel bin ich.«

Erstaunt drehte sich Gerlach um. »Du?? Ich habe zwar nicht bezweifelt, dass du wirklich eins bist, aber du hast es noch niemals zugegeben. Wieso brauchst du deine Wohnung nicht mehr? Ist deine Frau endlich ausgezogen? Lasst ihr euch scheiden?«, fragte er erwartungsvoll, denn seine heimliche Liebe zu Tinchen war ebenso ausdauernd wie hoffnungslos.

»Das kannst du mich in sechs Monaten noch mal fragen.« Florian setzte sich auf die Schreibtischkante und erzählte seinem Freund ausführlich, welche Pläne seit gestern in seinem Kopf herumspukten.

»Unter diesen Umständen wäre es doch blödsinnig, die Wohnung leer stehen zu lassen. Warum soll nicht ein anderer inzwischen die Miete bezahlen?«, schloss er.

»Weshalb fragst du gerade mich? Du kennst doch meinen Umgang. Oder legst du wirklich Wert darauf, dass ich dir einen entlassenen Ganoven zwischen deine Kiefernschränke setze?«

»Quatsch! Aber du kannst dich doch mal umhören.«

»Mach’ ich«, versprach Gerlach, »vielleicht finde ich jemanden von der High Snobiety, der seine momentane Gespielin nicht immer bloß im Hilton treffen will. Da zahlt der ja für drei Nächte so viel wie bei dir für den ganzen Monat.«

»Meine Wohnung als Absteige? Kommt nicht in Frage.«

»Du musst das nicht so eng sehen. Außerdem heißt das heutzutage Zweitwohnung und ist allgemein üblich. Als du noch nicht verheiratet warst, hast du nicht so dämliche Fragen gestellt.«

»Eine Zweitwohnung habe ich nie gebraucht«, verteidigte sich Florian.

»Wäre aber manchmal besser gewesen. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem ich die Doro so lange in der Küche festhalten musste, bis du die andere Tussie ins Wohnzimmer gebracht hast, und dann hast du mir dieses wirklich selten dusselige Geschöpf auch noch für den Rest des Abends aufgehalst.«

»Das sind doch längst olle Kamellen. Die werden auch nicht besser, wenn du sie immer wieder aufwärmst.«

Gerlach stand auf und sammelte seine Notizen ein. »Ich glaube, jetzt verziehe ich mich lieber, du musst deinen Humor heute im Fahrstuhl vergessen haben. Gibt es sonst noch was Neues?«

»Ja, Hindenburg ist tot.«

»Weiß ich, deshalb sieht man ihn auch so selten. Also dann tschüss bis nachher.«

»Dämlicher Hund!«, schimpfte Florian, aber das hatte Gerlach schon nicht mehr gehört.

Seufzend betrachtete Florian den Papierstapel auf seinem Schreibtisch: Agenturmeldungen, Berichte, Einladungen zu irgendwelchen, meist langweiligen Veranstaltungen, dazwischen Spesenabrechnungen der freien Mitarbeiter und natürlich Leserbriefe. Er griff nach dem ersten.

Werte Redaktion. Meine Tante Adelheid Schmitz, wohnhaft in Oberbilk, wird am 21. März 88 Jahre alt. Weil das eine Schnapszahl ist, würde sie sich bestimmt freuen, wenn die Zeitung ihr öffentlich gratuliert. Sie liest das Tageblatt schon seit es das gibt. Achtungsvoll, Ernst Schmitz.

Florian warf den Brief in den Papierkorb und fischte den nächsten heraus:

Am 1. April besteht unser Kochclub ›Männer vor!‹ fünf Jahre. Obwohl ich Ihnen als Vorsitzender schon mehrmals unsere besten Rezepte geschickt habe, hat der Club in Ihrer Zeitung noch keine Erwähnung gefunden. Sollten Sie auch unser Jubiläum übergehen, werden alle 14 Mitglieder das Tageblatt abbestellen. Mit immer noch freundlichen Grüßen, Herbert Lamprecht, 1. Vorsitzender.

PS. Ihr Reporter ist zu unserem Galaessen am 30. d.M. herzlich eingeladen.

Wenn die Brüder ihre Drohung wahr machen und die Abonnements kündigen, kriege ich Ärger mit der Vertriebsabteilung, überlegte Florian, also müssen wir ein paar Zeilen bringen. Am besten schicke ich Müller Zwo hin, der ist Junggeselle und ernährt sich bloß von Hot Dogs. Für eine anständige Mahlzeit schreibt der alles. –

Während Florian im Pressehaus die Brötchen verdiente, war Tinchen damit beschäftigt, sie aufzuessen. Ihre Mutter half dabei. Gerechterweise muss allerdings gesagt werden, dass Frau Antonie die Semmeln mitgebracht und auch bezahlt hatte. Für sich selbst hatte sie ein Croissant mitgenommen, frisch aus dem Ofen und noch ganz warm. Tinchen hatte Kaffee gekocht, koffeinfreien natürlich wegen der Nerven und weil Frau Antonie sonst in der Nacht kein Auge zumachen konnte, und nun saßen Mutter und Tochter am Küchentisch mit der rotgewürfelten Decke und der Porzellanschale voll künstlicher Früchte – auch ein Geschenk von Frau Antonie und ständiges Streitobjekt zwischen Tinchen und ihrem Mann, dem diese Plastikbananen ein Dorn im Auge waren.

»Jetzt erzähl mal ganz genau, Tinchen, ich hab’ das vorhin am Telefon gar nicht richtig mitgekriegt. Was ist mit Professor Fabians Kindern los? Wieso sind das plötzlich Waisen? Ist den Eltern was passiert? Sind sie tot? Verunglückt? Gleich alle beide? Wie furchtbar! Und warum trägst du dann nicht Schwarz, schließlich sind es nahe Verwandte von dir, auch wenn du nicht auf besonders gutem Fuß mit ihnen gestanden hast. Ob wir auch zur Beerdigung fahren müssen? Ich werde nachher gleich einen Kranz best …«

»Ich bitte dich, Mutsch, hör endlich auf! Kein Mensch ist gestorben, ganz im Gegenteil. Gisela und Fabian gehen für ein halbes Jahr nach Amerika, und wir sollen so lange Haus, Hof und ihre Brut hüten.«

»Warum sagst du das nicht gleich?« Frau Antonie stärkte sich mit einer frischen Tasse Kaffee. »Du hast mir einen richtigen Schrecken eingejagt.«

»Selber schuld. Nie hörst du richtig zu!« Und dann erzählte Tinchen ganz ausführlich und geriet dabei richtig ins Schwärmen.

»Du kennst das Haus ja nicht, aber es ist phantastisch. Zwei Bäder gibt es und ganz unten noch eine Dusche, vier Toiletten, jedes Kind hat ein eigenes Zimmer mit durchgehendem Balkon, das Schlafzimmer ist anderthalbmal so groß wie unser Wohnzimmer, und die Küche solltest du erst sehen … Alles vollautomatisch mit blinkenden Lämpchen und so, genau wie bei den Carringtons in Denver. Hinterm Haus ist eine Riesenterrasse, und der Garten ist so groß wie ein Fußballfeld. – Na ja, vielleicht nicht ganz so groß, aber wie ein halbes bestimmt! Vorne alles Rasen mit Blumenbeeten und hinten am Zaun lauter Obststräucher. Und ganz ruhig, überhaupt kein Verkehr. Steinhausen ist nicht groß, vielleicht achttausend Einwohner oder auch ein paar mehr, aber zum Einkaufen fährt man sowieso nach Heidelberg, das ist auch nicht weiter als von hier bis in die Stadt. Florian hat gesagt …«

»Florian ist ein Mann und hat von nichts Ahnung«, unterbrach Frau Antonie. »Aber hast du dir schon einmal überlegt, wer dieses Haus und den Garten in Ordnung halten soll? Du etwa?« Mit dem Zeigefinger pickte sie die Brötchenkrümel von der Tischdecke und schob sie in den Mund. »Nein, mein Kind, das kannst du gar nicht, und deshalb bin ich auch entschieden dagegen, dass du dir solch eine Verantwortung auflädst.«

Tinchen wurde zusehends kleinlauter. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Sie tat es und fuhr zögernd fort: »Irgendwer hat es doch bisher gemacht, also kann er es ja auch weiter machen. Sicher hat Gisela eine Putzfrau. Und Marthchen ist auch noch da.«

»Ist das nicht das frühere Kindermädchen von Benders?«

»Ja, sie kriegt jetzt das Gnadenbrot.«

»Das gibt man alten Pferden! Ich glaube kaum, dass Frau Martha mit dieser Definition einverstanden wäre. Hast du mir nicht mal erzählt, dass sie die ganze Familie bekocht?«

»Und wie! Sie nimmt niemals Fertiggerichte, sogar den Kartoffelbrei stampft sie selber.«

»Das tu ich aber auch, Tinchen«, verteidigte sich Frau Antonie, »dieses Zeug aus der Tüte schmeckt eben doch nicht so wie hausgemacht.«

»Weiß ich ja, Mutti, du kochst mindestens genauso gut wie Marthchen. Florian schmiert mir auch dauernd aufs Butterbrot, dass ich nicht genug bei dir gelernt habe. In Zukunft wird er wenigstens deshalb nichts mehr zu meckern haben.«

»Dann seid ihr also fest entschlossen, diese Aufgabe zu übernehmen? Traust du dir das denn zu? Vier fremde Kinder und dazu noch die beiden eigenen?«

»Erstens sind Fabians Ableger keine Kinder mehr, sondern zum Teil schon wahlberechtigt und somit vor dem Gesetz erwachsen, und zweitens vergisst du, dass ich ein Jahr lang als Reiseleiterin gearbeitet habe. Da können mich doch ein paar Halbstarke nicht erschüttern. Im Übrigen ist Florian ja auch noch da.«

»Na, der ist dir bestimmt eine große Hilfe«, sagte Antonie trocken.

»Immerhin weiß er eine Menge über die Psychologie Jugendlicher«, behauptet Tinchen und verschwieg vorsichtshalber, dass es sich hierbei um seine rein theoretischen Erkenntnisse handelte, deren praktische Anwendung vermutlich noch kein Mensch ausprobiert hatte. Am allerwenigsten er selbst. Deshalb bemühte sich Tinchen um einen raschen Themenwechsel.

»Bevor du gehst, Mutti, würdest du mir wohl die Senfsoße für die verlorenen Eier machen? Bei mir sieht die immer aus wie Tapetenleim, und sehr viel anders schmeckt sie auch nicht.«

Frau Antonie war in ihrem Element. »Aber natürlich, Kind, das ist doch eine Kleinigkeit.« Sie stand auf und band sich die Küchenschürze um. »Jetzt pass aber mal ganz genau auf! Erst macht man eine richtige Mehlschwitze. Dazu brauchst du …«

 

Die Unterredung mit dem Sperling verlief kurz und erfolgreich. Ein bisschen zu kurz, fand Florian, denn er hatte sich etwas mehr Widerstand erhofft.

»Was Sie da vorhaben, ist sehr vernünftig«, hatte Dr. Vogel kopfnickend bestätigt, »sehr vernünftig. Abstand gewinnen, den Gesichtskreis erweitern – ja, ja, wirklich sehr vernünftig. Und Amerika ist uns da um einiges voraus. Vor allem im Pressewesen. Wohin werden Sie denn gehen?«

»Nach Stein … äh, das steht noch nicht genau fest«, hatte Florian gestottert, denn ganz offensichtlich hatte der Sperling mal wieder einiges missverstanden. Egal, Hauptsache, er genehmigte den unbezahlten Urlaub und sicherte Florians Rückkehr auf dessen angestammten Platz zu. Vielleicht sogar eine Beförderung? Die Lokalredaktion hatte er nun acht Jahre lang verwaltet, als Beamter wäre er bestimmt schon bei der Innenpolitik gelandet, aber Journalisten sind nun mal keine Beamte und Chefredakteure selten an dem beruflichen Aufstieg ihrer Mitarbeiter interessiert. Sie wittern Konkurrenz.

»Wen soll ich jetzt als meinen vorübergehenden Nachfolger einarbeiten? Ich schlage Gerlach vor, der hat ja auch die letzten beiden Male die Urlaubsvertretung gemacht.«

Dr. Vogel winkte ab. »Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf. Es wird sich schon jemand finden. Wie lange ist Herr Vollmer eigentlich bei uns?«

Jürgen Vollmer war der Sohn eines süddeutschen Pressezaren und in einem Augenblick väterlicher Ungnade dem Tageblatt als Volontär aufgehalst worden, um das Gewerbe ›von der Pike auf‹ zu lernen. In der Druckerei hatte man ihn nach einer Woche rausgeschmissen, weil er in jeder freien Minute – und nicht nur dann! – mit den Arbeitern gepokert hatte. In der Anzeigenabteilung war er nur zwei Tage geblieben, denn er hatte die hereingegebenen Inseratentexte eigenmächtig geändert. Daraufhin verzichtete die Werbeabteilung von vornherein auf seine Mitarbeit, der Vertrieb lehnte ebenfalls dankend ab, weil er ein Chaos in der EDV-Anlage fürchtete, für die Vollmer ein brennendes Interesse gezeigt hatte, und so war er schließlich in der Redaktion gelandet. Da konnte er noch am wenigsten Unheil anrichten, zumal er sich bloß stundenweise sehen ließ und auch dann nur mit den Sekretärinnen flirtete. Gelernt hatte er doch nichts, aber »Die Leiter zum Erfolg ist wesentlich leichter zu erklimmen, wenn der Herr Papa die Sprossen macht«, hatte Florian gesagt und Vollmer zur Prunksitzung des Düsseldorfer Carneval-Vereins geschickt. Dort befand er sich unter seinesgleichen, und die Zehn-Zeilen-Notiz würde später irgendein anderer schreiben.

»Sie wollen den Vollmer doch nicht mit der Lokraledaktion betrauen?«, hatte Florian erschrocken gefragt. »Das kann er doch gar nicht.«

»Das zu beurteilen, überlassen Sie bitte mir«, hatte der Sperling geantwortet und versöhnlich hinzugefügt: »Er muss schließlich ein paar Erfahrungen sammeln.«

»Aber bitte nicht auf meinem Stuhl!«

»Eigentlich haben Sie Recht, Bender«, hatte Dr. Vogel überlegt. »In Anbetracht seiner späteren Position sollte man ihm doch etwas Verantwortungsvolleres übertragen.«

Worauf Florian gekränkt das Zimmer verlassen hatte. Wenn er erst mal weg war, würden die schon sehen, was sie an ihm gehabt hatten. Die Tage bis zu seiner Rückkehr würden sie zählen! Die hatten ja alle keine Ahnung, um wie viel Kleinkram er sich täglich kümmern musste, und wie viel Ärger er sich dabei einhandelte! Und ausgerechnet der Vollmer, dieser arrogante Zeitungsimperiumserbe, sollte die Lokalredaktion übernehmen! Der mokierte sich doch über jeden zweiten Leserbrief! Die schönsten davon, worunter er in erster Linie die orthografisch nicht ganz einwandfreien verstand, kopierte er heimlich und sammelte sie in einem Schnellhefter, den er später bei seinen ebenso bornierten Freunden herumreichen wollte. Gerade noch rechtzeitig hatte Florian ihm das Corpus delicti entreißen können, aber Vollmer hatte nur gelacht. »Macht nichts, der Vorrat ist ja unerschöpflich, und täglich kommen neue dazu.«

Weshalb sollte er sich eigentlich den Kopf darüber zerbrechen, was während seiner Abwesenheit passierte? Er musste sich nur rechtzeitig darum kümmern, dass sein Name aus dem Impressum verschwand. Für die zu erwartende Katastrophe wollte Florian auf keinen Fall verantwortlich zeichnen.

In seinem Zimmer kontrollierte er noch kurz die beiden Korrekturbögen, fand nichts zu beanstanden, malte seinen Kringel drunter und legte sie in den Korb. Spätestens dann, wenn der Druckereileiter seinen allnächtlichen hysterischen Anfall bekam, würde man die Unterlagen vermissen und einen Lehrling in den siebenten Stock schicken, weil der Redaktionsbote mal wieder einen Bogen um die Tür des Lokalredakteurs gemacht hatte. Seitdem Florian ihm statt der erbetenen Karten für ein Gastspiel von Nena zwei Biletts für das Konzert der Oberkrainer in die Hand gedrückt hatte, verachtete Eberhard ihn zutiefst, obwohl es sich doch wirklich nur um ein Versehen gehandelt hatte.

Zu Hause wurde Florian von dem doppelstimmigen Indianergeschrei seiner Kinder empfangen und von dem nicht minder lauten Gebell seines Hundes. Alle drei sprangen an ihm hoch, wobei Klausdieter wie üblich den Kürzeren zog. Er bekam Julias zappelnden Fuss ans Ohr und verzog sich beleidigt in seinen Korb. Florian küsste sich durch die Sippe, wobei er versuchte, Julias Schokoladenfinger von seinem Hals zu entfernen. »Warum bist du immer gerade dann so liebebedürftig, wenn du klebrige Hände hast?« Er schob seine Tochter zur Badezimmertür. »Wasch dich mal!«

»Ich hab’ mich heute Mittag erst gewaschen, und vor dem Schlafengehen muss ich wieder«, protestierte sie, »warum denn jetzt auch noch?«

»Weil Frauen viel schönere Hände haben als Männer. Deshalb gucken die Männer immer drauf, und deshalb sollten die Hände auch immer sauber sein.«

»Wie Mami vorhin den Herd geschrubbt hat, weil die Milch übergekocht ist, waren sie aber gar nicht sauber!«, triumphierte Julia. »Jetzt gibt es fertigen Pudding. Der schmeckt auch viel besser.«

»Wenn du nicht sofort den Mund hältst, bekommst du überhaupt keinen!« Tinchen warf ihrer Tochter einen drohenden Blick zu.

»Die Milch ist auch gar nicht übergekocht, mir ist bloß der Topf umgekippt, weil ich das Brett mit den abgepellten Eiern draufgestellt hatte, und dann ist ein Ei reingefallen, und als ich das zweite gerade noch festhalten konnte, ist das Brett in den Topf gerutscht, und da hat er Übergewicht gekriegt. Angebrannt ist aber nichts«, versicherte sie eifrig, »und ein paar Milchtropfen in der Senfsoße schmeckt man gar nicht. Übrigens ist Karsten da.«

»Was will der denn?« Florian wunderte sich. »Der kriegt doch zu Hause viel besseres Essen.«

Sein Schwager guckte nur flüchtig hoch, als Florian das Wohnzimmer betrat, und vertiefte sich wieder in die Zeitung. »Womit würdest du bloß deine Seiten füllen, wenn es nicht jeden Tag mindestens drei Überfälle gäbe. Diesmal hat es die Pinte gegenüber vom Jan-Wellem-Denkmal erwischt. Da haben sie nicht nur den Safe geknackt, sondern darüber hinaus alle Bierfässer auslaufen lassen. Kann ich verstehen, da schmeckt das Altbier immer nach Seife. Von den Tätern fehlt natürlich jede Spur.«

»Vielleicht könnte man der Kriminalität besser Herr werden, wenn ein paar Polizisten vom Fernsehen abgezogen und in den Großstädten eingesetzt würden.« Florian ging zum Teewagen, auf dem vier nahezu leere Flaschen standen, und hielt sie nacheinander ins Licht.

»Ich kann dir noch einen halben Whisky anbieten oder einen Schluck Doppelkorn. Den Rest Kognak trinke ich jetzt nämlich selber.«

»Er sei dir gegönnt. Ich habe ihn ja extra für dich übrig gelassen.«

Auf ein Glas verzichtete Florian. Er setzte die Flasche gleich an den Mund und stellte sie anschließend wieder zu den anderen. »Man sieht ja nicht, dass sie leer ist.« Dann musterte er seinen Schwager von den ausgelatschten Tretern bis zu dem dringend renovierungsbedürftigen Lockenkopf und fragte misstrauisch: »Was verschafft uns eigentlich die Ehre deines Besuchs? Willst du etwa deine Schulden bezahlen?«

»Um Himmels willen, nicht so kurz vor Ultimo«, entrüstete sich Karsten. »Der alte Herr rückt doch keinen Pfennig Vorschuss heraus. Neulich habe ich ihn um Geld gebeten für die Lehrbücher, die ich angeblich für diesen blödsinnigen Buchhaltungskurs brauche. Und was hat er mir gegeben? Die Bücher!«

Florian lachte schallend. »Was hast du denn anderes erwartet!« Er kannte seinen Schwiegervater, und der wiederum kannte seinen Sohn.