Mit Fünfen ist man kinderreich - Evelyn Sanders - E-Book

Mit Fünfen ist man kinderreich E-Book

Evelyn Sanders

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Beschreibung

Was macht man, wenn aus dem erwarteten vierten Kind unerwartet Zwillinge werden? Man braucht mehr Platz und zieht um aufs Land. Das neue Haus ist groß, das Dorf dagegen klein. Es gibt keinen Supermarkt, keine Schule und keine Haushaltshilfe, die es länger als eine Woche aushält. Bis Wenzel-Berta auf der Bildfläche erscheint, das Urgestein aus Schlesien...

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Evelyn Sanders

Mit Fünfen ist man kinderreich

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

VorbemerkungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Nachwort

Der Autorin ist es auch nach fünfzehnjährigem Aufenthalt in Schwaben nicht gelungen, die Landessprache zu erlernen. Sie ist zwar durchaus in der Lage, Gesprächen der Ureinwohner zu folgen, sieht sich aber außerstande, an den Unterhaltungen teilzunehmen, wenn sie im heimischen Dialekt geführt werden.

Aus diesem Grunde werden etwaige Leser aus dem baden-württembergischen Raum um Entschuldigung gebeten, weil die in dem Buch enthaltenen schwäbischen Texte vermutlich alles andere als schwäbisch klingen.

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Kapitel 1

Er war Schriftleiter einer Jugendzeitschrift und stellte mich als Redaktionssekretärin ein. Ausschlaggebend hierfür schien in erster Linie meine Fähigkeit gewesen zu sein, anständigen Kaffee zu kochen. Das benutzte Geschirr hatte ich später auf der Toilette zu spülen. Woanders gab es keine Wasserleitung. Wenn ich gelegentlich mit unseren Graphikern kollidierte, die Pinsel und Farbtöpfe wuschen, dann hatten die Kaffeetassen Vorrang.

Eine nicht minder verantwortungsvolle Tätigkeit war das Aufspüren ständig verschwundener Manuskripte, Feuerzeuge, Telefonnummern und Krawatten, die bei Redakteuren nicht unbedingt zur Arbeitskleidung gehören und nach Möglichkeit sofort abgelegt wurden.

Darüber hinaus hatte ich das Telefon zu bedienen und Termine zu überwachen. Letztere waren überwiegend privater Natur und betrafen meinen Chef. Offensichtlich billigte er sich die unverbrieften Rechte eines Junggesellenstatus zu und wechselte seine Freundinnen ebenso häufig wie seine Hemden und seine Wohnungen. Ob er die Miete nicht bezahlt hatte oder die Nachforschungen abgelegter Bräute erschweren wollte, weiß ich nicht. Jedenfalls hatte ich mich schon mit der Absicht getragen, die polizeilichen Anmeldeformulare fotokopieren zu lassen und nur die neue Anschrift jeweils handschriftlich einzufügen, als er plötzlich seßhaft wurde und die Dinger nicht mehr brauchte.

Nachdem ich meine Fähigkeiten als Telefonistin hinreichend bewiesen und darüber hinaus organisatorisches Talent gezeigt hatte, indem ich die Zusammenkünfte zwischen dem ›Don Juan‹ und seinen Damen so koordinierte, daß eine nichts von der anderen erfuhr, hielt man mich größerer Dinge für fähig, und ich avancierte nebenbei zur Briefkastentante.

Jetzt durfte ich Teenager trösten, die Schauspielerin, Primaballerina oder Stewardeß werden wollten, und liebeskranken Backfischen erklären, daß ein verpatztes Rendezvous nicht unbedingt ein Selbstmordgrund sei. Zwischendurch suchte ich weiter nach Krawatten, Manuskripten und verlegten Telefonnummern neuer Favoritinnen.

Übrigens konnte ich die Damen, die sich meinem Chef in so reicher Zahl an den Hals warfen, sogar verstehen. Die gesamte weibliche Belegschaft unseres zwölfköpfigen Redaktionsteams – ich eingeschlossen – schwärmte ein bißchen für ihn. Er sah gut aus, war nicht dumm, hatte unverschämt viel Charme und schien auch noch sein Metier zu beherrschen. Zumindest ließen die ständig steigenden Auflagenziffern unserer Zeitschrift derartige Vermutungen zu.

Wohl nicht zuletzt aus diesem Grunde hatte er bei unserem Verleger absolute Narrenfreiheit. Außerdem residierte der Gewaltige im Erdgeschoß des Pressehauses, während wir im siebenten Stock thronten. Dazwischen lagen immerhin 128 Treppenstufen. Natürlich gab es auch einen Lift, aber der Herr Verleger lehnte die Benutzung dieses zugegebenermaßen reichlich antiquierten Gehäuses ab, seitdem er einmal in dem Käfig steckengeblieben war und zwei Stunden auf seine Befreiung warten mußte. Äußerte er jetzt die Absicht, sich wieder einmal auf unseren Olymp zu begeben, dann setzte prompt das telefonische Frühwarnsystem ein. Wir hatten also genügend Zeit, Anzeichen außerdienstlicher Beschäftigungen wie Nagellackflaschen oder gerade getippte Privatbriefe verschwinden zu lassen und intensive Arbeit im Sinne unserer Anstellungsverträge vorzutäuschen.

Es wurde aber auch wirklich gearbeitet! Denn uns machte unsere Tätigkeit viel Spaß. Außer einem grämlichen Oberlehrertyp, der uns bald verließ und das Archiv einer Fachzeitschrift übernahm, wo er vermutlich mit seinen Zeitungsausschnitten langsam verstaubte, gab es in unserem Team kein Mitglied über dreißig. Wir waren also alle noch ziemlich unverbraucht und idealistisch genug, gelegentliche Überstunden als unvermeidlich hinzunehmen. Davon waren im allgemeinen aber nur der Redaktionsleiter und die Graphiker betroffen, die sowieso nie rechtzeitig fertig wurden. Das ist bei ihnen eine Berufskrankheit! Und ich blieb freiwillig länger, um sie zwecks Hebung der Arbeitsmoral mit Kaffee und notfalls auch mit belegten Broten zu versorgen.

Eines Tages wurde mir aber klar, daß ich bei meinen kulinarischen Hilfsdiensten keineswegs nur das leibliche Wohl meiner Kolleginnen im Auge hatte. Meine anfangs harmlose Schwärmerei für unseren Chef ging inzwischen so tief, daß ich kurzerhand meinem damaligen Tennisplatzflirt den Laufpaß gab – übrigens zum großen Mißfallen meiner Eltern, die in dem jungen Bankkaufmann einen potentiellen Schwiegersohn mit soliden Karriereaussichten gesehen hatten – und auf ein außerredaktionelles Privatleben weitgehend verzichtete.

In Anerkennung aufopferungsvoller Tätigkeit im Dienste der Zeitung wurde ich eines Tages ausersehen, unseren Chef nach Belgien zu begleiten. Dort sollte irgendein Vertrag ausgehandelt werden, und obwohl ich kaum ein Wort Französisch sprach, während er es fließend beherrschte, bestand unser Boß auf meiner angeblich notwendigen Anwesenheit.

Also fuhr ich mit. Und weil der geschäftliche Teil der Reise schneller als erwartet erledigt war und weil ich Brüssel noch nicht kannte und weil sowieso ein arbeitsfreies Wochenende bevorstand, fuhren wir erst zwei Tage später wieder nach Hause.

Am nächsten Ersten habe ich gekündigt.

Meinen Chef habe ich allerdings behalten! Rolf und ich sind nun seit zwölf Jahren verheiratet, haben fünf Kinder und ziehen gerade zum siebenten Mal um.

[home]

Kapitel 2

Als ich in den Stand der heiligen Ehe trat, war ich 24 Jahre alt, perfekt in der Handhabung von Telefon und Schreibmaschine, aber ohne die geringsten Erfahrungen in hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. Meine Kochkenntnisse beschränkten sich auf die Zubereitung von Kaffee oder allenfalls Spiegeleiern, und ein Bügeleisen hatte ich nur dann in die Hand genommen, wenn es sich nicht umgehen ließ. Vom Nähen oder Stopfen hatte ich überhaupt keine Ahnung. Meine Abneigung gegen jede Art von Handarbeit stammte noch aus der Schulzeit. Aber zum Glück fanden sich immer begabtere Klassenkameradinnen, die meine verschandelten Werke wieder in Ordnung brachten und mir dadurch wenigstens die Drei im Zeugnis garantierten. Zum Dank dafür schrieb ich ihnen ihre Deutschaufsätze.

Ursprünglich hatten wir erwogen, Rolfs derzeitiges Junggesellen-Apartment mit meinen eigenen Möbeln vollzustopfen und dort erst einmal zusammen zu wohnen. Sein Mobiliar bestand aus einer Schlafcouch, zwei nicht zueinander passenden Sesseln – einer davon mit Blümchenmuster –, einem Tisch, der vollgepackt war mit Büchern, Zeitschriften, Manuskripten und Krawatten, einem Schreibtisch, auf dem es so ähnlich aussah, ein paar ständig überquellenden Aschenbechern sowie einem riesigen Gummibaum, den ein Freund einmal untergestellt und nie wieder abgeholt hatte. Dann gab es noch eine winzige Dusche und eine ebenso winzige Kochnische.

Nun hatte ich nicht gerade von einer Zehn-Zimmer-Villa nebst Butler und Dienstmädchen geträumt, aber die augenblickliche Behausung entsprach doch in keiner Weise meinen Vorstellungen vom eigenen Heim. Außerdem hatten wir uns davon überzeugt, daß wir meine Möbel nur mit Mühe und Not in dem Zimmer würden unterbringen können – vorausgesetzt, wir selber blieben draußen!

Glücklicherweise fanden wir ziemlich schnell eine kleine Mansardenwohnung, bestehend aus zwei Zimmern nebst Küche und Bad. Schräge Wände mögen in Möbelkatalogen ihren Reiz haben, in der Praxis sind sie hinderlich. Ich habe mich jedenfalls nie daran gewöhnen können, mit eingezogenem Kopf vom Sessel aufzustehen oder in halbgebückter Haltung im Kochtopf zu rühren. Außerdem war das Bad so klein, daß man sich kaum darin umdrehen konnte. Den meisten Platz beanspruchte nämlich ein mittelalterlicher Badeofen. Wollte man um sechs Uhr ein Bad nehmen, so fing man zweckmäßigerweise um vier Uhr an, ihn mit Holz und Kohlen zu füttern. Neben heißem Wasser spendete er gleichzeitig eine derartig große Hitze, daß wir es zumindest im Sommer vorzogen, kalt zu baden – ein ziemlich zweifelhaftes Vergnügen, auf das wir dann auch meistens verzichteten.

Aber wenigstens hatte ich jetzt ›Trautes Heim, Glück allein‹ und darüber hinaus einen völlig neuen Wirkungskreis.

Zunächst lernte ich eine weitere Fähigkeit meines Mannes schätzen: Er konnte kochen! Nach dem Ursprung seiner Kenntnisse fragte ich lieber nicht; vermutlich gab es mal eine Freundin mit kulinarischen Ambitionen. Außerdem ist meine Schwiegermutter eine hervorragende Köchin.

Der frischgebackene Ehemann sah sich also gezwungen, seine völlig unwissende Gattin in die Geheimnisse der Kochkunst einzuweihen, und ich bemühte mich redlich, Begriffe wie etwa ›Farce‹, ›Fond‹ oder ›legieren‹, die mir bis dato in einem ganz anderen Zusammenhang geläufig gewesen waren, mit dem Küchen-Abc in Verbindung zu bringen. Jedenfalls war ich damals froh, daß wenigstens einer von uns beiden mit Kochtopf und Bratpfanne umgehen konnte.

Heute bin ich von Rolfs sporadischen Einbrüchen in mein Küchenrevier nicht mehr so begeistert. (Er pflegt mich bei seinen Gastspielen zu allen subalternen Tätigkeiten wie Kartoffelschälen und Zwiebelschälen heranzuziehen und mir nach Beendigung seines Wirkens die nicht unerheblichen Aufräumungsarbeiten zu überlassen.) Übrigens ist er der Meinung, daß jeder Mensch kochen kann, wenn er die nötigen Grundbegriffe beherrscht. Alles andere sei lediglich eine Sache des Geschmacks. Recht hat er! Unsere Meinungen über die Zubereitung von Hühnerfrikassee gehen auch heute noch ziemlich auseinander, aber seins schmeckt trotzdem besser! Dafür stimmten wir in einem anderen Punkt völlig überein: Wir wollten Kinder, mindestens zwei, am besten drei. Ich bin ein Einzelkind und bedaure das heute noch. Ständig war ich Mittelpunkt elterlicher und großelterlicher Fürsorge, und so verfügte ich im Alter von vier Jahren zwar über einwandfreie Tischmanieren, muß aber sonst ein ziemlich unausstehliches Balg gewesen sein. Die Fama berichtet, daß meine charakteristischsten Merkmale Egoismus und despotische Herrscherallüren waren, denen sich meine Spielkameraden zu unterwerfen hatten. Taten sie das nicht, dann drehte ich ihnen den Rücken (oder sie mir!). Später muß ich mich wohl doch ein bißchen geändert haben, denn viele Freundschaften, die zu Beginn meiner Schulzeit begründet wurden, bestehen heute noch.

Rolf ist auch ein Einzelkind und hatte ähnliche Erfahrungen gemacht.

Außerdem waren wir uns darüber im klaren, daß sich der geplante Nachwuchs möglichst bald einzustellen hatte, denn Rolf wollte mit seinen Söhnen (!) noch Fußball spielen, bevor das altersbedingte Zipperlein derartige Vorsätze zunichte machen könnte.

Bis Sven geboren wurde, hatte ich mir die notwendigen Kenntnisse über die ›Aufzucht‹ von Babys aus Büchern zusammengelesen und war der Ansicht, eventuell auftretende Schwierigkeiten ohne weiteres meistern zu können. Die Praxis sah aber dann ganz anders aus. So wurde zum Beispiel in dem Buch ›Mein erstes Kind‹ dringend empfohlen, Säuglinge regelmäßig und zu ganz bestimmten Zeiten zu füttern. Mein Sohn war da völlig anderer Meinung. Er fing bereits zwei Stunden vor der fälligen Mahlzeit an zu brüllen, und wenn er endlich die Flasche bekam, schlief er nach den ersten Schlukken ein. Derartige Vorkommnisse wurden in dem Buch nicht behandelt. Also griff ich zur Selbsthilfe, weckte Sven mit einem kalten Waschlappen auf, dann nuckelte er auch brav ein paar Augenblicke weiter und schlief danach wieder ein. Auf diese Weise zogen sich die Mahlzeiten oft über eine Stunde lang hin, was mit den Angaben im Baby-Leitfaden keineswegs übereinstimmte. Trotz meiner unvorschriftsmäßigen Behandlung gedieh der Bursche prächtig, bekam runde Bakken und einen blonden Lockenschopf, und ich war jedesmal empört, wenn mich jemand fragte, wie alt denn ›die Kleine‹ sei. Als der mädchenhafte Knabe ein halbes Jahr zählte, bekamen wir durch Zufall eine Dreizimmerwohnung mit Balkon angeboten und griffen zu.

In einem jener klugen Bücher hatte ich gelesen, daß der Altersunterschied zwischen Geschwistern möglichst gering sein soll. Warum der Autor dieser Ansicht war, weiß ich nicht mehr, vielleicht fand er es praktisch, wenn man gleich für zwei Kinder Windeln waschen kann. jedenfalls hielt ich damals alles Gedruckte, das mit psychologischen Thesen durchsetzt war, für das Nonplusultra, und so wurde zwanzig Monate nach Sven unser Sascha geboren. Er kam übrigens fast drei Wochen zu früh und sprengte beinahe eine Verlobungsparty, weil ich mitten beim Kaffeetrinken fragte, wer von den anwesenden Autobesitzern mich in die Klinik fahren könnte. Rolf stieß erst abends wieder zu der Gesellschaft und übernahm ab Mitternacht die weiteren Kosten der Feier, nachdem ihm telefonisch die Ankunft seines zweiten Sohnes mitgeteilt worden war.

Sascha war ein ausgesprochen ruhiger Bürger, der selten schrie, anstandslos alles hinunterschluckte, was man ihm in den Mund schob, und das erste halbe Jahr seines Lebens überwiegend schlafend verbrachte. Das änderte sich allerdings schlagartig, als er anfing, herumzukrabbeln. Ich weiß nicht mehr, wie viele Bücher er damals zerrissen und wieviel Geschirr er zertrümmert hat. Jedenfalls mußten wir bald alles Zerbrechliche auf Schränken und Regalen übereinandertürmen, so daß unsere Wohnung manchmal aussah wie ein Auktionshaus kurz vor Beginn der Versteigerung. Außerdem entwickelte Sascha einen ungeahnten Bewegungsdrang, und auch diese Wohnung wurde schließlich zu klein.

Also zogen wir wieder einmal um. Diesmal in ein Reihenhaus mit Garten am Stadtrand. Hier wuchsen die Kleinkinder zu unternehmungslustigen Knaben heran, die ständig Hosen zerrissen und ihre Mutter zwangen, sich endlich fundierte Kenntnisse im Umgang mit Nadel und Faden anzueignen. Während ich Lederherzen auf durchgewetzte Hosenbeine nähte, träumte ich von einem kleinen Mädchen, das Kleidchen trägt und mit Puppen spielt statt mit rostigen Blecheimern.

Als Sven sechs Jahre alt war und Sascha gerade vier, kam Stefanie auf die Welt, ein Bilderbuchbaby mit schwarzen Locken, dunklen Kulleraugen und Grübchen am Kinn. Sie war ein Sonntagskind in doppeltem Sinn: Allerheiligen ist in einigen Teilen der Bundesrepublik ein gesetzlicher Feiertag, darüber hinaus fiel der 1. November in ihrem Geburtsjahr auf einen Sonntag. Mein Arzt, der morgens um zehn aus einer Tennishalle herantelefoniert werden mußte, hat mir das nie verziehen!

Kurz nach Stefanies Ankunft stand uns ein neuer Tapetenwechsel bevor. Rolf mußte aus beruflichen Gründen seinen Wohnsitz nach Süddeutschland verlegen, und so zogen wir zum viertenmal um, und zwar nach Stuttgart. Dort wurde Sven eingeschult, und Sascha kam in den Kindergarten. Beide Institutionen schlossen mittags ihre Pforten. Nachmittags tobten die Kinder auf der Straße herum, und jedesmal, wenn Autoreifen quietschten oder ein Krankenwagen mit Sirenengeheul vorbeifuhr, zuckte ich zusammen und sah in Gedanken einen meiner Helden verletzt am Straßenrand liegen. Im Laufe der Zeit wurden diese Wahnvorstellungen beängstigender als mein Horror vor einem erneuten Umzug. Also mieteten wir eine Doppelhaushälfte in einem etwas ländlichen Vorort. Sven wurde umgeschult, Sascha lernte in dem neuen Kindergarten eine andere Variante des schwäbischen Dialekts, und Stefanie beendete ihre ersten Gehversuche in einem Misthaufen.

Als wir angefangen hatten, uns in der neuen Umgebung heimisch zu fühlen, starb unser Hauswirt. Seine Erben begründeten die Kündigung des Mietvertrags mit Eigenbedarf. Während wir noch die Möglichkeiten etwaiger gesetzlicher Schritte überlegten, bekam Rolf das Angebot, die Werbeleitung eines größeren Betriebes zu übernehmen unter der Voraussetzung, daß er sich bereitfände, ›vor Ort‹ zu wohnen. (Er hatte seine journalistische Tätigkeit inzwischen an den Nagel gehängt und in der Werbebranche Fuß gefaßt, aber das ist wieder ein anderes Kapitel.) Wir zogen also erneut um, diesmal in eine Kleinstadt am Rande des Schwarzwalds.

Allmählich wurde das Packen zur Routine. Hatte ich früher noch Strickwolle, volle Marmeladengläser und Bettwäsche kurzerhand in einer Kiste verstaut, so besaß ich inzwischen genügend Übung, um das spätere Chaos beim Auspacken auf ein Mindestmaß zu beschränken. Übrigens soll kein Mensch behaupten, Umzüge hätten nicht auch ihr Gutes. Bei uns stehen keine Dinge herum, für die niemand so recht Verwendung hat und die man nur aufhebt, weil sie angeblich zu schade zum Wegwerfen sind. Vor jedem Wohnungswechsel wurde immer gründlich aussortiert, und manchmal wanderten auch Sachen in die Mülltonnen, die später verzweifelt gesucht wurden. So hatte ich einmal den Entsafter von meinem Dampfkochtopf weggeworfen, weil ich ihn noch niemals benutzt und für überflüssig gehalten hatte. Im darauffolgenden Jahr bekamen wir Unmengen von schwarzen Johannisbeeren geschenkt … Dann wieder war ich es irgendwann einmal leid, ständig die alten Bücher aus meiner Jungmädchenzeit ein- und wieder auszupacken, und ich verschenkte sie. Zehn Jahre später kaufte ich für Stefanie neue, zum Teil waren es die gleichen, die ich seinerzeit weggegeben hatte!

Nun wohnten wir also im Schwarzwald. Sven überstand auch die zweite Umschulung einigermaßen unbeschadet, obwohl er wieder neue Lehrbücher bekam und sich erneut an ein völlig neues Unterrichtssystem gewöhnen mußte. Sascha besuchte nun den katholischen Kindergarten und verlangte plötzlich von uns, die wir alle protestantisch sind, daß wir uns vor den Mahlzeiten bekreuzigten. Zum Glück wurde er bald darauf eingeschult. Und Stefanie, mein Traumbild im rosa Kleidchen mit Puppe im Arm, entwickelte sich zunehmend zum dritten Jungen in unserer Familie! Sie spielte Fußball mit alten Blechbüchsen, sie stahl ihren Brüdern Autos, Indianerfiguren und Spielzeugeisenbahnen, sie weigerte sich, Kleider zu tragen und wünschte sich zu ihrem vierten Geburtstag einen Indianerkopfschmuck und Fußballstiefel. Als mir ein Nachbar erzählte, er habe gerade unseren Jüngsten aus seinem Apfelbaum geholt, auf Steffi zeigte und anerkennend hinzufügte: »Der Kleine klettert wie ein Affe!«, wurde mir endgültig klar, daß Stefanie offenbar nur rein anatomisch gesehen ein Mädchen war. Immerhin bestand noch die vage Möglichkeit, daß ihre Fehlentwicklung auf den ständigen Umgang mit größeren Brüdern zurückzuführen war. Wenn sie noch eine Schwester bekäme, würde sie sich vielleicht ändern, mütterliche Instinkte könnten erwachen …

Die Eröffnung, sie werde bald eine kleine Schwester haben, quittierte Stefanie mit Ablehnung. »Ich will lieber einen kleinen Bruder, Mädchen finde ich doof!« Entsprechend groß war ihre Empörung, als sie sich gleich mit zwei Schwestern abfinden mußte.

Ich war darüber nicht empört, sondern schlichtweg entsetzt! Zwillinge! Und ganz ohne Vorwarnung! Irgendwo hatte ich mal gelesen, daß man Zwillingsgeburten früh genug diagnostizieren kann, um ihre Eltern rechtzeitig und in homöopathischen Dosen auf das bevorstehende doppelte Ereignis vorbereiten zu können. Anscheinend hatte ich den falschen Arzt erwischt, denn er war genauso überrascht wie ich. Und als Rolf mich zum ersten Male besuchte, zeigte seine Miene auch nicht gerade überschäumendes Vaterglück.

Nun waren wir also – statistisch gesehen – eine Großfamilie. Im Dritten Reich hätten mir das Mutterkeuz sowie ein Pflichtjahrmädchen zugestanden; jetzt stand uns lediglich ein staatliches Kindergeld zu, von dem weniger kinderreiche Mitbürger vermuteten, es würde uns ein sorgenfreies Leben auf Rentenbasis ermöglichen. Dabei reichte es gerade, um die jetzt unerläßliche Haushaltshilfe zu bezahlen. Wir standen ohnehin kurz vor dem finanziellen Ruin. Der bereits gekaufte Kinderwagen mußte gegen einen doppelt so teuren Zwillingswagen umgetauscht werden. Das schon zehn Jahre alte Körbchen kam zurück auf den Boden, statt dessen wurden zwei Kinderbetten gekauft. Eine komplette zweite Babyausstattung war nötig, und was die beiden Neubürger im Laufe eines Monats an Säuglingsnahrung verbrauchten, warf alle finanziellen Kalkulationen über den Haufen.

Außerdem wurde wieder einmal die Wohnung zu klein! Einen Neuzugang hätten wir räumlich noch verkraften können, aber zwei waren zu viel! Nach nächtelangen Diskussionen, die immer irgendwann in den frühen Morgenstunden endeten (ich weiß gar nicht mehr, wann wir damals eigentlich geschlafen haben), kamen wir zu folgendem Entschluß: Rolf würde seine zwar gesicherte, für unsere gestiegenen Ansprüche aber zu gering dotierte Stellung aufgeben und sich selbständig machen. Darüber hinaus würden wir umziehen müssen (zum siebenten Mal!), und zwar in eine Gegend, von der aus man die industriellen Schwerpunkte Süddeutschlands möglichst schnell erreichen kann.

Wir beschlossen also den Erwerb eines Hauses – über die Finanzierung wollten wir uns später den Kopf zerbrechen –, das erstens bereits fertig sein mußte, zweitens genügend Platz für die zahlreichen Familienmitglieder und ihre inzwischen noch zahlreicheren Hobbys zu bieten hatte und drittens außerhalb einer Stadt, aber noch innerhalb einigermaßen zivilisierter Gebiete liegen mußte.

Überraschenderweise fanden wir sehr schnell das ideale Domizil. Allerdings konnten wir es nicht kaufen, sondern nur mieten, aber das paßte uns sogar noch besser ins Programm. Man soll einen neuen Lebensabschnitt nicht unbedingt mit Schulden beginnen.

 

Und nun war es mal wieder soweit. Wir saßen auf den gepackten Kisten und den zusammengerollten Teppichen und warteten auf den Möbelwagen, der schon vor anderthalb Stunden hätte dasein sollen.

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Kapitel 3

Sie kommen!«

Sascha verließ seinen Beobachtungsposten auf dem Garagendach via Regenrinne und stürmte ins Haus.

»Sie kommen, und sie bringen mindestens einen Güterwagen mit!« Tatsächlich bog der längst überfällige Möbelwagen unter Mitnahme einiger Heckenrosenzweige in die Einfahrt, setzte dann wieder zurück, weil der Anhänger schon das Garagentor eingebeult hatte, fuhr erneut an, rasierte einen weiteren Teil der Rosenkultur ab und kam endlich zum Stehen. Vier lebende Kleiderschränke stiegen aus, die sich vor mir aufbauten und ihre Verspätung mit der am Abend zuvor besuchten Richtfestfeier begründeten. Ganz nüchtern schienen sie noch immer nicht zu sein, zumindest ließen ihre Fahrkünste entsprechende Rückschlüsse zu.

Dafür waren sie aber bereit, die verlorene Zeit nach Kräften wieder aufzuholen. Um ein freies Arbeitsfeld zu bekommen, hob einer der Muskelmänner die Flurtür aus den Angeln und stellte sie sorgfältig an die Wand, worauf der zweite in Unkenntnis der innenarchitektonischen Veränderung dagegenstieß und die Tür umwarf. Der dritte trat noch drauf, und der vierte fegte anschließend die Scherben zusammen. Dann erklärten sie mir, daß ich mir wegen der Kosten keine Sorgen zu machen brauchte, denn für derartige Schäden würde die Versicherung aufkommen. Wohlweislich verschwiegen sie dabei, daß die spätere Bewältigung der Fragenflut eine abendfüllende Beschäftigung sein würde.

Sascha kam an und wollte Bier.

»Wozu?«

»Für die Möbelmänner, die haben Durst.«

»Aber die sind doch gerade erst gekommen!«

»Den Durst haben sie noch von gestern!«

Sascha pflegte seit jeher eine intensive Freundschaft mit Bauarbeitern, und die Rituale von Richtfesten einschließlich ihrer Folgen sind ihm durchaus geläufig.

»Von mir aus hol das Bier. Aber jeder bekommt nur eine Flasche, sonst stehen wir heute abend noch hier!«

Sven tauchte auf, bewaffnet mit einer Liste und einem angeknabberten Bleistiftrest. »Da läuft alles schief, die machen das überhaupt nicht so, wie ich es geplant habe!«

Als Ältester unserer Nachkommenschaft hatte er schon die meisten Umzüge miterlebt und fühlte sich als Experte. Nach seiner Ansicht sollte man die Möbel zweckmäßigerweise Zimmer für Zimmer ausräumen und in den Möbelwagen stellen, weil sie dann noch während des Ausladens in geordneter Folge wieder eingeräumt werden könnten. Zu diesem Zweck hatte er die einzelnen Zimmer numeriert und das dazugehörige Mobiliar sowie die jeweiligen Kisten mit den entsprechenden Zahlen versehen. Leider waren die Möbelmänner nicht im geringsten geneigt, seinen organisatorischen Anordnungen zu folgen und den Teewagen neben das Bücherregal und dazwischen den Gummibaum zu stellen. Während er ihnen noch auseinandersetzte, daß der Schlafzimmerschrank absolut nicht zur Waschmaschine gehört, brachte der nächste Schwerathlet den Schreibtisch. Darauf kapitulierte Sven und suchte sich ein neues Betätigungsfeld. Er fand es im Keller, wo er die aufgescheuchten Spinnen einfing und zu dressieren versuchte!

Stefanie kam, wollte Kakao und ihr Feuerwehrauto, gab sich aber mit Milch zufrieden und spazierte dann zu einer Nachbarin, die schon die Zwillinge betreute und ihre Fürsorge im Laufe des Vormittags auf die ganze Familie ausdehnte.

»Hast du einen Schraubenzieher?« Sascha war schon wieder da.

»Nein. Wozu überhaupt?«

»Bei Lohengrin geht die Tür ab!«

Hier ist vermutlich eine Erklärung nötig: Eines Tages saß auf unserer Terrasse ein Tier, das ich als Ratte klassifizierte und mit einem »Igittigitt, pfui Deibel!« fassungslos anstarrte. Da ich ähnliche Schreie auch beim Anblick von Spinnen und Nachtfaltern von mir gebe, erschien sofort Sven auf der Bildfläche, zu dessen Pflichten als Hobbyzoologe die Beseitigung derartiger Lebewesen gehört.

»Hast du denn jetzt schon Angst vor Goldhamstern?« Mein Sohn bückte sich kopfschüttelnd zu der vermeintlichen Ratte, hob sie auf und klärte mich weit ausholend über Herkunft und Charaktereigenschaften des Findlings auf. Die waren mir aber völlig egal, ich verlangte die sofortige Entfernung des Untiers, stieß auf erbitterten Widerstand und erklärte mich – wie immer bei Auseinandersetzungen über vierbeinige Hausgenossen – zu einem Kompromiß bereit. Sven würde das Vieh zunächst in den alten Vogelkäfig setzen und versuchen, den Besitzer ausfindig zu machen. Im übrigen war ich mir völlig darüber im klaren, daß er sich bei seinen Nachforschungen keine allzu große Mühe geben würde.

Sascha registrierte den neuen Hausbewohner mit »Was frißt der denn? Müssen wir das Futter etwa von unserem Taschengeld bezahlen?« Und Stefanie strahlte: »Das ist aber ein niedliches Mäuschen!« Womit Hamsters Verbleiben im Familienverband eine beschlossene Sache war!

Den Namen Lohengrin verdankt er Rolf. Der bekommt manchmal seinen ›klassischen Fimmel‹, wie Sven derartige Anwandlungen respektlos bezeichnet, redet einen ganzen Abend lang in Hexametern oder zitiert mit dem Pathos eines Alexander Girardi Schillers Balladen. So klärte er denn auch bereitwillig seine Söhne über die Gralsritter auf und erläuterte ihnen ausführlich die Parallelen, die nach seiner Ansicht zwischen dem klassischen Lohengrin und unserem aus dem Nichts erschienenen Hamster bestanden. Die Knaben fanden die ganze Geschichte zwar ziemlich verworren, akzeptierten Hamsters künftigen Namen aber anstandslos, »weil der so schön heldenhaft klingt!«.

Später habe auch ich mich mit der ›Ratte‹ angefreundet, zumal sie meine Leidenschaft für Tee mit Rum teilte.

 

Irgendwann gegen Mittag hatten die Muskelmänner den ersten Teil ihres Werkes vollbracht. Bis auf ein paar Kleinigkeiten war die Wohnung leer, und ich fing an, die Reste von Holzwolle, Bindfäden, Papier und Brötchenkrümeln zusammenzufegen.

»Hast du den Zettel mit den Adressen gesehen?« Sascha kroch auf allen vieren durch die Zimmer und prüfte jedes Papierstückchen.

»Welchen Zettel mit welchen Adressen?«

»Die von meinen Freunden. Ach, da ist er ja!« Erleichtert fischte er ein zerrissenes Löschblatt aus dem Abfallhaufen und steckte es in die Tasche. »Ich habe denen doch versprochen, daß ich mal schreibe.«

Ausgerechnet Sascha, der Bleistifte allenfalls zum Malen benutzt und jede Tätigkeit vermeidet, bei der man etwas schreiben muß. Weihnachtswunschzettel pflegt er grundsätzlich mit Abbildungen aus Versandhauskatalogen zu bekleben, die nach seiner Auffassung denselben Zweck erfüllen wie handgeschriebene, und die unumgänglichen Danksagungen für erhaltene Geschenke erledigt er überwiegend telefonisch. Daß die Oma in Berlin wohnt und die Patentante in Düsseldorf, spielt dabei überhaupt keine Rolle. »Die Telefonrechnung kann Papi doch von der Steuer absetzen«, erklärt er auf entsprechende Vorhaltungen. Die näheren Zusammenhänge kennt er zwar nicht, aber er muß diesen Satz schon ziemlich oft von uns gehört haben!

Seine Abneigung gegen jede Schreibarbeit hatte Sascha bereits im zweiten Schuljahr bewiesen, als er über das Thema ›Was ich in den Ferien machen werde‹ einen Aufsatz verfassen sollte. Nachdem er drei Löschblätter bemalt, ein Mickymaus-Heft durchgeblättert und zwei Indianerfiguren mit Schnurrbärten versehen hatte, war ihm offenbar endlich etwas eingefallen. Er hatte zu schreiben begonnen, um nach genau vier Minuten das Heft zuzuklappen und aufatmend im Ranzen zu verstauen. Das Thema hatte er kurz und erschöpfend mit dem einen Satz abgehandelt: Das weiß ich doch jetzt noch nicht!

Sven erschien, in einer Hand den mit Draht reparierten Vogelkäfig samt Lohengrin, in der anderen eine Sprudelflasche, unter dem Arm eine Ladung Comics als Reiselektüre und verkündete, daß der Möbelwagen bereits verschlossen und die Besatzung abfahrbereit sei. »Wir dürfen mit den Möbelmännern mitfahren, haben die gesagt, und du sollst noch die restlichen Bierflaschen rausbringen. Außerdem ist die große Vase kaputtgegangen, aber das ist nicht so schlimm, sagt der eine, weil …«

»Ja, ich weiß, zahlt alles die Versicherung!«

Der Möbelwagen setzte sich schließlich schwerfällig in Bewegung, nahm die noch übriggebliebenen Rosenzweige mit und schaukelte davon.

Endlich tauchte auch Rolf wieder auf, der Umzüge verabscheut und sich unter dem nicht zu widerlegenden Vorwand, noch geschäftliche Dinge abwickeln zu müssen, den ganzen Vormittag über verdrückt hatte. Wir machten unsere Abschiedsrunde bei den Nachbarn, nahmen die noch verbliebenen Kinder sowie einen Korb mit Äpfeln und zwei hausgemachte Leberwürste in Empfang, stellten wunschgemäß Briefe und gelegentlichen Besuch in Aussicht, stopften die vergessene Heckenschere und den halbvollen Sack mit Rasendünger in den Kofferraum, stiegen in den Wagen, räumten die Rollschuhe von den Vordersitzen und fuhren endlich los.

Ade, Schwarzwaldstädtchen, in dem es zwar meist kalt und windig war – neu zugezogene und noch nicht akklimatisierte Mitbürger behaupten, dort herrsche neun Monate im Jahr Winter, und während der restlichen drei sei es kalt –, in dem man einen Dialekt spricht, den ich auch nach zweijährigem Aufenthalt kaum verstanden habe, das aber wenigstens elftausend Einwohner, zwei Kinos, vier Tankstellen, eine Buchhandlung und viele schöne Geschäfte hat …

 

Heidenberg ist ein Örtchen, das man auf keiner Landkarte findet. Es liegt irgendwo zwischen Stuttgart und Heilbronn, verfügt über eine sogenannte Hauptstraße, die sich zwischen den Häusern entlangschlängelt, besitzt ein Gemeindehaus, das meistens nur anläßlich der einmal jährlich stattfindenden Schutzimpfungen für Kleinkinder benutzt wird, ein Gasthaus, in dem gleichzeitig der einzige Krämerladen des Dorfes untergebracht ist, und einen ehemaligen Weinkeller, der jeweils zur Faschingszeit zum örtlichen Vergnügungszentrum umfunktioniert wird. Das Dominierende an und um Heidenberg sind jedoch die Weinberge, und vorwiegend nach ihnen richten sich die Lebensgewohnheiten der Bevölkerung. Sascha lernte schon sehr bald den Unterschied zwischen normalen Sterblichen und Weinbauern kennen, denn oft genug, wenn er einen seiner neugewonnenen Freunde zum Spielen abholen wollte, bekam er die Antwort: »Heut nicht, wir ganget ins Spritzen.« Was je nach Jahreszeit auch ›Rebenbinden‹, ›Hacken‹, ›Triebeschneiden‹ oder last but not least ›Lesen‹ heißen konnte. Denn die Weinlese ist ein Ereignis, das auch den letzten Greis und die sonst bettlägerige Oma in die Weinberge treibt. Sascha fand die Zeit wunderbar, denn es gab aus diesem Anlaß ein paar schulfreie Tage, die mein Sohn allerdings als private Ferien betrachtete. War er am ersten Morgen noch erwartungsvoll zusammen mit seinem Freund Gerhard und dessen gesamter Familie in die Weinberge gezogen, so merkte er doch sehr schnell, daß die im Fernsehen so leicht aussehende Tätigkeit des Traubenpflükkens harte Knochenarbeit bedeutet. Prompt erschien er kurz vor dem Mittagessen wieder zu Hause und schimpfte: »Das ist eine ekelhafte Schinderei, und außerdem schmecken die Trauben überhaupt nicht!« Den Rest der Weinleseferien verbrachte er dann überwiegend in seinem Baumhaus, von dem aus er mit einem ausrangierten Operngucker fachmännisch die Fortschritte in den Weinbergen verfolgte.

 

Unsere ›Residenz‹ lag etwas außerhalb des Dorfes, soweit man den Begriff ›außerhalb‹ überhaupt anwenden kann. Von der Hauptstraße, die auf beiden Seiten von Häusern flankiert war, zweigten in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Seitenwege ab, die nach ein paar Metern vor einer Hofeinfahrt endeten oder sich zu einfachen Feldwegen verjüngten, um sich irgendwo in der Ferne zu verlieren. Lediglich einer dieser Seitenwege tat das nicht. Er beschrieb eine Kurve, stieg etwa 200 m lang ziemlich steil bergan und endete vor einer Unkrautplantage. An einem etwas seitlich gelegenen Hang stand unser Haus. Der Garten fiel zur Straße hin ab, zog sich aber um das ganze Haus herum und war zum Teil eingeebnet. Trotzdem wackelten immer die Gartenmöbel, und wir hatten ständig einen Stapel Reclam-Heftchen griffbereit, um die Höhenunterschiede auszugleichen. (Die Herren Lessing und Kleist mögen mir verzeihen!)

Der Architekt hatte von seinem Bauherrn offenbar künstlerischen Freiraum erhalten, denn vielleicht läßt es sich so erklären, daß er die Wohnräume und die Küche in die erste Etage verlegte. Folgerichtig lag auch die Terrasse, die an das Wohnzimmer grenzte, im ersten Stock, und wollte man sie vom Garten aus betreten, so mußte man erst eine hühnerleiterartige Stiege erklimmen. Für Leute mit Asthma oder Rheumatismus war das Haus denkbar ungeeignet, für Leute mit empfindlichem Gehör ebenfalls. Wenn unser lebhafter Nachwuchs samt Freunden die Treppen hinauf- oder hinunterpolterte – und das geschah ungefähr dreißigmal pro Tag –, dann hatte man oft den Eindruck, eine Herde Elefanten stürmte das Haus.

 

Sagte ich schon, daß Heidenberg 211 Einwohner zählte? Ungefähr ein Fünftel davon hatte sich um den Möbelwagen geschart, wich aber in respektvolle Entfernung zurück, als unser Pkw um die Ecke bog.

»Da seid ihr ja endlich!« begrüßte uns Sven und zog Lohengrin an einem Bindfaden hinter sich her. »Wir sind schon seit einer halben Stunde da, das Bier ist alle, und Hunger haben wir auch!«

Sascha ergriff die Initiative. »Mal sehen, ob ich rauskriege, wo man hier etwas zu essen holen kann.« Damit steuerte er auf einen strohblonden Knaben zu, der hingebungsvoll in der Nase bohrte. »Ich heiße Sascha, und du?« – »Häh?« – »Wie du heißt!« – »Kinta.« – »Wie?« – »Kinta.«

Sascha sah sein Gegenüber an und kam kopfschüttelnd zurück. »Die haben aber komische Namen hier.«

»Der heißt sicher Günther«, erläuterte einer der Möbelmänner, offenbar recht gut vertraut mit den diversen schwäbischen Dialektfärbungen.

Sascha trottete zurück. »Heißt du Günther?« Der Strohblonde nickte. »Wie alt bist du?« examinierte Sascha weiter.

»Nein.«

»Ich meine, wieviel Jahre bist du alt?«

»Ha, nein.«

»Mensch, ist der blöde!« Sascha brach seine Verständigungsversuche zunächst einmal ab. Vierundzwanzig Stunden später hatte er seine Meinung gründlich geändert und uns dahingehend informiert, daß ›Kinta‹ neun Jahre alt sei, ebenfalls in die vierte Klasse gehe, ein Indianerzelt besitze und infolgedessen einer zumindest vorübergehenden Freundschaft würdig sei.

Unsere Goliaths leisteten Schwerarbeit und schleppten unermüdlich Möbel ins Haus. Während ich mich bemühte, möglichst schnell das Zimmer der Zwillinge in einen bewohnbaren Zustand zu bringen, hatte Sven in der Haustür Aufstellung genommen und dirigierte die Muskelmänner. »Der grüne Sessel gehört in Stefanies Zimmer, das Regal da ist unseres, und der Schreibtisch muß ins Studio.« Gegenstände, die er nicht genau unterzubringen wußte, beorderte er zunächst einmal in den Keller, wo sich die einzelnen Familienmitglieder im Laufe der nächsten Tage ihre vermißten Habseligkeiten zusammensuchten.

Rolf hatte inzwischen im Gasthaus ›Zum Löwen‹ sein Hauptquartier aufgeschlagen, wo er mit Recht die Befehlszentrale von Heidenberg vermutete. Von dort schickte er uns einen Tischler, der nebenbei auch als Elektriker werkelte und das Kunststück fertigbrachte, meinen Herd so anzuschließen, daß ich den Backofenschalter andrehen mußte, um die Schnellkochplatte in Betrieb zu setzen. Ein Herr Fabrici erschien, Landwirt und Besitzer einer Bohrmaschine, als solcher abkommandiert, um Dübel für diverse Hängeschränke zu setzen.

Während dieses ganzen Durcheinanders stolperte Stefanie die Treppe herauf und setzte aufatmend ein Körbchen mit Eiern ab. »Die hat mir eine Frau geschenkt. Die wohnt da drüben« – sie deutete wahllos in die Gegend –, »weil sie doch eine Eierfarm hat.«

»Hühnerfarm meinst du wohl?«

»Ja, Hühner hat sie auch. Kriege ich jetzt ein Ei?«

 

Allmählich lichtete sich das Chaos. Sven sammelte in sämtlichen Räumen leere Pappkartons zusammen und schleppte sie in den Garten, wo er ein loderndes Augustfeuer entzündete. Das lockte dann auch noch die restlichen minderjährigen Einwohner Heidenbergs an, die Sascha nach bewährtem Schema sofort zur Arbeit einteilte. »Du und du und du« – damit pickte er sich drei Jungs aus der Schar heraus –, »ihr könnt mitkommen.« Ein weiteres halbes Dutzend, das sich ihnen anschließen wollte, wurde energisch zurückgewiesen. »Euch brauche ich noch nicht.«

Die drei Auserwählten wurden von Sascha in sein Zimmer geführt, wo sie unter seiner Anleitung die Kisten auspackten. Dann begannen sie mit dem Aufbau der Autorennbahn. Ich wollte gerade ein Machtwort sprechen, als ich meinen Filius in einem seltenen Anflug von Vernunft protestieren hörte: »Nee, Leute, das geht jetzt nicht. Von mir aus könnt ihr morgen wiederkommen und damit spielen. Oder besser übermorgen«, korrigierte er sich in der weisen Vorahnung, ich würde mit einer so frühen Masseninvasion von Jung-Heidenbergern wohl doch nicht ganz einverstanden sein.

Der Möbelwagen war schließlich wieder abgefahren, es wurde langsam dunkel, und nach und nach verschwanden auch die vielen Zaungäste. Nur ein etwa vierjähriges Mädchen rührte im Garten gedankenverloren in den kalten Ascheresten herum. In diesem Augenblick keifte auch schon eine Stimme los: »Komm aus dem Dreck, Carmen, du Schwein!«

Carmen, das Schwein, blickte auf, wischte sich mit seinem Rockzipfel durch das Gesicht, schrie »Ha no« und flitzte davon.

Heimatklänge? Die hätte ich in diesem gottverlassenen Nest nun wirklich am allerwenigstens erwartet, obwohl man Berliner bekanntlich in jedem Winkel der Erde antreffen kann.