Das Mädchen, das die Welt in Flammen setzte - Leni Wambach - E-Book

Das Mädchen, das die Welt in Flammen setzte E-Book

Leni Wambach

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Beschreibung

**Wie ein Licht in deiner Dunkelheit** Eigentlich glaubt Coal nicht an das Übernatürliche. Doch als die Internatsschülerin im alten Haus ihrer Großmutter auf eine mysteriöse Schachtel mit drei Zündhölzern stößt, offenbart sich eine glühende Macht, die sie und ihre beste Freundin Hannah in eine völlig andere Welt befördert. Dort werden die beiden Mädchen nicht nur sofort von dunklen Wesen verfolgt, sondern Coal erfährt auch endlich mehr über ihre Herkunft: Sie ist die Nachfahrin der Erschafferin dieses magischen Ortes und dazu bestimmt, die Bewohner vor den Ängsten zu schützen, die drohen, alles Lebendige zu vernichten. Einziger Lichtblick für Coal ist der anziehende Jäger Gavin, der ihr zur Seite steht und ihr Herz zum Lodern bringt …   Was, wenn die Funken deiner Magie zur Bedrohung werden?   //»Das Mädchen, das die Welt in Flammen setzte« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Leni Wambach

Das Mädchen, das die Welt in Flammen setzte

**Wie ein Licht in deiner Dunkelheit**Eigentlich glaubt Coal nicht an das Übernatürliche. Doch als die Internatsschülerin im alten Haus ihrer Großmutter auf eine mysteriöse Schachtel mit drei Zündhölzern stößt, offenbart sich eine glühende Macht, die sie und ihre beste Freundin Hannah in eine völlig andere Welt befördert. Dort werden die beiden Mädchen nicht nur sofort von dunklen Wesen verfolgt, sondern Coal erfährt auch endlich mehr über ihre Herkunft: Sie ist die Nachfahrin der Erschafferin dieses magischen Ortes und dazu bestimmt, die Bewohner vor den Ängsten zu schützen, die drohen, alles Lebendige zu vernichten. Einziger Lichtblick für Coal ist der anziehende Jäger Gavin, der ihr zur Seite steht und ihr Herz zum Lodern bringt …

Wohin soll es gehen?

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Vita

Danksagung

© Jey Jones

Leni Wambach wurde 1997 geboren und lebt noch in ihrem Geburtsort Essen. Derzeit studiert sie Anglistik und Linguistik und belegt Sprachkurse in Italienisch, um eines Tages in ihrer Herzensheimat Italien wohnen zu können. Sie schreibt, seit sie denken kann, und taucht am liebsten in fantastische Welten ein – sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben. Wenn sie keines von beidem tut, macht sie Musik oder ist auf einem Pferderücken zu finden.

Für meine Oma Leni,

die nie müde geworden ist, mir jahrelang das gleiche Märchen vorzulesen, und der ich diese

Geschichte so gerne gezeigt hätte.

1. Kapitel

Coal

Coal hatte Mühe, sich ihre Langeweile nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Was schwer war, denn ihr Englischlehrer versuchte ihnen Interpretationen von Shakespeare nahezubringen. Nachdem Coal und ihre beste Freundin Hannah einmal eine ganze Nacht damit verbracht hatten, über den wirklichen Shakespeare zu recherchieren – inklusive aller nicht jugendfreien Witze und Wortspiele –, konnte sie den langatmigen Ausführungen ihres Lehrers noch weniger abgewinnen.

Hannah, die neben ihr saß, hatte ihren Kopf auf ihre eine Hand gestützt und starrte verschlafen ins Leere. In der nächsten Klausurenphase würden sie beide das bitter bereuen. Ihre beste Freundin spätestens dann, wenn sie ihre Abiklausur schreiben musste und alle Themen gleich grauenvoll waren. Zumindest war das im letzten Jahr so gewesen, sofern sie den Gerüchten der älteren Jahrgangsstufe Glauben schenken konnten. Coal war froh, in Mathe gut genug zu sein, um sich nicht mit Englisch herumschlagen zu müssen. Die Sprache sprechen, Serien und Filme gucken oder Urlaub in England machen war kein Problem. Aber Interpretationen musste sie in Deutsch schon mehr als genug schreiben.

»Fahren wir eigentlich übers lange Wochenende nach Hause?«, fragte Hannah sie leise, die offenbar aus ihrem Halbschlaf aufgeschreckt war.

Mit »nach Hause« war das Haus gemeint, in dem Coal, seit sie denken konnte, mit ihrer Großmutter Ruth lebte. Sowohl sie als auch Hannah hatten keine Eltern mehr und sie waren seit ihrer ersten Nacht im gemeinsamen Zimmer im Internat unzertrennlich. Zwei Kinder ohne Eltern, und Hannah hatte nicht einmal Großeltern. Nur eine entfernte Tante, die ihr Taschengeld zuschickte. Kaum hatte Ruth davon erfahren, hatte sie dem für sie noch völlig fremden Mädchen Tür und Tor geöffnet, und Coal hatte sie immer mitgenommen, wenn sie über ein Wochenende oder in den Ferien nach Hause gefahren war. Für Hannah waren Ruth und das Haus eine Art Heimat geworden, viel mehr als das frühere Kinderheim und die Wohngruppe, die aktuell ihr offizieller Wohnsitz war.

»Ich denke schon«, flüsterte Coal. »Ich glaube, Ruth hat überlegt, einen spontanen Trip nach Paris mit uns zu unternehmen.«

Hannah wickelte sich nachdenklich eine von Coals roten Haarsträhnen um den Finger, was sie meistens tat, wenn sie ihre Hände beschäftigen wollte. In der Regel ließ Coal das mit einem Augenverdrehen geschehen.

»Da wäre ich nicht abgeneigt.«

Coal grinste. »Ach was.«

Sie schaute nach vorne und zuckte zusammen, als sie den mahnenden Blick ihres Lehrers bemerkte. Bevor dieser sie jedoch zurechtweisen konnte, öffnete sich die Tür und der Direktor des Internats trat ein. Professor Gamal war ein kleiner, kräftiger Mann, dessen gutmütiges Gesicht viel über seinen Charakter aussagte. Wenngleich er auch durchaus in der Lage war zu schimpfen wie kaum ein anderer Mensch, den Coal kannte. Er hatte einmal eine Gruppe Schüler erwischt, die hinter dem Internatsgebäude Alkohol getrunken und Gras geraucht hatten. Seine Standpauke hatte das halbe Internat aus dem Schlaf gerissen.

Nun sah er jedoch weder freundlich noch wütend aus. Eher traurig, angespannt, mitleidig. Wie jemand, der schlechte Nachrichten mit sich brachte.

Als sein Blick zielsicher Coal fand, wurde ihr schlecht.

»Coal? Könntest du bitte einmal mitkommen?«, fragte er in die tiefe Stille hinein, die auf sein unerwartetes Eintreten gefolgt war.

Coal schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter. »Ist was mit meiner Großmutter?«

Unter dem Tisch nahm Hannah ihre Hand und drückte sie fest. Professor Gamal nickte in Richtung Flur und Coal erhob sich mit steifen Gliedern. Nur widerwillig schien Hannah ihre Hand loszulassen. Auf dem ganzen Weg nach vorne spürte sie, wie Hannah sie aufmerksam beobachtete. Alle anderen sahen sie ebenfalls an, niemand sagte etwas. Hier kannten sich alle. Vielleicht mochte man nicht alle, mit denen man seit Jahren in einer Klasse war, aber sie waren einander vertraut. Verbrachten nicht nur ihre Schulstunden, sondern auch einen Großteil ihrer Freizeit miteinander. Jeder kannte Coal, jeder hatte Ruth schon ein paarmal gesehen oder von ihren Keksen probiert, die sie Coal und Hannah zuschickte. Ein paar waren zu ihrem gemeinsam gefeierten achtzehnten Geburtstag in den Sommerferien mit nach Hause gekommen.

Coal bemerkte kaum, wie sie das Klassenzimmer verließ, und schaute erst zu Professor Gamal, als er die Tür leise schloss. Er schien zu merken, dass sie ohne weitere Informationen keinen Schritt weiter machen konnte. Einen Moment zögerte er, dann legte er ihr eine Hand auf die Schulter. Diese Geste, Stütze und Trost zugleich, sagte ihr genug.

»Du hast recht. Deine Großmutter hat wohl einen Schlaganfall gehabt«, sagte er ohne Umschweife, eine Eigenschaft, die sie an ihm schätzte. »Sie ist schnell ins Krankenhaus gekommen und die Ärzte konnten ihr dort helfen, aber während der Behandlung hat sie einen weiteren Schlaganfall erlitten. Sie sind sich nicht sicher, ob sie sich davon erholen wird.«

»Das … das heißt, meine Großmutter … stirbt?«, fragte Coal mit einer Stimme, die in ihren Ohren fremd klang. Vielleicht konnte sie sie auch nur nicht richtig hören, weil alles von einem lauten Rauschen überdeckt wurde.

Professor Gamal seufzte schwer. »Ich fürchte ja. Es tut mir sehr leid, Coal. Ich habe dir direkt für morgen früh ein Zugticket besorgt. Heute ist das leider nicht mehr möglich gewesen, irgendwelche Gleisbauarbeiten finden auf der Strecke statt. Bleib so lange, wie du willst. Nutze die Zeit. Um dich zu verabschieden und mit ihr zu reden.«

»Danke«, murmelte sie mechanisch.

Es waren einmal zwei Waisenmädchen. So fing eines der Märchen an, das Hannah vor ein paar Jahren mal geschrieben hatte. Als Fingerübung, wie sie gesagt hatte. Die beiden Mädchen hatten viel durchgemacht und waren am Ende trotzdem glücklich geworden. Sie hatten ihren Prinzen und ihre Prinzessin gefunden und außerdem eine ganze glückliche Familie.

Wenn die Ärzte und Professor Gamal recht hatten, würde Coal am Ende nun doch als Waise enden. Und auf sie warteten weder ein Prinz noch eine plötzlich auftauchende Familie. Sie würde einzig und allein den Menschen verlieren, der ihr alles bedeutete.

***

Nervös spielte Coal mit dem kleinen Anhänger ihrer Kette herum, während sie an der grauen Fassade des Hauses hochsah. Hier war sie aufgewachsen. Sie kannte jeden Winkel des alten Gebäudes, jedes Versteck. Aber nun fühlte es sich fremd an, als hätte jemand einem Sommertag die Wärme geraubt. Gerade war sie eine achtzehnjährige Internatsschülerin gewesen, in ihrem letzten Schuljahr, so normal wie jede andere ihrer Mitschülerinnen.

Nun saß ein schmerzendes Herz in ihrer Brust und pumpte Blut wie Säure durch ihren Körper. Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte Professor Gamal sie aus dem Unterricht geholt. Ihre anfängliche Taubheit war grauenvoller Hilflosigkeit gewichen. Nun wünschte sie sich, sie hätte Hannahs Angebot angenommen, die gefragt hatte, ob sie mitkommen sollte. Dann wäre es einfacher gewesen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

»Na? Brauchst du mich?«, fragte jemand hinter ihr.

Coal fuhr herum und ließ ihren Anhänger los. Hannah sah wie immer perfekt aus – oder wie einem Modemagazin entsprungen. Ihr dunkelroter Lippenstift hatte die gleiche Farbe wie ihr Rock, ihre senfgelbe Strickjacke betonte ihre blonden Haare. Die gleichen Sachen, die sie heute Morgen angehabt hatte. Sie musste den nächsten Zug genommen haben, der zwei Stunden nach Coals gefahren war. Immerhin dauerte die Fahrt fast vier Stunden.

»Ist das der Hut aus Paris?«, fragte Coal.

»Das ist ein Béret, meine unkulturelle Freundin.«

Trotz allem musste Coal lächeln. In den letzten Stunden vor ihrer Abfahrt hatte Hannah alles getan, um ihr zu helfen.

»Willst du reingehen? Oder brauchst du noch ein paar Minuten?«

Coal atmete tief die kalte Luft ein und drehte sich zum Haus um. »Wir können.«

Sie nahm den Schlüssel aus der Tasche. Er war schwer von den vielen Anhängern, die sie auf ihren Reisen mit … mit ihrer Großmutter gesammelt hatte. Das Gewicht war gleichzeitig tröstlich und schmerzhaft.

Langsam ging sie die Treppenstufen hinauf und schloss die Tür auf. Das Knarzen war vertraut und Coal seufzte leise.

»Es fühlt sich falsch an. Ohne Ruth, meine ich«, sagte Hannah hinter ihr.

Coal trat in den dunklen Flur. Am anderen Ende führte eine Treppe nach oben, rechts davon lag der Eingang zur Küche mit angrenzendem Wohnzimmer. Dorthin zog es Coal, dort hatten sie so viele Stunden gesessen.

»Ja. Hast du sie im Krankenhaus besucht?«, fragte sie und fuhr mit den Fingern über die Holzbordüre der geblümten Tapete im Flur.

»Hm, ja, bevor ich hergekommen bin.« Da war Coal vermutlich gerade im Park gewesen, bevor sie sich getraut hatte sich auf den Weg hierher zu machen.

Coal verharrte zögernd. Hannah legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Noch lebt sie, Coal. Sie atmet, sie spricht, sie reißt sogar Witze!«

»Aber sie stirbt. Nicht in zehn Jahren oder in einem Jahr. Jetzt. In diesem Moment. Jede Sekunde könnte ein Anruf kommen, ich …«

Hannah zog sie in eine feste Umarmung und Coal verbarg ihren Kopf an ihrer Schulter. Seit dem Gespräch mit Professor Gamal verbot sich Coal auch nur eine Träne zu vergießen. Vor allem ihrer Großmutter gegenüber wollte sie keine Schwäche zeigen. Sie war schließlich diejenige, die … starb. Nun jedoch brannten ihre Augen und ihre Schultern bebten.

»Alles wird gut.«

»Eben nicht.« Coal löste sich von ihr und wischte sich über das Gesicht. »Lass uns Tee machen.«

Ruths Heilmittel gegen alles. Tee in allen Varianten, am besten lose und kannenweise gekocht.

Hannah lächelte. »Ich übernehme.«

Gemeinsam betraten sie die Küche. Es war kein so großer Schock, wie Coal gedacht hatte, sie ohne ihre Großmutter zu sehen.

Während Hannah Wasser aufsetzte, ging Coal weiter ins Wohnzimmer. Schwerfällig warf sie sich auf das ausgesessene, karierte Sofa. Von dort konnte sie in die Küche gucken und auf den Kamin, der leer und kalt dastand. An den Wänden ringsum waren Regale angebracht, die sich unter der Last von Büchern und anderem Krimskrams beinahe durchbogen. Die viel zu große, viel zu kitschige Stehlampe zwischen Sofa und Sessel hatten Coal und Hannah irgendwann auf einem Flohmarkt entdeckt und Ruth ins Haus geschleppt. Aber das interessierte sie in diesem Moment nicht wirklich. Stattdessen fiel ihr Blick auf den cremefarbenen Umschlag auf dem kleinen Beistelltisch neben ihr. Ihre Großmutter hatte eine furchtbare Schrift, aber Coal erkannte ihren Namen. Vielleicht auch nur, weil ihre Großmutter sie vorgewarnt hatte.

Coal lehnte sich zurück und zog den Brief aus dem Umschlag.

Liebe Coal,

wenn du das liest, hatte ich mit meiner Befürchtung recht und mir geht es sehr schlecht. Ich sterbe. Das ist schon gut so, ich habe lange genug gelebt. Aber es schmerzt mich um deinetwillen. Als deine Eltern dich mir übergaben, hätte ich nicht gedacht, dass es mich so glücklich machen würde. Du hast das Leben einer alten Dame bereichert, Coal. Und ich weiß, du wirst noch viele andere bereichern.Aber genug der rührseligen Worte. Aus Gründen, die nicht meine sind dir mitzuteilen, wie du weißt, konnten deine Eltern nicht so für dich sorgen, wie sie es gerne getan hätten. Doch sie baten mich, dir etwas zu geben, bevor mir etwas zustößt. In Opas Nachttischchen liegt eine Art Box. Mit Sicherheit wirst du den Inhalt merkwürdig finden.Coal, es gibt zu viele Dinge, die ich dir nicht erzählen kann.

Ich hab dich lieb. Pass auf dich auf!Ruth

Das war so typisch für ihre Großmutter. Trotz allem musste Coal schmunzeln. Ruth hatte nie Geduld für Rührseligkeiten gehabt. Wenn sie etwas zu sagen hatte, kam sie sofort zum Punkt. Auch wenn dieser Brief wirklich seltsam war – sogar für Ruths Verhältnisse. Dass es Dinge gab, die sie über ihre Eltern nicht wusste, war ihr klar. Immer schon gewesen. Da war ihre Großmutter hart geblieben, egal wie sehr Coal sie gedrängt hatte.

Sie las den Brief noch mal, dieses Mal aufmerksamer. Ein Stich durchfuhr sie, als sie daran dachte, wie ihre Großmutter diesen Brief geschrieben haben musste. Mit dem Wissen, dass er nur gelesen werden würde, wenn es ihr schlecht ging, wenn sie sterben würde. Sie musste ihn vor längerer Zeit verfasst haben, wenn sie die Worte richtig interpretierte. Ob sie ihn selbst noch hier hingelegt hatte, bevor der Krankenwagen gekommen war? Oder hatte sie eine Nachbarin gebeten ihn für Coal rauszulegen? Vielleicht hatte sie aber auch schon vor einigen Tagen gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Coals Blinddarmdurchbruch hatte Ruth zwei Tage vorher gespürt und sie nicht aus den Augen gelassen, was Coal das Leben gerettet hatte. Manchmal hatte Ruth solche Eingebungen.

Ein leises Klirren riss sie aus ihren Gedanken. Hannah stellte eine Tasse auf den Beistelltisch, aus der weißer Dampf aufstieg. Es war eine von den alten mit blauem Blumenmuster auf weißem Grund.

»Danke«, murmelte Coal abwesend.

Sie spürte Hannahs neugierigen Blick, die es sich in ihrem Stammsessel gemütlich gemacht hatte, und reichte ihr wortlos den Brief.

Während sie las, nahm Coal ihre Tasse. Die Hitze war beinahe schmerzhaft, aber sie hieß die kurze Ablenkung willkommen. Ihre Gedanken wanderten zu ihren Eltern. Als Kind hatte sie sich oft gefragt, warum sie nicht bei ihr waren. Welchen Grund sie hatten, ihr eigenes Kind zurückzulassen. Eine Weile hatte sie geglaubt, unterstützt durch Hannahs überschäumende Fantasie, dass ihre Eltern für einen Geheimdienst arbeiteten und von feindlichen Spionen gejagt wurden. Als sie älter geworden war, hatte sie eine Weile die Schuld bei sich selbst gesucht. Danach war sie wütend auf ihre Eltern gewesen, weil sie Coal all diese Dinge fühlen ließen.

»Hm«, machte Hannah und ließ den Brief sinken. »Ruth ist ja von Natur aus schräg, aber das …«

»Genau.« Coal trank einen Schluck des grünen Tees und verzog das Gesicht. Hannah ließ den Tee meistens zu lange ziehen.

»Was meinst du, was hat das zu bedeuten? Und warum fängt sie jetzt selbst wieder mit deinen Eltern an? Ich dachte, sie wollte dir nie etwas über sie erzählen.«

Coal zuckte mit den Schultern und legte dann den Kopf zurück. Die Decke war weiß, könnte allerdings mal einen neuen Anstrich gebrauchen.

»Und was soll in dieser Box sein? Meinst du, sie hat das geschrieben, als sie was von ihrem Schnaps getrunken hatte?«

»Hannah!« Coal lachte.

»Was?! Sie hat uns unsere ersten Shots gemacht!«

Das stimmte. Ruth war der Meinung gewesen, dass sie sowieso irgendwann trinken würden, also konnte sie genauso gut dabei sein. Ein lustiger Abend, der ihr nun einen weiteren Stich versetzte. Sie hätten mehr Verrücktes machen sollen.

»Ich geh mir ansehen, was sie da im Nachttisch hat«, sagte Coal abrupt und stand auf, einen Moment drehte sich alles.

Als die Welt wieder stillstand, setzte sie sich in Bewegung. Während sie in den Flur ging, spürte sie Hannahs Blick in ihrem Rücken. Diesen ließ sie hinter sich, als sie die Treppe hinaufstieg, die in der Mitte laut knarrte. Mit den Fingerspitzen berührte sie das Geländer. Mehr aus Gewohnheit, denn um sich zu halten. An diesem Nachmittag aber traf vielleicht beides zu.

Auf dem ausgebauten Dachboden befand sich ihr Zimmer, mit Winzbad. Die erste Etage war das Reich ihrer Großmutter. Die Tür zum Schlafzimmer war nur angelehnt und vorsichtig stieß Coal sie ganz auf. Der Raum dahinter war in dumpfes Licht gehüllt, lila Vorhänge bauschten sich vor den Fenstern. Alles war aufgeräumt, das Bett gemacht, und Coal ließ sich vorsichtig auf die mittlerweile unbenutzte Seite der Matratze sinken. Hier hatte ihr Großvater immer geschlafen, den Coal jedoch nie kennengelernt hatte. Als Kind hatte sie aber auf seiner Seite geschlafen. Sein Nachttisch quoll nicht über vor Büchern und Papieren, wie Ruths, und sah seit Jahren unberührt aus. Trotzdem ließ sich die oberste Schublade leicht aufziehen. Sie rechnete fast damit, sie leer vorzufinden, nur gefüllt mit dem muffigen Geruch alter Erinnerungen.

Stattdessen erblickte sie eine kleine Blechdose. Sie war dunkelrot lackiert, an einigen Stellen war die Farbe abgegangen. Die Box war etwa so klein wie eine Streichholzschachtel.

»Was zur Hölle?«, murmelte Coal und schüttelte ungläubig den Kopf. Unglaube, der sich rasch in Zorn verwandelte. Coal ballte die Hände zu Fäusten. Sie konnte es nicht fassen. Wütend schnappte sie sich die Schachtel und öffnete den Deckel hefiger als nötig. Der Inhalt ließ sie das Ding fast in eine Ecke schleudern. All die Trauer, die Angst, die Verzweiflung explodierten in ihrem Inneren. Mit der freien Hand schlug sie auf die Matratze. Das konnte nicht Ruths Ernst sein!

***

»Streichhölzer? Drei verdammte Streichhölzer?«, fauchte Coal und lief vom Sofa zum Kamin und zurück. »Kannst du das glauben?!«

»Nein, aber das werde ich auch dann nicht, wenn du es mir zum zehnten Mal sagst.«

Coal war nach ihrem Fund nach unten in das mittlerweile ausgeleuchtete Wohnzimmer gestürmt und hatte Hannah die Dose in den Schoß geworfen. Seitdem lief sie auf und ab.

»Was hast du denn gedacht, dass es sein würde?«, fragte Hannah seelenruhig, was Coal fast noch mehr anstachelte.

Ruckartig blieb sie stehen. »Keine Ahnung. Ein … ein Erbstück. Oder ein Brief meiner Eltern oder so!«

»Und dann würde es dir jetzt besser gehen?« Hannah trank den vermutlich kalten, letzten Schluck Tee, stellte die Tasse ab und sah sie an. »Wäre jetzt alles besser, wenn du eine rührselige, überflüssige Erklärung deiner nicht anwesenden Eltern in der Hand halten würdest? Oder den ach so tollen Ring, den sich irgendeine verstaubte Urgroßmutter von ihrem mühsam gesparten Geld gekauft hat, besitzen würdest?«

Hannah holte tief Luft, was sie während ihrer Rede kaum getan hatte. Mit der sie Coal allen Wind aus den Segeln genommen hatte.

»Ich … Okay«, murmelte Coal. »Punkt für dich.«

Hannah grinste und winkte sie zu sich heran. Mit dem Gefühl, als wären ihre Beine mit Blei gefüllt, ging sie zu ihrer besten Freundin und setzte sich auf die breite Sessellehne. Hannah legte ihr einen Arm um die Hüfte und Coal lehnte ihren Kopf gegen ihren.

»Ich bin auf deiner Seite, das weißt du«, sagte Hannah. »Und ich verstehe, wenn du wütend sein willst. Darfst du.«

»Aber du bist trotzdem meine Stimme der Vernunft.« Coal grinste, ihr blinder Zorn nahezu verraucht. Sie löste sich aus der Umarmung und ging zum Sofa zurück.

»Ich kann sie ja morgen fragen, was das soll.«

Hannah lächelte sanft.

Stille kehrte ein. Die alten Dielen knarrten leise und die Leitungen gluckerten. Draußen schien der Wind zugenommen zu haben, fuhr heulend durch die Häuserschluchten wie ein Dieb, der nach einer Möglichkeit einzudringen suchte. Wenn er sie fand, klapperten Türen und schlugen Fensterläden. Aber nicht in diesem Haus. Die Welt konnte draußen untergehen, aber Ruths Haus würde stehen bleiben. Eine Zuflucht. Unzerstörbar, wie eine Burg mit Graben und Zugbrücke. Zumindest war Coal das jahrelang so erschienen. Doch jetzt hatten die Ritter die Festung verlassen und Tür und Tor den Feinden geöffnet.

Eine Gänsehaut breitete sich auf Coals Körper aus und sie zog die Beine enger an sich. »Klingt nach einem Sturm.«

Hannah schreckte auf, als wäre sie eingedöst. »Ja, hast du es nicht im Radio gehört?«, fragte sie und streckte sich. »Ist sogar angesagt worden.«

»Echt? Oh.«

Hannah warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Soll ich dir von einer neuen Idee erzählen, die ich hatte? Wenn wir weiter hier herumsitzen und still sind, schlafe ich ein.«

»Klar, raus damit.« Coal machte es sich gemütlich.

Fünf Minuten später war Hannah inmitten einer minuziösen Beschreibung interessanter, historischer Zusammenhänge, die sie für ihr nächstes Buchprojekt verwenden wollte. Ihre begeisterte Stimme übertönte den anschwellenden Lärm von draußen. Nur hin und wieder, wenn eine Windböe gegen das Haus drückte, übertönten die Gewehrschüsse des Regens an den Fensterscheiben sogar sie. Sie erklärte Coal gerade, dass es historisch korrekt wäre, einen Samurai, einen Cowboy, einen gealterten französischen Freibeuter und einen viktorianischen Detektiv ein Abenteuer bestehen zu lassen, als ein lautes Donnergrollen das Gebäude zu erschüttern schien. Hannah fiel vor Schreck fast vom Sessel und Coal setzte sich so ruckartig auf, dass sie eines der Kissen auf den Boden beförderte.

»Wow, das war unheimlich«, sagte Hannah und schlang sich die Arme um den Oberkörper.

Coal stand auf und ging ans Fenster. Kleine Wasserfälle rannen über die Scheibe und ließen die Außenwelt verschwinden.

»Wir sollten …«, setzte Coal an. In diesem Moment wurde die Nacht zum Tag, als ein Blitz aus der Schwärze zuckte. Ein lautes Krachen und Knallen ertönten. Coal machte einen Satz nach hinten, es klingelte in ihren Ohren, und es war stockdunkel.

»… den Strom ausstellen, bevor ein Blitz einschlägt«, beendete sie ihren Satz.

Ihre Stimme klang dumpf in ihren Ohren.

»Coal?«, fragte Hannah mit zitternder Stimme. »Warte, ich hab mein Handy.«

Wenige Sekunden später tauchte ihr Smartphone das Wohnzimmer in scharfes, weißes Licht. Geisterhaft erstrahlte Hannahs Gesicht wie ein Wegweiser für Coal, die sich nun vorsichtig durch den Raum bewegte. Den Lichtschalter probierte sie gar nicht erst. Wenn sie Glück hatten, waren die Sicherungen nur rausflogen. Wenn sie Pech hatten, waren sie komplett durchgeschmort.

»Im Sideboard sind Kerzen. Leuchte mal«, bat Coal und das Licht wanderte durch den Raum. Sie hätte ihren Weg durchs Haus auch mit geschlossenen Augen gefunden, aber das machte es einfacher.

Am Sideboard angekommen griff sie zielsicher in die oberste Schublade und zog drei dicke, hohe Kerzen aus Bienenwachs hervor. »Hast du ein Feuerzeug?«

»Ernsthafte Frage?« Immerhin klang Hannah nicht mehr so verängstigt. »Du hast doch jetzt drei tolle Streichhölzer.«

Coal schnaubte, aber recht hatte sie schon. So wurde dieses … Geschenk wenigstens noch sinnvoll. Langsam und begleitet von Hannahs Licht tastete sich Coal durch den Raum. Auf dem Tisch neben dem Sofa lagen die Zündhölzer. Der Zündstreifen war auf der Unterseite angebracht. Langsam nahm Coal das erste Streichholz heraus. Es lag ihr merkwürdig schwer in der Hand, als hielte sie das gesamte Gewicht des Baums, aus dem das Streichholz vielleicht einmal entstanden war. Unwillig schüttelte sie den Kopf.

»Es werde Licht«, murmelte sie.

Mit einem Zischen flammte das Streichholz auf, eine große Flamme erhellte plötzlich den Raum. Ihr Licht flackerte rhythmisch zu Coals Herzschlägen. Das musste ein Streich ihrer Fantasie sein, das Ergebnis von Angst und Sorge. Sie nahm eine der Kerzen und hielt das Streichholz an den Docht. Kaum wurde er in Feuer getaucht, schoss eine Stichflamme in die Höhe. Sie schrie auf, Hannah rief etwas, während das goldene Licht so hell wurde, dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Gleichzeitig schien ihr jemand in den Magen zu boxen. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst und sie spürte, wie Streichholz und Kerze ihren Fingern entglitten. Sie schien zu stürzen, zu fallen, als hätte der vor dem Haus heulende Sturm sie gepackt und schleuderte sie nun durch die Gegend.

Bis das Gefühl des Fallens so abrupt endete, wie all das begonnen hatte.

Etwas Feuchtes, Kaltes drückte sich gegen ihre Wange, sickerte durch ihre Kleidung und drang ihr bis in die Knochen. Ein Geruch nach Moder und Erde stieg ihr in die Nase. Außerdem lag sie auf dem Boden.

Coal riss die Augen auf. Wenige Zentimeter von ihrer Nasenspitze entfernt befand sich ein großer, moosbewachsener Stein, nasses Gras kitzelte ihre Haut. Am Rande ihres Blickfelds sah sie Hannahs blonde Haare. Mit einem Ruck fuhr sie in die Höhe. Ihr klappte der Mund auf, aber kein Ton drang über ihre Lippen, trotz der tausend Fragen in ihrem Kopf. Hohe Tannen umgaben sie, nur dämmrige Streifen Himmel zwischen den Wipfeln waren sichtbar. Sie befanden sich in einem Wald.

2. Kapitel

Gavin

Gavin spähte über Fulvias Schulter und überflog die hastig hingekritzelten Zeilen, als seine beste Freundin und Mitjägerin keine Anstalten machte, den Brief vor ihm zu verstecken. Die Worte ließen ihn leise seufzen und er kehrte zu seinem Platz im Sessel am Fenster ihres gemeinsamen Arbeitszimmers zurück. Es war nicht das erste Mal, dass eine von Fulvias Bekanntschaften den Kontakt abbrach, sobald ihr bewusst wurde, wie viel Zeit Fulvia mit ihrer Arbeit verbrachte. Jägerinnen und Jäger, eine Art Gruppe von Auserwählten, die angeblich besser waren als die »einfachen Wachen« und sich für die Ausbildung durch besondere Prüfungen qualifizieren mussten, waren ein beliebtes Ziel für Annäherungsversuche. Allerdings auch äußerst schwierig im Unterhalt, wie ein älterer Jäger einmal spöttisch zu Gavin gesagt hatte.

»Sie hat länger gebraucht, als ich gedacht hätte«, erklärte Fulvia und warf den Brief auf den chaotischen Stapel auf ihrem Schreibtisch, vor dem sie stand.

»Fulvia …«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist in Ordnung. Weißt du, was wir heute zu tun haben?«

Wenn sie nicht darüber reden wollte, konnte Gavin nicht viel tun, also ließ er das Thema widerstrebend fallen. Solange ihnen noch ein ganzer Arbeitstag bevorstand, würde sich Fulvia ohnehin kaum von diesem ablenken lassen. Mit recht, für den Turm der Hoffnung zu arbeiten forderte alles an Konzentration, das er aufbringen konnte. Er war zwar schon als Kind für diese Aufgabe auserwählt worden, übte seit Jahren, aber gerade in letzter Zeit fühlte er sich jeden Abend wie erschlagen. Er konnte es kaum erwarten, bald die letzten Prüfungen der Akademie der Jagenden abzulegen. Dann würden sie sich ihre Aufgaben in einem gewissen Rahmen aussuchen können und waren nicht nur für die Arbeit verantwortlich, die kein anderer übernehmen wollte. Das Los derer, die am unteren Ende der Nahrungskette standen.

»Gavin«, lenkte Fulvia seine Aufmerksamkeit ungeduldig wieder zurück in die Gegenwart.

»Jaja … Wir sollen zum Kantenwald gehen. Irgendetwas hat den Weidezaun eines Bauern in der Nähe eingerissen, wir sollen uns das näher ansehen«, beantwortete er ihre Frage und verdrehte die Augen. »Ist das überhaupt die Aufgabe der Akademie?«

Fulvia schaute ihn mahnend an. »Als Jäger der Akademie bist du dafür verantwortlich, die Bevölkerung der Insel zu schützen. Egal vor welchen Gefahren und wenn es nur ein wildgewordener Eber ist.«

»Das hast du schön auswendig gelernt«, murmelte Gavin.

Und hob bei ihrem noch finsterer werdenden Blick abwehrend die Hände. Für Fulvia war ihr Dasein als Jägerin der Akademie der Jagenden das Allergrößte. Es war ihre Gelegenheit, sich zu beweisen. Als Tochter von Ausgestoßenen war sie von Anfang an misstrauisch beäugt worden. Unberechtigterweise, wie Gavin fand, aber er war selbst nur der Sohn einfacher Leute. Die einzige Möglichkeit, wie er Fulvia helfen konnte sich einen Namen zu machen, war, Seite an Seite mit ihr seine Arbeit so gut er konnte zu verrichten.

»Na komm, lass uns gehen. Je schneller wir das erledigt haben, desto schneller sind wir auch wieder hier«, sagte er versöhnlich.

Fulvia schien einen Moment zu überlegen, ob sie ihm doch einen Vortrag halten sollte, dann nickte sie ergeben und setzte sich in Richtung Tür in Bewegung. Sie trug bereits ihre komplette Uniform, schwarze Hose und eine enge, rote Jacke mit silbernen Knöpfen. Während Gavin ihr folgte, schnappte er sich schnell seine eigene Jacke und streifte sie über. Am Gürtel hing seine Feuerwaffe und in seinem Stiefel steckte zur Sicherheit ein Messer.

Gegen einen wildgewordenen Eber würde er beides nicht brauchen, dafür wären andere zuständig, aber es bestand immer eine geringe Möglichkeit, auf etwas anderes zu stoßen. Etwas weitaus Gefährlicheres, das sich sofort auf sie stürzen würde, hatte es sie einmal gewittert. Allerdings war das sehr unwahrscheinlich. Die Brücke war so gut bewacht, niemand würde dort hindurchkommen. Und sich dann auch noch quer über die halbe Insel schlagen, bis zum östlichen Rand im Kantenwald, ohne entdeckt zu werden.

Sie verließen das Gebäude der Akademie, in dem die beiden Zimmer lagen, die sie sich teilten, und traten auf den großen Platz. Wobei dieser eher wie ein Trichter riesigen Umfangs wirkte. An seinem tiefsten Punkt ragte der Turm der Hoffnung in den Himmel, umgeben von einer nicht allzu hohen Mauer. Auf den ersten Blick kein Hindernis, das schwer zu überwinden war – und doch betrat niemand den Turm. Nicht einmal der Rat. Das hoch aufragende Gebilde lenkte stets die Aufmerksamkeit auf sich und war gleichzeitig noch weiter entfernt als die Schwesterinsel auf der anderen Seite der Brücke.

Gavin schüttelte den Kopf und beeilte sich zu Fulvia aufzuschließen, die schon auf halbem Weg zu den Stallungen war.

Der mittlerweile grauhaarige Stallmeister überwachte eine Handvoll seiner Lehrlinge, die gerade dabei waren, Sättel und Zaumzeug zu reinigen. Er nickte ihnen zu, als er sie bemerkte.

»Auftrag?«, fragte er und kratzte seinen noch überraschend schwarzen Vollbart.

»Ja. Zum Kantenwald«, antwortete Gavin.

»He, das Leder ist mehr wert als drei eurer Monatslöhne! Passt besser auf, verdammt noch mal!«, knurrte der Stallmeister an zwei der Jungen gerichtet und Gavin musste ein Grinsen unterdrücken. Für kein Geld der Inseln würde er für den breitgebauten Mann arbeiten wollen.

»Ihr seid zum richtigen Zeitpunkt gekommen«, wandte sich der Stallmeister wieder an sie, während er mit Argusaugen seine Lehrlinge beobachtete. »Die Nichtsnutze haben gerade Pferde von den Weiden geholt und geputzt. Sucht euch zwei aus.«

Das war definitiv ein Angebot, das sie nicht ausschlagen würden, also beeilten sie sich im Stall zu verschwinden.

Die Mehrheit der Boxen war leer, die meisten Pferde befanden sich auf den Weiden direkt außerhalb des Trichters. Gavin entschied sich für einen Rappen, den er schon einige Male geritten war, und Fulvia führte einen Schecken aus seiner Box. Zaumzeug und Sättel waren schnell gefunden und in kürzester Zeit verließen sie auf dem Rücken der Pferde den Trichter.

Rund um diesen breiteten sich ordentlich angelegte Straßen aus, die die einzelnen Viertel voneinander abtrennten, und sie wählten jene, die sie am schnellsten aus der Hauptstadt in Richtung Landesinnere herausführen würde. Da hier entlang der Straße hauptsächlich Mitglieder der Wache und der Akademie wohnten und diese alle bei der Arbeit waren, sahen sie kaum andere Menschen.

Je weiter sie sich vom Trichter entfernten, desto schlechter wurde der Zustand des Kopfsteinpflasters, bis es von Erde abgelöst wurde und die Häuser schließlich durch grasbewachsene Hügel ersetzt wurden. Über ihren Köpfen breitete sich ein blassblauer Himmel aus. Wäre das Land hier flacher, würde Gavin den Horizont sehen können, wo die helle Farbe immer dunkler wurde und schließlich in ein schwarzes Nichts auslief. Die Erschafferin der Inseln hatte zwei wundersame Orte erschaffen, die zwar nicht groß waren, aber deren Geheimnisse nie gänzlich gelüftet schienen. Doch dahinter war nichts, nur ein endloses, ewiges, dunkles Meer.

Was, wenn man Gavin fragte, wenig Sinn ergab, denn irgendwohin war die Erschafferin ja verschwunden. So etwas gehörte allerdings nicht zu den Dingen, die man gegenüber dem Rat äußerte, also behielt er sie für sich.

»Was für Informationen haben wir über das, was die Weide des Bauern zerstört hat?«, fragte Fulvia in diesem Moment.

Beinahe unheimlich, wie sie immer zu wissen schien, wann er gefährlichen Gedanken nachhing.

»So gut wie keine«, antwortete Gavin und schnitt eine Grimasse. »Er hat nichts gesehen oder gehört. Abends war alles in Ordnung und am nächsten Morgen war der halbe Zaun eingerissen, hat die Wache erzählt, die seine Aussage zur Hauptstadt gebracht hat.«

»Waren Tiere auf der Weide?«

»Nicht einmal das.«

Fulvia schnalzte frustriert mit der Zunge. »Auf die Gefahr hin, dir schlechte Laune zu bereiten: Ich glaube nicht, dass wir heute zur Akademie zurückkommen.«

Nach jahrelanger Freundschaft stellte Gavin ihre Intuition nicht mehr infrage. Auch wenn ihm das an diesem Tag noch viel weniger gefiel als sonst. Mit einem abgrundtiefen Seufzen trieb er sein Pferd an, bis es bereitwillig in einen Galopp verfiel.

***

Der Bauer stand neben ihnen und wrang hilflos die Hände. Mit nicht enden wollender Geduld stellte Fulvia ihm eine Frage nach der anderen, während Gavin sich den zerstörten Zaun genauer ansah. Er hatte eine der Laternen, die ihnen der Bauer gegeben hatte, neben sich auf den Boden gestellt und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Zerstörung. Das Zwielicht, das so nah an der Kante der Insel stets herrschte, erschwerte seine Aufgabe zusätzlich. Irgendetwas hatte sich mit ziemlicher Gewalt einen Weg durch die Holzlatten gesucht und ihre Splitter überall verteilt. Sie knirschten, wann immer Gavin mit schweren Stiefeln auf sie trat. Leider hatte die Kreatur in ihrem Versuch, die Barriere zu durchbrechen, auf dem Boden eine Menge Zerstörung hinterlassen und jede brauchbare Spur zerstört.

Was ihm allerdings eines verriet: Er würde schwören, dass kein wildgewordener Eber dafür verantwortlich war. Außerdem, im Hinblick auf das Muster der Trümmerteile war der oder die Unbekannte nicht eingebrochen, sondern von der Weide aus geflohen.

Langsam drehte sich Gavin um sich selbst, um den Rest der Weide zu betrachten. »Gibt es irgendwo noch andere Spuren?«

Der Bauer unterbrach sich mitten im Satz und blinzelte ihn an.

»Nein, nur hier«, antwortete er nach einem längeren Zögern, als eine so einfache Frage gerechtfertigt hätte.

Das war … nicht gut. Gavin drehte sich wieder zu den Überresten des Zauns um, konzentrierte sich nun mehr auf den Wald, der kurz hinter der Weide begann. Die Bäume bildeten eine dunkle Wand aus verdrehten Stämmen und dornigem Gestrüpp. Das war nur gerecht, entschied Gavin. Nur etwas, das hart und widerstandsfähig war, konnte so nah an der Kante der Insel überleben. Er hatte wirklich kein Interesse daran, diesen Wald zu betreten – aber er war sich nicht sicher, ob er heute eine Wahl haben würde.

»Was denkst du?«, riss in Fulvias Stimme aus seinen Gedanken. Sie war unbemerkt an ihn herangetreten und mit einem kurzen Seitenblick stellte er fest, dass sie den Wald genauso beobachtete.

Der Bauer ging langsam in Richtung seines kleinen Hauses zurück.

»Etwas ist in den Wald hineingelaufen und von hier gekommen«, erklärte Gavin und machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung Insel hinter ihnen. »Es hat keine Spuren auf dem Weg bis zum Zaun hinterlassen und erst hier mit der Zerstörung begonnen.«

Fulvia kaute auf ihrer Unterlippe herum und schaute ihn dann an, ihre braunen Augen groß und flehend. »Gavin …«

Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass es nicht das war, was sie beide gerade dachten. Dass es eine andere Erklärung gab.

»Hat er von irgendetwas Merkwürdigem in der Siedlung erzählt?«, fragte er, gab ihnen noch einen Moment, in dem sie nicht an die logischste Schlussfolgerung denken mussten.

»Sein Cousin ist vorgestern verschwunden«, gab Fulvia leise zu und schluckte. Ihre Finger spielten mit dem Saum ihrer Jackenärmel, ehe sie zu ihren losen, schwarzen Haarsträhnen glitten und sie hinters Ohr strichen.

»Er muss … von einer gefunden worden sein«, erklärte Gavin langsam, vorsichtig. »Sie hat ihn dazu gebracht, zu verschwinden und in den Wald zu gehen. Bis hierhin hat er die Kontrolle bewahrt.«

Fulvias Arme fielen an ihren Seiten hinab und sie schloss kurz die Augen. Atmete mehrmals tief ein und aus.

Als sie ihn wieder ansah, war ihr Gesichtsausdruck klar und kalkulierend.

»Dann müssen wir auch in den Wald«, sagte sie entschlossen.

»Ich habe befürchtet, du würdest etwas in die Richtung vorschlagen.« Gavin fuhr sich durch seine schwarzen, vom Reiten abstehenden Haare. »Vielleicht sollten wir zum Turm zurückkehren und Verstärkung holen.«

»Für eine einzige?« Fulvia warf ihm einen ungläubigen Blick zu, der mehr als deutlich sagte, was sie von seinem Vorschlag hielt.

Und sie hatte ja recht. Sie waren fast am Ende ihrer Ausbildung und damit durchaus in der Lage, sich um diese Situation zu kümmern. Gavin wusste außerdem, dass Fulvia sich später auf genau solche Aufträge stürzen würde. Sie hatte einen Hang zur Selbstzerstörung, wenn man ihn fragte. Aber das hatte auch einen Grund: Ihre Eltern waren kurz nach ihrer Geburt überwältigt worden und von Jägern des Turms über die Brücke auf die andere Insel getrieben worden. Denn niemand, der mit den Ängsten in Berührung kam, durfte auf der Insel der Hoffnung weiterleben. Für die Ängste und jene, die von ihnen kontrolliert wurden, gab es nur einen Ort, nur ein Schicksal und keine Zukunft mehr.

Der Gedanke ließ ihn schaudern und er konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe.

Mit einem Mal wurde die Dunkelheit über dem Wald von einer Stichflamme erleuchtet. Wie eine überdimensionale Kerze schoss sie in die Höhe, verharrte einen Moment und verschwand, als hätte man sie ausgepustet.

3. Kapitel

Coal

»Ich glaube, ich spinne.«

Coal zuckte zusammen und fuhr herum. Aber es war nur Hannah, die sich gerade aufsetzte. Erde klebte an ihrer Wange und ihre Haare standen wirr ab. Ihr Béret schien verloren gegangen zu sein.

»Nicht nur du.« Mit ungelenken Bewegungen erhob sich Coal. Ihre Beine zitterten, ihr ganzer Körper bebte. Verwirrung und Angst brodelten in ihr, machten es ihr noch schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht hatte Ruth etwas in ihren losen Tee gemischt und sie erlebten gerade ihren ersten Drogentrip. Denn das, was hier gerade passierte, konnte einfach nicht real sein.

Hannah trat neben sie und tastete nach ihrer Hand. Es war tröstlich, nicht allein hier zu stehen. Nicht allein das Gefühl zu haben, ihr Verstand könnte ihr jeden Moment entgleiten.

»Das ist nicht real, oder?« Hannahs Stimme war hoch und schwankte. »Es kann nicht real sein.«

»Nein, kann es nicht«, stimmte Coal tonlos zu.

Sie traute sich nicht auch nur einen Schritt zu machen. Was, wenn sie anfing herumzulaufen und sie immer noch im Wald wären? Was, wenn sich diese Traumwelt nicht einfach auflöste? Stattdessen ließ sie den Blick schweifen. Schnell verlor sich die Umgebung in merkwürdiger, zwielichtiger Dunkelheit. Coal konnte nur hohe Tannen erkennen, mit verdrehten, breiten Stämmen, und hin und wieder Felsen und Büsche. Der Wind rauschte in den Wipfeln, aber es war nichts mehr von dem Sturm zu hören, der an den Fundamenten des Hauses gerüttelt hatte. Ihr Blut rauschte jedoch so laut wie Donnerschläge in ihren Ohren.

Ein vernehmliches Knacken schallte durch den Wald, gefolgt von einem Rascheln. Hannah umklammerte ihre Hand schmerzhaft fest.

»Was war das?«, fragte sie, aber Coal antwortete nicht.

Ein urtümliches Gefühl von Angst hatte sich ihrer bemächtigt. Ihre Sinne schienen auf einmal geschärft, ihre Ohren schmerzten fast, so angestrengt lauschte sie, ihre Augen durchdrangen das Zwielicht. Sie fing einen fernen, süßen Geruch auf, gefolgt von einem bitteren Geschmack auf ihrer Zunge. Und dann ertönte das nächste Knacken, das aus einem Gebüsch wenige Meter von ihnen entfernt kam.

»Da kommt etwas«, flüsterte Coal und starrte auf das dunkle Dickicht. Die kleinen Blätter zitterten.

Gefahr!, schrien ihre Instinkte, die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf und ein elektrischer Schlag ließ ihre Muskel

»Wir sollten verschwinden«, zischte sie.

Hannah stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen einem hysterischen Lachen und einem Wimmern lag. »Verschwinden?! Wir saßen gerade noch in einem Wohnzimmer und jetzt … Wir sind verschwunden und jetzt sollen wir wieder verschwinden in einem Wald und …«

Eine dunkle Gestalt brach aus dem Gebüsch. Sie gab ein hohes Kreischen von sich, das Coals Ohren klingeln ließ. Eine heftige Woge von Angst erfasste sie und ließ ihr die Knie weich werden.

»Lauf!«, schrie Coal trotzdem und rannte stolpernd los, Hannah die ersten Schritte hinter sich herziehend, bevor sie von selbst zu laufen begann. Wurzeln knackten unter ihren raschen Schritten, Äste zerrten an ihnen und Coal kam sich vor wie in einem Albtraum, in dem man rannte und rannte und rannte und nicht von der Stelle kam, denn der Wald sah überall gleich aus. Als sie einen Blick über die Schulter riskierte, folgte ihnen der Schemen immer noch. Und kam näher. Keuchend und halbblind von der Dunkelheit hasteten sie weiter.

»Da vorne wird es heller«, schnaufte Hannah und Coal blinzelte. Wirklich, da vorne schoben sich die Bäume auseinander und offenbarten eine kleine Lichtung – oder sogar das Ende des Waldes. Die Aussicht spornte sie zusätzlich an. Sie waren nur zwei Meter vom rettenden Licht entfernt, als Hannah ruckartig stehen blieb und Coal ebenfalls zum Halten zwang. Coal brauchte nur einen Herzschlag, um zu begreifen warum. Eine schulterhohe Hecke aus dornigen Ranken versperrte ihnen den Weg.

»O nein«, wimmerte Hannah und wirbelte herum, ihre Hand glitt aus Coals.

Sie hörte die Geräusche, bevor sie sich umdrehte; ein großer Körper näherte sich. Die Zeit schien langsamer zu vergehen, die Details der surrealen Szenerie stachen deutlich hervor. Der menschenähnliche Körper der Gestalt. Das rot durchzogene Weiß der weit aufgerissenen Augen. Violette Schlieren, die durch die Luft waberten. Arktische Kälte, die auf ihrer Haut brannte.

»Ducken!«, schrie jemand und die Zeit schoss nach vorne.

Die Beine gaben unter ihr nach und zum zweiten Mal fand sie sich auf dem Boden liegend wieder. Etwas zischte über ihren Kopf und ein schmerzerfülltes Kreischen zerrte an allen ihren Sinnen gleichzeitig. Stille kehrte ein. Ihr Atem kam Coal nun unnatürlich laut vor.

»Ihr könnt aufstehen«, sagte die gleiche Person, die eben schon gesprochen hatte.

Langsam hob Coal den Kopf. Schwarze, geschnürte Stiefel traten zuerst in ihr Blickfeld. Eine Hand tauchte auf und reflexartig ergriff sie sie und ließ sich aufhelfen. Eine gleichgroße und vermutlich gleichaltrige junge Frau stand vor ihr. Schwarze Haare flossen ihr über die Schultern und hoben sich auffällig von ihrer roten Jacke ab. Diese wirkte wie etwas, das man im letzten Jahrhundert beim Militär getragen hatte, fester Stoff, sparsame, silberne Nähte und Knöpfe in zwei parallelen Reihen. Hinter ihr entdeckte sie einen etwa gleichaltrigen jungen Mann mit ähnlicher Kleidung, der gerade Hannah aufgeholfen hatte. Schwarze Locken streiften seine breiten Schultern, der Blick seiner braunen Augen war ernst. Neben der Bleichheit seiner Begleitung wirkte seine schon fast goldene Haut noch dunkler. Beide sahen aus wie ganz normale Menschen. Allerdings waren sie mitten in einem Wald aufgetaucht, in dem Coal und Hannah gar nicht sein konnten, nachdem sie von irgendeinem Tier verfolgt worden waren. Vielleicht waren die beiden Fremden auch Aliens. Wer wusste das schon. Coal sicher nicht, denn sie hatte das Gefühl, überhaupt nichts mehr zu wissen.

»Was war das?«, fragte Hannah, ihre Stimme war zwei Oktaven in die Höhe geschossen und automatisch stellte sich Coal vor sie.

Das Mädchen hob die bloßen Hände, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet war. Aber irgendwas hatte das Wesen vertrieben, also traute Coal dem Frieden nicht.

»Mein Name ist Fulvia«, erklärte die Fremde und hielt ihrem Blick problemlos stand. »Das ist Gavin.«

Was rein gar nichts erklärte, daher antwortete Coal nicht. Ihre Gedanken begannen zu rasen, nachdem sie sich einige Minuten nur auf ihr Überleben konzentriert hatte. Ein Drogentrip war das sicher nicht! Der Junge, Gavin, machte eine unruhige Bewegung.

»Es könnten noch mehr hier sein. Wir sollten …«

»Wir gehen nirgendwohin, solange wir nicht wissen, was hier vor sich geht«, unterbrach Coal ihn scharf. »Wir waren gerade im Wohnzimmer meiner Großmutter und dann ist der Strom ausgefallen! Ich habe dieses bescheuerte Streichholz angezündet und auf einmal waren wir hier!«

Das Streichholz. Ihre Hand fuhr zur Tasche ihres Pullovers und ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihr, als sie das Döschen hervorzog.

Im nächsten Moment erstarrte sie. Fulvia und Gavin sanken vor ihr auf die Knie, die Augen niedergeschlagen.

»Sind sie … verrückt oder so?«, flüsterte Hannah und lugte an Coal vorbei, die perplex auf die beiden hinunterstarrte.

»O mein Gott, Coal, deine Haare!«

Hannahs lauter Ausruf ließ sie zusammenzucken. »Wovon sprichst du?«

Hannah nahm eine ihrer Haarsträhnen zwischen die Finger und hielt sie ihr vors Gesicht. Sie war nicht rot und glänzend wie der Rest ihrer Haare. Sie war schwarz wie Kohle.

»Was zum?«, murmelte sie und berührte die Strähne ungläubig. Sie war echt – und gerade noch nicht da gewesen. »Das muss ein Traum sein. Ein verrückter, unmöglicher Traum.«

Sie hörte Fulvia und Gavin leise flüstern und konzentrierte sich erneut auf die beiden, die vermutlich ein paar Antworten hatten.

»Was geht hier vor? Ihr wisst es doch, oder? Und hört mit dem Geknie auf, verdammt!«

Langsam erhoben sich die beiden, aber ihren Gesichtsausdruck fand Coal nur bedingt besser. Fulvia starrte sie aus riesigen, braunen Augen an, den Mund einen Spaltbreit geöffnet. Gavin schien sein Erstaunen besser zu verbergen, auch wenn er sie ohne Zweifel sehr intensiv musterte.

Er blinzelte, als ihm sein Starren auffiel, und sein Blick flackerte zwischen den Bäumen umher. »Jetzt sollten wir erst recht hier verschwinden.«

»Stimmt.« Fulvia schüttelte sachte den Kopf und versuchte sich an etwas, das wohl ein beruhigendes Lächeln sein sollte. »Ich verspreche euch, ihr werdet eine Erklärung bekommen. Aber zuerst müssen wir euch in Sicherheit bringen.«

Hannah stieß einen leisen, verängstigten Laut aus. »Sind hier noch mehr von den … was auch immer?«

Instinktiv schaute sich Coal ebenfalls um. Nichts, nur Zwielicht und Wald. Allerdings war das Wesen von vorhin ganz plötzlich erschienen. Zwischen den Bäumen und Sträuchern gab es genug Orte, um sich zu verstecken. Vielleicht war Fulvias und Gavins Idee nicht die schlechteste. Und wenn sie aus dem Wald heraus waren, würden sie eine Möglichkeit haben, sich zu orientieren. Mithilfe von Straßenschildern oder Himmelsrichtungen oder so etwas. Ein großer Teil von Coal war immer noch davon überzeugt, dass das alles ein Traum war – aber vielleicht waren sie beide im Schlaf aus dem Haus gegangen und in einem Wald gelandet? Das … klang nicht einmal in ihrem Kopf nach einer plausiblen Erklärung.

»Vermutlich nicht«, antwortete Fulvia auf Hannahs Frage, sah sich allerdings selbst ständig um.

»Okay, verschwinden wir von hier«, stimmte Coal zu und nickte den beiden zu.

Fulvia schien erleichtert über ihre Zustimmung und setzte sich an die Spitze ihrer kleinen Gruppe. Mit sicheren Schritten führte sie sie zwischen den Bäumen hindurch und mit jedem Meter wurde es etwas heller. Merkwürdig, denn Coal hätte schwören können, dass tiefste Nacht herrschte. Gavin hatte sich hinter ihnen positioniert, wie ihr außerdem auffiel. Was sie wieder an das plötzliche Ableben und Verschwinden des dunklen Schattens erinnerte. Ein Traum. Das musste ein Traum sein.

Coal fuhr fort sich das einzureden, als sie den Wald verließen und eine kleine Weide erreichten, die im dämmrigen Licht eines späten Nachmittags dazuliegen schien. Sie sagte sich das in Gedanken immer wieder, während sie über das Gras marschierten. Sie wiederholte es und nickte und beobachtete, wie sich Fulvia kurz von ihnen verabschiedete, um »die Pferde zu holen«. Pferde, klar. Hannah hatte ihr einfach zu viel von ihren Ideen für Geschichten erzählt und jetzt träumte sie davon, gemeinsam mit ihrer besten Freundin in einer anderen Welt gelandet zu sein. Ganz einfach.

»Das … das ist ein Traum, oder?«, fragte Hannah.

Von einer Traumfigur kommend war das natürlich eine seltsame Frage, aber in ihrem Kopf war schließlich nichts unmöglich, richtig?

»Was sonst?«, gab Coal abwesend zurück und schaute zu Gavin, der ein paar Schritte entfernt an einen Zaunpfahl der Weide gelehnt dastand und offensichtlich versuchte sie nicht allzu genau zu beobachten. Trotzdem blieb sein Blick immer wieder an ihr hängen. Er war gut aussehend, entschied Coal. Was die Traum-Theorie noch weiter stützte.