Der 9. November - Bernhard Kellermann - E-Book

Der 9. November E-Book

Bernhard Kellermann

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Beschreibung

Mit seinem Roman »Der 9. November« schrieb Bernhard Kellermann 1920 den ersten Bestseller der jungen Weimarer Republik. Den Stoff lieferten ihm die Ereignisse der Zeitgeschichte: die Schrecken des Ersten Weltkriegs, das Massensterben an der Front, die Leiden der Bevölkerung in der Heimat und der Zynismus der Herrschenden. Die furiose Abrechnung mit dem Wilhelminischen Kaiserreich mündet in einen Hymnus auf die Novemberrevolution von 1918. Umjubelt befreit sie die Menschheit aus dem Bann von Hass und Gewalt. Kellermanns Buch ist Kriegsroman, Gesellschaftsroman und Berliner Großstadtroman in einem. Vor allem aber ist es das eindrucksvolle literarische Dokument einer zentralen Krisenphase der deutschen Geschichte und ein beschwörender Aufruf zu Humanität und Völkerverständigung.

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Seitenzahl: 624

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Die Originalausgabe ist 1920 beim S. Fischer Verlag, Berlin, erschienen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Umschlagabbildung: Spartakusaufstand in Berlin, Brandenburger Tor, 1919

© Imago History Collection / Alamy Stock Foto

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4617-9

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4636-0

eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4637-7

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Inhaltsverzeichnis

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Informationen zum Autor

Impressum

Inhalt

Erster Teil

Erstes Buch

1

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Zweites Buch

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Drittes Buch

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Viertes Buch

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Zweiter Teil

Erstes Buch

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Zweites Buch

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Drittes Buch

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Viertes Buch

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Nachwort

Erster Teil

Erstes Buch

1.

Einige Ordonnanzen, die die Treppe emporeilten, blieben plötzlich wie angewurzelt stehen, ein junger ordenglitzernder Hauptmann mit rosigen Wangen, eben im Begriff sich zu schneuzen, verbarg in äußerster Hast das Taschentuch, und nur einem Drillichkittel gelang es noch im letzten Augenblick, in die Portierloge zu entkommen: oben auf der Treppe leuchtete der hellrote Mantelaufschlag eines Generals.

Mit breitem Steingesicht, den Blick verborgen in den grauen Augenhöhlen, die massige Gestalt von schweren Gedanken eingehüllt, stieg der General v. Hecht-Babenberg langsam und ohne jede Eile die breite Granittreppe zum Foyer hinab. Die Augen der angewurzelten Ordonnanzen folgten ruckweise jedem seiner Schritte, der junge ordenglitzernde Hauptmann mit den rosigen Wangen erstarrte in seiner Verbeugung.

Der General nahm nicht die geringste Notiz von ihnen. Ganz Kälte, ganz Würde, ganz Sammlung schritt er zwischen ihnen hindurch. Seine Lackstiefel blitzten, und ein feiner Parfümgeruch blieb hinter ihm zurück.

In diesem Augenblick stürzte der Portier aus seiner Loge und überreichte dem General einen Brief.

»Soeben abgegeben, Euer Exzellenz!«

Zögernd trat der General unter die Bogenlampe, die aus der Decke des Foyers herabhing. Der Umschlag des Briefes, dünn, ein ungewöhnliches, giftiges Hellgrün, mißfiel, die Schrift. Er drehte den Brief mißtrauisch zwischen den Fingerspitzen. Ganz offenbar empfand er es als eine Verletzung der Achtung, die man seinem Range schuldete, ihm einen Brief von derart geschmackloser, ja unangenehmer Färbung zu senden. Die Stirn zuckte. Ohne Absender, eilt, persönlich –

Dann aber fuhr er entschlossen in den Pelz, unter den hellroten Aufschlag, und holte den goldenen Kneifer hervor. Eine feine Ziegelröte überzog langsam das breite Steingesicht, den Hals, der aus dem gestickten Kragen hervorquoll, das knorpelige, große Ohr – er faltete den Brief zusammen und schob ihn unwillig in die Manteltasche.

»Wer hat den Brief – ?«

»Ein Herr, ein älterer Mann – soeben – «, stammelte der Portier und schwankte bestürzt auf den dünnen Beinen.

Der Portier, ein alter Mann, Veteran von 1870, allerlei Münzen und Medaillen auf der Brust, kannte seine Leute. Schon an der Art, wie Exzellenz den Brief zwischen den Fingerspitzen drehte, hatte er erkannt, daß Exzellenz ungehalten waren. Aber dieser ältere Herr hatte solange auf ihn eingeredet – sein einziger Sohn – eine Audienz, hm – sogar eine Zigarre – und schließlich war es ja nur ein Brief, richtig adressiert, wie täglich Dutzende in seiner Loge abgegeben wurden.

»Ein älterer, etwas kleiner Herr, Euer Exzellenz. Vor zehn Minuten. Er ist schon öfter hier gewesen und fragte nach Euer Exzellenz.«

»Öfter hier gewesen?«

»Ja, schon einigemal – und – ah, ah: da ist er ja – an der Türe!« rief der Portier plötzlich erleichtert aus.

Ein kleines Gesicht von glänzender, stahlblauer Blässe, wie blauer Schnee, hatte sich in diesem Augenblick der Scheibe der Türe genähert, vorsichtig, spähend. Eine Larve eigentlich, kein Gesicht, eine faustgroße Larve mit Gramfurchen und blinkenden Augen.

Der General drehte den Kopf – aber sofort prallte das kleine blaue Gesicht wieder von der Scheibe zurück. Ein steifer Hut, ein Havelock verschwanden in der tiefblauen Dämmerung.

»Da – nun läuft er.« Der Portier murmelte ärgerlich vor sich hin und warf das Gewicht seines hageren Körpers gegen die schwere Türe. »Und mir macht er Scherereien. So sind sie!«

Ganz Kälte, ganz Würde und Sammlung schritt der General die Granitstufen hinab, ohne einen Blick auf die Straße zu werfen. Ungeduldig surrte der Motor der grauen Limousine.

Der Wagenschlag klappte, der Portier machte seinen gewohnten tiefen Bückling, und die Limousine flog dahin.

Der General vergrub das Kinn in den Pelz.

»Dieser Schurke!« dachte er und das Steingesicht zitterte. »Aber es sieht ihm ähnlich!«

Die Augen in den tiefen Höhlen sprangen auf – hier im dunkeln Wagen, wo aufdringliche Blicke ihn nicht belauerten, konnte er getrost die Augen öffnen – es waren helle, große Augen, geschliffene Linsen.

An der Ecke des großen roten Amtsgebäudes stand der kleine ältere Herr im Havelock und zog den steifen Hut, als der Wagen des Generals vorüberjagte. Sein Gesicht, blau wie Schnee, leuchtete, und auch seine Glatze leuchtete blau.

Tiefblau und glänzend wie Stahl sank die Dämmerung des nassen Wintertags über Berlin. Die Scheiben des Autos glänzten, irgend etwas glitzerte hoheitsvoll im Innern –. Da verschlang eine stickige Rauchwolke den Wagen. Augenblicklich aber betrat der Mann im Havelock den Fahrdamm und folgte dem Auto des Generals mit kleinen eiligen Schritten, als ob er es einholen wolle.

Die Limousine flog durch die dämmerigen Straßen und überspülte die Fußgänger mit einer Welle von Schneewasser und Schmutz. In dem Luftwirbel zwischen den hinteren Pneus tanzten schmutzige welke Blätter, die aus dem Tiergarten herübergeweht worden waren, und ein Zeitungsblatt, das ein Passant, in der Eile sein Leben in Sicherheit zu bringen, verlor, rollte rasend hinterher. Bei den Kurven pflügten die Hinterreifen breite Schlittenspuren in den klebrigen Schmutz. Die Hupe dröhnte, die Marspfeife trillerte. Achtung!

Die flüchtenden Fußgänger erblickten nichts als einen Pelz, eine Mütze und, wenn sie Glück hatten, das leuchtende Rot des Mantelaufschlags. Ein General! Einer von jenen Auserwählten, die die Schlachten schlagen, von denen die Heeresberichte melden. Die Verwünschungen erstarben auf den Lippen. Eine Ehre, sozusagen eine Ehre, beinahe vom Auto eines Generals überfahren worden zu sein!

Ecke Wilhelmstraße kroch ein Krüppel in Feldgrau durch den Straßenschmutz, und die Limousine hätte ihn beinahe in Stücke gerissen. Dieser Krüppel schleppte sich an zwei niedrigen Krücken dahin. Sein Rückgrat war bis zur Erde gekrümmt und das zwischen den Krücken hängende Gesicht streifte nahezu den Schmutz der Straße. Er bewegte sich nur langsam vorwärts, indem er Krückstock vor Krückstock setzte, er ging auf den Knien und schleifte die verstümmelten Fußstumpen hinter sich her. Wie ein Hund, dem man die Sehnen der Hinterbeine durchschnitten, schob er sich dahin. Während er aber vorwärts kroch, wurde sein ganzer Körper von einem ununterbrochen entsetzenerregenden Zittern geschüttelt.

»Sieh dich vor!« schrie der Chauffeur und bog in der letzten Sekunde aus.

Der Kopf des Krüppels schnellte zwischen die Schultern zurück, und die mit schweren Nägeln beschlagenen Pneus der Limousine überspülten ihn mit einer Woge von Schmutz. Er blieb auf schwankenden Krückstöcken mitten in der Wilhelmstraße zurück, und als es ihm gelungen war, das von ewigen Zuckungen geschüttelte Gesicht zu heben, bog die graue Limousine bereits in die Linden ein.

Eine Flut von hüpfenden Regenschirmen, blendende Pfützen, zwei stahlblaue Omnibusschimmel, ein Schutzmann und wieder eine Flut von hüpfenden Regenschirmen. Eine Stockung. Der Wagen zitterte von den wütenden Schlägen des gedrosselten Motors.

Die Augen des Generals glitten über die hüpfenden Regenschirme dahin, über die eilenden Schattenwesen mit blauen Gesichtern und blauen Händen – gelangweilt, gleichgültig, ohne Anteilnahme. Obwohl nur getrennt von diesen Wesen durch eine Glasscheibe, waren sie für den General weltenweit entfernt, weltenweit – diese Menschen mit Regenschirmen, Gummischuhen, Mänteln, Bärten, Brillen … Sie erschienen gewissermaßen unwirklich! Sie waren Chaos, Masse – gärend von sonderbaren, eigenwilligen Gedanken und unnützen, gefährlichen Trieben. Sinnlos ihr Tun, unverständlich. Ohne Ideale, hohe Ziele, Hunger, Sinnendurst, Geld – ohne Zweck und Sinn. Unverständlich. Nichts als rohe Masse, die die Berufenen willkürlich formten, das große Reservoir, aus dem die Erkorenen schöpften nach ihrem Gutdünken.

Die Welt des Generals war bevölkert von Wesen, die in Uniformen gekleidet waren und mit einer Salve ins Grab gelegt wurden. Diese Wesen bewegten sich nach bestimmten unverrückbaren Gesetzen. Sie kamen in breiten langen Kolonnen einher wie die Brandung des Meeres, oder sie standen still in Reih’ und Glied, zu Tausenden gestaffelt, wie aus Stein. Ein Gebirge. Sie waren ohne eigenes Leben, ohne eigene Gedanken, ohne Namen, ohne Gesichter, ohne Seele, von wenigen Auserwählten in Bewegung gesetzt und mit Leben und Geist erfüllt. Sie waren mit einem Wort Soldaten, Werkzeug in der Hand der Starken dieser Erde, die das Rad der Weltgeschichte bewegten. Zuweilen fluteten unübersehbare Heerscharen, alle im gleichen Schritt, durch seinen Kopf. Armeekorps, die wie ein Bataillon in fehlerloser Geschlossenheit schwenkten, nach rechts, nach links, um zu erstarren, wenn die Gedanken des Generals es wollten. Zuweilen sah der General die ganze Erde davon erfüllt. Ungeheure Menschenwellen wälzten sich quer durch Europa und ergossen sich in der Breite des Urals in die endlosen Steppen Sibiriens. Eine Blutwelle in den Gehirnwindungen des Generals ließ sie auferstehen und versinken …

Weiter! Die Gänge krachten, und wieder flog die Limousine dahin. Hagelkörner prasselten gegen die Scheiben.

Dieser Schurke! dachte der General und rückte sich in der Ecke des wiegenden Wagens zurecht.

Durch einen Zufall – übrigens einen merkwürdigen, fast lächerlichen Zufall – hatte er heute erfahren, daß eine Vermutung, die er schon seit langer Zeit hegte, begründet war. Jener – nun eben jener »Schurke«, wie er ihn in Gedanken nannte –, der in der Umgebung der höchsten Persönlichkeiten weilte, das Ohr der allerhöchsten Persönlichkeiten besaß, jener Schurke hatte ihn auf das »tote Geleise« geschoben. Höchst einfach! Und so erklärte sich alles, ja.

Vor einem halben Jahr etwa hatte man dem Generalleutnant v. Hecht-Babenberg, achtundfünfzig Jahre alt, plötzlich, ohne jede Begründung, ohne jede Warnung, sein Frontkommando genommen und ihn zur Bureauarbeit nach Berlin abkommandiert – während draußen, wie er zu sagen pflegte, die Kanonen Europa in Fetzen schossen und eine neue Welt aus dem Blutmeer emporstieg.

Unerklärlich, unfaßbar.

Jüngere als er machten nun – auch das ist ein Ausdruck des Generals – Weltgeschichte. Unbekannte, aus unbekannten Geschlechtern stiegen in die Höhe. Es war die Zeit, um nicht zu sagen, Konjunktur, in die Höhe zu steigen. Und wie viele unfähige Narren kannte er (der General liebte starke Ausdrücke), Narren, die nicht imstande waren, ein Regiment durch das Brandenburger Tor zu dirigieren, und die heute, gestützt auf ausgesuchte Stäbe, Armeekorps führten. Er konnte, wenn man es wünschte, ihre Namen nennen! Erst vor kurzem hatte einer seiner Bekannten, seiner früheren Bekannten, besser gesagt, dreihundert Kanonen verloren – um daraufhin Gouverneur eines besetzten Landes zu werden. Es kam nur darauf an, gute Freunde zu haben. Das war das ganze Geheimnis, nichts sonst. Er hatte gegen die Russen eine Division geführt vor – wie lange war es doch her? – vor drei Jahren und sich das persönliche Lob seines Allerhöchsten Kriegsherrn erworben. Im Westen dagegen hatten seine Ansichten mit denen der Obersten Führung nicht immer übereingestimmt. Bei einem plötzlichen Angriff der Franzosen hatte er die Ansicht vertreten, zu halten, koste es, was es wolle, während man »hinten«, wo man alles besser wußte, der Meinung war, auszubiegen. Er hatte allerdings etwas liegenlassen – aber schließlich, was kam es auf diese relativ geringfügigen Verluste und ein paar Minenwerfer an?

Es war nichts – man bedenke: im Vergleich zu dreihundert Geschützen! Nichts –

Er würde heute, denn er konnte nicht gegen seine Überzeugung handeln, er würde heute genau so verfahren, auf Ehre und Gewissen! In seinem Abschnitt befand sich eine Höhe, die Höhe von Quatre vents, und es war nur natürlich, daß er diese für den ganzen Abschnitt, ja für einen großen Frontsektor wichtige Höhe nicht ohne weiteres preisgab. Dreimal gab er Befehl, Quatre vents zu halten, koste es, was es wolle. Erst als die Höhe vom Gegner flankiert war, gab er den Befehl zum Rückzug. Die Loslösung glückte dann allerdings nicht ganz, zugestanden.

Ein alltäglicher Vorfall – ohne jede Bedeutung.

Niemand würde –

Es war augenscheinlich: irgend jemand mußte die Hand im Spiel haben – irgend jemand, der ihm übel wollte.

Er – der das Ohr der höchsten Persönlichkeiten hatte – jener »Schurke«, mit einem Wort.

Das Steingesicht geriet in Erschütterung: vor mehr als dreißig Jahren – –

Aber plötzlich hielt das Auto. Es stand vor einem hellerleuchte­ ten Blumengeschäft. Der General erwachte. Ein Verkäufer schleppte soeben ein Blumenarrangement, einen schweren Korb mit Maiglöckchen, an den Wagen.

»Hierher!« rief der General und pochte an die Scheibe. Nässe und Kälte kamen mit herein. Augenblicklich begannen die Blumen Duft und Frische auszuatmen.

»Lessingallee!«

Die Limousine flog dem Westen Berlins zu. Die Federn knirschten. Bald hielt der Chauffeur warnend die Rechte, bald die Linke hinaus – die Pfeife trillerte – Schnelligkeit ist die Losung des Generals –

– vor mehr als dreißig Jahren, hatte er, der General, ihm, eben jenem einflußreichen Würdenträger, einen Streich gespielt, und damit hatte die Animosität, um nicht Feindschaft zu sagen, ihren Anfang genommen.

Es war auf einem Ball bei Baron Kreß. Eine junge Dame spielte eine Rolle dabei, und damals war er, der General, der beste Tänzer in Berlin. Damals wartete, gegen Morgen, ein Wagen vor der Treppe des Kreßschen Palais. Eine Dame springt die Treppe herunter. Sie hat den Pelz eilig um die Schultern geworfen. »Um Gottes willen,« ruft sie, »er hat mich beobachtet, schnell.« Schon rollt der Wagen davon. Der Pelz ist von den Schultern der schönen Dame gefallen, und er, der General, sagt: »Sie werden frieren, meine Gnädigste!« Und er hüllt sie wie ein Kind in den Mantel. Sie trägt eine ganz dünne Robe, und es kommt ihm vor, als ob sie völlig nackt im Pelz stäke. Deutlich erinnert er sich dessen. Und er erinnert sich, daß dieselbe Dame seinen Rivalen rachsüchtig genannt habe. Hüten Sie sich, er ist rachsüchtig! Welcher Instinkt, diese Frauen! Und sie war fast noch ein Kind.

Vor dreißig Jahren –

Hätte er damals ahnen können, daß sein Nebenbuhler sich einst bis zur höchsten Stellung emporschwingen sollte! Vielleicht wäre er immerhin etwas vorsichtiger gewesen, wer weiß es? Nicht ohne Grund hatte er seinen Söhnen immer eingeschärft: Freunde zu werben. Freunde, schon in der Kadettenanstalt. Denn Freunde waren im späteren Leben – alles. Nicht die Begabung – welche Albernheit – die Beziehungen waren alles.

Plötzlich sieht der General die junge Dame vor sich im Wagen, als sei es gestern gewesen. Jahrelang waren ihre Züge in ihm erloschen. Sie ist gepudert und trägt ein Schönheitspflästerchen am Kinn. Ihre Augen sind warm und leuchten eigentümlich aus der Tiefe.

Diese junge Dame mit dem Schönheitspflästerchen, die er seinerzeit aus dem Ballsaal entführte, wurde seine Frau.

Lange, lange Zeit –

Der General öffnet den Mund und ringt nach Luft.

Aus dem hellerleuchteten Entree der roten Backsteinvilla, ganz mit Efeu bewachsen, stürzt ein Diener in zebragestreiftem Kittel und öffnet den Wagenschlag.

»Herr General!«

»Herr General?«

Der General erhebt sich. Mit steifen Gliedern, den Rücken etwas gebeugt, steigt er aus dem Wagen.

»Frau v. Dönhoff empfängt?«

»Gnädige Frau empfangen, obwohl gnädige Frau die Grippe hat.«

»Wird es lange dauern, Petersen?« fragt der Chauffeur den Zebrakittel. »Was ist denn los bei euch?«

»Geburtstag. Die Gnädige hat Geburtstag.« Und der Zebrakittel eilt, den Korb mit den Maiglöckchen auf den Armen, rasch in das hellerleuchtete Entree, um Exzellenz beim Ausziehen des Mantels behilflich zu sein.

2.

Frau v. Dönhoff – die Dame der roten, mit Efeu bewachsenen Backsteinvilla in der Lessingallee, dicht am Tiergarten, war eine Blondine, nicht mehr in der ersten Jugend, von ihren intimen Bekannten die schöne Dora genannt.

Sie war mittelgroß, die schöne Dora, etwas üppig, kleine, zierliche Füße, kleine, zierliche Händchen mit spitzen Fingern, große strahlende Augen von herrlich leuchtendem, seltenem Blau – der berühmte Schriftsteller, der in ihrem Hause verkehrte, hatte die Farbe mit dem Blau des Gebirgsenzians verglichen – ein Paar reizender Grübchen, runde rote Lippen – ah, und Zähne – schneeweiß! Sie lachte immer und bei jeder Gelegenheit, das Lachen setzte ganz unvermittelt ein, sie lachte in Skalen und Trillern, ein Geklingel war ihr Lachen. Es riß mit fort. Und immer, schon im Bett am Morgen, hielt sie eine dicke Zigarette zwischen den spitzen Fingern und qualmte. Sie rauchte auch auf der Straße, während sie Butzi, einen belgischen Griffon, an die frische Luft brachte. Das war die schöne Dora.

Etwas umschwebte sie. Ein Glanz, ein Abglanz. Der Abglanz einer Freundschaft, die sie vor ihrer Heirat mit einer Königlichen Hoheit verbunden hatte. Dieser Abglanz war immer gegenwärtig. Hatte die Königliche Hoheit wirklich diese schlanken ringgeschmückten Finger an die Lippen gedrückt? Diese Grübchen bewundert, sich an diesem Lachen erfrischt, diesen weichen, verschwenderisch reichen blonden Haarschopf liebkost? Ruhten die Augen der Königlichen Hoheit auf diesen Schultern? Immer, immer war Dora von diesem Abglanz umschwebt. Die Sonne war untergegangen – aber der Glanz lag noch in der Luft.

Nunmehr war die Königliche Hoheit längst verheiratet, hatte drei Kinder.

Dora aber hatte – danach – einen Freund der Königlichen Hoheit geheiratet, den Hauptmann v. Dönhoff, einer der ersten Herrenreiter Deutschlands, professioneller Schürzenjäger und Spieler, der in kürzester Zeit zwei Vermögen durchbrachte, auch Doras Vermögen. Eines Tages stand sie ohne einen Pfennig da – vis-à-vis de rien!

Mit einem Wort: dieser Hauptmann Dönhoff entpuppte sich als ein Lump ersten Ranges, er betrog Dora schon am Hochzeitstage, so unglaublich es klingt, und sie gab ihm nach kurzer Zeit den Laufpaß. Schon vor dem Kriege trennte sie sich von ihm. Gegenwärtig lebte sie in Scheidung – oder war sie schon geschieden? Niemand wußte es, der Krieg hatte das Interesse an den armseligen privaten Schicksalen in den Hintergrund gedrängt.

Der Herrenreiter und Spieler war Artillerist und lebte gegenwärtig bei seiner Batterie im Westen – irgendwo. Er ergraute bei seinen Kanonen, in den Waldschluchten des Argonner Waldes oder in den Kalkhügeln der Lausechampagne, sein Gesicht wurde gelb, pergamenten. Die Welt hatte ihn vergessen, seine Damen – nur die Gegenwart hat Macht. Ein einziges Mal war er während des Krieges in Berlin aufgetaucht, ohne Dora zu besuchen, es gab sofort wieder Skandal, eine Dame, ein Offizier – immer die gleiche Geschichte. Und er ergraute weiter bei seinen Kanonen. Seine Schläfen waren schon ganz weiß. Zuweilen schrieb Dora an ihn, zuweilen kam auch ein Brief aus dem Felde, und Petersen, der Diener, zeigte ihn Frida, der Zofe, und flüsterte: »Von ihm!«

Also, das war Dora und ihre Lebensgeschichte, in flüchtigen Linien natürlich nur, und heute hatte sie die Grippe.

Doras Haus war eine alte Villa, verbaut und immer wieder umgebaut, mit Sälen und Zimmern, Nischen, Erkern, Korridoren, großen und kleinen Treppen und Treppchen. Niemand, der nicht hier lange verkehrte, fand sich zurecht. Dora hatte das ganze Haus in ein Teppichmagazin verwandelt. Es gab keinen Quadratmeter, der nicht mit einem Teppich belegt war. Es gab im Dönhoffschen Hause sogar etwas, was es nur selten in Berlin gab, nämlich einen Raum, der ein vollkommenes Zelt war. Eine Art arabisches Zelt, ganz aus Teppichen aufgebaut. Infolge der vielen Teppiche roch es im Dönhoffschen Hause eigentümlich nach Staub. Dazu hatte Dora das ganze Haus mit antiken Möbeln vollgestopft, Möbeln aller Stilarten, mit Säulen aus Kirchen und grellbemalten oder vergoldeten Heiligenfiguren. Alle Tische, Kommoden und Gesimse waren mit kleinen Kostbarkeiten aller Art, mit Leuchtern, Schnitzereien, Waffen, Miniaturen, Dosen derartig übersät, daß es unmöglich war, auch nur ein Paar Handschuhe abzulegen, ohne irgendeine Kostbarkeit in Gefahr zu bringen. Es war unmöglich, alle diese Dosen, Schnitzereien, Waffen und Heiligen abzustauben. Und so sammelte sich immer mehr Staub an. An das arabische Zelt stieß das Speisezimmer, ein riesiger Raum mit einer Empore, zu der eine steile Rokokotreppe, gelb und rot bemalt, emporführte. Dieser Raum war zurzeit schwer heizbar und beständig strömte ein kalter Luftzug in das arabische Zelt hinein. Doras Haus hatte aber noch eine Eigentümlichkeit: das waren die Lampen. Es gab kein Haus in ganz Berlin, das so viele Beleuchtungskörper aufwies. Blaue, grüne, gelbe, rote Ampeln, alle von ganz besonders erlesener Färbung, Kronleuchter mit Dutzenden von Flammen, schwere Messingkronen mit halb heruntergebrannten dicken Wachskerzen. Das arabische Zelt selbst wurde durch eine polnische Synagogenampel beleuchtet. Es war ein opalisierendes, bläuliches Licht, der Farbe von Zigarettenrauch ähnlich. In der Ecke des arabischen Zeltes aber stand noch eine riesige purpurrote Lampe, die auf eine vergoldete Barocksäule aus irgendeiner Kirche montiert war. Neben dieser roten Lampe saß gewöhnlich Dora, sie strahlte dann wie glühender Alabaster, während die andern wie Leichen aussahen. Sie verstand ihre Sache.

Zwischen diesen Teppichen und Lampen, sonderbaren Heiligen und tausenderlei Krimskrams bewegte sich Dora, mit ihrem blonden Haarschopf, ihren Grübchen und dem Glanz, der sie umschwebte. Niemand hatte Dora jemals in schlechter Laune gesehen. Ihr Benehmen war immer gleich. Jedermann fühlte sich wohl bei ihr.

Nicht zu vergessen auch Doras Badezimmer, eine Sehenswürdigkeit – ein richtiges Treibhaus.

Sobald der General die rote Backsteinvilla betrat, kam das Steingesicht in Erschütterung.

Der General gehörte zu den Intimen des Hauses. Zweimal in der Woche, Dienstag und Freitag, pflegte er bei Dora zu Abend zu speisen. Ohne andere Gäste.

Der Stein verwitterte im Lichte der Garderobenampel, er verwandelte sich in Haut, in die Haut eines Menschen, der ewig von Zimmerluft umgeben ist, und der – vielleicht, nur eine Vermutung – an beginnender Sklerose der Arterien leidet. Die starre Leblosigkeit des Gesichts löste sich. Es zeigte sich sogar, seht an, eine Spur von Farbe auf den breiten Wangen, ein rötliches Violett, von feinem Geäder herrührend. Die ernsten Gedanken, die den General einhüllten, zerflatterten, der etwas massige, schwerbewegliche Körper schien elastisch und verjüngt.

Es scheint ja nicht so schlimm zu sein, mit der Grippe, dachte er, als Doras Lachen in die Garderobe drang.

Die geschliffenen Linsen der Feldherrnaugen ruhten sogar einen Augenblick leutselig auf dem Diener. Etwas Außergewöhnliches, denn der General pflegte seine Mitmenschen nie anzusehen. – Dann widmeten sie sich mit rein menschlichem Interesse dem Studium einiger Gummischuhe, die in der Garderobe standen.

»Sind auch – Damen hier, Petersen – ?«

»Frau Major Sterne-Dönhoff mit Töchtern.«

Nichts haßte der General mehr als Ansammlungen von Menschen, mochten sie groß oder klein sein; nichts fürchtete er mehr als Überraschungen – es war ja möglich, daß man ihm, ohne jede Vorbereitung, ixbeliebige Menschen präsentierte, wie es ihm schon passiert war. So neulich bei einem Militärattaché, wo unerwartet der Redakteur einer sehr linksstehenden liberalen Tageszeitung auftauchte, ganz zu schweigen von jenem Herrenabend bei Exzellenz v. Krämer, wo ein sehr orientalisch aussehender Chirurg anwesend war, eine Berühmtheit, getauft – aber trotzdem. Er wünschte zu wissen, wer anwesend sein würde – bei Dora allerdings, wo er zweimal in der Woche zu Abend speiste – machte er eine Ausnahme. Er kannte Doras Kreis, nahezu wenigstens, und nur zuweilen traf er hier irgendeinen Maler oder Schriftsteller, auf deren Bekanntschaft er allerdings wenig Wert legte, um offen zu sein. Das war indessen nicht zu ändern: Dora selbst war eine Art Künstlernatur.

Der General strich den grauen Scheitel mit der Bürste zurecht, glättete den dünnen grauen Schnurrbart, prüfte die Hände …

Der General war das Bild der Akkuratesse selbst. Alles leuchtete und glänzte an ihm, die Stiefel, die roten Streifen der Hosen, die Ordensauszeichnungen, die langen polierten Fingernägel – nur die Haut des Gesichts war, wie gesagt, stumpf, von der Zimmerluft beschlagen. So, genau so hatte er ausgesehen, als er sich in Polen mit den Russen schlug – in Frankreich, wo er in einem Chateau wohnte, war es ja schließlich kein Kunststück. Er hatte sofort ein Bad einbauen lassen, das war das erste gewesen, die Wanne wurde mit dem Auto aus Frankfurt geholt.

Ohne jede Übertreibung, der General war noch heute eine stattliche Erscheinung.

Auch einige Offiziersmützen, drei im ganzen, hingen da. Er erkannte die Seidenmütze seines Sohnes Otto, die eine ganz besondere Form hatte. Offenbar machte er seinen Abschiedsbesuch; er mußte morgen wieder ins Feld. Falten erschienen auf der breiten Stirn des Generals, verschwanden aber sofort wieder. Er liebte es nicht, Otto oder Ruth, seine Tochter, in Gesellschaft zu treffen. Er kam sich beobachtet vor, sie störten, mit einem Wort.

»Die Herrschaften sind im Zelt, Herr General.«

»Schön« – aber der General hielt den Schritt an und zog die Brauen in die Höhe – »eine Bürste, Petersen.« Der General hatte tatsächlich ein Härchen auf seinem Ärmel entdeckt.

»Es ist von Butzi, Herr General – das ganze Haus ist voll von seinen Haaren – «

»Wie soll es denn von Butzi sein? Dann müßte es ja seit Dienstag – nein, das ist unmöglich, Petersen.«

»Vielleicht war es im Mantel? Überall sind diese Haare –!«

Petersen öffnete die Türe zu einem Vorzimmer. Hier brannte eine einsame, hohe Wachskerze, zu Füßen eines verlassenen steingrauen Heiligen mit zinnoberrotem Rock, der in Verzückung ein Buch schwang. Hierauf schlug Petersen den Teppich zurück.

Der Rücken des Generals, etwas zusammengesunken während der Unterhaltung mit Petersen – ob das Haar von Butzi stammte oder nicht – straffte sich.

» – sollten sich aber wirklich schonen. Zum Beispiel, das Rauchen – «

» – es ist ja gar nicht die Grippe.«

» – täglich sterben Hunderte – «

Dora lachte: »Sie wollen mir Mut machen, Otto!«

Und Petersen schlug den zweiten, gelbseidenen Vorhang zurück.

Augenblicklich stürzte der belgische Griffon kläffend heraus. (Er war mit Exzellenz verfeindet!)

Die Offiziere schnellten von ihren Sesseln empor.

Dora trug die kleinen mattgelben Perlen in den Ohren, nicht die Boutons, die von früher stammten! Der General sah es auf den ersten Blick.

Mit aufgehellter Miene, soweit sie sich aufhellen konnte, trat er ein. Selbst seine Augen verloren ihre Strenge, aber sie blieben trotzdem – kalt.

Dora glühte im Schein der großen Purpurlampe, ihre Arme und Hände leuchteten wie Korallen und in ihrem durchsichtigen feinen Ohr schimmerten in der Tat kleine gelbe Perlen. Aus dem Halbdämmer des Zeltes hoben sich die drei schwarzgekleideten Damen Sterne-Dönhoff, schmal, steif, todernst. (Major Sterne-Dönhoff war vor einem halben Jahr gefallen.) Aus einem Spiegel funkelten bleiche Gesichter, fahl im Scheine der blauen Ampel. Diese Gesichter verwirrten den General, so daß er seine Gratulation etwas steifer und förmlicher vorbrachte, als er es wünschte.

Erst jetzt bemerkte er, daß Hauptmann Wunderlich, einer der drei anwesenden Offiziere, ein Freund des Dönhoffschen Hauses, noch immer stand. Er hielt sich an den Lehnen des Sessels aufrecht, denn er war lahm geschossen und ging an Krücken.

Erst jetzt bemerkte er die zarte, ätherische Dame mit dem langen Gesicht, die Kinn und Näschen in den Muff drückte, neben Dora saß sie auf dem Diwan – ah, welche Überraschung, welch freudige und ungeahnte Überraschung!

»Es ist in der Tat kein Scherz, gnädige Frau, mit dieser Grippe – «

»Ich hörte es von einem Krankenhausarzt – einhundertvierzig Tote gestern – und wie gesagt, gar keine Grippe, sondern die Lungenpest – «

»Man sagt es ja nur, man schwätzt – «

»Derselbe Arzt versicherte es mir. Die Lungen sind völlig mit weißen Bläschen bedeckt und vereitert.«

»Es sind einfache Streptokokken«

»Ja, nun, Sie sagen einfache – «

»Und Pest? Auch Pest ist nur ein Wort.«

Vorlaut, immer ist dieser Junge vorlaut, dachte der General.

Otto, der Sohn des Generals, sprach mit lauter, heller Stimme, die stets etwas keck klang, selbst wenn er die harmlosesten Dinge sagte. Er sah seinem Vater auffallend ähnlich. Groß, das gebräunte Gesicht breit und brutal, die Augen hell und verwegen, aber voller Unruhe. An der Stirne, dicht neben den blonden, glänzenden Schläfenhaaren, hatte er eine Narbe, die von einem Kopfschuß herrührte, den er im Mai 1915 bei Ypern erhielt. Damals lag er ein halbes Jahr im Lazarett – aber so gering war die Eile der internationalen Generalität, daß er sein Regiment im Herbst noch an genau derselben Stelle vorfand, wo man ihn im Frühjahr weggetragen hatte. Er saß mit einer gewissen Ungeniertheit (die dem General mißfiel) im Sessel, frei und selbstgefällig, die Brust voller Auszeichnungen – im Gegensatz zum jungen Heinz Sterne-Dönhoff, der, ganz wie seine Schwestern in Schwarz, bescheiden und steif dasaß. Dieser Heinz war noch ein Knabe, schlank und zart, noch nicht neunzehn Jahre. Er trug Feldgrau und – seit heute – das Abzeichen des Flugzeugführers. Er war indessen noch nicht im Felde gewesen und lebte in der beständigen Angst, der Krieg könnte zu Ende gehen, bevor die Reihe an ihn käme. Er hatte den roten Mund eines Knaben, noch umschwebt vom Lächeln der Kindheit. Unausgesetzt waren seine blauen, strahlenden Knabenaugen voller Ehrfurcht auf den General gerichtet, auf seine Ordensschnalle, den gestickten Kragen und das weiße große Emaillekreuz, das er am Kragen trug. Was für ein Orden mochte es wohl sein? Seit dem Eintritt des Generals öffnete er den Mund nicht mehr, die Nähe eines so hohen Vorgesetzten bedrückte ihn. Er saß, bereit, jeden Augenblick aufzuspringen, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte, dem General einen Dienst zu erweisen.

Mit großen grauen, etwas düsteren Katzenaugen saß neben Dora Hauptmann Wunderlich. Blaß und mager, sah er aus wie ein achtzehnjähriger Gymnasiast, der über Nacht ergraut war. Er lächelte nie, und wenn er – selten, ganz selten – einmal lächelte, so war es das Gespenst von einem Lächeln, das niemand ertrug. Seine gleichmäßige Miene forderte indessen auf, sich nicht im geringsten durch ihn stören zu lassen. Der Blick seiner Augen glitt in die Ferne. Auch während er sprach, schien er zu Leuten irgendwo in der Ferne zu reden und nicht zu den Anwesenden. An seiner linken, mit einem goldenen Armband geschmückten Hand fehlten einige Finger.

Hinter seinem Sessel lehnten die Krücken, womit er sich, nur mit einem Fuß den Boden berührend, wie eine Glocke dahinschwang. Hauptmann Wunderlich war schon in den ersten Wochen des Krieges durch einen schweren Brustschuß außer Gefecht gesetzt worden. Ein Jahr später wurden ihm in Rußland beide Beine zerschmettert. Hierauf ging er zur Fliegerwaffe über. Er war heute einer der bekanntesten Menschenjäger in der Luft. Er wurde in die Maschine gehoben.

Frau v. Sterne-Dönhoff mit ihren Töchtern, aus dem Halbdämmer sich abhebend – mit flachen Hüten, enganliegenden Kostümen, langen Gesichtern, steif, still, langweilig. Nur selten warfen sie ein Wort in die Unterhaltung. Sie trugen schwarze, sehr enge Glacéhandschuhe. – Und jene andere Dame, die Ätherische, die Kinn und Nase in den Muff drückte und neben Dora auf dem breiten Diwan saß, die spitzen Knie hochgezogen? Jene Dame, über deren Besuch der General so erfreut und überrascht war?

Es war eine Gräfin Heller, soeben aus der Schweiz zurückgekommen. Gräfin Heller war Spiritistin, Theosophin – alles Dinge, die den General nicht im geringsten interessierten. Sie war darüber hinaus die Schwester jenes – eben jenes »Schurken«, wie ihn der General in Gedanken nannte. Jener einflußreichen Persönlichkeit, deren Name in der Gesellschaft nur flüsternd ausgesprochen wurde. Seine Majestät hat ihm höchst eigenhändig – wissen Sie …

Der General hatte nicht ahnen können, sie hier zu treffen. Solche Zufälle gibt es! Aber vielleicht hatte Dora ihre Hand dabei im Spiel? Dora, die mit ihrem künstlerischen Naturell auf rätselhafte Weise die Gedanken ihrer Mitmenschen erriet und alles so wunderbar zu arrangieren verstand? Wie?

»Ich hatte in der Tat nicht vermutet, Gräfin, Sie heute zu sehen!« wandte sich der General mit allen Zeichen der freudigen Überraschung, die bei jeder Anrede neu auflebte, an sie. »Sie waren lange weg. Wie gefällt es Ihnen wieder in Deutschland?«

Gräfin Heller lächelte und schob Butzi ein Stückchen Torte zwischen die scharfen, schneeweißen Zähnchen. »Ich finde es entsetz–lich!«

»Ah, ah!«

»Ein Friedhof!«

Der General lächelte nachsichtig. Bei einer Dame des hohen Adels, des höchsten Adels, der Schwester einer solch hochgestellten Persönlichkeit, mußte man wohl einige Wunderlichkeiten in Kauf nehmen – noch dazu bei einer Dame, die mit dem Geist Friedrichs des Großen in okkulter Verbindung stand.

In diesem Augenblick überbrachte Petersen ein Telegramm. Dora errötete, als sie es öffnete. Es enthielt nur wenige Worte, wie man sehen konnte.

Der General ahnte: es kommt aus dem Felde!

Die Unterhaltung geriet ins Stocken.

3.

In der Tat, das Telegramm – das Dora lässig zusammenfaltete und in eine kleine japanische Lackschale legte – kam aus dem Felde. Hauptmann Dönhoff hatte es heute morgen abgeschickt, und eben jetzt dachte er, ob das Telegramm wohl schon angekommen sei. Beinahe nämlich hätte er Doras Geburtstag vergessen. Erst in der Nacht, als er durch einen dumpfkrachenden Einschlag geweckt wurde, war es ihm eingefallen und er hatte sich sofort eine Notiz gemacht. Sein Gedächtnis war im Laufe der Kriegsjahre völlig geschwunden.

Er saß mit seinem Adjutanten Kammerer in seinem Unterstand, zwei Meter unter der Erde, mitten in den Finsternissen des Argonner Waldes. Eine kleine Petroleumlampe, ein eiserner Ofen, der immer glühte, ein Telephon, zwei Pritschen und allerlei Gerümpel, das war die Ausstattung. Die Wände schwitzten von Nässe. Kammerer war eifrig damit beschäftigt, seine kurze Stummelpfeife zu reinigen. Er bediente sich einer Krähenfeder, die er – da draußen – gefunden hatte. Dönhoff, der Batteriechef, tat gar nichts, er gähnte zuweilen, gähnte. Er war nicht schläfrig, sondern nur müde, immerzu müde.

In der Ferne brummte ein schweres Geschütz. Ganz deutlich war sein tiefes mächtiges Raubtierknurren aus dem Lärm, dem Knacken und Donnern der fernen und nahen Geschütze herauszuhören.

Hauptmann Dönhoff hob horchend das gelbe Gesicht.

»Hören Sie? Da ist er wieder!«

Der junge Offizier blickte nicht auf, er war voller Andacht bei der Arbeit.

»Er schießt jetzt wieder öfter mit dem schweren Geschütz«, erwiderte er leichthin. »Sie haben mehr Munition.«

Die Erde zitterte, und ein lautes Krachen ertönte. Hauptmann Dönhoff lachte belustigt. »Da, da,« sagte er, »er streut jetzt unsere Kuppe ab.«

Kammerer antwortete hierauf nichts mehr. Er blies voller Anstrengung in das verstopfte Pfeifenrohr. Der braune Tabaksaft quoll heraus, aber, der Teufel, immer noch mußte etwas im Rohr stecken.

»Sie sollten einen Draht nehmen, Kammerer.«

»Es muß auch so gehen – «

Wieder gähnte Hauptmann Dönhoff. Seine Zähne waren gelb und schlecht gepflegt.

Hier in diesem verfluchten Wald wurde man, mit Respekt zu sagen, langsam zu einem Schwein. Über ein Jahr lag er mit seiner Batterie an der gleichen Stelle. Neulich sah es so aus, als ob sie nach der Champagne kommen sollten – aber es war wieder nichts daraus geworden. Auch die Champagne war kein Paradies, aber es gab wenigstens Licht dort – hier war es immer düster.

Tag und Nacht hallte dieser finstere Wald wider von einem unheimlichen Dröhnen und Rasseln, Lachen, Niesen und Husten. Tag und Nacht strichen winselnde und klagende Stahlvögel über ihn dahin und das Rasseln der Maschinengewehre hämmerte hundertfach verstärkt in den Waldschluchten – bis plötzlich alle Lärme von einem einzigen großen Lärm sekundenlang übertönt wurden. Gestern ist die Eiche vor dem Unterstand zersplittert, heute stürzte eine hohe Tanne zu Boden. Die Splitter leuchten in der Finsternis. Der Regen rauscht, Ströme von Lehm fließen die schmalen Knüppelwege hinab, die die Soldaten durch das Dickicht geschlagen haben. Zuweilen trifft man auch ein menschenähnliches Wesen, bis an die Augen mit Lehm beschmiert. Zuweilen schleppen sich auch Trüppchen von Gespenstern, mit blutigen Binden an Köpfen und Armen, die Knüppelwege hinunter – nein, pfui, der Wald ist kein Platz für einen Gentleman!

Hauptmann Dönhoff denkt an Sonne – an eine Wüste, in der Sonne, flimmernd von Licht, zitternd, vibrierend vor Hitze. Es würde ihm direkt Vergnügen machen, einmal tüchtig in der Sonne zu schwitzen. Und plötzlich kommt ihm Dora in den Sinn. Das Telegramm mußte nun wohl da sein. Langsam kriechen die Gedanken.

»Kannten Sie nicht General v. Hecht-Babenberg, Kammerer?«

»Welchen Babenberg?«

»Nun, den, wissen Sie – man hat ihn nach Hause geschickt – «

»Nie gesehen. Weshalb fragen Sie?«

»Ich dachte gerade an ihn – nur so – «

Was will er? dachte Dönhoff und erinnerte sich an das, was man ihm berichtet hatte. Was beabsichtigt er? Dora? Erwachsene Kinder – man kann nie wissen. Dora drang darauf, daß er bald nach Berlin käme – es fehlte noch eine Unterschrift in der Urkunde – gut, an ihm sollte es nicht liegen.

Kammerer strahlte. Plötzlich pfiff die Luft durch das Pfeifenrohr. »So, das Kind hat Luft – «

Das Telephon tutete. Die Beobachtung meldete, daß der Feind in der neuen Sappe unverschämt arbeite.

Schon trillert Kammerers Pfeife draußen im Wald. Die Geschütze der Batterie Dönhoff sind über eine weite Strecke verteilt und erst zu erkennen, als die dunkeln Rohre sich plötzlich bewegen. Hier im Wald ist es schon ganz düster, aber draußen bei der Beobachtung sind im Scherenfernrohr noch deutlich die Nebelgestalten zu unterscheiden, die dicht am Waldrande bei Boureuille Erde aufwerfen.

Da donnern auch schon die Geschütze. Wütend, mit kurzen harten Schlägen, und das Echo rollt breit und drohend dahin. Die Petroleumlampe schwankt, während Hauptmann Dönhoff müde die Augen schließt und gähnt.

Nun rieselt es draußen im Wald wie Regen. Die welken Blätter, die noch an den Bäumen hängen, fallen, von den Luftwirbeln losgerissen, zu Boden.

»Und Ruth? Wo ist Ruth?« fragte Gräfin Heller. »Weshalb ist sie nicht gekommen?«

»Sie hat immer mit ihrer Küche zu tun.« Ruth, die Tochter des Generals, arbeitete in einer Mittelstandsküche, ehrenamtlich natürlich, nicht gegen Bezahlung.

»Ruth war heute vormittag bei mir«, warf Dora ein.

Verführerisch war Doras Teetisch gedeckt, Blumen, Kuchen, Konfitüren.

»Wann wird die Hochzeit sein?« Ruth war mit einem Baron Dietz, einem der reichsten pommerschen Grundbesitzer, verlobt. Er war zurzeit in Bukarest bei der Verwaltung.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der General und schüttelte den Kopf. »Im Sommer wahrscheinlich. Ruth hat Lust, bis zum Frieden zu warten, wie mir scheint. Ich kümmere mich grundsätzlich nicht um die Angelegenheiten meiner Kinder – «

Butzi, einem alternden übellaunigen Löwen lächerlichen Formats ähnlich, saß auf dem Schoß seiner Herrin und betrachtete aufmerksam, mit nachdenklich gekräuselter Stirn den General, seinen Feind, dessen blanken Stiefeln nahezukommen gefährlich war.

Krieg, Nahrung, Politik – in jeder Gesellschaft, sobald nur zwei Menschen zusammentrafen, versank man rettungslos augenblicklich in das gleiche Thema. Verzweifelte Anstrengungen, die Blicke glitten in die Ferne, ein Lächeln versuchte die Mienen zu verklären – gewiß, es gab Himmel und Hölle im menschlichen Herzen, Engel und Teufel wandelten auf der Erde, bestechend durch ihre Liebe und ihre Kraft, ewig unergründliche Probleme bewegten unsichtbar die Jahrhunderte – immer noch flog die Sonne, ein Ball überhitzter Gase, samt ihren winzigen Planeten mit der Geschwindigkeit von zwanzigtausend Sekundenmetern, unfaßbar, dem Sternbild der Leier zu – immer noch war das Einfachste nicht ergründet, die Vergangenheit rätselhaft, die Zukunft undurchdringlich, die Gegenwart unbegreiflich, immer noch schaukelte der Mensch, ein Atom, nicht einmal ein Atom, über den Abgründen der Mysterien, voller Entsetzen, voller Hoffen – immer noch war alles geheimnisvoll, unfaßbar. Noch immer versank der Mensch jede Nacht in einen erschreckenden Zustand der Bewußtlosigkeit. Noch immer war die Liebe, die mütterliche, unbegreifliche, offenbart im winzigen Insekt, in Doras Lachen und selbst in den ernsten Gesichtern der Damen Sterne-Dönhoff– noch immer war sie allgegenwärtig – gewiß!

Aber doch – gänzlich hoffnungslos. Es war wie die Verdammnis selbst! Das verklärende Lächeln erlosch, der Blick flüchtete erschrocken zurück – nichts blieb: Politik, Krieg, Nahrung.

Das politische Schicksal – die Summe der menschlichen Schwächen und Irrtümer – hatte die Gedanken versteinert. Die Staubschicht der Schlachtfelder, die bis an die Grenze der Atmosphäre hochstieg, lastete wie ein Gebirge auf den Gehirnen, vom Atlantik bis zum Pazifik – die Gehirne bewegten sich nicht mehr. Butzi allein führte sein eigenes geistiges Leben weiter. Weshalb, zum Beispiel, durfte man den Hosen mit den roten Streifen nicht zu nahe kommen? Weshalb zuckte die Stiefelspitze, wenn man mit der Zunge den Glanz der Stiefel berühren wollte? Antworte, gerechter Himmel! Wonach roch er? Nach, um es kurz zu sagen, Gleichgültigkeit und Verachtung. Er liebte Hunde nicht. Und plötzlich, ohne es selbst zu wollen, knurrte Butzi, ohne zu wissen, was er tat und weshalb plötzlich der Zorn in seinem kleinen Stahlherzen klopfte.

Butzi bekam sofort eine Ohrfeige. Aber das nahm er nicht übel. Denn es war ja seine Herrin, deren Lachen er liebte, deren Geruch er liebte – sie, die Freundschaft fühlte für die Hunde, Liebe. Die Wohltäterin und Heilige – obschon diese kläffenden Ungeheuer sie vielleicht für verworfen hielten – für schamlos – für …

Nein, Butzi verstand die unartikulierten Laute dieser kläffenden Ungeheuer nicht. Er begriff ihren Eifer nicht, ihre Erregung. Offensive, die bevorstehende große Offensive – der Entscheidungsschlag. Unbegreiflich! Der Herr mit den roten Streifen glaubte nicht an die Amerikaner, und die Damen lächelten. Wie beliebt? Bluff, mit einem Wort. Er gestand, daß er besorgt war – besorgt, nicht mehr! Hätten sie sich auf Spezialwaffen beschränkt – Fliegertruppen, Automobilkorps, Artillerie – er hätte vor Angst gefiebert. Aber eine Armee? Unmöglich! Woher das Offizierkorps nehmen? Nun, die Rüstungen galten ja gar nicht uns! Nein! Der größte und geschickteste Bluff der Geschichte.

Hier wollte Otto etwas einwerfen, aber der General wandte ihm den Blick zu, und er schwieg.

Und die Transportfrage, ich bitte? Willkommene Beute für unsere U-Boote, so sagte der Minister.

Die Damen hingen an den Lippen des Generals. Ihr Atem ging plötzlich leichter. Gräfin Heller beliebte die Zwischenfrage: ob das Volk – so ganz im allgemeinen – ?

Der Herr mit den roten Streifen runzelte vorwurfsvoll die Stirn. Dann lösten sich seine Züge zu beschämender Zuversicht.

»Ein kleines Beispiel nur, wenn die Damen gestatten wollen – wie herrlich dieses Volk ist. Einer meiner Burschen, er begleitete mich durch den ganzen Feldzug, Jakob mit dem Familiennamen, ein Bauernsohn. Ich frage ihn, ob er nicht gerne wieder dabei wäre, da draußen, wenn es nun wieder losgeht? Natürlich möchte er das! Er strahlt über das ganze Gesicht! Sie sollten dieses Strahlen gesehen haben, Gräfin! Aber, sage ich, höre, wenn ich dich nun hier brauche? – Langes, tiefes Sinnen. Das echt deutsche tiefe Sinnen! – Dann bleibe ich bei Herrn General! – Gräfin, zwei der augenfälligsten deutschen Charakterzüge mögen Sie in dieser kleinen Szene erkennen: die dem Deutschen angeborene Kampfesfreude und seine Mannestreue – «

Die Gräfin blinzelte lächelnd mit den gepuderten Wimpern. Immer noch spricht der General. Jedes seiner Worte atmet Zuversicht. Heute abend wird Gräfin Heller jede Einzelheit des Gesprächs jener einflußreichen Persönlichkeit berichten. Jedermann weiß das. Der hohe Würdenträger ist vorzüglich informiert über die Meinungen aller Persönlichkeiten, die eine Rolle im öffentlichen Leben spielen. Sein Lächeln ist – tödlich. Ein anerkennendes Wort seiner schmalen Lippen mehr wert als eine gewonnene Schlacht. Sehr wohl weiß der General, daß man dort nur einen gesunden Optimismus liebt.

Butzi ringelte sich resigniert auf dem warmen Schoß der Herrin zusammen.

Reserven, ungeheure Reserven. Gestaffelt bis Frankfurt, Mainz, selbst Münster ist Etappe. Alles was in Rußland war – die neuen Mannschaften – eine Millionenarmee, furchtbar und stark wie am Anfang des Krieges. Wie eine unheimliche Flutwelle wird die Armee vorrollen, alles niederwerfend –

Eine andere, etwas hellere und weniger trockene Stimme sprach nunmehr. Es war der Mann mit den Krücken. Die Augen der Majorin Sterne-Dönhoff leuchteten. Die Gräfin schlürfte blinzelnd den Tee.

Ja, das Gas! Das Gas wird der Armee den Weg bereiten! Das fürchterliche Gelbkreuz und Blaukreuz. Es zerfrißt die Gasmasken, selbst Leder, jede Berührung, auch die kleinste, ist tödlich.

Die Gesichter strahlten, schon röteten sich die Wangen der Schwestern Sterne-Dönhoff und des jungen Heinz wie im Fieber. Der General blickte mißtrauisch zum gelbseidenen Vorhang. Ob nicht ein Lauscher in der Nähe sei, ein Dienstbote vielleicht. Er fand es im höchsten Grade unvorsichtig von Hauptmann Wunderlich, über diese geheimen Dinge so unumwunden zu sprechen – obschon man ja, gewissermaßen, unter sich war.

Butzi war endlich eingeschlafen.

»Gebe Gott, daß es zu Ende geht«, sagte Gräfin Heller mit einem tiefen Seufzer. »Ich möchte reisen!«

»Aber Sie können doch, Liebste? Sie reisen ja ununterbrochen!«

»Ich möchte nach Paris reisen!«

»Nach Paris!«

Aber augenblicklich hatte der General seine Fassung wieder gefunden. Er beugte sich vor. »Sie werden nach Paris reisen, Gräfin!« versichert er mit Feierlichkeit in der Stimme. »Ich gebe Ihnen mein Wort!«

»Ich werde – Herr General?«

»Ja«, fuhr der General mit derselben Feierlichkeit fort. »Paris und Calais werden fallen, Gräfin, die Trümmer der englischen Armee werden ins Meer geworfen – im Sommer werden wir in Paris den Frieden diktieren. Dies ist meine heilige Überzeugung!«

»Gott segne Sie, General!« Gräfin Heller zog die kleine Hand aus dem Muff und streckte sie lachend dem General entgegen.

Diese kleine Unterbrechung – während sich der graue Scheitel über die kleine Hand beugte – benutzte Otto. Er erhob sich rasch, und auch Heinz schnellte in die Höhe. Die beiden jungen Offiziere verabschiedeten sich.

Butzi erwachte, überzeugte sich, gegen den General schielend, daß er noch blieb, und ringelte sich, ergeben in sein Schicksal, wieder zusammen.

Otto beugte sich über Doras Hand, die wie eine Koralle blühte, und seine hellen verwegenen Augen – doch Dora wehrte lächelnd seinen Blick ab.

»Leben Sie wohl, Otto – auf gesunde Wiederkehr!« sagte sie, und ihre Grübchen schimmerten. –

»Ich hatte noch gar nicht Gelegenheit, Gräfin – mich nach dem Befinden Seiner Exzellenz zu erkundigen – ich darf doch hoffen, daß Seine Exzellenz – « Die Stimme des Generals sank zu einem ehrfurchtsvollen Raunen herab.

»Seine Exzellenz waren vor kurzem in ernster Lebensgefahr. Der Hofzug, wissen Sie – und ein feindlicher Flieger – eine Bombe – aber Gott sei Dank passierte nichts. Die Bombe traf, leider, einen Lazarettzug – die Armen – .« Die Gräfin aber hatte alles gefühlt. Zur selben Stunde erwachte sie, im Traum erschreckt durch einen Feuerschein. So geheimnisvoll innig war die Verbindung zwischen ihr und ihrem Bruder.

Das Gesicht des Generals zeigte äußerste Bestürzung.

»Ist es möglich – eine Bombe – und man erfährt es jetzt erst – ? Wann?«

»Vor etwa zehn Tagen.«

»Vor zehn Tagen! Und man – haben Sie gehört, Dora?«

Der General konnte es gar nicht fassen.

4.

Die beiden jungen Offiziere eilten mit raschen Schritten die nasse dunkele Straße entlang. Beide waren verabredet, mit den Schwestern Klara und Hedi Westphal, die zu Doras Kreis gehörten. Übrigens wußte keiner von des andern Rendezvous. Das ganz nebenbei.

Otto schlug den Kragen des Mantels hoch und fluchte.

»Furchtbar, entsetzlich!«

»Wie beliebt?«

»Einfach entsetzlich!«

»Sie meinen, Otto?«

»Dieses Geschwätz! Diese Teegesellschaft! – Ich gehe übrigens links, Heinz. Ich muß zum Kaiserhof.« Otto machte erneut den Versuch, Heinz abzuschütteln, weil er allein sein wollte. Was ahnte dieser Knabe – ?

Aber Heinz verstand ihn nicht. »Es ist einerlei, wo ich einsteige. Das heißt natürlich, wenn ich lästig bin?«

Heinz hatte Mühe mitzukommen, denn Otto machte rasende Fahrt. Mit Genuß atmete er die feuchte Luft ein, die aus dem Tiergarten in alle Straßen dieses Viertels strömte. Welcher Qualm bei Frau v. Dönhoff! Dora rauchte englische, etwas parfümierte Zigaretten, sie bekam sie jetzt noch – woher, das war rätselhaft, aber sie bekam sie jedenfalls. Auch Heinz war glücklich, Doras Salon entronnen zu sein. Die Nähe des Generals hatte ihn bedrückt. Er hatte auch nicht den Mund aufgetan und war sich albern, kindisch und ungeheuer dumm vorgekommen. Die Ordenssterne des Generals und besonders der gestickte Kragen (war ein Komet darauf gestickt oder was sonst für eine sonderbare Sache?) hatten seine Phantasie verwirrt. Glücklicherweise, ja, es war in der Tat ein Glück, hatte ihn der General gar nicht beachtet. Nur bei der Begrüßung hatte er ihm flüchtig die Hand gereicht und ihn mit jenem raschen Blick gestreift, mit dem hohe Offiziere Untergebene in Gesellschaft begrüßen: kameradschaftlich, verstehst du, aber welche Distanz! Übrigens, diese Hand des Generals, sie war stählern und – eisig kalt. Nie würde er diesen Händedruck vergessen. Schon aber kehrte seine alte Sorge zurück.

»Glaubt Ihr Herr Vater wirklich, daß wir im Sommer in Paris sein werden?« wandte er sich hastig an Otto.

Otto fuhr aus seinen Gedanken auf. Er war so zerstreut, daß er einen Augenblick stehenblieb. Dampfsäulen fuhren aus seinem Mund, so schnell atmete er, es war kalt geworden. Er blickte Heinz in die Augen, verstand erst jetzt und lachte plötzlich.

»Natürlich glaubt er es. Er glaubt es schon seit über drei Jahren. Schon im August 1914 hat er mir Lehren mitgegeben, wie ich mich in Paris zu benehmen hätte. Er war übrigens nie in seinem Leben in Paris!«

»Also, er glaubt es?« sagte Heinz nachdenklich.

»Ja, ja, und er wird es glauben und wenn die Franzosen in Hannover stünden. Er würde es auch dann noch glauben. Er ist so.«

»Aber glauben auch Sie es?«

Wieder lachte Otto kurz auf. »Ich?« sagte er, knurrte er. »Ich bin doch kein Narr!« Nein, er, Otto glaubte nicht mehr an den Sieg der deutschen Waffen, wie viele Frontoffiziere.

Kein Narr?

»Aber Ihr Herr Vater, Otto, der General – ?«

Otto lachte nun laut und belustigt. »Die Generale haben ihre eigene Meinung, lieber Heinz! Sie können das ja noch nicht verstehen, es ist ein Kapitel für sich. Ich habe einmal bei Langemarck dreißig Prozent meiner Leute liegenlassen, und mein General sagte: Na, das ging ja noch gelinde ab. Wörtlich! Mein alter Herr, übrigens – er will das Reich Karls des Großen wieder errichten.«

»Sie glauben also nicht daran?« Heinz atmete erleichtert auf. »Es wäre ja auch zu fatal,« fügte er hinzu, »jetzt, da ich eben Feldpilot geworden bin.«

Fast vier Jahre Krieg und immer noch dieselbe Geschichte, dachte Otto. Da er aber schwieg, versuchte Heinz, ihm seinen Seelenzustand deutlicher zu machen.

»Sie können mich nicht begreifen«, rief er aus. »Sie Glücklicher! Sie fahren ja morgen zurück zur Front!«

Otto knöpfte den Mantel fester zu. Plötzlich fror er. Der Gedanke an die Front benahm ihm für einen Augenblick den Atem. Die ganze Grausigkeit der Zone des Todes, in der es nur zerschossene Gräben, eingeäscherte Dörfer, zersplitterte Wälder gab, legte sich wie ein Alp auf seine Brust. Weshalb auch, zum Teufel, mußte er jede Minute daran erinnert werden, daß er morgen wieder zur Front zurück sollte? Jeder Mensch, der die Front nicht kannte, tat so, als fahre er zu einer Hochzeit. Ja, tatsächlich man beglückwünschte ihn! Die Leute allerdings, die sie kannten – nun, die sagten gar nichts – höchstens ein verstehendes, etwas schadenfrohes Lächeln.

Die Kälte in der halbdunkeln Straße kroch an ihm empor, in seine Uniform hinein. Er erinnerte sich voller Grauen an die Erdlöcher, in denen er, völlig unverständlich, Jahre seines Lebens verbracht hatte, an den eisigen Hauch, der von den Gräben ausging. Und plötzlich, ganz unvermutet, schnürte ihm eine sonderbare Empfindung die Brust zusammen – Angst. Ja, Angst! Gleichzeitig sah er einen Feuerschein vor seinen Augen, der ihn erschreckte: den kurzen hellen Blitz des explodierenden Geschosses. Er erbleichte. Das Geräusch einer um die Ecke fahrenden elektrischen Bahn hatte ihm das schleifende Fauchen einer Granate vorgetäuscht.

Immer noch war er schneeweiß im Gesicht und sein Herz zuckte – genau wie draußen, wenn sie heranzischten.

»Hören Sie, Heinz,« sagte er, »wie diese Elektrische um die Kurve fährt? Genau so kreischen und fauchen die Granaten. Sie werden noch bald genug hinauskommen.«

Heinz beschleunigte unwillkürlich den Schritt. »Ich freue mich unbändig«, rief er aus, indem er die strahlenden Knabenaugen zu Otto hob. »Denken Sie, ich war fünfzehn, als der Krieg ausbrach, und ich konnte ja nicht hoffen, noch mitkämpfen zu dürfen.«

»Auch wir, wir haben uns unbändig gefreut, als die ersten Granaten einschlugen«, entgegnete Otto und gab seiner Stimme einen leichteren und heiteren Klang. Immer noch pochte und zuckte sein Herz. Er wollte Heinz auch nicht ahnen lassen, was in ihm vorging. Dieser Junge! Sollte er ihm sagen, daß er in Angstschweiß gebadet – betete? So unglaublich es klingt. Betete! Er! Übrigens – das ging ihm durch den Kopf – bei Souchez – die Toten lagen mit ihren genagelten Stiefeln in Scharen draußen – sie hatten schwere Verluste, ein abgeschlagener Angriff – da kam ein bayrischer Priester. Der stieg auf den Graben – im Feuer! – das Kreuz erhoben und segnete die Gefallenen ein. Die Franzosen schossen – aber er, er stand – mit dem Kreuz in der Hand. Friede sei mit Euch! Schrecklicher, herrlicher Augenblick! Er glaubte, glaubte! Die Kugeln waren Wind für ihn. Aber er, Otto, er betete – ohne zu glauben, das ist etwas ganz anderes. Sollte er Heinz erzählen, wie sie liefen – wie Ratten, auf die geschossen wird – hin und her – wie Ratten – von Unterstand zu Unterstand – und zwar jeden Abend? Hohoho! Es wurde Scheibe geschossen.

»Ja, auch wir haben gelacht, als die ersten Granaten einschlugen. Ich erinnere mich deutlich. Es war beim Vormarsch. Plötzlich aber hing ein Bein auf einem Obstbaum – «

»Wie? Ein Bein?«

»Ja, ein Bein. Mit dem Stiefel. Es hing im Kniegelenk auf einem Ast.«

»Brr!«

»Ja, und in diesem Augenblick hörten wir auf zu lachen und Hurra zu schreien, denn wir hatten ja jeden Einschlag mit Hurra begrüßt. – Übrigens ist es natürlich für Sie sehr interessant, da Sie die Scherze noch nicht kennen – für Sie als Flieger ganz besonders.«

»Sind Sie jemals im Felde geflogen? Nein? Ich stelle es mir wunderbar vor. Ich habe Tausende von Fliegeraufnahmen gesehen, und ich glaube, daß ich gleich vertraut sein werde mit allem. Nur das Warten ist schrecklich.«

»Vergessen Sie nur nicht, wie gesagt, daß da draußen scharf geschossen wird.«

Der junge Sterne-Dönhoff brach in ein heiteres Lachen aus. »Aber natürlich, das ist ja gerade das Interessante bei der ganzen Sache,« rief er aus, »im Feuer fliegen!«

Plötzlich, ganz unvermittelt, blieb Otto stehen und streckte Heinz die Hand hin. »Ich muß jetzt – Sie verzeihen, Heinz – ich muß gehen!« Immer noch war er etwas bleich.

»Auf Wiedersehen, Otto. Und hoffentlich im Felde!«

»Hoffentlich!«

Er hat auch seinen Knacks weg! dachte Heinz. Nein, wie nervös er ist! Und doch soll er zum Pour le mérite vorgeschlagen sein!

Wie ein Rasender stürzte Otto die halbdunkle Straße hinab. Heinz sah ihm verwundert nach.

Gerechter Gott, sollte man es für möglich halten? Auf gesunde Wiederkehr! Er war gekommen, um ein paar Worte mit ihr zu sprechen. Ein Lächeln, eine gepuderte Hand. Alles? Und eine ganze Gesellschaft saß da, zu allem Unheil kam noch der Alte dazu –!

Da droben gab es keinen Stern, kein Licht, keine Wolken, nichts. Nur eine dicke fettige Schicht von Ruß, aus der zuweilen flimmernde Tropfen fielen, lag auf den häßlichen dunkeln Häusern, die vor Feuchtigkeit schwitzten. Und schon war Otto in einem Blumengeschäft verschwunden.

Tulpen, Flammen und Glut, hellrote Rosen.

»Das Stück kostet – «

»Ich möchte alle.«

»Alle?« Sie kosteten ein Vermögen.

»Einen letzten Gruß!« schrieb Otto. Der neugierige Blick der kleinen rothaarigen Verkäuferin, die ihn durch die Blumensträuße beobachtete, verwirrte ihn. Er wurde abwechselnd bleich und rot, während er die paar banalen Worte und die Adresse schrieb. Es mußte ja ganz unverfänglich sein, jeder Mensch, dieser Petersen und diese Frida, die herumspionierten, mußten die Karte lesen können. Ohne diese Rücksichtnahme hätte er wohl gewußt, was er schreiben sollte.

Er hätte schreiben können: Ich werde Dich vor mir sehen – und wieder erbleichte er.

Die Liebe ist Gift, dachte der rothaarige Irrwisch und lächelte spöttisch hinter dem Offizier her.

Ruhiger schritt Otto dahin. Plötzlich, sonderbar, hatte er Zeit! Morgen früh um sieben Uhr ging der Zug. Nun wohl, das waren immerhin noch gute zwölf Stunden. Der Abend lag vor ihm – und die ganze Nacht.

Unangenehm nur war die Verabredung mit jener Dame im Kaiserhof. Sehen wir zu, daß wir die Sache hinter uns bringen! Indessen – keine Eile – mochte sie getrost noch etwas warten. Er hatte es gewiß nicht an Deutlichkeit fehlen lassen, oder? Schluß, zu Ende, sei ein tapferes Mädchen usw. usw. Wie man in solchen Fällen zu schreiben pflegt. Nein, nach diesem Brief gab es ein Zurück nicht mehr. Und doch hatte sie ihn wieder beschwätzt. Sie begriff, sie war völlig einverstanden, zu Ende, natürlich, aber sie wollte ihn vor seiner Abreise noch einmal kurz sehen, wenn auch nur für einen Augenblick. Sie schrieb, daß sie von 5 bis 9 Uhr im Kaiserhof auf ihn warten werde. Er würde gewiß eine Minute finden. Von 5 bis 9 Uhr! Es war natürlich ganz unmöglich, eine junge Dame vier Stunden lang vergebens warten zu lassen, das sah er wohl ein.

Aber sie soll wenigstens etwas zappeln, dachte er und zündete sich gemächlich eine Zigarette an. Er machte sogar noch einen unnötigen Umweg.

»Diese Hedi!« Verächtlich stieß er die Luft durch die Nase.

Wie der General verachtete auch Otto im Grunde seines Herzens die Frauen.

Er kaufte eine Abendzeitung und durchflog sie unter einer Laterne.

5.

Heinz war, so schnell ihn die Füße trugen, zur Station der Untergrundbahn geeilt. Er hatte ja Klara benachrichtigt, daß es etwas später werden könnte, trotzdem …

Es war die Stunde des Geschäftsschlusses.

Berlin war wie ein schmutziger Schwamm, der ausgedrückt wird. Ströme von Schmutz flossen aus dem finsteren Himmel, von den Dächern und den tausendfenstrigen Hauswänden. Der Schmutz wälzte sich über die Straßen und stieg in den durchlöcherten Stiefelsohlen bis an die Knöchel. Die Menschen in ihren abgeschabten, dünnen Kleidern, blau vor Kälte und Hunger, quollen aus den frostigen Häusern und stürzten hinab in die windigen Kamine, die zur Untergrundbahn führen. Sie stauten sich auf den Bahnhöfen, geballt zu einer Wolke von Bitterkeit und Wut. Die überfüllten Züge fegten, triefend von Dunst und Schmutz, mitten hinein in die Menschenknäuel, die sich rasend gegen Türen und Scheiben warfen, um nicht auf den finstern, feuchten Perrons zurückbleiben zu müssen.

Die Schaffnerinnen – ihre Männer waren im Feld, faulten längst in den Massengräbern, verbluteten in dieser Minute, die Kinder hungerten zu Hause in einer kalten Stube – die Schaffnerinnen, gepeinigt bis aufs Blut von den jagenden Zügen, klirrenden Scheiben und kämpfenden Menschenmassen, schrien mit schrillen, gellenden Stimmen, als ob sie erdolcht würden. (Und ach, sie wurden erdolcht, jede Minute stieß ihnen unbarmherzig das Messer ins Herz.)

Zu Blöcken zusammengepreßt, flogen die Menschen durch die dunkeln Tunnels voll stummer gegenseitiger Raserei. Sie schwiegen. Sie fürchteten Spione und Agenten. Sie fürchteten den Terror der Albernheit. Sie lächelten und lachten nicht mehr. Sie fühlten das Verhängnis dicht vor sich, um sich, über sich, wo am Dach des Wagens sich all die Dünste der zusammengedrängten Menschenmassen stauten. Dieses Verhängnis, dessen Widerschein in allen Augen glänzte, begleitete sie durch die finsteren Tunnels, über die klirrenden Brücken und flutete mit ihnen über die menschenwimmelnden Perrons. Flogen die Züge in die Stollen hinab, so war es für viele, als ginge es in die Hölle mit ihnen, und der kalte Schweiß trat auf ihre Stirn.

Dunkelheit, Kälte und Hunger drohten aus den Straßenschluchten. Diese drei Gespenster ergriffen Besitz von Berlin, das sich drei Kriegswinter hindurch tapfer verteidigt hatte, um im vierten zu kapitulieren. Täglich breiteten sie sich mehr über die Stadt aus. Sie eroberten Häuserblock um Häuserblock, Straßenzüge um Straßenzüge, Stadtviertel um Stadtviertel, und drangen langsam zum Herzen der Stadt vor. Als ein viertes Gespenst war noch die Grippe dazugekommen. Dieses Gespenst war überall, wo sich Menschen ansammelten. Es machte alle Fahrten auf den überfüllten Untergrundzügen mit. Die Passagiere husteten sich gegenseitig den Tod ins Gesicht. Viele von ihnen machten heute ihre letzte Fahrt. Mit Vorliebe suchte dieses vierte Gespenst sich junge Exemplare aus, es liebte zartes Fleisch. Sie starben von der Berührung. Die Alten brachte es nur um eine gute Strecke der Grube näher, in die sie eines Tages, entkräftet vor Hunger und zermürbt von der Verzweiflung, ganz von selbst stürzen würden.

Heinz mußte einen überfüllten Zug vorbei lassen. Ein Paar grober Fäuste schleuderte ihn zurück. Selbst beim nächsten Zug verdankte er es nur seinem freundlichen Knabengesicht und dem Lächeln auf den roten Lippen, daß man ihn mitnahm.

Augenblicklich dachte er an die grüne Mütze. In wenigen Minuten würde er sie sehen!

Eine grüne Wollmütze, flott nach hinten gerückt, grasgrün, mit einer ebensolchen grasgrünen Seidenquaste in der Mitte, gewiß ist sie nichts, aber sie kann im Herzen eines Menschen soviel sein wie der Christus in der Kirche. Zuweilen, wenn die Züge seiner Dame in seinem Gedächtnis verblaßten, sehr selten geschah es – die grüne Wollmütze blieb zurück, keine Macht konnte sie ihm entreißen. Und allmählich, wie durch einen Zauber, fügten sich dann wieder Haar, Wangen, Ohr – alles daran.