E-Book 241-250 - Toni Waidacher - E-Book

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Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 10 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Unter anderem gingen auch mehrere Spielfilme im ZDF mit Millionen Zuschauern daraus hervor. Sein größtes Lebenswerk ist die Romanserie, die er geschaffen hat. Seit Jahrzehnten entwickelt er die Romanfigur, die ihm ans Herz gewachsen ist, kontinuierlich weiter. "Der Bergpfarrer" wurde nicht von ungefähr in zwei erfolgreichen TV-Spielfilmen im ZDF zur Hauptsendezeit ausgestrahlt mit jeweils 6 Millionen erreichten Zuschauern. Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Diese Staffel enthält: E-Book 181: E-Book 182: E-Book 183: E-Book 184: E-Book 185: E-Book 186: E-Book 187: E-Book 188: E-Book 189: E-Book 190: E-Book 1: Endlich eine Heimat … E-Book 2: Xaver auf Abwegen? E-Book 3: Bettina findet ihr Glück E-Book 4: Vertraue keinem Musikanten E-Book 5: Ich brauche keinen Millionär E-Book 6: Das unbeugsame Herz E-Book 7: Eva und die Eger-Brüder E-Book 8: Du machst mein Leben erst schön! E-Book 9: Thomas ist wieder da! E-Book 10: Glückliche Tage – und dann?

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Inhalt

Endlich eine Heimat …

Xaver auf Abwegen?

Bettina findet ihr Glück

Vertraue keinem Musikanten

Ich brauche keinen Millionär

Das unbeugsame Herz

Eva und die Eger-Brüder

Du machst mein Leben erst schön!

Thomas ist wieder da!

Glückliche Tage – und dann?

Der Bergpfarrer – Staffel 25 –

E-Book 241-250

Toni Waidacher

Endlich eine Heimat …

Der Traum einer Zirkusprinzessin

Roman von Waidacher, Toni

»Ich würd’ sagen, wir überlegen uns jetzt gemeinsam, wo unser diesjähriger Ministrantenausflug hingehen soll. Einverstanden? Jeder von euch macht einen Vorschlag, und am Schluss wird abgestimmt.«

Pfarrer Trenker schaute erwartungsvoll auf die Ministranten und Ministrantinnen, die um den Tisch auf der Terrasse des Pfarrhauses saßen und gierig Sophie Tapperts selbstgemachtes Himbeereis löffelten.

»Also, ich würd’ am liebsten wieder auf die Kandereralm gehen wie letztes Jahr«, schlug Bertl, der Sohn des Gantner-Bauern vor. »Da oben war es einfach super.« Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann verpasste Hansi Hofmeister, der neben Bertl saß, seinem Tischnachbarn einen Rippenstoß. »Ich sag ja net, dass es auf der Kandereralm net schön gewesen wäre«, räumte er ein. »Aber zweimal hintereinander das Gleiche machen, will höchstens so eine Trantüte wie du, Bertl. Ich hab’ dazu keine Lust. Und die anderen bestimmt auch net. Wenn schon eine Bergtour, dann lieber zur Streusachhütte.«

Es erhob sich teils zustimmendes, teils ablehnendes Gemurmel, das Sebastian schließlich mit einer Handbewegung dämpfte.

»So gern ich mit euch in den Bergen wandern würd’«, meinte er, »aber weil wir auch an den Tobi denken müssen, der frisch aus dem Krankenhaus kommt, müssen wir bei unserem diesjährigen Ausflug wohl darauf verzichten. Sein Kreuzbandriss ist zwar erfolgreich operiert worden, aber in den nächsten paar Wochen darf der Tobias sein Knie bestimmt noch net so stark belasten.«

»Ach so. Daran haben wir gar net gedacht«, gab Monika Hirlmeier zu. »Was haltet ihr von einem Tag am Achsteinsee?«, schlug sie vor. »Ich bin mir sicher, dass der Tobias schwimmen darf. Mein Papa ist nämlich vor zwei Jahren auch am Knie operiert worden, und da hat

er …«

»Bloß net!«, unterbrach Peter, dessen Mutter am See einen Andenkenladen betrieb, Monika. »Am Achsteinsee bin ich jeden Tag. Jahraus, jahrein. Dazu brauch’ ich keinen Ministrantenausflug.«

»Das stimmt. Aber wenn wir vielleicht nach Garmisch fahren würden?«, versuchte ein anderer Ministrant zu schlichten. »Wir könnten die Skiflugschanze besichtigen und das Eisstadion.«

»Und das mitten im Sommer! Du bist doch net ganz gescheit«, murrte Peter.

Sebastian Trenker schaute auffordernd in die Runde. Angela Ilgner, die Jüngste, fasste sich ein Herz, als er ihr zulächelte.

»Ich hätt auch eine Idee, was wir unternehmen könnten. Wir könnten zum Beispiel nach Graunau fahren. Das ist auch net so weit.«

»Graunau? Aber da gibt’s doch gar nix zu sehen. Meinst net, dass das eine ziemlich langweilige Angelegenheit wird, Angela?«, winkte Peter ab.

Angela Ilgner schüttelte energisch den Kopf.

»Langweilig wird es uns in Graunau ganz bestimmt net«, behauptete sie. »Dort hält nämlich grad ein Zirkus. Mein Bruder, der Matthias, ist schon ein paar Mal hinübergefahren und hat sich die Vorstellung angeschaut. Er hat gemeint, sie sei wirklich ganz große Klasse. Und das will etwas heißen, weil der Matthias net leicht irgendetwas lobt. Es wird net nur einfach ein Nachmittags- oder Abendprogramm abgespult wie in den meisten Zirkussen. Man kann auch selber ein bissel mitmachen. Das find ich echt Spitze.«

Sebastians Interesse war geweckt. Aber auch die anderen am Tisch waren aufmerksam geworden.

»Wie heißt denn der Zirkus überhaupt?«, wollte Peter nun wissen.

»Zirkus Rotondo heißt er«, antwortete Angela. »Wahrscheinlich Italiener. So hört es sich jedenfalls an. Mein Bruder hat gesagt, der Zirkusdirektor sieht danach aus. Und seine Tochter hat lange pechschwarze Locken, ein Gesicht wie eine italienische Schauspielerin und tiefdunkle Augen.«

»Kurz und gut: ein echtes Rasseweib«, fasste Hansi Hofmeister altklug zusammen, was ihm einen amüsierten Blick Pfarrer Trenkers eintrug.

»Was heißt denn eigentlich ›ein bissel mitmachen‹?«, wollte Monika Hirlmeier wissen. »Weil wir doch Rücksicht auf den Tobias nehmen müssen.«

»Das ist bestimmt kein Problem«, erklärte Angela. »Denn was man ausprobieren will, bleibt natürlich jedem selbst überlassen. Da ist auch für den Brandner-Tobias etwas dabei. Auf einem Kamel zu reiten zum Beispiel ist überhaupt net schwierig. Das kann jedes Kind. Sogar meine Freundin Anja hat es ausprobiert und eine Menge Spaß dabei gehabt. Und die ist unsportlich wie ein Elefant.«

Unter den Ministranten wurde Gekicher laut.

»Gibt es eigentlich auch Elefanten bei diesem Zirkus Rotondo?«, versuchte Monika Hirlmeier dem Heiterkeitsausbruch der Buben die Spitze zu nehmen.

Angela, die rot geworden war, nickte eifrig.

»Freilich. Und dressierte Pudel. Und ein Dromedar«, wusste sie zu berichten. »Und selbstverständlich jede Menge Pferde. Maria Rotondo, die Tochter des Zirkusdirektors, macht nämlich unter anderem eine Pferdenummer, bei der sie voltigiert.«

Angela erinnerte sich noch ganz genau, wie ihr Bruder Matthias vor ein paar Tagen beim Frühstück von den Reitkünsten der schönen Maria geschwärmt hatte. So lange, bis der Ilgner-Bauer immer missmutiger geworden war und Matthias schließlich mit einem verächtlichen Blick an die Arbeit geschickt hatte, damit ihm endlich die dummen Gedanken vergingen.

»Und Löwen?«, kam es nach einer Weile von Bertl Gantner. »Raubtiernummern finde ich nämlich toll. Und so einem Dompteur würde ich wahnsinnig gern einmal assistieren.«

Angela lachte.

»Löwen haben sie schon«, gab sie zurück. »Aber net solche, wie du meinst, Bertl. Die Löwen vom Zirkus Rotondo sind net gefährlich. Weil sie gar keine richtigen Löwen sind. Sondern bloß Menschen, die in Löwenkostümen stecken. Ihr Dompteur ist ein Clown mit einem Zylinder, einer riesigen roten Knollennase und viel zu großen Schuhen. Den treiben sie fast in den Wahnsinn, weil sie nix kapieren und alles falsch machen.«

Wieder erhob sich allgemeine Heiterkeit.

»Da hast du ja gerade noch einmal Glück gehabt, Bertl«, versetzte Peter hämisch. »Jetzt brauchst du deine großspurige Ankündigung, den Löwendompteur zu geben, wenigstens net wahr machen. Andernfalls wär es dir schlecht ergangen. Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass du schon noch rechtzeitig einen Rückzieher gemacht hättest, du Feigling.«

»Erst Trantüte, dann Feigling. Jetzt reicht’s mir aber, du Blödmann, und zwar gründlich! Ich werd dir gleich zeigen, was ich bin und was net«, protestierte Bertl. Seine kleinen Hände ballten sich zu Fäusten.

»Schluss jetzt«, sagte der Bergpfarrer energisch. »So wie es ausschaut, können wir jetzt abstimmen. Jeder von euch hat einen Vorschlag gemacht. Wer also dafür ist, dass wir zum Zirkus Rotondo nach Graunau fahren, soll die Hand heben.«

Vier Finger schnellten so gleichzeitig hoch, als hätte jemand einen unhörbaren Startschuss gegeben.

Nur Peter Bammler zögerte noch einen Moment. Aber als er die einhellige Zustimmung der anderen sah, schloss er sich, wenn auch mit einiger Verzögerung, an.

»Gut. Damit wäre also einstimmig beschlossen, dass wir nach Graunau fahren«, erklärte Pfarrer Trenker. »Als Termin schlage ich den nächsten Mittwoch vor. Das ist der letzte Schultag vor den großen Ferien. Da habt ihr ein bissel früher frei. Und im Urlaub ist auch noch keiner von euch.«

»Und wenn der Zirkus bis dahin schon weitergezogen ist?«, wandte Peter Bammler ein, doch Angela verneinte sofort.

»Das ist er ganz bestimmt net«, versicherte sie. »Mein Bruder hat gefragt. Der Zirkus bleibt noch gute vierzehn Tage dort.«

»Wunderbar. Dann wäre also alles geklärt«, resümierte Pfarrer Trenker zufrieden. »Bleibt lediglich die Frage offen, wer ein zweites Himbeereis möchte. Frau Tappert hat, soviel ich weiß, noch jede Menge davon auf Vorrat.«

Diesmal waren es fünf Finger, die sofort in die Höhe flogen.

Wobei Pfarrer Trenker hätte schwören können, dass der Peter diesmal sogar einen leichten Vorsprung gehabt hatte.

*

Die Nachmittagsvorstellung des Zirkus Rotondo war unter großem Beifall des vorwiegend jungen Publikums zu Ende gegangen.

Als glanzvollen Abschluss der Vorstellung, hatte Maria Rotondo alle ihre prächtigen Pferde in die Manege stürmen lassen, und mit ihren Darbietungen großen Applaus geerntet. Selbst Sebastian Trenker war begeistert von dem Können und dem Mut der jungen Reiterin.

Wieder und wieder verneigte sich Maria Rotondo. Mit der einen Hand hielt sie ein tänzelndes Pferd am Zügel, mit der anderen löste sie bei der fünften oder sechsten Verbeugung anmutig den Knoten, zu dem sie ihre Haare während des Ritts im Nacken zusammengefasst hatte. Wie ein Mantel fielen ihr ihre langen Locken bis zu den Hüften und streiften bei jedem weiteren tiefen Knicks mit den Spitzen den Sand der Manege. Schließlich dämpfte Maria mit einer winkenden Bewegung ihrer schlanken langfingerigen Hände den Applaus und machte deutlich, dass sie etwas sagen wollte.

»Liebe Kinder und Jugendliche, ich danke euch vielmals für die Aufmerksamkeit und das Interesse, das ihr unseren Darbietungen entgegengebracht habt«, sagte sie mit weicher melodischer Stimme. »Wir vom Zirkus Rotondo freuen uns alle sehr, dass es euch so gut gefallen hat. Wenn ihr Lust habt, uns, unsere Tiere und unsere Arbeit näher kennen zu lernen, seid ihr gerne dazu eingeladen. Ihr könnt zum Beispiel unsere Tiere aus nächster Nähe anschauen und selbst ein paar Kunststückchen ausprobieren. Und natürlich könnt ihr euch auch ein bisschen hinter den Kulissen umsehen und euch informieren, wie wir wohnen und leben. Besonders herzlich eingeladen sind die Ministrantinnen und Ministranten aus St. Johann, die zusammen mit ihrem Pfarrer ihren diesjährigen Ausflug zu uns nach Graunau gemacht haben.«

Maria Rotondo schickte ein strahlendes Lächeln in die Richtung, in der Pfarrer Trenker und die Buben und Madln aus St. Johann saßen. Dann verneigte sie sich noch einmal besonders tief, wobei diesmal, auf ein leises Kommando hin, auch ihr Apfelschimmel in die Knie ging und seinen schmalen Kopf mit der langen dunklen Mähne bis auf den Boden senkte.

Sebastian Trenker beobachtete die junge Frau und ihr Pferd genau. Maria Rotondo sah in der Tat südländisch aus, aber ihr Deutsch war frei von jedem Akzent. Unwillkürlich fragte er sich, ob das ganz einfach an ihrer Sprachbegabung lag oder ob der Name Rotondo vielleicht nichts weiter als ein Künstlername war.

Weit kam er in seinen Überlegungen allerdings nicht, weil nämlich seine Ministrantinnen und Ministranten plötzlich aufsprangen, und in fieberhafter Eile wurden Jacken und Taschen zusammengerafft. Dann ging es unter Gejohle, Gedränge und Gerangel so rasch zum Zirkuszelt hinaus, dass Pfarrer Trenker ihnen kopfschüttelnd hinterherschaute.

Bald hatte auch der Bergpfarrer den freien Platz vor dem Zelt erreicht. Die Sonne stand schon ziemlich tief und tauchte die hellen Planen des Zirkuszelts, die Wohnwagen und das bunte Gewimmel davor und daneben in das warme rötliche Licht des Spätnachmittags. Stimmengewirr, in das sich ein vielfaches Wiehern, Bellen, Trompeten und Grunzen mischte, lag in der Luft. Es roch nach Fett aus der Pommes-Bude, nach Kaffee und nach dem Stallgeruch der Tiere.

Sebastian Trenker trat zu den sich um Maria Rotondo scharenden Ministranten und Ministrantinnen.

»Ich möchte das Zaubern ausprobieren«, vernahm er als Erstes die Stimme Peter Bammlers. »Damit ich den Trick mit der zersägten Jungfrau an der Vevi ausprobieren kann, die in der Schule neben mir sitzt.«

»Und ich will mir anschauen, wie man die Trapeznummer einstudiert«, erklärte im selben Atemzug Monika Hirlmeier. »Und testen, wie es ist, wenn man sich von der Kuppel ins Netz fallen lässt. Ich hab’ nämlich schon einmal ins Sprungtuch der St. Johanner Feuerwehr hüpfen dürfen. Und das hab’ ich echt supertoll gefunden.«

»Ich möchte so reiten lernen wie Sie, Frau Rotondo«, meldete sich als Nächste Angela Ilgner zu Wort. »Wir haben nämlich auf unserem Hof Pferde, mit denen ich üben kann. Wenn Sie mir, solange Sie noch da sind, Reitstunden geben könnten, würde ich dafür jeden Tag Ihre Pferde bürsten und striegeln.«

»Darf man auch das Jonglieren versuchen? Ich meine, ohne dass man die Teller, die man dabei kaputtmacht, bezahlen muss?«, wollte Bertl Gantner wissen.

Er brachte nicht einmal die Geduld auf, Maria Rotondos Antwort an Angela abzuwarten, sondern sprudelte mit seiner Frage so voreilig heraus, als hätte er Angst, nicht mehr zum Zug zu kommen.

Sebastian Trenker versuchte, Maria Rotondo beizuspringen, indem er seine Messdiener zu etwas mehr Zurückhaltung ermahnte, aber Maria winkte ab. »Wir freuen uns über euer Interesse, Kinder. Und jeder wird auf seine Kosten kommen«, versprach sie. »Allerdings soll euer Herr Pfarrer auch nicht leer ausgehen. Und da ich nicht annehme, dass ihm an einem Ritt auf einem Elefanten oder an ähnlichen Aktivitäten sonderlich viel gelegen ist …« Sie wandte sich fragend an Sebastian Trenker, der mit einem Schmunzeln den Kopf schüttelte.

Maria Rotondo strich ihre wilden, ungebändigten Locken hinter die Schultern zurück.

»Vielleicht darf ich Ihnen in unserem Wohnwagen eine Tasse Kaffee und ein Stück selbstgebackenen Apfelkuchen anbieten, Herr Pfarrer«, schlug sie vor und strahlte den Geistlichen dabei mit ihren fast schwarzen Augen an. »Während ich zusammen mit meinem Bruder und unseren Artisten den Buben und Madln alles zeige, könnten Sie sich, wenn Sie Lust haben, ein wenig mit meinem Vater unterhalten, der unser kleines Zirkusunternehmen leitet.«

Sebastian lächelte und nickte begeistert.

»Ja, das würde ich gerne«, erwiderte er und fügte schmunzelnd hinzu: »Die ›Buben und Madln‹ haben sich soeben ganz oberbayerisch angehört. Beinahe so, als ob Ihre Heimat gar net im weit entfernten Italien läge, Frau Rotondo, sondern direkt hier vor der Haustür.«

In Maria Rotondos dunklen Augen blitzte es belustigt auf.

»Womit Sie keineswegs Unrecht haben, Herr Pfarrer. Aber das werden Sie ohnehin gleich alles von meinem Vater erfahren«, raunte sie Sebastian so leise zu, dass die Umstehenden es nicht hören konnten.

Wenig später saß Sebastian Trenker mit Giorgio Rotondo, dem Seniorchef des Zirkusunternehmens, am gedeckten Kaffeetisch im Wohnzimmer des Rotondo’schen Wohnmobils und ließ sich Kaffee und Kuchen schmecken. Dabei sah er sich immer wieder unauffällig um und musste sich zu seiner Verblüffung eingestehen, dass Zirkusleute sehr viel komfortabler lebten, als er es sich vorgestellt hatte. Einbaumöbel in rustikaler Eiche, hübsche Vorhänge an den Fenstern, eine mit blauen Enzianblüten bestickte weiße Tischdecke und dazu passendes, ebenfalls mit Enzianblüten bemaltes Porzellan ließen Wohnlichkeit und Behaglichkeit aufkommen.

Die Einrichtung der Rotondos hätte genauso gut zu einem der Häuser oder Höfe von St. Johann gehören können.

Die zahlreichen gerahmten Fotos an den Wänden zeigten jedoch, durch wie viele fremde Landstriche das gemütliche Wohnzimmer auf seinen vier Rädern schon gerollt war.

»Die Bilder da drüben sind in Südfrankreich, genauer gesagt in Aix-en-Provence, aufgenommen«, begann Giorgio Rotondo, als er Sebastian Trenkers aufmerksame Blicke bemerkte, zu erzählen. »Die da hinten stammen aus der Steiermark, durch die wir im vergangenen Frühjahr getourt sind. Sogar Erinnerungsfotos von Ungarn und Tschechien sind dabei.«

Sebastian zeigte sich beeindruckt. »Sicher ein abwechslungsreiches und aufregendes Leben«, meinte er anerkennend.

Giorgio Rotondo zuckte die Schultern.

»Wie man’s nimmt«, gab er zurück. »Die meisten Menschen würden die ständigen Orts- und Umgebungswechsel wohl eher als Belastung empfinden, aber mich hat es schon in frühester Jugend hinaus in die Welt gezogen.«

Pfarrer Trenker nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

»Ihre Tochter Maria hat mir bereits angedeutet, dass Sie aus Bayern stammen, Herr Rotondo«, sagte er.

Giorgio Rotondo lachte.

»Ich komme aus Etterschlag bei München«, gestand er freimütig. »Wo ich allerdings net als Giorgio Rotondo, sondern als Georg Rundel auf die Welt gekommen bin. Als bodenständiger, gut katholischer Bauernsohn, der als Zweitgeborener zwar net den Hof geerbt hätte, aber doch in der Heimat hätte bleiben und ein anständiger Handwerker hätte werden können. Aber das wäre wohl nix für mich gewesen. Ich war einfach net geschaffen für ein sesshaftes Leben. Also hab’ ich mich einem Zirkus angeschlossen, der in meinem Heimatort gastiert hat, und bin auf und davon.«

Pfarrer Trenker entfuhr unwillkürlich ein Pfiff.

»Das nennt man wahre Berufung«, meinte er. »Und haben Sie es nie bereut, Ihr Elternhaus, Ihren Vater, Ihre Mutter, Ihre Geschwister verlassen zu haben? Und möglicherweise sogar ein Madl?«

Georg Rundel, alias Giorgio Rotondo, überlegte einen Moment mit schief gelegtem Kopf.

»Um ehrlich zu sein, hab’ ich manchmal schwere Gewissensbisse gehabt. Vor allem meiner Mutter gegenüber«, räumte er ein. »Sie hat, dessen bin ich mir sicher, nächtelang geweint, nachdem ich fort war. Wenn sie auch in ihren Briefen immer wieder geschrieben hat, dass sie glücklich sei, wenn sie mich glücklich wisse. Meine Mutter hat mir leid getan, das ist wahr. Aber im Großen und Ganzen hab’ ich meinen Entschluss, mit den Zirkusleuten zu gehen, net bereut. Net einen einzigen Tag. Was allerdings net allein am Zirkus, sondern auch an meiner Gusti gelegen hat.«

Pfarrer Trenker horchte auf. Ein leises Schmunzeln trat auf seine Lippen, während er dem Zirkuschef einen vielsagenden Blick zuwarf.

»Gusti?«, fragte er nicht ohne Neugier.

Georg Rundel wies auf ein großes gerahmtes Porträtfoto an der Wand.

Es zeigte eine Frau Mitte zwanzig, die ihren Kopf an den eines Pferdes schmiegte und Maria glich, als wäre sie ihre Zwillingsschwester.

»Das war Gusti, meine Frau«, sagte der Zirkusdirektor, wobei sein Blick wehmütig in die Ferne ging. »Gusti war Artistin beim Zirkus Berghoff, dem ich mich angeschlossen hatte. Gleich bei unserer ersten Begegnung hab’ ich mich Hals über Kopf in sie verliebt. Und der Gusti ist es net anders ergangen. Schon als ein Jahr vorbei war, haben wir geheiratet. Wir haben eine gute Ehe geführt, aber leider war unser Glück net von langer Dauer. Gusti hat die Geburt unseres jüngsten Sohnes net überlebt. Ihr Tod war für mich ein schwerer Schlag, den ich bis heute noch net völlig verwunden habe.« Georg Rundel verstummte und betrachtete in Gedanken versunken Gustis Bild. »Mein einziger Trost ist meine Maria«, fuhr er nach einer Weile des Schweigens fort. »Sie gleicht ihrer Mutter net nur aufs Haar, sondern sie hat auch Gustis Talent, mit Pferden umzugehen, geerbt. Und sie ist so liebenswürdig, freundlich und aufgeschlossen, wie Gusti es gewesen ist. Durch Maria ist immer noch ein Stück meiner geliebten Frau bei mir. Dafür bin ich Gott aus tiefstem Herzen dankbar.«

Sebastian Trenker schwieg eine Weile. »Dann haben Sie also drei Kinder, wenn ich Sie recht verstanden hab’«, hakte er schließlich nach.

Georg Rundel nickte. »Ja«, erwiderte er. »Mein ältester, der Hans, macht als Giovanni Rotondo zusammen mit Silvia Pirelli die Trapeznummer und wird, wenn ich einmal nimmer bin oder nimmer kann, unseren Zirkus Rotondo weiterführen. Die Maria, das getreue Ebenbild meiner Frau, kennen sie bereits. Sie ist heuer zwanzig geworden. Und dann ist da noch mein Jüngster, der Lukas. Er ist zwölf und lebt seit zwei Jahren in einem Internat. Er ist ein überaus gescheiter Bub. Und deshalb möchte ich net, dass er mir später einmal den Vorwurf macht, er habe des unsteten Zirkuslebens wegen seine Schulbildung vernachlässigen müssen. Er soll Abitur machen und studieren und, wenn er es geschafft hat, einen Beruf ergreifen, der seiner Intelligenz entspricht. Wer weiß, vielleicht wird sogar einmal ein Professor aus ihm.« Georg Rundel zog seine Brieftasche heraus und zeigte Pfarrer Trenker stolz ein Foto seines Jüngsten, auf dem er zusammen mit einem Internatsfreund abgelichtet war. »Musikalisch ist der Lukas übrigens auch«, fügte der Zirkusdirektor stolz hinzu. »Auf dem Internat lernt der Bub Geige und Klavier, er macht dabei wirklich gute Fortschritte.«

Pfarrer Trenker betrachtete versonnen das Foto, während Georg Rundel bereits zu einem anderen Thema überging.

»Ich weiß net, ob Ihnen meine Bitte möglicherweise ein bissel gar zu unbescheiden vorkommt, Herr Pfarrer«, fing er an, während er das Foto seines Jüngsten wieder an sich nahm. »Aber ich hab’ mir gedacht, dass Sie mit Ihren Ministrantinnen und Ministranten vielleicht in unserem Zirkuszelt einen Gottesdienst abhalten könnten. Und wenn Sie dabei unseren Zirkus, unsere Tiere und uns selber segnen würden, damit uns der liebe Gott auch weiterhin beisteht, wäre das wunderbar. Schließlich ist unser Beruf net ganz ungefährlich, sodass wir Hilfe von oben recht gut gebrauchen können.«

Der Bergpfarrer nickte Georg Rundel aufmunternd zu.

»Der liebe Gott wird Sie schon net verlassen«, meinte er lachend. »Wenn jemand mit so viel Liebe und Leidenschaft bei seiner Arbeit ist wie Sie und Ihre Familie, gibt der Himmel auch gerne das Seine dazu. Dessen bin ich mir sicher. Vielleicht kann ich den Zirkusgottesdienst sogar gemeinsam mit meinem Graunauer Amtsbruder feiern.«

»Ja, warum eigentlich net«, stimmte der Zirkusdirektor, hocherfreut über Sebastian Trenkers prompte Zusage, sofort zu. »Das ist eine prima Idee, auf die ich selber gar net …«

Georg Rundel kam nicht dazu, seinen Satz zu vollenden, denn noch ehe er hätte weitersprechen können, flog krachend die Tür des Wohnmobils auf, und Pfarrer Trenkers Messdiener stürmten herein, gefolgt von Maria und Giovanni Rotondo. Es dauerte eine geraume Weile, bis sich die aufgeregt schnatternde Schar einigermaßen beruhigt hatte und, einer nach dem anderen, neben Pfarrer Trenker und Georg Rundel um den Wohnzimmertisch Platz genommen hatten. Maria servierte ihnen Schokoküsse und Limonade.

Angela Ilgner hatte dabei nur Augen für Georg Rundel.

»Wie lange bleiben Sie denn mit Ihrem Zirkus noch in Graunau?«, traute sie sich schließlich zu fragen.

Georg Rundel zuckte die Schultern. »Noch eine gute Woche«, antwortete er. »Die Geschäfte laufen hier net schlecht. Unsere Vorstellungen sind noch immer beinahe ausverkauft. Aber wenn erst einmal jeder unser Programm in- und auswendig kennt …«

Über Angelas Gesicht legte sich ein Schatten der Enttäuschung.

»Jetzt sind doch Ferien, Herr Rotondo«, wandte sie ein. »Da kommen jede Menge Touristen nach Graunau. Und net nur nach Graunau, sondern auch nach St. Johann. Sie könnten zum Beispiel, wenn Sie von Graunau weiterziehen, noch drei Wochen in St. Johann Station machen. Und dann drei Wochen in Engelsbach. Und dann vielleicht noch ein bissel in Waldeck.«

Georg Rundel musste unwillkürlich lachen.

»Wenn dir unser Zirkus so gut gefällt, Madl, kannst du ja, sobald du mit der Schule fertig bist, als Artistin zu uns kommen. Und mit uns quer durch ganz Europa ziehen«, schlug er vor.

Angela nickte. »Vielleicht. Nur glaub ich net, dass mein Papa das erlauben wird«, sagte sie. »Aber eine so tolle Reiterin zu werden wie Ihre Tochter, wäre mein allersehnlichster Wunsch. Ihre Tochter hat mir Reitstunden versprochen. Bloß …« Angelas Blicke wanderten zwischen Giorgio und Maria Rotondo hin und her. »Bloß wenn der Zirkus in acht Tagen schon wieder weiterzieht, haben wir fast keine Zeit mehr. Da komme ich bestimmt net dazu, den Handstand auf dem Pferderücken zu lernen. Und gerade den möchte ich unbedingt können.«

Angela machte ein so enttäuschtes Gesicht, dass sie Pfarrer Trenker schon leid tat.

»Vielleicht bleibt Herr Rotondo mit seinem Zirkus tatsächlich noch ein bissel in St. Johann«, meinte er mit einem fragenden Blick auf Georg Rundel. »Ich glaube, eine zusätzliche Touristenattraktion wäre jetzt im Sommer kein Fehler. Platz genug ist da. Die Hasenheide ist der ideale Ort für das Zirkuszelt und die Wagen.«

»Ich kann mir net vorstellen, dass die Silvia von dieser Idee begeistert ist«, warf Giovanni Rotondo, mit bürgerlichem Namen Hans Rundel, stirnrunzelnd ein. »Sie spricht immer wieder davon, wie wichtig es für unser Unternehmen ist, aus dem Vorstadtmilieu herauszufinden und wenigstens in Städten wie Augsburg oder Kempten aufzutreten. Und ich denke, in diesem Punkt hat sie durchaus …«

Ein energisches Räuspern seines Vaters brachte Hans zum Schweigen. Georg Rundel verdrehte die Augen in Sebastian Trenkers Richtung.

»Mein Ältester will ein bissel höher hinaus als ich«, meinte er. »Vor allem, um seiner Braut, der Silvia, zu gefallen. Nur gehört der Zirkus Pirelli, aus dem das Madl stammt, halt zu einer ganz anderen Größenordnung als unserer. Da kann man nix machen. Wenn die Silvia es auch partout net einsehen will.« Der Zirkusdirektor rieb sich das Kinn mit Daumen und Zeigefinger und stellte fest, dass er wieder einmal schlecht rasiert war. »Was mich betrifft, wäre ich net abgeneigt, noch für zwei oder drei Wochen in St. Johann zu bleiben, Herr Pfarrer«, erklärte er nach kurzem Überlegen. »Immer vorausgesetzt natürlich, dass wir auf die Schnelle noch eine Genehmigung bekommen.«

Der Bergpfarrer winkte ab.

»Wir haben einen sehr, sehr netten Bürgermeister in St. Johann«, versicherte er schmunzelnd. »Dem es gar nicht munter genug in St. Johann zugehen kann. Eine Genehmigung dürfte also, so wie ich die Sache sehe, gar kein Problem sein.«

»Das ist ja wunderbar«, riefen Angela Ilgner und Maria Rotondo wie aus einem Mund.

Hans sah seine Schwester entgeistert an. »Ich hab’ gar net gewusst, dass du so gerne Reitstunden gibst«, stellte er kopfschüttelnd fest.

Maria wurde verlegen.

»Es …, es geht ja auch net um Reitstunden im eigentlichen Sinn«, erwiderte sie hastig. »Es …, es freut mich halt, einem hellauf begeisterten Madl das zu vermitteln, was mir selber so viel Spaß macht. Das …, das ist doch ganz normal, oder?«

»Aber freilich«, meinte Pfarrer Trenker begütigend und wandte sich wieder Georg zu. »Dann werd ich also, wenn es Ihnen recht ist, wegen der Aufenthalts- und Spielerlaubnis mit Herrn Bruckner, unserem Bürgermeister, reden«, versprach er.

»Ja, tun Sie das, Herr Pfarrer. Das wäre wirklich sehr nett von Ihnen«, bedankte sich Georg Rundel. »Wenn es klappt, bekommen Ihre Ministrantinnen und Ministranten und natürlich auch Sie selber für die Antritts- und Abschiedsvorstellung in St. Johann so viele Freikarten, wie Sie wollen.«

Die St. Johanner Buben und Madln klatschten begeistert in die Hände. Sie beratschlagten sofort, wen von ihren Freunden und Freundinnen sie einladen wollten, bis Pfarrer Trenker nach einer Weile auf seine Armbanduhr schaute. »Ich glaube, wir müssen langsam aber sicher wieder zurückfahren«, meinte er.

Ein vielstimmiger Laut der Enttäuschung war die Folge. Dennoch griffen die Kinder folgsam nach ihren Jacken und Rucksäcken und machten sich abmarschbereit.

Sie waren schon drauf und dran, das Wohnmobil der Rotondos wieder zu verlassen, als Angela Ilgner noch einmal umkehrte.

»Dann bleibt es also bei den Reitstunden? Ganz bestimmt?«, wandte sie sich mit bittender Miene an Maria Rotondo.

Maria nickte. »Klar bleibt es dabei. Wenn wir mit unserem Zirkus in St. Johann sind, bekommst du jeden Tag Unterricht«, versprach sie. »Und bis dahin kannst du, sooft du Zeit und Lust hast, hierher nach Graunau kommen. Ist das ein Angebot?«

»Ja«, jubelte Angela.

Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre Maria Rotondo um den Hals gefallen, ehe sie in aller Eile den anderen nachstolperte, um den Anschluss nicht zu verpassen.

*

Die Abendvorstellung des Zirkus Rotondo war zu Ende. Maria, ihr Bruder Hans, Silvia Pirelli und Georg Rundel marschierten einträchtig auf ihr Zuhause auf vier Rädern zu. Gesprochen wurde nicht viel, denn alle vier waren nach dem langen Tag rechtschaffen müde und sehnten sich nach Ruhe, Entspannung und Schlaf.

»Ich glaube, wir waren diesmal richtig gut«, sagte Silvia Pirelli, und man sah ihr ihren Stolz und ihre Freude über die gelungene Vorstellung an. »Jedenfalls viel besser als am Nachmittag bei den Kindern aus St. Johann.«

Maria zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich hast du Recht, Silvia«, meinte sie. »Aber die Kinder waren das bessere Publikum. Sie sind so begeisterungsfähig. Und sie nehmen einem auch ein paar kleine Patzer net übel, weil sie, viel mehr als Erwachsene, aufs Ganze schauen, auf das, was wesentlich und wichtig ist.«

Silvia schickte einen verzweifelten Blick zum Himmel.

»Wenn ihr solche Maßstäbe an eure Arbeit anlegt, Maria, kommt ihr nie über Gastspiele in diesem entsetzlichen Kleinstadtmief hinaus«, tadelte sie. »Du machst deine Sache nicht schlecht, Maria. Du machst sie sogar sehr gut. Aber du besitzt leider keinerlei Ehrgeiz. Könntest du nur einen Funken davon entwickeln, stünden dir mit deiner großartigen Voltigiernummer alle Tore offen. Du könntest dich jedem Zirkus anschließen, auf den du Lust hast. Alle würden dich mit Handkuss nehmen. Du könntest sogar für große Zirkusunternehmen in Übersee arbeiten und mit einigem Glück richtig berühmt werden, aber du …«

Maria hörte nicht mehr zu, was Silvia sonst noch sagte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als gingen die Worte der jungen Frau, die einmal ihre Schwägerin werden würde, sie nicht das Geringste an. Die Dinge, von denen Silvia träumte, bedeuteten ihr nichts.

Sie hatte ihre eigenen, völlig anderen Vorstellungen von Glück.

Mit jedem Jahr des Herumziehens sehnte sie sich mehr nach einem Ort, an dem sie sesshaft werden konnte. Sie wollte Nachbarn und Freunde haben, ein richtiges Haus, das fest und unverrückbar auf dem Boden stand, einen kleinen Garten vielleicht, einen Mann und eine eigene Familie. Und natürlich ihre kluge treue Stute Samantha. Und Gipsy, Happy, Topsy und Sunny, die vier Pudel ihrer Pudelnummer.

Ob diese Dinge allesamt unter einen Hut zu bringen waren, erschien Maria allerdings sehr zweifelhaft. Worauf konnte sie gegebenenfalls am ehesten verzichten? Und gab es überhaupt einen normalen Mann, der sich auf eine Zirkusprinzessin einließ?

Würde sie sich nicht eher mit einem Mann aus ihren Kreisen zufriedengeben müssen, mit dem ihr Leben dann allerdings genauso unstet weiterlaufen würde, wie es immer gewesen war?

Erst als Maria vor der Tür des Wohnmobils angekommen war, riss sie sich von ihren Gedanken los. Sie wandte sich Silvia zu, um sich von ihr zu verabschieden, doch Silvia kam ihr zuvor. »Gute Nacht, Maria. Schlaf schön. Und denk einmal nach über das, was ich dir gesagt habe«, zwitscherte sie mit munterer Stimme, noch ehe Maria auch nur den Mund hätte öffnen können.

Maria zuckte die Schultern und suchte nach einer neutralen Erwiderung.

Im nächsten Augenblick fuhr sie erschrocken zusammen.

Aus der Richtung des Wagens, in dem die Pferde untergebracht waren, war ein lautes, beinahe panisches Wiehern an ihr Ohr gedrungen.

»Ich glaub’, das war meine Samantha«, sagte Maria. »Ihr Wiehern hat sich fast angehört, als ob sie vor irgendetwas Angst hätte.«

Fragend schaute Maria zuerst ihren Vater und dann ihren Bruder an.

»Wenn du unbedingt meinst, kannst du ja noch einmal nach deiner Stute sehen«, erwiderte Georg und gähnte herzhaft. »Der Hans soll mitgehen, damit du dich net zu fürchten brauchst.«

Ihr Bruder machte ein missmutiges Gesicht. »Ich wollte eigentlich die Silvia noch in ihr Wohnmobil begleiten, weil wir etwas sehr Wichtiges zu besprechen hätten«, redete er sich, einen kurzen Blick mit seiner Verlobten wechselnd, ein wenig ungeschickt heraus. »Aber wenn die Maria sich fürchtet …«

»Du brauchst net mitzukommen, Hans«, wehrte Maria mit einem verlegenen Schulterzucken in Silvias Richtung ab. »Als ob ich vor irgendetwas Angst hätte und männlichen Geleitschutz bräuchte. Das ist doch zum Lachen.«

Kurz zu ihrem Bruder und ihrem Vater zurückwinkend, verschwand Maria in der Dunkelheit. Zielstrebig hielt sie auf die Pferdewagen zu. Im selben Moment hörte sie ein Geräusch wie von Schritten. War da jemand, oder hatte sie sich getäuscht?

Mit einem Mal wurde ihr nun doch ein wenig mulmig zumute. Wäre es am Ende besser gewesen, nicht so schnell auf die Begleitung ihres Bruders zu verzichten?

Forschend schaute Maria sich um. In diesem Augenblick hörte sie wieder das Wiehern. Es kam unverkennbar von Samantha. Von Samantha, die auf Fremde erfahrungsgemäß sehr viel scheuer und furchtsamer reagierte als der Rest der Pferde.

Unsicher blieb Maria stehen. Warum in aller Welt sollte jemand sich hier herumschleichen und …

War da nicht soeben ein Schatten zwischen den Pferdewagen verschwunden? Unwillkürlich hielt Maria den Atem an. Hatte sie nicht erst neulich in der Zeitung einen Bericht gelesen, über einen Pferdedieb, der friedlich auf der Weide grasende Pferde mit einem Futtersack in einen Hänger gelockt und abtransportiert hatte? Nicht auszudenken, wenn sich ein solch dreister Dieb an ihre kostbaren Pferde heranschlich und …

All ihren Mut zusammennehmend, stürzte Maria auf Samanthas Box zu und sah im Zwielicht des langsam über die Wachnertaler Berge heraufsteigenden Mondes einen jungen Mann stehen.

Zu ihrer Erleichterung machte er ihr allerdings keineswegs den Eindruck eines Pferdediebes. Er hatte, soweit Maria es erkennen konnte, dunkle leicht gewellte Haare und braune Augen, die sie freundlich und fast ein wenig schüchtern anblickten.

»Guten Abend, Frau Rotondo. Sie brauchen net vor mir zu erschrecken«, sprach er Maria an. »Ich …, ich bin bloß der Ilgner-Matthias aus St. Johann. Und will Ihnen bestimmt nix Böses. Schon seit Ihr Zirkus in Graunau ist, bewundere ich Ihre Reitkünste. Ich bin in vielen Vorstellungen des Zirkus Rotondo gewesen und ganz gewiss einer Ihrer größten Fans. Ich …, ich hätte Sie mit Sicherheit schon früher angesprochen, wenn ich gewusst hätte, wie gut Sie Deutsch können. Sogar ein bissel Bayerisch können Sie, hat meine Schwester gesagt.«

Maria fühlte, wie ihr eine heiße Röte in die Wangen schoss. Und war froh, dass das Mondlicht das allzu deutliche Zeichen ihrer Verlegenheit und Verunsicherung vor ihrem Gegenüber verbarg.

Sollte sie dem jungen Mann sagen, dass sie gar keine Italienerin war? Maria zögerte. Er war ihr irgendwie sympathisch, aber schließlich kannte sie ihn überhaupt nicht. Wieso sollte sie ihm also preisgeben, dass ihr Name nur ein Künstlername war? Und sich dadurch womöglich Ärger mit ihrem Vater einhandeln?

»Ihre Schwester?«, fragte sie, nur um irgendetwas zu sagen.

»Ja, meine kleine Schwester. Die Ilgner-Angela, die heute Nachmittag auf dem St. Johanner Ministrantenausflug bei Ihnen im Zirkus und im Wohnmobil war«, beeilte sich Matthias Ilgner zu erklären. »Sie hat beim Nachhausekommen ganz begeistert erzählt, dass Sie ihr Reitstunden geben wollen. Und als ich vorhin in der Abendvorstellung war, da hab’ ich mir gedacht …«

Matthias Ilgner verstummte und senkte den Blick, sodass er nicht bemerkte, dass Maria ihn halb fragend und halb auffordernd anschaute.

»Da haben Sie gedacht?«, erkundigte sie sich aufmunternd.

»Nun ja, ich wollte Sie halt ganz gerne einmal persönlich kennenlernen. Aus allernächster Nähe

sozusagen«, erwiderte Matthias. »Und ..., und vielleicht um ein Foto und um ein Autogramm bitten. Schließlich sind Sie doch Künstlerin und …«

Maria warf in einem Anflug von Stolz ihren Kopf zurück.

Mit Autogrammwünschen waren auf ihren Gastspielen hin und wieder ein paar schlaksige, pickelige Halbwüchsige an sie herangetreten. Aber nie ein derart gut aussehender junger Mann, der obendrein lächeln konnte, dass einem regelrecht das Herz aufging.

»Leider hab’ ich im Moment weder ein Bild von mir dabei noch einen Stift zum Schreiben«, gab Maria zurück. »Ich war auf dem Weg zu unserem Wohnwagen, als ich meine Samantha wiehern hab’ hören. Da bin ich umgekehrt, um noch einmal nach dem Rechten zu schauen.«

Matthias Ilgner begriff sofort.

»Dann hab’ ich also, natürlich ohne es zu wollen, Ihr Pferd aus seiner Nachtruhe aufgestört«, sagte er mit ehrlichem Bedauern. »Das tut mir leid. Ich hab’ Sie noch bei Ihrem Apfelschimmel vermutet, Frau Rotondo. Und weil ich mich um diese Zeit nimmer zu Ihrem Wohnmobil getraut hab’ …«

»Halb so schlimm«, winkte Maria ab, der das ständige »Frau Rotondo« allmählich peinlich wurde. »Und sagen Sie bitte net immer Frau Rotondo zu mir. Ich bin ganz einfach die Maria. Und damit fertig. Alle, die mich kennen, nennen mich beim Vornamen.«

Matthias Ilgner strahlte.

»Wunderbar, Maria«, freute er sich. »Dann müssen Sie mich aber auch Matthias nennen.« Er grinste. »Und mich mitnehmen zu Ihrer Stute, damit ich mich ihr vorstellen und sie wieder beruhigen kann.«

Maria musste lachen, ob sie wollte oder nicht. »Also gut, Matthias, kommen Sie«, sagte sie schließlich und ging an Matthias’ Seite zum Pferdewagen.

Dabei berührten sich zufällig ihre und Matthias’ Schultern.

Maria wich sofort zurück.

Noch nie hatte sie sich so beklommen und zugleich so wohl gefühlt, wie in Matthias’ Gegenwart. Und obwohl sie sich wieder und wieder eine Närrin schalt, wollte sich daran nichts ändern.

Maria konnte sich auch nicht erklären, warum ihre Finger, als sie den Pferdewagen aufsperrte, so sehr zitterten, dass sie es kaum schaffte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken.

»Soll ich Ihnen helfen, Maria?«, fragte Matthias, während er bereits die Hand ausstreckte, um ihr beizuspringen.

Maria ließ es geschehen und sah Matthias zu, wie er mit flinken Fingern den Schlüssel umdrehte.

Samantha wieherte beim Anblick des Fremden heftig auf, stellte sich, als Matthias sich ihrer Box näherte, auf die Hinterbeine und strampelte mit den Vorderfüßen in der Luft. Doch der mit Pferden erfahrene Matthias zeigte keinerlei Angst. Mit schnellen Schritten ging er auf die Stute zu und kraulte, als sie mit ihren Vorderbeinen wieder auf den Boden gekommen war, ihren Kopf. Zuerst schüttelte Samantha wild ihre Mähne, beruhigte sich dann aber rasch und ließ sich Matthias’ Streicheleinheiten beinahe genüsslich gefallen.

»So schnell hat meine Samantha noch nie mit jemandem Freundschaft geschlossen«, wunderte sich Maria. »Sie müssen wirklich eine Riesenportion Pferdeverstand und ein ausgesprochen glückliches Händchen für Pferde haben, Matthias.«

Matthias zuckte bescheiden die Schultern.

»Das ist in meinem Fall eher Übungssache«, spielte er seine Qualitäten herunter. »Ich bin mit Pferden aufgewachsen. Unter solchen Umständen lernt man recht schnell, wie Pferde zu nehmen sind.«

Maria nickte, aber sie konnte Matthias ihre Bewunderung nicht versagen. Wie sanft und gleichzeitig mit welcher Festigkeit und Sicherheit er Samantha anfasste und seine Hand über ihr Fell gleiten ließ!

»Hätten Sie net Lust …«, begann Matthias, unterbrach sich dann aber, erschrocken über sich selbst, mitten im Satz.

Er hatte Maria spontan zu sich nach Hause auf den Ilgner-Hof einladen wollen, wusste aber nicht, ob es das Richtige war.

»Wozu soll ich Lust haben oder auch nicht?«, hakte in diesem Moment Maria nach.

Matthias wusste in der ersten Verblüffung nicht, was er sagen sollte.

»Ich …, ich wollte Sie fragen,

ob …, ob Sie net Lust hätten, zusammen mit mir eine Bergtour oder auch –Wanderung zu unternehmen?«, stammelte er, als er sich einigermaßen wieder gefasst hatte. »Meine kleine Schwester hat mir nämlich erzählt, dass Sie, wenn Sie aus Graunau abreisen, mit dem Zirkus noch für eine oder zwei Wochen in St. Johann Station machen. Wir könnten bei dieser Gelegenheit zusammen auf die Kandereralm gehen. Oder ich könnte Ihnen unsere eigene Alm, die auf dem Kogler liegt, zeigen.«

Marias Herz schlug bei Matthias’ Worten schneller, ob sie es wollte oder nicht.

Schon bei ihrer Ankunft in Graunau hatte sie sich spontan in die herrliche Berglandschaft des Wachnertals verliebt und davon geträumt, das wildromantische Tal einmal von einem der Gipfel aus zu betrachten. Wenn sie sich vorstellte, dass dieser Traum wahr werden, und es obendrein ein so netter junger Mann sein würde, der sie führte …

»Das …, das wäre wunderbar«, hörte Maria plötzlich ihre eigene Stimme, als hätte sie sich selbstständig gemacht und gehöre nicht mehr zu ihr. Erst als ihr ihre Worte entschlüpft waren, wurde ihr bewusst, was sie bedeuteten.

Sie konnte doch nicht zusammen mit einem wildfremden Menschen durch einsame Bergwälder streifen, vielleicht sogar zu zweit allein auf einer Hütte übernachten …

»Das wäre zwar wunderbar, Matthias, aber es geht leider net«, schob sie deshalb rasch nach. »Die Arbeit im Zirkus lässt mir eigentlich nie genug Zeit, um die Gegend, in der wir uns gerade aufhalten, zu erkunden. Das ist zwar sehr schade, aber man kann es nun einmal net ändern.«

»Ja freilich, ich verstehe«, sagte Matthias enttäuscht. »Aber vielleicht sehen wir uns doch noch ein paarmal, Maria. Zum Beispiel, wenn ich meiner kleinen Schwester beim Unterricht im Voltigieren zuschaue. Damit ich sehe, ob sie auch Fortschritte macht oder ob Sie Ihre kostbare Zeit ganz umsonst an das Madl vergeuden.«

Maria schüttelte den Kopf.

»Aber nein, das werd ich auf gar keinen Fall«, versicherte sie, froh darüber, dass Matthias ihr den Korb, den sie ihm in punkto Bergtour gegeben hatte, nicht übel nahm. »Ich bin mir sicher, dass die Angela sehr talentiert ist. Bei ihren Reitversuchen heute Nachmittag hat sie sich jedenfalls so anstellig gezeigt, dass ich ganz überrascht war.« Sie lachte und blinzelte Matthias zu. »Trotzdem freue ich mich natürlich, wenn Sie zuschauen. Schon, weil ich Ihnen dann bei dieser Gelegenheit gleich das Autogramm geben kann, das Sie sich gewünscht haben.«

Matthias nickte begeistert. Am liebsten hätte er Maria einfach umarmt und an sich gedrückt, folgte ihr aber stattdessen nur schweigend, als sie den Pferdewagen wieder verließ und sorgsam hinter sich abschloss.

»Soll ich Sie zu Ihrem Wohnmobil begleiten, Maria?«, fragte er schließlich in der vagen Hoffnung, Maria würde es ihm erlauben.

Doch Maria machte eine abwehrende Handbewegung.

»Danke, das ist net notwendig«, sagte sie, verabschiedete sich mit einem kräftigen, aber kurzen Händedruck von Matthias und lief leichtfüßig davon, die Müdigkeit, die sie noch vor einer guten halben Stunde verspürt hatte, war wie weggeblasen.

Erst als sie schon auf den Stufen stand, die zur Tür ihres Wohnmo­bils hinaufführten, drehte sie sich noch einmal um.

Verlassen lag das Zirkuszelt da, in den Stallwagen der Tiere war es ruhig, und in den meisten Wohnmobilen und Wohnwagen waren die Lichter schon aus.

Suchend schaute Maria in die Dunkelheit, als hoffe sie, Matthias könne ihr doch gefolgt sein und urplötzlich wieder aus der Nacht auftauchen. Aber nichts regte sich.

Nur hinter den Bergen waren inzwischen ein paar dunkle Wolken aufgezogen, die immer wieder den Mond verdeckten und aus denen es hin und wieder kräftig blitzte.

*

»Vielen Dank, Herr Pfarrer. Sie haben den Gottesdienst im Zirkuszelt wirklich wunderschön gestaltet«, freute sich Georg Rundel und schüttelte Sebastian Trenker herzlich die Hand. »Und auch die Segnung der Tiere, der Artisten und des gesamten Zirkusinventars, war sehr feierlich und beeindruckend.«

Sebastian Trenker lachte und blinzelte Georg Rundel zu.

»Ich hab’ übrigens mit unserem Bürgermeister, Herrn Bruckner, geredet«, sagte er. »Er hat sich sofort einverstanden erklärt, Ihren Zirkus in St. Johann auftreten zu lassen. Sie können sich, wenn Sie möchten, schon in den nächsten Tagen auf der Hasenheide einrichten.«

Georg Rundel, der Zirkusdirektor, nickte. Dann warf er einen flüchtigen Blick hinter sich auf seine Tochter Maria, die soeben herzugetreten war.

»Mein älterer Sohn, der Hans, ist zwar entschieden gegen Ihren Vorschlag, mit dem Zirkus noch ein oder zwei Wochen in St. Johann zu bleiben, Herr Pfarrer«, erklärte er, sich wieder Sebastian Trenker zuwendend. »Vor allem weil seine Braut, die Silvia, das Wachnertal auf schnellstem Wege wieder verlassen und unbedingt Gastspiele in einer Großstadt geben möchte, am liebsten natürlich in ihrer Heimat Italien. Aber die Maria hat mich nach allen Regeln der Kunst bekniet, noch ein bissel in Bayern bleiben zu dürfen. Weil es ihr bis jetzt noch nirgends so gut gefallen hat wie hier in den Wachnertaler Bergen.«

»Das freut mich«, erwiderte Sebastian Trenker. Er überlegte eine Weile, dann schaute er Maria fragend an. »Sind Sie eigentlich schon einmal in den Bergen gewandert?«, erkundigte er sich. »Oder, sportlich wie Sie sind, vielleicht sogar geklettert? Zum Beispiel während Ihres Gastspiels in der Steiermark?«

Maria schüttelte den Kopf.

»Nein. Weil ich meistens nur mit den Proben und der Arbeit für den Zirkus beschäftigt war. Um auf irgendwelche Berge zu steigen, hat mir die Zeit gefehlt. Oder, um ehrlich zu sein, eher die richtige Begleitung. Der Hans macht sich nix aus der Kraxelei, wie er das Bergsteigen ein bissel salopp bezeichnet. Die übrigen Artisten denken net viel anders als er. Und außerhalb unserer Zirkusgemeinschaft hab’ ich nie jemanden kennen gelernt, der …«

Maria verstummte und dachte spontan an den jungen Mann namens Matthias Ilgner, der vor ein paar Tagen vor dem Pferdewagen auf sie gewartet und sie zu einer gemeinsamen Tour eingeladen hatte.

Sie war ihm seither nicht mehr persönlich begegnet. Allerdings hatte er noch einige Abendvorstellungen des Zirkus Rotondo besucht und ihr am Schluss ihrer Voltigiernummer jedes Mal voller Begeisterung applaudiert. Vorgestern hatte er sogar einen Rosenstrauß in die Manege geworfen, der inzwischen auf dem Wohnzimmertisch ihres Wohnmobils stand und betörend duftete.

Ob sie Matthias, während der Zirkus in St. Johann gastierte, noch einmal wiedersehen würde? Ob er wirklich zu den Reitstunden seiner kleinen Schwester kommen würde, wie er es ihr versprochen hatte?

Immerhin hatte Maria, wenn sie ehrlich zu sich selbst sein wollte, ihren Vater nicht allein aus Liebe zu den Bergen zu einem Aufenthalt in St. Johann überredet, sondern auch, um Matthias wiederzusehen.

»Hätten Sie denn Lust und Zeit, mit mir zusammen eine Bergtour zu unternehmen, Maria?«, erkundigte sich Pfarrer Trenker und riss damit Maria aus ihren Träumereien.

Sie stutzte einen Moment. Gegen einen Geistlichen als Begleiter konnten nicht einmal ihr Vater und ihr Bruder etwas einwenden.

Aber obwohl der Pfarrer von St. Johann sehr braungebrannt und sportlich aussah, konnte Maria sich nicht vorstellen, dass er sich in seiner Freizeit als Gipfelstürmer betätigte.

Sebastian Trenker schmunzelte. Es fiel ihm nicht schwer, Marias Gedanken zu erraten.

»Sie dürfen sich mir ruhig anvertrauen, Maria«, meinte er belustigt. »Auch wenn Bergsteigen für einen Geistlichen ein eher ungewöhnliches Hobby ist. Aber die Bergwelt hat mich schon fasziniert, als ich noch ein ganz junger Mensch war. Ich hab’ mir sogar mein Studium als Bergführer finanziert.«

Maria machte große Augen, während ihr Vater sich weit weniger überrascht zeigte.

Er hatte, seit er im Wachnertal war, schon öfter gehört, dass man Pfarrer Trenker aus St. Johann den Bergpfarrer nannte. Jetzt wusste er endlich, warum.

»Mach dir ruhig einmal einen schönen Tag, Maria«, sagte Georg Rundel spontan. »Du kannst dir, wenn dem Herrn Pfarrer der Termin net ungelegen kommt, vielleicht einen der letzten Tage unseres Aufenthalts für deine Tour aussuchen. Da ist fast nur mehr Zelt­abbau angesagt, was ohnehin Männersache ist.«

Maria schaute Sebastian Trenker fragend an.

»Wenn Sie sich zeitlich ein bissel auf uns einstellen könnten …«, sagte sie ein wenig unsicher, »würde ich wirklich gerne mitkommen. Auf einen der Gipfel hier zu steigen, stelle ich mir als ein wundervolles Erlebnis vor, das ich bestimmt net so schnell vergessen werde.«

Pfarrer Trenker nickte Maria zu.

»Falls net gerade ein Unwetter oder eine Regenperiode dazwischenkommt, richte ich mich selbstverständlich gern nach Ihren Wünschen, Maria«, versicherte er. »Dann dürfen Sie sich aussuchen, ob Sie lieber die Kanderer-Alm sehen möchten, auf der der berühmte Bergkäse hergestellt wird, oder ob wir uns den Kogler erwandern.«

Maria strahlte den Bergpfarrer an.

Einen Moment lang dachte sie daran, dass die Wanderung auf den Kogler sie vielleicht in die Nähe der Ilgner Alm führen würde, wagte aber gerade deshalb nicht, sich für den Kogler auszusprechen.

»Diese Entscheidung überlasse ich ganz allein Ihnen, Herr Pfarrer«, sagte sie. »Sie wissen schließlich am besten, wo es hier am allerschönsten ist. Ich freue mich jedenfalls riesig, dass Sie mich mitnehmen wollen. Und bedanke mich ganz herzlich für Ihre Einladung.«

*

»Passen S’ bloß auf, dass Sie net in ein Gewitter kommen«, mahnte Sophie Tappert, als sie den Proviant, den sie hergerichtet hatte, Stück für Stück in Pfarrer Trenkers Rucksack verstaute. »Gestern Abend, im Wetterbericht der Tagesschau, haben die Meteorologen für die nächsten Tage sogar eine Unwetterwarnung herausgegeben. Die Gewitter sollen, so hat es geheißen, aus dem Westen zu uns hereinziehen. In Frankreich, wo sie herkommen, haben sie bereits schweren Schaden angerichtet. Das Fernsehen hat ganz schreckliche Bilder von entwurzelten Bäumen, abgedeckten Dächern und verwüsteten Campingplätzen gezeigt. Wenn so etwas bei uns in St. Johann passieren würde …«

Sebastian winkte ab, redlich bemüht, Frau Tappert zu beruhigen.

»Erstens ist in den nächsten Tagen noch net heute«, beschwichtigte er. »Für meine Tour auf die Kandereralm besteht keine akute Gefahr. Und zweitens wird es schon net gar so katastrophal werden. Bis jetzt haben wir hier im Wachnertal noch immer Glück gehabt und sind schlimmstenfalls mit einem blauen Auge davongekommen.«

Sophie Tappert widersprach nicht, aber der besorgte Ausdruck, der noch immer auf ihrem Gesicht lag, sagte mehr als tausend Worte.

Schweigend packte sie noch ein paar Äpfel aus dem Pfarrgarten und zwei Packungen Traubenzucker in die Seitentaschen von Pfarrer Trenkers Rucksack.

Sebastian Trenker sah es mit Dankbarkeit. Es tat doch immer wieder gut zu wissen, dass es einen Menschen gab, dem man nicht gleichgültig war und der sich liebevoll um einen kümmerte.

»Ich hab’ mich übrigens entschlossen, die Maria auf die Kandereralm zu führen. Soll ich wieder ein großes Stück von Franz Thureckers Bergkäse mitbringen? Von dem grünen mit den vielen Kräutern?«, erkundigte sich Sebastian, worauf seine Haushälterin eifrig zustimmte.

»Ja, freilich. Den kann ich immer gut gebrauchen«, erwiderte sie. »Und ein bissel von dem besonders festen Käse, der sich zum Reiben eignet, wäre auch net schlecht. Dann gibt es bei uns im Pfarrhaus nächsten Freitag wieder einmal Käsespatzen.«

»Ich werd’ beide Sorten mitbringen. Ich vergess’ es net«, versprach Pfarrer Trenker und nickte seiner Haushälterin zum Abschied noch einmal zu, ehe er seinen Rucksack schulterte, seinen Filzhut aufsetzte und in die frühmorgendliche Dämmerung hinaustrat.

Maria Rotondo wartete bereits.

Sie trug eine hellblaue Jeanshose und ein weißes T-Shirt, dazu eine mit Edelweiß bestickte dunkelblaue Trachtenstrickjacke.

Die Jacke hatte sie sich in einem Trachtengeschäft als Andenken an ihren Aufenthalt in den Wachnertaler Bergen gekauft.

Sie hatte zwar immer noch ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, Geld ausgegeben zu haben für etwas, das sie im Grunde nicht wirklich brauchte, hatte aber beim Anblick des hübschen Kleidungsstücks einfach nicht widerstehen können.

»Guten Morgen, Herr Pfarrer«, grüßte sie freundlich, als Sebastian Trenker um die Ecke bog.

»Guten Morgen«, erwiderte der Bergpfarrer Marias Gruß und fügte dann mit einem Blick auf ihre Bergschuhe hinzu: »Passen sie auch wirklich gut?«

»Wie angegossen«, gab Maria zurück.

Die Bergschuhe stammten aus dem Fundus an Bergausrüstung, der im Pfarrhof immer vorhanden war, um Touristen auszustatten, die nicht die richtige Kleidung und das richtige Schuhwerk dabei hatten. Bei Maria, die sehr kleine zierliche Füße hatte, war es gar nicht so leicht gewesen, die geeignete Größe zu finden, aber zu guter Letzt hatte sie doch noch Glück gehabt.

»Und wohin gehen wir?«, erkundigte Maria sich.

»Ich hab’ es mir überlegt. Wir gehen zur Kandereralm«, erwiderte Sebastian Trenker. »Ich bin mir sicher, Sie werden begeistert sein von diesem wunderschönen Fleckerl Erde, Maria. Und von Franz Thurecker, dem Senner. Er ist schon weit über siebzig und lebt doch fast das ganze Jahr allein oben auf der Alm. Und schaut genauso aus, wie man sich einen Bewohner der bayerischen Berge landläufig vorstellt.«

»Da bin ich aber gespannt«, lachte Maria.

Sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie ein wenig enttäuscht war, hatte sie im Stillen doch immer noch gehofft, Sebastian Trenker würde sich für den Kogler entscheiden und sie beim Aufstieg notgedrungen an der Alpe Ilgner Alm vorbeiführen, wo sie vielleicht durch irgendeinen glücklichen Zufall Matthias treffen könnte.

Doch ihre Enttäuschung hielt nicht lange an.

Schon bald nahm sie die wundervolle Bergnatur ganz in ihren Bann.

Zuerst ging der Weg durch den wildromantischen Höllenbruch und dann steil aufwärts durch einen kleinen Bergwald, einem Ausläufer des Ainringer Forstes.

»Am Ende des Waldes kommen wir auf die Hohe Riest hinaus«, erklärte der Bergpfarrer. »Von hier aus zweigen die Wege zu den verschiedenen Almen ab, unter anderem auch zur Kandereralm. Allerdings nehme ich normalerweise net den gekennzeichneten Weg. Ich hab’ meine eigene Route, bei der man zwar hin und wieder ein bissel klettern oder auch einmal ein Geröllfeld umgehen muss, aber dafür ein Stück unberührte Natur erlebt. Mit einem bissel Glück kann man sogar Murmeltiere sehen. Sie wohnen in unterirdischen Höhlen, kommen aber bei schönem Wetter und wenn die Luft rein ist, gerne vor ihren Bau, machen Männchen und spielen miteinander wie ausgelassene Kinder. Dabei lassen die scheuen Tiere aber trotzdem immer Vorsicht walten. Einer von ihnen, meist der Älteste, ist als Wächter bestellt. Sobald er menschliche Witterung aufnimmt oder auch einen natürlichen Feind der Murmeltiere, zum Beispiel einen Steinadler sieht, stößt er einen schrillen Pfiff aus, der die anderen warnt. Im Nu ist dann die ganze Sippe unter der Erde verschwunden.«

Maria hörte Sebastian Trenker aufmerksam und interessiert zu.

Dabei spielte es keine Rolle, ob er von Pflanzen und Tieren der Alpenwelt berichtete, ob er Sagen erzählte, die sich um einzelne, meist einsame Berggegenden rankten, oder ob er Erlebnisse zum Besten gab, die er von früheren Touren oder aus seiner Zeit als Bergführer in Erinnerung hatte.

Der Aufstieg verging Maria wie im Flug, und sie spürte die Anstrengung kaum.

Schon bald war ein Felsplateau erreicht, auf dem der Bergpfarrer das Zeichen zur Rast gab.

Der Rucksack wurde geöffnet und ausgepackt, und Maria konnte gar nicht genug staunen über die vielen üppig mit Wurst und Käse belegten Brote, die, fein säuberlich in Butterbrotpapier eingewickelt, zum Vorschein kamen.

»Ist das alles nur für uns zwei?«, fragte sie.

Der Bergpfarrer nickte.

»Meine liebe Frau Tappert hat immer ein bissel Angst, mir könnte auf einer meiner Wanderungen oder Touren etwas zustoßen. Und damit ich, bis die Bergwacht mich findet, wenigstens net Hungers sterbe, deckt sie mich dementsprechend ein.«

»Ach so«, meinte Maria. »Und wenn Ihnen nix zustößt, bringen Sie den halbvollen Rucksack wieder nach Hause.«

Sebastian Trenker schmunzelte.

»Möchte man annehmen«, gab er zurück. »Bloß ist das bis jetzt noch nie passiert. Meistens ist nämlich schon nach der ersten Rast alles weggeputzt. Was allerdings noch nie schlimme Folgen nach sich gezogen hat, weil ich bis jetzt noch kein einziges Mal in meinem Leben in Bergnot geraten bin.«

Maria lachte.

»Das kann ich mir auch gar nicht vorstellen«, meinte sie, »bei Ihrer Kondition und Ihrer Trittsicherheit.«

Während sie den ebenso aromatisch duftenden wie schmeckenden Kaffee trank, den Pfarrer Trenker ihr in den Plastikbecher der Thermosflasche füllte, ließ sie ihren Blick über das Tal von St. Johann schweifen. Gerade von dieser Stelle aus konnte man es wunderbar überschauen.

Schließlich wickelte Sebastian Trenker zwei belegte Brote aus und reichte eines davon Maria.

Sie kaute genüsslich und warf auch den Bergdohlen, die bettelnd immer engere Kreise um die beiden Wanderer zogen, ein paar Brotsamen hin, auf die die Vögel sich mit gierigem Gekreische stürzten.

Auch der Bergpfarrer gab den Dohlen von seinem Wurstbrot ab.

Dann griff er in seinen Rucksack, um Nachschub herauszuholen.

»Auf dem ganzen Aufstieg hab’ ich Ihnen jede Menge von mir erzählt«, meinte er schließlich. »Und Sie haben sich währenddessen ausgeschwiegen. Dabei würde mich brennend interessieren, wohin für den Zirkus Rotondo die Reise als Nächstes geht. Und wann und warum aus dem Zirkus Rundel überhaupt der Zirkus Rotondo geworden ist.«

Maria zuckte lachend die Schultern.

»Beide Fragen sind schnell beantwortet«, erwiderte sie. »Der Namenswechsel geht auf das Konto meines älteren Bruders. Und ist, wenn man so will, eine Hommage an seine Braut Silvia, die Italienerin ist. Silvia war es, die die Italienisierung unseres Namens vorgeschlagen hat. Zum einen aus Patriotismus, zum anderen weil sie der Überzeugung war, dass Rundel ein bissel langweilig und altbacken klingt.«

»Was ich eigentlich gar net finde«, warf Pfarrer Trenker ein.

»Ich auch net unbedingt«, entgegnete Maria. »Aber die Silvia hat sowieso ein bissel andere Vorstellungen von Zirkus als wir. Uns geht es um einen Zirkus zum Anfassen, bei dem das Publikum gerne auch einmal einen Blick hinter die Kulissen werfen darf, während die Silvia aus einem großen traditionellen Zirkusunternehmen stammt, dem Zirkus Pirelli eben.«

Sebastian Trenker nickte.

»Der Zirkus Pirelli ist mir durchaus ein Begriff«, meinte er. »Eine seiner Vorstellungen ist, wenn ich mich recht entsinne, im vergangenen Frühjahr sogar im Fernsehen übertragen worden.«

»So ist es«, antwortete Maria. »Und deshalb hat sich die Silvia auch mit ihrem Vater zerstritten, als sie sich ausgerechnet in Hans’ verliebt hat. Und sich uns angeschlossen hat, um immer in Hans’ Nähe sein zu können. Seine Tochter hätte es net nötig, in einen Flohzirkus einzuheiraten, hat Signore Pirelli gesagt.«

Der Bergpfarrer musste lächeln.

»Was die Liebe angeht, sind die Leute vom Zirkus, obwohl sie so weit in der Welt herumkommen, anscheinend manchmal genauso engstirnig wie unsere alteingesessenen Bauern hier am Ort. Denen geht es auch schwer gegen den Strich, wenn sie sich zum Beispiel mit einer Touristin aus der Großstadt als Schwiegertochter abfinden müssen. Oder mit einem Madl, das net genug Geld mit in die Ehe bringt.«

Maria schluckte.

Der Bergpfarrer kannte seine Gemeindemitglieder bestimmt gut genug, um zu wissen, wovon er sprach.

Wahrscheinlich war es gar nicht so schlecht, dass sie und Matthias sich schon in Kürze wieder aus den Augen verloren. Und das, so wie es aussah, für immer. Wenn sie sich vorstellte, dass Matthias Ilgner es wagen würde, seinem Vater eine Zirkusreiterin ins Haus zu bringen …

Maria seufzte.

Für sie und Matthias gab es keine gemeinsame Zukunft. Deshalb hatte Matthias, obwohl er sie schon bald aufgefordert hatte, sich zu duzen, und ihr immer wieder zu verstehen gegeben hatte, dass sie ihm nicht gleichgültig war, wohlweislich nie über etwas anderes gesprochen.

Nur sie selbst hatte in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft des Öfteren voller Sehnsucht von einer Ehe und einem Familienglück in den Bergen geträumt.

Wie dumm, wie naiv sie doch gewesen war!

»Wir brechen übrigens am Sonntagvormittag mit unserem Zirkus nach Lugano auf«, sagte Maria plötzlich. »Ich meine, weil Sie vorhin danach gefragt haben, Herr Pfarrer. Mein Vater möchte zum Abschluss unseres Aufenthalts noch in Ihrer schönen Kirche den Gottesdienst besuchen, und dann soll es wieder auf Fahrt gehen.«

Unwillkürlich schaute der Bergpfarrer Maria prüfend an.

Hatte da nicht ein leiser Ton von Traurigkeit und Resignation in ihrer Stimme mitgeschwungen?

Oder täuschte er sich da?

»Ein bissel unstet ist das Zirkusleben schon«, sagte Sebastian leichthin. »Und mein Fall wär’ es eigentlich net. Man ist zwar als Weltenbummler überall daheim, aber doch nirgends so, dass man sich einnisten kann. Und ohne ein bissel Nestwärme … Aber wahrscheinlich empfindet man das, wenn man als Zirkuskind aufgewachsen ist, sowieso ganz anders.«

Maria sagte eine Weile nichts und schaute nur stumm auf die Häuser und Straßen von St. Johann hinunter, die aus der bereits erwanderten beträchtlichen Höhe so klein aussahen, als wären sie Spielzeug.

»Die Liebe zum Zirkusleben hängt wohl eher mit Veranlagung zusammen als mit Erziehung«, erwiderte sie schließlich, ohne den Bergpfarrer dabei anzusehen. »Ich für meinen Teil bin zwar ein Zirkuskind, aber ganz glücklich bin ich mit dem Wanderleben, das wir führen, net. Irgendwann, wenn mir der richtige Mann über den Weg läuft, möchte ich heiraten und eine Familie haben. Meine Kinder sollen in eine ganz normale Schule gehen, Freunde haben, ein Haus, einen Garten … Ich möchte net, dass sie, wie der Lukas, in einem Internat aufwachsen. Ein Internat ist kein Ersatz für ein wirkliches Zuhause.«

Der Bergpfarrer konnte dem nur zustimmen.

»Dann wünsch’ ich Ihnen von ganzem Herzen, dass der Richtige bald kommt, Maria«, meinte er und fügte mit einem spitzbübischen Lächeln hinzu: »Oder ist er am Ende gar schon da?«

Maria spürte, wie ihr mit einem Mal eine heiße Röte in die Wangen schoss.

Konnte es sein, dass Sebastian Trenker bemerkt hatte, wie es um sie stand? War ihm irgendetwas aufgefallen?

Maria ließ vor ihrem geistigen Auge alle Momente Revue passieren, in denen der Bergpfarrer sie zusammen mit Matthias gesehen haben konnte, aber es waren nicht viele gewesen.

Dass der Geistliche Bescheid wusste, war eigentlich nicht möglich.

Rasch lenkte Maria, um sich nicht am Ende doch noch selbst zu verraten, das Gesprächsthema in andere Bahnen.

»Dem Papa«, redete sie weiter, »ist bestimmt net an der Wiege gesungen worden, dass er einmal als Zirkusdirektor enden würde. Bei ihm kann der Einfluss der Umgebung keine Rolle gespielt haben.«

»Da mögen Sie Recht haben«, erwiderte Sebastian Trenker, während er das letzte der belegten Brote auswickelte und es gerecht zwischen sich und Maria aufteilte. »Er hat mir damals auf dem Ministrantenausflug von seiner Zirkusbegeisterung erzählt.«

Marias Lippen schürzten sich zu einem Lächeln, in dem ein Hauch von Spott lag.

»Dabei hat er, so wie ich ihn kenne, aber wahrscheinlich verschwiegen, wie beschwerlich ihm in letzter Zeit die Sorge um unser Zirkusunternehmen wird. Das beginnende Alter lässt sich halt net so leicht verleugnen. Und ich glaub’, dass selbst der Papa sich inzwischen manchmal nach einem Plätzchen zum Bleiben sehnt. Wenn er es auch nie und nimmer jemandem eingestehen würde. Vielleicht net einmal sich selber.«

Pfarrer Trenker schaute nachdenklich vor sich hin.

Es kam ihm ganz so vor, als habe Maria Recht. Hatte Georg Rundel im Zusammenhang mit dem Zirkusgottesdienst nicht allzu oft von den Gefahren gesprochen, gegen die er sich Schutz erhoffte?

Ob er den Zirkus nicht allmählich in die jüngeren Hände seines Sohnes legen sollte? Vielleicht wäre es gut, nach dem Sonntagsgottesdienst noch einmal mit Georg

Rundel zu sprechen und ihm zu sagen …

»Das …, das darf doch net wahr sein«, wurde Sebastian in diesem Moment durch Marias Stimme aus seinen Überlegungen gerissen. »Ihr Rucksack ist ja tatsächlich leer geworden, Herr Pfarrer. Und das halbe Brot von vorhin … Jetzt haben wir doch tatsächlich den ganzen Proviant aufgegessen. Dabei war ich mir sicher, dass wir net einmal ein Drittel davon bewältigen würden.«

Sebastian lachte.

»So ein Aufstieg in der würzigen Bergluft macht eben Appetit«, sagte er. »Und bis zur Kandereralm, wo wir unsere Mittagsrast abhalten werden, haben wir noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Deshalb würde ich auch vorschlagen, dass wir uns jetzt wieder auf die Beine machen. Einverstanden?«

»Einverstanden«, nickte Maria.

Ihre Jacken um die Hüfte gewickelt und auf dem Kopf die Hüte gegen die sengenden Sonnenstrahlen, setzten sie und Pfarrer Trenker sich wieder in Bewegung.

Unterwegs tranken sie kaltes kristallklares Wasser aus einem Gebirgsfluss und bewunderten Silberdisteln, Alpenrosen und andere unter Naturschutz stehende Pflanzen.

Maria ging regelrecht das Herz auf.

Sie glaubte, sich noch nie so leicht und frei gefühlt zu haben, und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass die Zeit stehenbleiben könnte.

Warum war es nicht möglich, dass der Sonntag, an dem sie all diese Herrlichkeiten wieder würde verlassen müssen, anstatt näher zu rücken in immer weitere Fernen entschwand?

*

»Musst du denn heute gar net in deine Reitstunde?«, fragte Matthias beinahe ärgerlich, als seine Schwester eine halbe Stunde nach dem Mittagessen noch immer seelenruhig in der Küche des Ilgner-Hofs saß und mit den jungen Katzen spielte, die vor ein paar Wochen zur Welt gekommen waren.

Angela runzelte die Stirn.

»Ich hab’ heute keine Reitstunde. Leider«, sagte sie. »Das weißt du doch. Oder hast du es beim letzten Mal net mitgekriegt?«

Matthias schüttelte den Kopf, wenn er sich über seine Unaufmerksamkeit im Grunde auch nicht weiter wunderte. Schließlich war er, jedes Mal wenn er bei Angelas Reitunterricht zusah, so gefesselt von Marias Erscheinung, dass er außer ihr kaum etwas wahrnahm.

»Keine Reitstunde? Und warum dann net?«, fragte er vor Enttäuschung beinahe unwirsch.