Der goldene Rachen - Kurt David - E-Book

Der goldene Rachen E-Book

Kurt David

0,0

Beschreibung

Der Kriminalroman aus dem Jahr 1960 spielt in einer politisch schwierigen Situation in der DDR. Die Großbauern wehren sich mit allen Mitteln gegen die LPG, während die Genossenschaften immer besser wirtschaften. Zwei scheinbar voneinander unabhängige Kriminalfälle lassen den Fichtensteiner Kriminalisten keine Zeit für ihre Familien. In der Fichtensteiner Fischergasse, die für jeglichen Fahrzeugverkehr gesperrt ist, wird die junge Beiköchin des Hotels „Stadt Dresden“ Opfer eines tödlichen Verkehrsunfalls mit Fahrerflucht. Oder war es Mord? Am selben Tag werden in der LPG „Frohe Zukunft“ die Kühe mit Arsen vergiftet. Gibt es einen Zusammenhang?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 224

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Kurt David

Der goldene Rachen

Kriminalroman

ISBN 978-3-96521-900-7 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1960 im Verlag Neues Leben Berlin.

© 2023 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

ERSTES KAPITEL

Als das Telefon klingelte, schoss die Angst in ihn. Leutnant Jähnig, der als Angehöriger der Fichtensteiner Kriminalpolizei Nachtdienst hatte und im Sekretariat des Volkspolizeikreisamts saß, starrte für Sekunden auf den schwarzen Apparat, griff zögernd nach dem Hörer und hob ihn von der Gabel.

„Endlich“, sagte die Telefonstimme, „in der Fischergasse liegt eine Frau, bewusstlos oder tot, ich weiß es nicht!“

Die Angst wich von ihm.

Jähnig wollte, wie es sich gehörte, zurückfragen, wer dort sei, von wo aus angerufen werde. Da hatte der fremde Mann schon aufgelegt.

War er nun wirklich ohne Angst? Die Sorge um seinen neun Jahre alten Peter, der am Nachmittag mit hohem Fieber ins Stadtkrankenhaus eingeliefert worden war, blieb in ihm. Meningitis hatte die vorläufige Diagnose gelautet. Das Telefongeklingel vorhin hatte die Angst, die er mühsam niedergekämpft hatte, zurückgerufen. Er hatte plötzlich geglaubt, der Anruf könne nur von Inge, seiner Frau, kommen. ,Denk' doch, Werner, das Krankenhaus hat mir gerade gesagt, dass unser Peterlein …‘ Ja, so hatte er sich das in seiner Sorge schon ausgemalt, und dann war eine fremde Stimme erklungen. Trotzdem, das furchtbare Wort „tot“ war aus der Hörmuschel gekrochen. Für ihn war der Anruf gut vorübergegangen, doch in der Fischergasse lag eine Frau, tot oder bewusstlos. Er ertappte sich plötzlich bei dem Gedanken: Warum greift hier diese Nachricht nicht an mein Herz? Irgendwo lebten Menschen, die sie genauso treffen würde, wie ihn die Nachricht vom Tod seines Peter getroffen hätte.

Fast mechanisch leitete Jähnig die notwendigen Maßnahmen ein. Minuten darauf fuhr er mit dem Motorrad aus dem Hof und hinunter in die Stadt.

In der Fichtensteiner Fischergasse hockte Finsternis. Der Regen gurgelte in Dachrinnen und Gullys. Der Wind, der den Nachtregen gebracht hatte, peitschte hin und wieder die nassen Haselnussbüsche, die über die Backsteinmauer der Stadtgärtnerei hingen. Vorn, am schmalen Ausgang der Gasse, stand unter einer trüb brennenden Gaslaterne ein schlanker gelber Krankenwagen und dahinter ein heller „Wartburg“, das Auto des Arztes.

„Tot!“ Der Arzt sagte das, als spräche er irgendein nichtssagendes Wort. Wenn Peter … Der Arzt würde es genauso sagen, dachte Jähnig. Er ist abgestumpft durch seinen Beruf. Ich bin ja auch abgestumpft. Vorhin, die Nachricht, die war mir gleichgültig. Ich habe nichts empfunden bei ihr. Dabei will ich nicht gleichgültig werden, und der Arzt will es auch nicht. Mancher Beruf scheint die Gefahr in sich zu bergen, dass man vor Freude an ihm, vor Eifer, das Leid nicht sieht, mit dem man dauernd zu tun hat. Erst wenn es nach einem selber greift, entdeckt man es wieder.

Obwohl Jähnig empfand, das sei nicht ganz in Ordnung so, erregte ihn die Tatsache nicht, dass hier eine Frau, eine fremde Frau, überfahren worden war. Nur der Tathergang erweckte Abscheu in ihm. Ein Kraftfahrer hatte eine Frau überfahren und war, das Opfer hilflos liegenlassend, geflüchtet, um der Bestrafung zu entgehen.

Der alte Arzt erhob sich, nahm den Hut ab, schüttelte das Regenwasser aus der Krempe und stopfte die Krawatte, die aus dem geschlossenen Jackett herausgerutscht war, zurück unter den Sakko. Der weiße Lichtkegel seiner Taschenlampe strich noch einmal über das blutverschmierte Gesicht der Frau. Durch den Lampenschein sprühte Regen. Mit ruhiger Stimme sagte der Arzt:

„Todeseintritt vermutlich ein- bis eineinhalb Stunden vor meinem Eintreffen!“

Es war 2 Uhr 15.

Leutnant Jähnig und der Arzt traten unter einen nahen Torbogen, um vor dem Sprühregen geschützt zu sein. Es roch nach Müllkübeln und nassgeregneter Asche. Umständlich zog der Arzt ein kleines rot eingefasstes Notizbuch hervor, Jähnig nahm die Taschenlampe und leuchtete auf das Papier, auf die schreibende Hand.

Unten an der breiten Hauptstraße schoben zwei Krankenträger die leere Bahre zurück in den Wagen. Krankenträger sind keine Leichenträger. „Zu spät“, sagte der eine, „Unfall bau’n und feige abschieben, das sind die richtigen Ganoven!“ Türen schlugen zu. Der Wagen sang leise über den nassen Asphalt, auf den die gelben, roten und blauen Leuchtreklamen bunte Lichtreflexe zauberten.

Der Arzt schrieb indessen in sein Notizbuch: „Weibliche Leiche, 30 bis 35 Jahre alt, auf dem Rücken liegend, Gesicht und Hinterkopf blutig. In der Mitte der linken Stirnhälfte senkrecht gestellte Wunde von circa fünf Zentimeter Länge; unterer Wundrand abgerundet, oberer Wundrand spitzwinklig.“

Von der Stoßstange, dachte der Leutnant und sah auf die akkurat geschriebenen Buchstaben. Es gab also auch leserlich schreibende Mediziner. Er betrachtete das höhensonnengebräunte Gesicht des Alten.

„In der Tiefe der Wunde fühlt man eine kreisförmige Knochenverletzung von etwa sieben bis neun Millimeter Durchmesser“, diktierte sich der Arzt. Ein großer Regentropfen rollte über sein Brillenglas, klatschte auf das Wort „Durchmesser“ und ersäufte es. Der Arzt blätterte um, und schon malte der kleine, goldene Druckstift über die neue Seite.

Jähnig hörte nicht mehr auf die Worte, die der Arzt bedächtig und wohlakzentuiert vor sich hin sprach. Der Leutnant blickte hinüber zur Laterne, deren trübes Gaslicht im Sprühregen schwamm. Dort gingen drei Verkehrspolizisten in mattglänzenden Regenmänteln auf und ab, sperrten die Gasse, obwohl die Hauptstraße zu dieser Nachmitternachtsstunde menschenleer war.

Der Fall scheint klar zu sein - Fahrerflucht: § 139a, dachte Jähnig.

Aber dann fiel ihm ein: Die Fischergasse ist doch für Fahrzeuge aller Art gesperrt! Wieso kommt ein Auto hierher!

„Lieber Freund, Sie müssen schon hier auf das Papier leuchten“, sagte der Arzt.

Jähnig, aus seinen Gedanken gerissen, entschuldigte sich und starrte auf das Büchlein. Ob der Arzt schon einen Fall von Meningitis gehabt hat? Ich müsste ihn fragen, wie das verlaufen ist.

„In der Mitte des rechten Hinterhauptbeins v-förmige Hautwunde – bin gleich fertig, Herr Kollege! – deren Winkel etwa 150 Grad beträgt.“

Und wenn ich ihn frage, sagt er sicher: ,Natürlich, glatt verlaufen – ohne Komplikationen; ach, was denken Sie, da haben wir schon ganz andere Fälle durchgebracht!'

„So, ich danke für die Beleuchtung.“ Der Arzt klappte das Büchlein zu. „Meine Mission ist erledigt, Ihre beginnt! Den schriftlichen Bericht schicke ich gegen 8 Uhr. – Guten Morgen!“

Und da ging er durch den Regen, lief die düstere Gasse hinunter, bedächtig, wie er das Papier bemalt hatte.

Ich hätte ihn doch fragen sollen! dachte Jähnig. Er grübelte sich durch das Warten.

In einem Hinterhof klappte der Flügel eines Fensters, ein Baby schrie seinen Ärger hinaus, und von der nahen Petrikirche, deren schlanken Turm er in der Finsternis nicht sehen konnte, schlug es halb drei.

Leutnant Jähnig ließ die Taschenlampe aufblitzen und leuchtete die Haselnusssträucher ab, von denen Wasser tropfte. Der Lampenschein wischte über die Tote hinweg, die er mit einer wasserdichten grauen Plane zugedeckt hatte. In den Wölbungen der Plane zitterten und glänzten Regenpfützen im Schein der Laterne. Jähnig war in der Stimmung eines Reisenden, der ungeduldig auf die Abfahrt des Zuges wartet. Wie ein Magnet zog ihn der Tatort an. Und er musste trotzdem warten, denn er wusste, dass er sich an den Grundsatz zu halten hatte: Nichts berühren! Nichts verändern! Zuständiges Untersuchungsorgan erwarten. Und das war in diesem Fall die Mordkommission. Seine Aufgabe bestand lediglich darin, durchzuführen, was keinen Aufschub duldete.

Und dann dachte er wieder an seinen kranken Jungen, der jetzt vielleicht im Krankenhaus mit dem Tode rang. Die Sorge wurde übermächtig und ließ sich nicht abschütteln. Und so wie er sich sorgte, sorgten sich irgendwo fremde Leute um die Frau, die unter der Plane lag. Oft hatte er gesagt: ,Endlich wieder einmal ein interessanter Vorgang!' Er hatte dabei an die Ermittlungsarbeit gedacht. War er sich immer bewusst gewesen, dass es nicht um die Interessantheit eines Falles ging, sondern darum, dass niemand mehr voller Sorge und Angst warten muss, vergebens warten muss, weil Leichtsinn und Verbrechen wieder ein Opfer gefordert haben?

Der Regen nieselte in die Gasse hinein. Der Leutnant hatte von einer gelben Telefonzelle aus einen Zwischenbericht gegeben. Oben im Amt saß die kleine schwarzhaarige Monika am Fernschreiber und jagte eine Spitzenmeldung durch die Nacht. Eine magere Meldung! Sie enthielt nicht einen einzigen Hinweis auf den Täter. Dafür tanzte das vieldeutige, unverbindliche Wörtchen „vermutlich“ darin herum. „Vermutlich ist der Täter in Richtung Gröbau geflüchtet“ und „Vermutlich geschah der Unfall zwischen Mitternacht und 2 Uhr.“ – Vermutlich! Fest stand, dass die Frau überfahren wurde und tot war. Fest stand auch, dass der Fahrer flüchtete.

Jähnig horchte in die Nacht. Manchmal kehren Mörder an den Tatort zurück, überlegte er. Sie wollen wissen, was dort inzwischen vorgegangen ist. Die hämmernde Ungewissheit, ob wir vielleicht doch auf der richtigen Fährte sind, treibt sie an den Schandort. Damals, bei dem alten Kurinsky, der seine Frau erwürgt hatte, war es auch so. Er hatte die Tote ins Bett gelegt, zugedeckt, und dann war er verschwunden. Durch einen glücklichen Umstand hatten wir in derselben Nacht von der Tat erfahren. Am Morgen, wir waren in seiner Wohnung, stand er plötzlich unten im Hof hinter seinem Kaninchenstall, schnupperte die Luft, beobachtete die Fenster seiner Wohnung. Na ja, und dann wunderte er sich schreckensbleich, als ihn einer am Genick packte.

Das ist nun schon fünf Jahre her, und es war auch etwas ganz anderes. Das hier, das ist kein Mord, das ist fahrlässige Tötung und Fahrerflucht! Hier kehrt keiner zurück.

In den Sprühregen mischte sich nassflockiger Schnee. Er plappte gegen Jähnigs Mantel. Der Leutnant ließ erneut die Taschenlampe aufleuchten. Das Pflaster glänzte matt. Plötzlich hielt Jähnig die Lampe starr. Ihm blitzte etwas entgegen. Unweit der Toten war es. Er löschte die Lampe. Nichts zu sehen. Er knipste sie wieder an. Kein Zweifel, dort drüben funkelte es.

Der Leutnant ist hellwach. Er tritt einen Schritt vor, noch einen, bückt sich: Glas, blitzendes Glas. Er läuft weiter, immer in der Spur des Arztes, die er mit kleinen weißen Täfelchen aus Holz markiert hat, damit nachher bei der Sicherung keine Verwechslung eintreten kann. Vielleicht Glas vom Auto? Er denkt an eine Überprüfung aller Reparaturwerkstätten. Jetzt ist er sehr nahe und erkennt – ein Glasauge.

Jähnig sieht in seiner Fantasie den Täter aus der finsteren Gasse steigen: groß, dürr, einäugig. Das Glasauge steht starr im Gesicht.

Sofort stellen sich auch die Zweifel ein. Wenn das Glasauge nicht vom Täter stammt? überlegt Jähnig, aber der erste Gedanke ist stärker, weil er Hilfe leistet, weil er einen Hinweis auf den Täter gibt! – und so überlistet er die Zweifel.

Behutsam klaubt Jähnig die Prothese aus der Rille des Gassenpflasters, und rückwärts laufend begibt er sich vorsichtig wieder unter den Torbogen, lehnt sich an einen Bretterverschlag und betrachtet den Fund in seiner hohlen, nassen Hand. Das Auge ist kalt, schmutzig und braun. Zumindest steht fest: Der Täter hat braune Augen, denkt er. Ein Glasauge wird immer so angefertigt, dass es aussieht wie das gesunde.

Draußen vor der Stadt schluchzte eine Lokomotive in die windige Nacht. Schließlich hörte der Leutnant, der die Lampe gelöscht hatte, das Heranrasen eines Wagens. Scheinwerfer schossen lichtgrell in die schmale Gasse hinein.

Die Morduntersuchungskommission. Endlich! Und ich stehe nicht mit leeren Händen da.

Es war nicht verwunderlich, dass die Mordkommission so spät am Tatort eintraf. Sie hatte ihren Sitz in der Bezirkshauptstadt, und das waren immerhin sechzig Kilometer von Fichtenstein.

Jähnig freute sich über seinen Fund, wie ein Junge sich freut, der in der Schule zum ersten Mal im Betragen eine Eins hat.

Er hörte den Leiter, den Genossen Oberleutnant Bär, und dessen Mitarbeiter die Gasse heraufkommen.

Leutnant Jähnig meldete, was er bisher erfahren hatte, und danach sagte er: „Einen todsicheren Hinweis habe ich auch schon, Genosse Oberleutnant. Ein Glasauge am Tatort!“ Im nächsten Moment dachte er: ,Todsicher, das hätte ich nicht sagen dürfen.“ Das Wort hatte jeden Widerspruch ausschließen sollen, und mit einem Mal wusste er, dass gerade dieses Wort zum Widerspruch reizte.

„Also alles schon betatscht und belatscht! Dass ihr mir das nicht lassen könnt! – Guten Morgen!“ Der Oberleutnant, dem man nachsagte, er sei der beste Volleyballspieler des Bezirks, nahm das Glasauge und steckte es unbesehen, geradezu verächtlich in die Manteltasche.

Das ist die Antwort auf mein blödsinniges „todsicher“, dachte Werner Jähnig und schwieg.

Oberleutnant Bär verlangte Besteckkoffer und Gipskasten: „Was schlagen Sie vor? Machen wir die Tatortbesichtigung von der Peripherie oder vom Zentrum aus? Sie kennen sich hier schon aus, nicht?“ Er leuchtete Gasse, Mauer und Hausfassade ab. Aus einem Fenster des dritten Stocks wehte eine weiße Gardine.

„Ich denke, wir beginnen vom Zentrum aus“, meinte Jähnig und begründete diese Ansicht.

„Besteck bitte – und Ruhe, Genossen!“, sagte Oberleutnant Bär.

Eine solide Arbeit beginnt. Blutflecke werden aus der Kleidung geschnitten, der Schmutz unter den Fingernägeln der Leiche wird entfernt und in Glasröhrchen verpackt. Blitzlichter tauchen die Gasse in grelles Licht. Ein Blutspritzer wird von der nahe liegenden Backsteinmauer gekratzt und sorgfältig gesichert. Es ist möglich, dass das Blut nicht vom Opfer, sondern vom Täter stammt, auch er kann verletzt worden sein. Jeder Quadratmeter in der Gasse wird systematisch abgesucht, abgetastet, abgeleuchtet. Der unscheinbarste Fund ist ein Erfolg, ein erster Schritt bei der Suche nach dem Täter. Ein Kriminalist ist kein Hellseher, sondern ein hartnäckig, gewissenhaft und überlegt vorgehender Arbeiter.

In der kleinen schwarzen Lackhandtasche, die sie unweit der Toten finden, steckt ein Personalausweis; der lautet auf den Namen:

Katharina Piltz, geboren am 24. Juni 1927 in Langdörfel

Beruf: Beiköchin; ledig,

wohnhaft in Fichtenstein, Friedrich-Engels-Straße 71.

Als Jähnig das liest, sagt er zu Oberleutnant Bär: „Friedrich-Engels-Straße 71 – das ist das Hotel ,Stadt Dresden‘.“

„Na also“, meint Bär, „auch der weiteste Weg fängt mit dem allerersten Schritt an.“

Ferner enthält die Handtasche ein Portemonnaie mit 33 Mark und 74 Pfennig. Ein runder Spiegel steckt in einer kleinen Seitentasche. Und zwischen den Geldscheinen liegt eine Fotografie, das Passbild eines jungen Mannes. Auf der Rückseite steht: „Für Sie – Käthchen! – Walter – Fichtenstein den 18. 3. 57.“

An diesem Morgen ist der 19. 3. 57. Ein Mittwoch.

Aus Zeitungspapier werden ein Paar getragene Damenstrümpfe gewickelt, die arg beschmutzt sind.

Es war inzwischen 7 Uhr 30 geworden. Vorn am Eingang der Gasse hatten sich viele Menschen angesammelt, die einander ihre Vermutungen mitteilten. Ein paar Stunden später würden diese Vermutungen, ergänzt und vervollständigt durch jeden, der sie weitergab, in den Läden als Tatsachen mitverkauft werden. Und die es hörten, würden noch etwas hinzutun und es weitertragen. Oder würden sie die Gerüchte zurückweisen, ihnen widersprechen? Das kam wohl auf die Menschen an.

Oberleutnant Bär hatte eine Besprechung im Amt anberaumt und war mit seinen Mitarbeitern bereits zurückgefahren, als Jähnig sein Motorrad aus der Gasse schob. Durch die Stadtstraßen krawallte der Morgenverkehr. Werksirenen riefen zeitverkündend in den jungen Tag.

Gelbe Autobusse pusteten durch enge Straßen. Auf den Gehsteigen trippelten Schulkinder dahin, manche trödelnd, andere rennend und laut durcheinanderschnatternd. Werner Jähnig betrachtete das lebensfrohe Bild. Freude und Bitterkeit stritten in ihm. Kurz entschlossen stellte er das Motorrad ab und lief in die gelbe Telefonzelle, von der aus er in der Nacht den Zwischenbericht gesprochen hatte. Er wählte 3351 und verlangte: „Station 10, bitte!“ Er blickte durch das wellige Drahtglas des Fernsprechhäuschens. Jetzt sah er die Kinder nur noch verschwommen, wie durch einen Schleier. „Gestern ist doch unser Peter – Peter Jähnig – eingeliefert worden. Ich hätte gern mal gewusst, ob schon ein genauer Befund …“

Sofort unterbrach ihn die Schwester. Sie sagte, es sei zu früh und sie wisse nichts Genaues, denn die Untersuchung sei noch nicht abgeschlossen. „Er erhält jetzt alle drei Stunden Penizillin, der Kleine.“

„Hat er noch immer solch hohe Temperatur?“

„Nein“, sagte sie gedehnt, „Sie können ja hin und wieder anrufen, Herr Jähnig.“

„Besuchen dürfen wir ihn wohl nicht?“

„Ausgeschlossen! – Er schläft viel.“

„Ist das gut? Ich habe mal gehört …“

„Doch, natürlich.“

„Herr Doktor ist wohl nicht zu sprechen, ich …“

„Der Doktor kann Ihnen im Augenblick auch nicht mehr sagen.“

„Hm.“ Hinter der welligen Drahtglasscheibe zogen immer noch Kinder vorbei. „Liegt er mit anderen zusammen, Schwester? Wir hatten ihm gesagt, dass da noch andere Kinder sind, die …“

„Nein“, sagte sie bestimmt, „er muss allein liegen.“

„Ach –“

Draußen empfing ihn warmer Sonnenschein. Werner Jähnig sah auf die Menschen, die durch die Straßen eilten. Sie reden, als gäbe es keine Kranken, dachte er. Und Peter liegt allein, ganz allein. Und in der Nacht wurde eine Frau in der Fischergasse überfahren und schwer verletzt im Stich gelassen. Nun ist sie tot, und das muss der Fahrer in seine Rechnung doch mit einbezogen haben. Ein feiner Herr, ein Herr ICH! In der Nacht, als er die Frau überfuhr und in ihrem Blut liegenließ, kämpfte unser Kind um sein Leben.

Ob er Kinder hat? Ob er schon einmal um ein anderes Leben gebangt hat?

Später, im Volkspolizeikreisamt, sagte der Oberleutnant zu seinen Mitarbeitern, die er um sich versammelt hatte: „a) Wir wissen also, wer die Tote ist, b) wir wissen, dass sie am 19. 3. in der Zeit zwischen 0 Uhr 45 und 1 Uhr von einem noch unbekannten Fahrer mit seinem noch unbekannten Fahrzeug überfahren wurde, und zwar – das halten wir besonders fest – in der Fischergasse, die für Fahrzeuge aller Art gesperrt ist, c) der Fahrer ist flüchtig – unbekannte Richtung.“ Bär nahm einen Notizzettel zur Hand. „An Spuren haben wir gesichert: Verschiedene Blutreste, Schmutz unter den Fingernägeln, ein Foto von einem Mann namens Walter, aus dessen Widmung hervorgeht, dass dieser Walter am Vortag mit dem Opfer zusammengewesen sein muss. Des weiteren wird festgestellt …"

„… das Glasauge, Genosse Oberleutnant“, erinnerte Jähnig.

„… was aber, Leutnant Jähnig, kein todsicherer Hinweis zu sein braucht, denn ich wünsche, dass Sie uns noch eine Zeit lang erhalten bleiben.“

Die Runde lachte.

„Immerhin, Genossen, ein Fund, und die Augenfarbe kann von Wichtigkeit sein, falls die Prothese vom Täter stammt. Übrigens, Genosse Leutnant, haben Sie mit dem Stadtkrankenhaus telefoniert?“

„Ja – ach – nein –“

„Ich meine wegen der Obduktion.“

„Noch nicht.“

„Bitte. – Und Sie, Genosse Hauptwachtmeister Horchauf, Sie machen uns gleich die Bilder. Oberwachtmeister Kluttig, Sie sorgen dafür, dass das gesicherte Spurenmaterial per Sonderkurier ans Kriminaltechnische Institut geht, und anschließend fahren Sie hinunter nach Langdörfel, zu den Eltern der Piltz und gucken sich dort mal so’n bisschen um, nicht? Erziehung, Umgebung, Verwandte, Bekannte, Freunde, Leumund, na, Sie wissen schon.“

Oberwachtmeister Kluttig erinnerte an das Bild des Walter.

„Richtig – an Pass- und Meldestelle geben, sollen vergleichen, Adresse heraussuchen! – Genosse Leutnant Jähnig bleibt mir zugeteilt. So – fangen wir an!“

Nachdem Horchauf und Kluttig das Zimmer verlassen hatten, blickte Bär zu Jähnig hinüber und fragte: „Wie war das vorhin mit dem Krankenhaus: Ja – ach – nein hm?“

„Dafür haben wir jetzt keine Zeit, Genosse Oberleutnant!“ Jähnig stand unschlüssig und sah zum Schreibtisch und dann wieder zum Fenster hinaus.

„Privat?“

Jähnig nickte. „Der Junge ist krank, schwer krank!“

„Ich hab’ auch einen. Der sagt oft zu mir: Papi – die Verbrecher verpatzen uns jeden Sonntag!“

Werner Jähnig erzählte von seinem Peter. Aus dem Hof fuhr ein Funkstreifenwagen. Der Leutnant beobachtete, wie der Schlagbaum am Ausgang wieder heruntergelassen wurde. „Ich glaube, es ist gut, dass Sie mir das erzählt haben“, sagte der Oberleutnant. „Ich weiß, es ist jetzt schwer für Sie. Ich hab’ ja auch einen Jungen. Aber Arbeit hilft über vieles hinweg, Genosse Leutnant.“ Er machte eine Pause und bot Jähnig eine Zigarette an. „Die Doktorbücher und Lexika haben Sie eingeschlossen?“

„Wie meinen Sie das?“

„Tja“, der Oberleutnant lächelte, „wenn jemand in der Familie krank ist, dann schlägt man doch nach, und dann vergleicht man, und dann …“

„Das stimmt.“

„Ich weiß, ich weiß – und dann verrennt man sich, glaubt an das Schlimmste. Ich möchte wetten, während Sie nicht im Hause sind, blättert Ihre Frau in den Büchern, sucht und sucht, und dann findet sie etwas, was zutrifft: Ja, ja, erbrochen hat er sich, das stimmt, es war so plötzlich da, das Fieber, das stimmt auch, und so reiht sich eins ans andere, Genosse Leutnant, alles stimmt mit den geschilderten Symptomen überein, man macht kleine Zugeständnisse – und dann liest man vom Ausgang der Krankheit, von ihrer Gefährlichkeit, und man sorgt sich immer mehr. Nein, so geht das nicht, so grübelt man sich durch die Stunden, und helfen kann man doch nicht. Der Junge ist in guten Händen, und – na ja, so nicht. Übrigens, wie denken Sie über den neuen Vorgang, über die vergangene Nacht? ,Fischergasse für Fahrzeuge aller Art gesperrt' – und ausgerechnet hier muss der herumkutschen? Warum?“

„Und zu dieser Nachtstunde!“

„Machen wir uns an die Arbeit, Genosse Jähnig! Und ohne Hoffnung sind wir nie. Jeder Tag hat Ohren und Augen, und wir können doch auch arbeiten, ja?“

ZWEITES KAPITEL

Rechts vom Eingang des Hotels „Stadt Dresden“ hängt an der lindgrünen Spritzputzwand ein großes gelbes Blechschild, auf dem versprochen wird, dass LANDSKRON–BIER IMMER EIN GENUSS sei. Auf einer der sechs ausgetretenen Steinstufen, die hinauf zu der großen Schwingtür führen, saß an diesem Morgen eine schwarz-weiß gesprenkelte Katze in der Sonne, die von Zeit zu Zeit die vorbeifahrenden Autos angähnte und manchmal nach einer Fliege oder Biene tatzte.

Durch die Tür schob sich Herr Matzen, hemdsärmlig, krawattenlos, müde. Die großen Tränensäcke unter den Augen sahen aus, als müssten sie leergeschlafen werden. In dicken Filzpantoffeln schlurfte er die Steinstufen hinunter, seine Rechte schwenkte die neue Speisekarte.

Die kleine Katze sprang an sein Hosenbein, was Matzen heute gar nicht behagte. Wütend schüttelte er sie ab, doch sie sprang abermals mit einem Satz an die Hose. Sie glaubte, jetzt begänne das Spiel erst richtig. Da zog er einen Pantoffel vom Fuß und schlug der Schwarz-weißen über den sich duckenden Schädel; sie blitzte mit den Augen, fauchte, schlich beleidigt an der Hauswand davon.

Herr Matzen, der Tag-und-Nacht-Schatten von Frau Elvira Greiffenbach, der Inhaberin des Hotels, steckte mürrisch ein Schlüsselchen in den weißen Speisekartenkasten und hängte das neue Tagesangebot, mit dem Datum 19.3., hinter das verstaubte Glas. Mit einem Taschentuch fuhr er über die verschmutzte Scheibe.

„Bauernfrühstück 1,80“, sagte hinter ihm eine männliche Stimme. Als Matzen sich umdrehte, sah er zwei Männer, die sich gerade anschickten, die Stufen hochzusteigen. Der größere trug einen dunkelgrünen Ledermantel und schwarze Stiefel. Der andere war klein und gedrungen und hatte ein jungenhaftes Gesicht. Er warf eine brennende, nicht zu Ende gerauchte Zigarette in den Rinnstein und wischte sich über das Kinn.

„Meine Herren, wir öffnen erst um 9 Uhr!“, sagte Herr Matzen, und aus seiner Stimme klang die Befriedigung, mit der er diesen Umstand bekannt gab. Sein Einspruch hielt die beiden jedoch nicht zurück. Und so stieg Herr Matzen eifrig hinterher, als gälte es, einen Wettlauf zu gewinnen. Dabei dachte er, die zwei besorgt musternd: Wenn die nicht von der Kripo sind, bin ich noch blau. Er schloss schnell den oberen Hemdknopf, rollte die weißen Ärmel herunter und fuhr sich mit den Fingern durch die angegrauten Haare.

„Kriminalpolizei!“, sagte Oberleutnant Bär, wies sich aus und ging durch die Drehtür. Also recht gehabt, dachte Matzen und folgte dem Oberleutnant. Jähnig betrat als letzter die Gaststube.

Zwei Reinmachfrauen, die auf Kniepolstern über den Fußboden glitten, rieben mit flinken Bewegungen den braunen Belag blank. Stühle standen steifbeinig auf ungedeckten Tischen, Aschbecher türmten sich auf der Theke, und ein frischer Wind blies durch die offenen Fenster, die bunten Vorhänge bauschend.

Matzen hustete verlegen und sagte: „Womit kann ich dienen?“ Und gleich darauf: „Wollen die Herren Kommissare einen guten Kaffee oder – Sie sprachen wohl von Bauernfrühstück?“

„Wir möchten bitte die Inhaberin sprechen!“ Bär überhörte Matzens eiliges Angebot. Jähnig fügte als Ortskundiger hinzu: „Frau Greiffenbach, Herr Matzen!“

Bär ging mit großen Schritten vor der Theke auf und ab.

Herr Matzen nickte, sah kurz zur offenstehenden Küchentür, nickte noch einmal, und in diesem Augenblick schwebte leichtfüßig, fast tänzelnd, die Gewünschte mit einem Fragegesicht und einem Höflichkeitslächeln in die Gaststube. Sie trug einen mohnroten Morgenrock.

„Fritz? Was wünschen die Herren?“ Sie reichte dem Oberleutnant zögernd die Hand, so, als müsse sie diese zurückziehen, falls Matzen einen ihr ungenehmen Namen nennen würde.

„Kripo!“, sagte Matzen. Dann lief er hinter die Theke, als sei sie eine Barrikade, hinter der er in Stellung gehen wollte. Er nahm einen gelben Lappen und fuhr gedankenlos über die verchromten Bleche.

„Ist etwas mit Käthe? Sie ist noch immer nicht im Hause.“ Frau Greiffenbach streckte nun auch dem Leutnant die Hand entgegen. Das Höflichkeitslächeln war wie aus dem Gesicht gekratzt. Sie raffte den mohnroten Morgenrock zusammen, so dass der schwarze Kragen Hals und Kinn verdeckte.

„Katharina Piltz ist tot“, sagte der Oberleutnant, die Frau beobachtend.

Die Greiffenbach zuckte zusammen, stieß einen kurzen Schrei aus und biss in den schwarzen Kragenzipfel. Die Zähne hoben sich hell von dem schwarzen Stoff ab.

„Sie ist diese Nacht einem tödlichen Verkehrsunfall zum Opfer gefallen, der Fahrer ist flüchtig.“ Oberleutnant Bär hatte diese Worte leise gesprochen, weil er wusste, dass solche Nachrichten immer verstanden werden. Neugier schärft das Gehör. Er fügte Einzelheiten hinzu, soweit dies angebracht schien. Leutnant Jähnig trat zu den Reinmachfrauen und schickte sie hinaus.

Frau Greiffenbach hatte ein kleines Taschentuch aus dem Morgenrock gerissen und presste es vor den Mund: „Käthchen! – Mein Käthchen!“, wimmerte sie. Und wieder: „Aber Käthchen!“ Sie ließ sich in einen Stuhl fallen, den ihr Matzen, hilfsbereit und ihre Absicht ahnend, zugeschoben hatte. Matzen selbst war wieder hinter die Theke getreten, hatte eine Selters in ein Glas gegossen, in das sprudelnde Wasser zwei Kognak gekippt und sich den Katertrank in den Hals geschüttet. Er stieß geräuschvoll den Atem aus, riss eine Schachtel „Orient“ auf, reichte sie den beiden Männern von der Kriminalpolizei und sagte:

„Rauchen die Herren Kommissare?“

„Nur die eigenen – danke!“, meinte Bär.

Matzen wurde etwas verlegen und zündete sich umständlich eine Zigarette an, dann betrachtete er seine gelb verrauchten Finger, knipste mit den Nägeln. „Na ja, die Käthe!“ Der Zigarettenrauch hing vor seinem roten Gesicht.

Der Oberleutnant gab Jähnig unauffällig ein Zeichen. Daraufhin sagte der Leutnant zu Matzen: „Sie kommen bitte mal mit, vielleicht in ein Nebenzimmer. Sicher können Sie uns einiges sagen über Fräulein Piltz, was zur Aufklärung beitragen könnte.“ Jähnig strich über seine Kinnstoppeln.

Matzen nickte und sah zu Frau Greiffenbach hinüber, als benötige er eine Auskunft von ihr. Danach ging er dem Leutnant voran. Sie liefen durch eine große, helle Küche, schritten über einen dunklen Flur und standen schließlich vor einer weißen Tür, an der „Bügelstube“ zu lesen war.

„Bitte!“, sagte Herr Matzen, indem er öffnete und mit der flachen Hand in das Zimmerchen wies.

„Gehen Sie ruhig voraus“, sagte Jähnig. Er sah, wie sich auf der Nackenhaut des Herrn Matzen rote Flecke abzeichneten. Nanu, reg dich nicht so auf, hast die Käthe ja doch nicht überfahren, dachte Jähnig und schloss hinter sich die Tür.

Irgendetwas missfiel dem Oberleutnant am Verhalten dieser Frau. Er meinte zwar, dass ihr Weinen echt sei, doch konnte er andererseits die Empfindung nicht loswerden, dass sich hinter dem Weinen etwas verberge. Nicht immer kommt es von Ärger oder Kummer, wenn die Leute schluchzen.

Im Kriminalisten ist stets das Misstrauen wach. Das bringt die Erfahrung mit sich.

„Wir möchten das Reinigungspersonal nicht so lange warten lassen, Frau Greiffenbach. Gehen wir in Ihr Büro. Dort können wir uns ungestört unterhalten – über Ihre Käthe Piltz.“

Die Frau blickte entsetzt auf.

„Ins Büro nicht!“ Das Taschentuch wurde zurück in die Morgenrocktasche gesteckt. „Dort ist noch alles unordentlich, wissen Sie. – Nein, das Reinigungspersonal kann ruhig warten, Herr Kommissar. Was wollen Sie denn wissen, bitte?“

In diesem Augenblick sah die sonst schön wirkende Frau hässlich aus. Lippenstiftrot war mit dem tränenfeuchten Taschentuch über den linken Mundwinkel hinausgewischt worden, so dass ein himbeerfarbener Strich den Mund verbreiterte.

„Führen Sie mich bitte in Ihr Büro“, verlangte der Oberleutnant bestimmt. „Ich mach’ keine Ordnung. Schließlich kommen wir nicht, um zu sehen, wie es in Ihrem Büro aussieht!“

Ruckartig stand die Frau auf. Sie hatte den Morgenrock am Halse noch immer zusammengerafft. Ihre kleinen dunklen Augen blickten abschätzend auf den Oberleutnant. Und plötzlich sagte sie: „Gut, ich gehe voraus, muss meine Wäsche wegräumen. Wenn Sie’s genau wissen wollen: meine Unterwäsche.“

Kinkerlitzchen, dachte Bär. Er nahm die Unfreundlichkeit gelassen zur Kenntnis. Wüsste sie, dass sie mich mit ihren Ausreden geradezu ins Büro lockt, würde sie das Lügen lassen.

Sie lief vor ihm, stöckelte kleine Schritte, Schritte, wie sie mitunter trotzende Mädchen gehen. Den Kopf hatte sie weit in den Nacken geworfen.

In einem schmalen Flur blieb sie stehen und sagte: „Hier warten Sie! Räume die Wäsche fort. Tür lass’ ich sogar offen – zu Ihrer Beruhigung!“

„Sehr nett!“, sagte der Oberleutnant lächelnd.

Ja, so ist das, dachte Bär, blieb stehen und verschränkte die Arme auf dem Rücken. Das ist nun ihre Vorstellung von uns. Früher die Kripo, das waren Kerle, die konnten’s, die hatten Schule, das waren Beamte mit „Laufbahn“. Und Kavaliere! Wir, wir bleiben hier im Flur stehen. Früher, ja die, die waren gerissen und durchtrieben. Die hatten originelle Einfälle und Ideen. Die setzten sich kriminalromantisch in ein Café, falteten lässig eine Zeitung auseinander, brannten mit der Zigarre ein Loch hinein und beobachteten durch das Loch die Leute. Aber heute? Da kann doch jedes Kind die Polizei anführen. Ja, ja, so denkt die Frau Hotelbesitzerin.

Bär lächelte vor sich hin.