Der Granitschädel - Kurt David - E-Book

Der Granitschädel E-Book

Kurt David

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Beschreibung

Birkenbach ist ein DDR-Dorf mit einer noch jungen LPG. In freiwilligen Arbeitsstunden haben die Bewohner die Waldlichtung als Koppel eingezäunt. Doch am nächsten Morgen sind alle Pfähle herausgerissen. Riedel-Radel ärgert sich, denn mit seinen 70 Jahren fiel es ihm nicht leicht, beim Setzen der Pfähle zu helfen. Auf eigene Faust macht er sich auf die Suche nach dem Täter und ertappt ihn dabei, wie er nachts heimlich die Pfähle wieder einsetzt. Es ist Alois Heckenbock, dem die Wiese einst gehörte, bevor sein Sohn in die LPG eintrat. Und genau der LPG wollte er schaden.

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Impressum

Kurt David

Der Granitschädel

Erzählung

ISBN 978-3-96521-902-1 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1960 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

© 2023 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Mancher Mensch bringt sein eigenes Glück um!

(Sprichwort)

I

Der Rentner Gustav Riedel, den die Birkenbacher Einwohner Riedel-Radel nennen, weil er für die Leute Fahrradschläuche flickt und andere kleine Reparaturen an Fahrrädern ausführt, stieg an diesem Morgen den Sandweg bei der Kirche hinauf und watete durch das rotbraune Kastanienlaub, das feucht und glitschig auf der Erde lag. Im Heckenbockschen Gehöft, das draußen am Rande des Dorfes stand, bellte der Hund, als er vorüberkam. Er drohte ihm mit der Hängepfeife, hielt sie wie eine Pistole und machte „geh – geh“.

Gustav Riedel, der einen gleichmäßigen, Rüstigkeit und Frische verratenden Schritt ging, erreichte bald das offene, von Frühdunst verschleierte Feld. Und schon blieb er stehen, zog seine silberne Taschenuhr aus der Weste, stellte die genaue Zeit fest und wusste: In fünfzehn Minuten klettert die Sonne über den Buchenberg. Er gehörte zu jenen beneidenswerten Leuten, die jahraus, jahrein eine Stunde vor Sonnenaufgang auf den Beinen sind.

An diesem Morgen lief Gustav Riedel in die Pilze.

Er trat in den Hochwald, der schwarz, nass und noch schattenlos dastand. Ein schwacher, modriger Geruch von abgestorbenen Zweigen und fauligem Laub breitete sich aus, und Riedel-Radel stopfte seine lange Hängepfeife, blies den Pfeifenrauch in die feuchte Luft, wo er fast reglos zwischen den Tannenzweigen hängenblieb.

Sachte ging er los. Sozusagen Pilzgängerschritt. Und dann schnitt er ab, säbelte die Pilze los, wie er immer sagte. Und dann steckte er sie in den finsteren Beutel, wischte die Klinge des Messers an der Hose blank, steckte von Zeit zu Zeit die Nase in den Beutel, um den feinen Pilzduft zu schnuppern. Vereinzelt platschten dicke Tropfen von den Fichtenzweigen, bumsten auf seine Hutkrempe.

Bald gelangte er in die Nähe der Liebeswiese – na ja, die Birkenbacher Leute nennen sie eben so! – Der große, kahle Fleck inmitten des dichten Baumbestandes nahm sich aus, als sei er mit einer Riesenschere aus dem Hochwald herausgeschnitten worden.

Pilzgänger umgehen zweckmäßigerweise Waldwiesen, doch Riedel-Radel, den die Zeit nicht trieb, hatte einen guten Grund, der Wiese einen Morgenbesuch abzustatten, und schritt durch den kühlen Hohlweg, der zu ihr hinüberführte. Vor drei Tagen war hier nämlich die elektrische Viehkoppel fertiggestellt worden. Sie gehörte zur Birkenbacher LPG, die den Namen „Steinberg“ trug. Am Bau der Koppel war Gustav mit sechzehn Stunden freiwilliger Arbeit beteiligt. Riedel war einundsiebzig Jahre alt und ein arbeitsamer Mensch geblieben.

Sei es nun, dass im Dorfe ein Wartehäuschen für den Autobus gebaut wurde, sei es, dass im Gemeindeamt Kohlen abzuladen und einzukellern waren oder irgendwo eine neue Scheibe eingezogen werden musste – Gustav kam, Gustav war dabei, Gustav machte überall mit. „Ich hab’ viel Zeit. Wer rastet, der rostet!“, sagte er oft und fügte meist noch hinzu, dass er in seinem langen Leben noch nie einen Doktor gebraucht habe. Wen wundert es, dass Gustav mit einem berechtigten Stolz hinüber zur Wiese lief, um die neue Viehkoppel, in der eben sechzehn Stunden Arbeit auch von ihm steckten, zu betrachten und abzuschätzen? Als er durch den düsteren Hohlweg ging, dachte er: Was der alte Heckenbock-Alois nie fertiggebracht hat – dem hatte einst die Wiese gehört –, das haben wir geschafft. Heckenbock hatte vor einem Jahr seine Wirtschaft dem Sohn Erich übergeben, und der war kurz nach seiner Hochzeit in die „Steinberg-LPG“ eingetreten, sehr zur Verwunderung einiger Dorfbewohner, die sagten, das hinge mit der Heirat zusammen. Erich hätte nicht nur eine aus der Stadt zur Frau genommen – was schon große Verwunderung hervorrief –, sondern sicher auch, so sagten die Leute, deren Ideen mit geheiratet.

Der Sonnenschein fiel schräg auf die Wiese, saugte den Tau von den gelben Gräsern und durchlöcherte den milchigen Frühdunst. Gustav trat an den hellen Waldrand, stand in dem tiefen, nassen Schneidegras, und wie er so aufsah, prüfend über die Koppel schaute, spürte er plötzlich seinen Herzschlag deutlich unter der dunkelgrünen Joppe. Das klopfte und pochte. Erst dachte Gustav, er sähe schlecht oder er träume. Mit einem Mal sagte er: „Zum Teufel noch eins, was soll denn das?“ und er dachte: Ja, beim Buchenberg, bin ich denn noch normal oder spielt mir das Alter einen Streich? Vor drei Tagen haben wir das Ding hier fertiggebastelt und jetzt – und jetzt – nein, also – und: „Eins – zwei – drei – vier –fünf–“, er zählte bis neunzehn. Neunzehn Pfähle waren herausgerissen und lagen auf der Wiese oder hingen zapplig in den Drähten. Die Batterie befand sich noch ordnungsgemäß am Koppeleingang. Sie war nicht entzwei. Auch die Pfähle standen an dieser Stelle noch. Gustav wagte keinen Schritt.

Scheu sah er nach allen Seiten.

Wenn mich jetzt einer belauert, denkt der womöglich noch, ich, der Riedel-Radel aus Birkenbach, habe das zerwirkt. So albern!

Er schüttelte seinen grauhaarigen Kopf, als müsste er sich vor sich selber rechtfertigen. Der Gustav baut erst mit auf, und danach macht er’s kaputt, was? „Nein! Nein! – Also!“ Gustav nahm die Mühe um eine Sache schon immer sehr ernst. Er riss sich den Hut vom Kopfe, kratzte sich. Irrsinnig heiß war ihm mit einem Mal. Am liebsten hätte er solch einen herausgerissenen Koppelpflock genommen und wäre damit ins Dorf gerannt: He, wer war das? Ich hau’ ihm eins über seinen nichtsnutzigen Schädel! Hier kann man ja noch einen Schlaganfall vor Aufregung kriegen, hier können einem die Knie vor Zorn wegknicken!

„Die Polizeier müssen her!“, brummelte Gustav und horchte in den Wald hinein. Nur Blattgewisper und Zweiggekratze waren zu hören. Er grübelte darüber nach, wer für so eine idiotische Schandtat in Frage käme. Gustav klammerte sich in seinen übersteigerten Gedanken an diesen und jenen; an den Schmetterlingsfritzen Gribolin, an Weiße-Karl und Busch-Oskar, diesen Säufer, er dachte auch an den alten Alois Heckenbock, dem einst die Wiese gehört hatte und der darüber verbittert war, seinen Sohn Erich in der Birkenbacher LPG zu wissen. Aber so einer Tat hielt er ihn nicht für fähig. Wer spuckt sich schon ins eigene Bett, dachte er. Und dann waren noch die vier Zeugen Jehovas im Dorfe, die nie zur Wahl gingen, weil sie täglich auf den HERRN warteten, der sie auf einer weißen Plusterwolke mit in den Himmel nehmen sollte. Nein, die sind zwar schon ganz schön blöd, überlegte er, aber die sehen vor lauter Himmelssehnsucht gar keine Viehkoppel. Und ansonsten könnte dieser Himmelsautobus wirklich bald einmal kommen, dachte er, damit wir diese hirnlose Gesellschaft loswerden.

Er trat einen Schritt in die Wiese hinein, fuhr jedoch zurück; ihm war bewusst geworden, dass er nichts berühren und nichts zertreten durfte, sollte die Polizeiarbeit Erfolg haben, obwohl auch der Wunsch in ihm brannte, ein bisschen Privatdetektiv zu spielen und den Täter gleich selber zu fangen und zu richten. Wie muss bloß so ein Lump aussehen, dachte er, was mag er für ein Gesicht haben? Ob er auch denken kann? Nein, denken kann er nicht; denn könnte er es, würde er sich erkundigen, wo die nächste Viehkoppel gebaut wird, um mitzumachen, statt eine fertige einzureißen.

Er entschloss sich, sofort ins Dorf zu laufen.

Mit vorgestrecktem Kopfe eilte er los, so schnell, wie er in seinem Alter laufen konnte. In der rechten Faust hielt er die erkaltete Pfeife – er hatte vor Entsetzen das Rauchen vergessen –, in der Linken den mäßig gefüllten Pilzbeutel, der hin und her schaukelte. Aufhängen müsste man diesen Kerl, beschloss Gustav, als er durch den düsteren Hohlweg lief. Sechzehn Stunden von mir, neun vom Seidel-August, der ein Holzbein hat und dem die Arbeit wirklich schwerfällt, und dann noch die VP-Leute, die sonnabends meist rauskommen aus der Stadt, weil sie die Patenschaft über die LPG haben. Die werden sich erst freuen. Aufhängen diesen Kerl! Wütend vor Ärger, rannte er durch den Wald zurück, stolperte manchmal über eine Wurzel, fluchte. Und hätte in diesen Minuten einer gesagt: Aufhängen? Ach, das ist ja ein Kinderspiel für so eine Schandtat, nein, diesen Kerl muss man rädern und vierteilen – Gustav wäre einverstanden gewesen.

Als er jedoch den umsträucherten Krebsbach erreichte und über dessen Steg lief, hatte er sich schon etwas abgekühlt und verwarf das Aufhängen, Rädern und Vierteilen. Nüchtern stellte er fest: Der Kerl muss arbeiten. Der muss die Koppel allein wieder aufbauen.

Gustav Riedel sah den Birkenbacher Kirchturm und dachte: Der Leichen-Emil – gemeint war der Totengräber –, der könnte sofort läuten, das Dorf zusammenbimmeln. Und dann müssten alle Einwohner hinausgeführt werden, damit sie die Schande mit eigenen Augen sehen. Und ich würde ihnen sagen: Leute, seht euch das mal an! Feine Arbeit! Die einen bauen auf, die andern reißen ein. Und das schönste ist wohl, dass derjenige unter uns ist.

Als er die Heckenbocksche Scheune erreichte, lief er um sie herum, kroch durch ein Loch in der Bretterwand und gelangte in den Hof, wo er Erich Heckenbock traf. Dieser gabelte Mist auf einen Wagen. Gustav schrie: „Unsere Koppel ist kaputt, unsere neue Koppel, Erich! – Sechzehn und neun ist vierund- – Quatsch – fünfundzwanzig und die Stunden der VP-Leute noch dazu, alles für die Katz, für die Katz. Ich lauf’ zum Gellert!“ Das war der Volkspolizist und Abschnittsbevollmächtigte von Birkenbach. Ehe Erich Heckenbock etwas erwidern konnte, war Gustav schon verschwunden und rannte den Sandweg an der Kirchhofsmauer entlang. Er konnte nicht mehr sehen, wie Erich zum Fahrrad lief und aus dem Hofe fuhr.

Minuten später hoppelte und schepperte Gellert auf seinem Motorrad den holprigen, zerfahrenen Feldweg hinaus. Auf dem Sozius saß Gustav Riedel, etwas ängstlich, aber immer noch mutig genug, um dem Volkspolizisten auf den Rücken zu klopfen und zu schreien: „Du kriegst diesen Kerl doch mit den Polizeimethoden, wie?“

„Was meinst du, Gustav?“

„Du kriegst – den – Kerl – doch – mit – den Polizeimethoden!“