Der gute Bulle - Jerome Charyn - E-Book

Der gute Bulle E-Book

Jerome Charyn

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Diaphanes
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Isaac Sidel steigt höher in der Rangordnung: Als bekanntester Polizeichef des Landes wird er vom Justizministerium auf Promotion-Tour durchs Land geschickt. Der politischen Selbstvermarktung überdrüssig, bricht er die Tour ab und kehrt nach New York zurück. Doch seine Alleingänge drohen ihm zum Verhängnis zu werden: ein gefährliches Netz schließt sich um ihn, in dem rivalisierende Mafia-Familien und das FBI genauso vertreten sind wie Isaacs eigener Geheimdienst, das irische Urgestein Kardinal Jim, Bürgermeisterin Becky Karp und ein elitärer Club, dessen Vorlieben um Baseballhistorie und Kriminalität kreisen. Und da ist noch die geheimnisvolle Margaret Tolstoi, seine nie vergessene Jugendliebe, die jetzt in Lebensgefahr schwebt – oder ist alles ganz anders?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 397

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jerome Charyn

Der gute Bulle

Inhalt

Teil Eins

Teil Zwei

Teil Eins

Sie war der kleine Liebling der Puschkin-Straße. Mit Prinz Finkelshtein und Onkel Ferdinand kam sie in die Oper. Es war 1942. Das Opernhaus hatte einen Teil seines Daches verloren, was allerdings niemanden zu stören schien. Der deutsche Tenor Minos Schmidt war an diesem Abend Don Giovanni. Sie konnte den Speichel aus seinem Mund fliegen sehen. Finkelshtein weinte. Magda fand es unschicklich für einen Prinzen. Sie konnte einfach nicht verstehen, wieso ein Angehöriger des russischen Hochadels sich in seinem eigenen Haus für Ferdinand abrackerte. Außerdem hatte sie noch nie von einem Prinzen mit dem Namen Finkelshtein gehört.

»Ma jolie«, sagte der Prinz und hielt dabei ihre Hand.

Ferdinand verspottete ihn. »Finkelshtein, Sie haben nicht mehr lange zu leben … Würden Sie gern mit dem Kind schlafen?«

»Nein, Euer Exzellenz.«

»Dann lassen Sie bitte ihre Hand los.«

Sie konnte dieser eigenartigen Unterhaltung auf Französisch, Deutsch, Englisch, Rumänisch und Griechisch nicht ganz folgen. Sie waren wie zwei Berlitz-Professoren auf der Pirsch. Ferdinand hatte den Prinzen einmal in aller Öffentlichkeit geschlagen. Finkelshtein. Vor dem Krieg war er der mächtigste Mann in Odessa gewesen. Es hatte irgendetwas mit Olivenöl zu tun. Er hatte seine eigene Geigenschule gegründet. Er hatte Opernensembles aus der ganzen Welt in die Lastochkina-Straße gelockt. Und jetzt schuftete er in der Küche.

Ferdinand wollte alle Straßen Odessas umbenennen. Er stellte neue Schilder auf. Aus der Puschkin-Straße wurde die Donau-Straße. Die Rote Allee hieß nun Schicksalsstraße. Die Deribasovka war die Kleiner-Engel-Straße. Doch die Schilder verärgerten die Menschen nur. Niemand wusste angeblich, wo die Kleiner-Engel-Straße war, egal was auf den Straßenschildern stand.

Was Ferdinand verbitterte. Er gab dem Prinzen die Schuld. »Die Leute sind Ihre Lakaien, Monsieur.«

»Aber ich habe keine Macht über ihre Augen.«

»Natürlich haben Sie das. Es sind Odessaer Juden, sonst nichts.«

»Die Juden sind geflüchtet, Eure Exzellenz.«

»Nein. Sie verstecken sich in den Katakomben.«

Die Katakomben waren der Ort, wo die bösen Menschen hausten. Die bösen Menschen hassten Ferdinand. Sie lebten in langen Tunneln unter der Stadt. Es war das Jahr 1942, und nur wenige Menschen hungerten. Onkel Ferdinand hatte seine Oper und einen Zirkus und Teile von Finkelshteins Musikschule.

Magda war zwölf Jahre alt. Sie lebte bei dem Onkel in einer Villa in der Kleiner-Engel-Straße. Eines Nachts kamen die Nazis, um Finkelshtein zu holen. Onkel hätte sie aufhalten können. Seine Unterschrift war Gold wert. Die Nazis packten Finkelshtein an den Füßen. Er brachte es fertig, Magda anzulächeln.

»Au revoir, ma jolie.«

»Au revoir, Monsieur le prince.«

Und als Ferdinand in dieser Nacht mit ihr schlief, als sein großer massiger Körper auf ihr lag, bewegte sich Magda wie ein Stein. Wie sonst konnte sie ihn dafür bestrafen, dass er den Prinzen nicht gerettet hatte?

Sie weinte nicht. Ferdinand hätte sie nur angebrüllt, und Finkelshtein hätte es auch nicht geholfen. Ferdinand trug seine Waffe auch im Bett, denn niemand konnte sagen, wann die bösen Menschen kommen würden, die Partisanen, die wie Fledermäuse in ihren Tunneln und Höhlen hausten. Einer der Köche erzählte ihr, es gäbe ein zweites Odessa unter der Erde. Mit einer Oper und Palästen und einer Puschkin-Straße für die Partisanen, weil sie es nicht ertragen konnten, ohne die Stadt zu sein, die sie über alles liebten. Was wusste Magda schon über Menschen, die verrückt genug waren, in der Dunkelheit ihr eigenes Odessa zu bauen?

Sie verbrachte zwei oder drei Nächte mit Ferdinand, und dann zog er seine Uniform an und sagte: »Komm.«

»Wo gehen wir hin, Onkel?«

»Komm.«

Sie stiegen in Ferdinands Limousine und fuhren drei Straßen weiter. Der Imperator von Odessa ging nicht gern zu Fuß. Sie hielten vor dem Hauptquartier der Gestapo in der Gogol-Straße. Onkel eilte mit ihr zu dem Unteroffizier am Tor.

»Major König, bitte.«

»Er ist beschäftigt, mein Herr.«

»Er ist immer beschäftigt«, sagte Ferdinand. »Meine Nichte kann nicht warten. Sie hat ihre Tanzstunden, Herr Unteroffizier.«

Und unangemeldet schneiten sie in das Büro des Majors.

Seine Uniformjacke hing über dem Stuhl. All seine Orden funkelten Magda an. Eine Dame war bei ihm.

»Gräfin Leskow«, sagte er, »dies ist unser rumänischer Freund. Herr Ferdinand, Finanzminister des Odessaer Bezirks … und seine Nichte.«

Unter ihrem Mantel war die Gräfin Leskow nackt. Ihr Lippenstift war auf ihr Kinn geblutet. Sie war die fetteste Gräfin, die Magda je gesehen hatte.

Der Major zog seine Uniformjacke an. Die Gräfin nahm sein Geld und ging.

»Wie geht es Ihnen, Mademoiselle Magda?«, erkundigte sich der Major. Er hatte ein hübsches Gesicht mit einer winzigen Narbe auf der Lippe und blonde Haare.

»Lassen Sie sie in Ruhe«, fuhr Ferdinand ihn an. »Sie trauert um den Prinzen.«

»Ich verstehe nicht.«

»Finkelshtein. Sie vermisst diesen Mann.«

»Aber er ist ein Verbrecher gegen das Reich«, sagte der Major. »Er hat diesen Hunden in den Katakomben Waffen geliefert. Und außerdem ist er kein echter Prinz.«

»Ach, ich denke schon, dass er das ist«, sagte Ferdinand. »Die Zaren haben gern einige ihrer Bankiers in den Adelsstand erhoben. Und die Finkelshteins leben schon seit Generationen in Odessa.«

»Ein Ammenmärchen.«

»Vielleicht, aber ich will ihn zurückhaben.«

»Ich sagte es doch bereits, Herr Ferdinand. Er ist ein Verbrecher gegen das Reich. Ihm wird genau in diesem Augenblick der Prozess gemacht.«

»Freut mich zu hören. Aber machen Sie das rückgängig. Sie werden mir den Prinzen ausleihen müssen.«

»Das ist unmöglich.«

»Dann werde ich zurücktreten, Herr Major. Oder vielleicht würden Sie mich und Mademoiselle lieber festnehmen … Ohne Herrn Finkelshtein werde ich dieses Gebäude nicht wieder verlassen.«

»Das wird Sie noch sehr teuer zu stehen kommen.«

»Ja, aber meine häusliche Situation wird sich erheblich bessern. Das ist alles, was mir im Moment wichtig ist.«

Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Prinz gebracht wurde. Er musste irgendwo im Gestapohauptquartier verlorengegangen sein. Sein Mund war blauschwarz. Um seine Ohren klebten ringförmige Blutspuren. Die Augen lagen tief in seinem Schädel. Ferdinand besorgte ihm die Jacke eines deutschen Gefreiten.

Auf der Fahrt zurück nach Hause in die Kleiner-Engel-Straße sprach Finkelshtein kein Wort. Er war Magdas Soldaten-Prinz. Sein Gesicht war viel zu geschwollen, um lachen oder weinen zu können. Magda wollte ihn nach jenem Odessa der Dunkelheit fragen, in dem die Gestapo-Majore die Gogol-Straße nicht okkupiert hatten. Doch solange Ferdinand im Wagen saß, konnte sie kein Wort sagen. Finkelshtein flüsterte ihr aus dem Mundwinkel zu. »Merci, ma petite«, sagte er, »merci«, bevor er Ferdinands Eingangstreppen zu dem Haus hinaufging, das nicht länger ihm gehörte.

1

Es hätte St. Louis sein können.

Über den Himmel spannte sich ein metallener Regenbogen, ein Bogen, der sich wie ein gigantisches Spielzeug über der Stadt erhob. Isaac stand nicht der Sinn nach Spielzeug. Er war nicht Klein-David, der mit seiner Lyra zu einem Picknick unterwegs war. Er war ein Police Chief, der als Gast des Justizministeriums eine Vortragsreise durch das Land machte. Der Große Amerikanische Detective auf Tour. Das Justizministerium wollte, dass er die anderen Detectives des Landes traf, um ihnen sein Wissen zu vermitteln, seine Sachkenntnis, und um herauszufinden, wie die Polizei in Seattle oder St. Louis mit eben jener sozialen Krankheit umging, der Isaac in New York gegenüberstand. Er hatte Henry Armstrong Lee verhaftet, den vom FBI meistgesuchten Mann, einen Bankräuber, der sich gern als Frau verkleidete. Und nun war Isaac der erste Alexander Hamilton Fellow und hielt Vorträge vor Männern und Frauen, die über eine raffiniertere Technik verfügten, als Isaac sie je gesehen hatte: Sie konnten aus einem winzigen Haar ganze Abstammungslinien rekonstruieren, Serienmörder anhand eines Samenflecks identifizieren, waren aber genauso wenig wie Isaac in der Lage, das Krankheitsbild als solches zu beseitigen.

Der Bogen war an diesem Morgen blutrot.

Welche andere Stadt hatte einen metallenen Regenbogen direkt an den Ufern des Flusses? Er war mit zehn anderen Chiefs aus Missouri und Kansas gekommen, die seinen Vortrag über die Krankheit der Gesellschaft gehört hatten. Armut und Zerfall. Das Niemandsland gewisser Sozialsiedlungen, in denen die Bewohner nur noch in bewaffneten Gruppen ihre Wohnungen verlassen konnten. Das stärkste Mittel gegen Verbrechen, hatte Isaac gesagt, sei ein Lesebuch. »Bringt einem Kind Lesen bei, und seine Neugier wird sich nach innen richten. Es wird von Sindbad dem Seefahrer träumen und nicht dem alten Mann am Ende des Korridors die Zigaretten klauen.«

Und dann wurde Isaac vom Chief irgendeiner Grenzstadt in Kansas gefragt, ob ein Lesebuch New York von der Mafia kurieren könne. Isaac verneinte. »Es gibt nichts zu kurieren. Die Mafia ist Big Business. Aber sie wird nicht an der Börse notiert. Sie braucht keine Börse. Sie braucht nur Bürger, die von der Stadtverwaltung nicht bekommen, was sie brauchen, weil diese zu sehr mit Nabelschau und Schulterklopfen beschäftigt ist.«

Die Chiefs lächelten leise und fragten sich, wie lange dieser Alexander Hamilton Fellow im Bett mit dem Justizministerium überleben würde, wenn er so redete, als sei die Mafia nur eine weitere städtische Behörde. Aber sie mochten seine schroffe Art und seine ergrauenden Koteletten: Isaac Sidel, Police Commissioner und Großstadtjunge. Er gehörte mit Dick Tracy auf die Comic-Seiten der Zeitungen. Aber Dick Tracy hatte nicht wie Isaac eine Flasche Milch in der Jackentasche. Isaac hatte immer eine Flasche Milch dabei. Er hatte einen Bandwurm, und wenn dieser hungrig wurde und Isaacs Innereien zermalmte, fütterte Isaac ihn mit einem Schluck Milch.

Er fuhr mit den Chiefs den Daniel Boone Expressway entlang und überquerte die Gravois Avenue, um eine »Jugendeinrichtung« zu besuchen, denn genau das war es, was Isaac sehen wollte. Und es brach ihm das Herz. Nicht etwa, weil die Aufseher ihm grausam vorkamen. Sie waren so aufgeklärt, wie man es bei einem städtischen Heim nur erwarten konnte. Die Krankenschwestern zeigten nicht einmal ihr professionelles Lächeln. Nein, es waren die Kinder. Isaac wusste, dass die Hälfte von ihnen ein wenig zurückgeblieben war. Und der anderen Hälfte war schon nicht mehr zu helfen. Sie hatten diesen versehrten Blick, dem Isaac schon in hundert anderen Klassenzimmern und Heimen begegnet war. Kids mit Augen, die keine Neugier mehr kannten.

Er ging mit seiner Delegation von Chiefs von Raum zu Raum. Er besuchte die Suppenküche, schlürfte die Minestrone, die ihm angeboten wurde, nuckelte an seiner Flasche Milch. Doch diesen desinteressierten Augen konnte er nicht entkommen. Die Wände des Aufenthaltsraums waren meergrün. Das Shuffleboard-Spiel war neu. Aber die Kinder schienen wie in Zeitlupe zu spielen, als wären sie völlig gleichgültig gegenüber den Holzscheiben, die sie über das Spielbrett schoben.

Isaac spielte mit ihnen. Den Chiefs blieb nichts anderes übrig als zuzuschauen, wie Isaac sein langes hölzernes Queue packte und eine perfekte Sieben landete. Die Scheibe hatte ihre eigene, seltsame Musik, wie ein flachgepresster Planet, der auf einem lasierten Boden entlangschlitterte. Doch nicht einmal Isaac und sein Queue konnten diese Kinder aus ihrem Dornröschenschlaf reißen.

Er kehrte dem Shuffleboard den Rücken, und die Chiefs, die meisten von ihnen in Uniform, blieben immer direkt hinter ihm wie ein kleines Heer von Jacken. Isaac wollte raus aus diesem Kindergefängnis. Er wollte nicht länger Alexander Hamilton Fellow sein und dem Justizministerium sagen, dass es sich zum Teufel scheren könne. Er hatte nichts zu lehren. Er war nicht Dick Tracy. Er war eher ein Vermittler, der Detectives und Spitzel um sich scharte wie eine besonders raffinierte Spinne. Und während er Anstalten machte, mit den Chiefs zu gehen, diesem Gefängnis und diesem metallenen Regenbogen, der sich über St. Louis spannte, zu entfliehen, wurde er von einem Gesicht aufgehalten. Es gehörte einem Jungen, genauso klein wie die anderen, ein Junge in dem gleichen braunen Overall, der in diesem Gefängnis die vorgeschriebene Kleidung war. Eine Uniform mit vielen Taschen.

»Hallo«, sagte der Junge. Er hatte sich Isaac aus den anderen Chiefs herausgegriffen. Sein Mund war zu einem schiefen Lächeln verzogen, und in seiner Stimme schwang ein spöttischer Tonfall mit, eine Art Spiel, wie es Isaac im Aufenthaltsraum nicht begegnet war. Der Junge hatte unzählige Falten. Sein Gesicht war verbraucht, aber er war kein kleiner Schlafwandler. Er sah aus wie ein kindlicher Greis mit den Augen eines alten Mannes.

»Wie alt bist du, mein Sohn?«

»Zwölf«, sagte der Junge.

Isaac glaubte dem Jungen nicht. Wo waren seine Schultern?

»Wie heißt du?«

»Kingsley McCardle.«

»Und wie lange bist du schon hier?«

»Mein halbes Leben.«

Die Chiefs zogen an Isaacs Ellbogen. Diese Unterhaltung gefiel ihnen nicht. Er sollte die Kinder in kein vertrauliches Gespräch verwickeln. Dies waren Mündel von St. Louis, einer Stadt mit ihrem eigenen ungewöhnlichen Leben, weil sie zu keinem anderen County in Amerika gehörte. Sie war wie eine landgebundene Insel, benannt nach Louis IX., dem Kreuzritter-König, der über dieses alte französische Dorf am Mississippi wachte. Doch der Junge wollte nicht schweigen.

»Wer bist du, Grandpa?«

»Isaac Sidel … Police Commissioner von New York.«

»Verdammt, kein besonders toller Job«, sagte der Junge, und die Cops zerrten weiter an Isaacs Ärmel.

»Loren«, sagte Isaac zum Chief of Detectives der Stadt, der ihn aus Kansas in dieses kleine Land unter dem metallenen Regenbogen gebracht hatte. »Ich möchte mich mit dem Jungen hier unterhalten.«

»Keine Zeit, Isaac. Wir sollen zum Mittagessen im Catfish & Crystal sein. Der Bürgermeister ist auch dabei.«

»Loren, ich hatte schon zu viele Bürgermeister zum Mittagessen. Lassen Sie mich mit dem Jungen reden.«

Und Loren Cole, der die Kriminalpolizei leitete wie ein Kreuzritterkönig, der genauso unbestechlich und charakterstark war wie Isaac und der darüber entschied, was in St. Louis vor die Justiz kam, nahm Isaac zur Seite.

»Kingsley ist kein Fall, der öffentlich diskutiert werden kann.«

»Ich werde nichts über ihn schreiben, Loren.«

Captain Cole stand Bauch an Bauch mit diesem Cop aus New York. Er war größer als Isaac. Er hätte Isaac ins Catfish & Crystal schleifen können, doch Isaac würde ihn dann im Restaurant nur gequält haben, gequält wegen Kingsley. »Er ist einer unserer Unsichtbaren, Isaac. Angeblich verschwunden. Wir wollten nicht, dass er durch die Gerichte muss. Also haben wir ihn hier gebunkert, falls Sie verstehen, was ich meine.«

»Was zum Teufel hat er denn gemacht?«

»Gemacht? Er hat mit seinem Onkel in einer gottverdammten Hütte hinter dem Busch Stadium gelebt. Der Onkel hat ihn nur herumgeschubst. Genau weiß ich’s nicht. Er hatte sonst keine Angehörigen. Kingsley hat eine Colaflasche genommen, den Flaschenhals geschärft, und als der alte Mann schlief, da hat er ihm das Ding in den Hals gerammt. Ich habe die Hütte gesehen. Ich habe das Blut des alten Mannes gesehen. Wir haben Kingsley mitgenommen, ihn untersucht, von einer Horde Kinderpsychologen die Farbe seiner Pisse examinieren lassen. Der Junge hatte einen IQ, der höher war als ein Kirchturm. Er kannte sämtliche großen Baseballspieler der St. Louis Cardinals. Er hatte die Bibel gelesen, Isaac, jeden einzelnen Vers. Er redete von den Sternen und davon, dass überall alles starb. Ich kann nicht sagen, ob dieser Onkel eine Colaflasche im Hals verdient hat. Aber ich wollte auf keinen Fall, dass der Junge Reportern in die Hände fiel. Ich wollte nicht, dass er wie ein Freak in den Sechs-Uhr-Nachrichten ausgestellt wird. Ich habe ihn einem befreundeten Richter vorgeführt und ihn hier einweisen lassen. Der Fall liegt immer noch in meiner Schublade. Verpfuschen Sie ihn nicht, Isaac.«

»Ich führe kein Tagebuch, Loren. Ich arbeite nicht für das Justizministerium. Lassen Sie mich mit ihm reden.«

»Nein.«

Aber Isaac war stur und leicht reizbar, genau wie der Junge, und Loren wusste, was für ein Tag ihm bevorstehen würde, wenn Isaac nicht ein paar Worte mit McCardle wechseln durfte. Dick Tracy würde das Catfish & Crystal auseinandernehmen, das Restaurant dem Erdboden gleichmachen.

»Zwei Minuten, Isaac. Und sollten Sie unangenehme Themen anschneiden, ich schwöre bei Gott, dann werde ich Sie in Handschellen legen und auf der Toilette einsperren.«

»Was immer Sie wollen, Loren.«

Und während die anderen Chiefs warteten, steckte Loren Isaac und McCardle in eine Kammer zwischen Küche und Schwesternzimmer.

»Ich würde ihn wieder aufschlitzen, den alten Onkel Sol«, sagte der Junge, ohne von Isaac auch nur ansatzweise dazu provoziert worden zu sein. »Er war gemein wie nur was.«

»Ich habe dich nicht nach deiner Familie gefragt.«

McCardle lachte. »Ich weiß, was in deinem Kopf vorgeht, Grandpa. Wie alt bist du?«

Isaac nuckelte an seiner Milchflasche.

»Vergiss es. Was willst du mal werden, wenn du groß bist?«

»Grandpa, bist du blöd?«, sagte McCardle mit gerümpfter Nase. »Ich kann’s mir nicht leisten, groß zu werden. Ich muss hier bei den Kindern bleiben. Frag den Cop. Ich bring ihnen Rechnen bei.«

»Keine besonders tolle Zukunft«, meinte Isaac.

»Kommt drauf an, was man darunter versteht, Grandpa. Ich habe keine Zukunft. Ich kann das älteste Kind in St. Louis werden. Ich kann mir jeden Sommer am Stan Musial Day die Cards ansehen. Wie ich höre, hatte Enos Slaughter einen besseren Wurfarm als Stan. Stimmt das?«

»Slaughter hatte den besten Wurfarm im Baseball.«

»Woher weißt du das?«, fragte McCardle, wobei seine Altmänneraugen Isaacs Milchflasche fixierten.

»Ich bin mit den New York Giants aufgewachsen.«

»Wie war Slaughter?«

»Er hatte eine Glatze, und er hatte große Ohren, und er ist gelaufen wie ein Esel, und geworfen hat er wie ein Messer.«

»Genau, das ist Slaughter. Ich hab im Guffy’s Guide to St. Louis über ihn gelesen … «

Loren steckte den Kopf in die Kammer. »Die Zeit ist um«, sagte er.

»Einen Moment noch«, sagte McCardle. »Ich rede gerade mit dem Mann.«

»Die Zeit ist um.«

Isaac verließ das Kämmerchen und übergab Kingsley wieder seinen Wärtern. Er hatte sich nicht mal von dem Jungen verabschiedet. Wut braute sich in Isaac zusammen. In der Limousine saß er neben Loren.

»Was haben Sie mit dem Jungen vor?«, flüsterte Isaac.

»Da gibt’s keine Geheimnisse«, sagte Loren. »Jeder kennt McCardle.«

»Und, was werden Sie tun? Sie können ihn doch nicht in diesem kleinen Knast verrotten lassen.«

»Verrotten?«, sagte Loren. »Er geht dort auf die High School.«

»Und später?»

»Wir schleusen ihn durch den Hintereingang auf die Washington University.«

»Und wenn der Hintereingang abgeschlossen ist?»

»Wir sind hier nicht in Moskau, Isaac. Wir können es jederzeit an einem anderen College versuchen. Wir bringen ihn schon irgendwo unter.«

»Er stirbt in diesem kleinen Gefängnis, Loren, sehen Sie das denn nicht? Sein Gesicht ist schon ganz runzlig.«

»So war er schon, als wir ihn gefunden haben.«

»Tja, vielleicht könnte er mal einen Tapetenwechsel vertragen.«

»Wir sind keine Bühnenbildner, Isaac. Wir haben ihm gegeben, was wir hatten.«

»Aber Sie könnten ihn mir ausleihen.«

Loren senkte den Kopf und flüsterte in seine Hände. »Träumen Sie nicht mal davon, Isaac. Der Junge gehört uns. Und wenn Sie Stunk machen, wenn Sie bei irgendeinem Richter ein Geschrei veranstalten, dann werde ich dafür sorgen müssen, dass Sie nicht mehr lange Alexander Hamilton Fellow sind … in St. Louis leihen wir keine Waisenkinder aus.«

Die Chiefs saßen mit säuerlichen Mienen da. Sie trafen vor dem Catfish & Crystal ein. Isaac ging dem Bürgermeister um den Bart, fesselte ihn mit Geschichten darüber, wie er Henry Armstrong Lee gefasst hatte, den meistgesuchten Mann Amerikas. »Wir hatten unsere besten Spitzel auf den Fall angesetzt. Henry Armstrong hatte nicht die geringste Chance.«

Er verschlang ein Dutzend Krabbenpasteten. Und als Loren aufs Klo ging, folgte er ihm. »Ich entschuldige mich, Captain Cole. Ich bin ein bisschen gierig geworden. Aber ich dachte, ich könnte dem Jungen helfen. In New York würde er keine Vergangenheit haben. Er könnte noch mal ganz von vorne anfangen. Ich könnte ihn in einer vernünftigen Schule unterbringen, ihm ein neues Zuhause geben.«

»Das würde auch nichts lösen. Dieser Onkel, er war der einzige Angehörige, den er hatte. Wir halten nichts davon, seine Herkunft zu vergessen … Danke für die Vorlage, Isaac. Aber Kingsley würde in Manhattan an Einsamkeit sterben.«

»Ja, wahrscheinlich haben Sie recht.« Isaac glaubte nicht daran. Entführungspläne spukten ihm durch den Kopf. Aber er konnte nicht gegen ganz St. Louis Krieg führen. In dieser Stadt hatte er keine Spitzel.

Er verabschiedete sich vom Bürgermeister und ging in seine Suite im Breckenridge. Von seinem Schlafzimmerfenster konnte er genau ins Busch Stadium sehen. Es war ein windiger Nachmittag, und Isaac stellte sich vor, wie vor vierzig Jahren Ol’ »Country« Slaughter seine nicht zu haltenden Bälle geworfen hatte. Warum hatte dieser Wicht ihn so aus dem Tritt gebracht? Hatte Isaac in McCardles Augen seine eigene Traurigkeit gelesen? Zusammen hätten sie zwei Waisen sein können. Isaacs Dad hatte ihn verlassen, um als Maler in Paris zu leben. Seine Mutter hatte angefangen, Lumpen zu sammeln, und Isaac war mit Mordgedanken durch die Gegend gelaufen. Das war der Grund, warum er ein so guter Polizist war. Er tanzte gern am äußersten Rand der Gewalt.

Er hatte ein Semester am Columbia College studiert, hatte wie ein Detektiv, der in einem Meer aus Worten nach Spuren fischt, den kompletten James Joyce verschlungen. Er hatte Durkheim und Veblen und Harry Stack Sullivan und Hunderte von Büchern über kriminelle Veranlagung gelesen. Er hatte Vorträge an Polizeiakademien gehalten, hatte mit den besten Pathologen der Welt zu Mittag gegessen. Aber er wusste nicht, welche soziale Pathologie ein Phänomen wie McCardle erklären konnte. War dieser Onkel ein Dämon oder ein gewalttätiger Säufer, der eines Morgens etwas zu lange geschlafen hatte?

Gegen Mitternacht klingelte das Telefon. Isaac erwachte aus einem Fieber. Er war vor der Glotze eingeschlafen, während er Steve McQueen als Cop mit steinernem Gesicht sah. »Hallo?«, knurrte er in den Hörer. »Loren, sind Sie das?«

»Nein, Grandpa. Wann war Slaughters letztes Jahr bei den Cards?«

»Woher hast du meine Nummer, Junge? Hat Captain Cole dir gesagt, du sollst mich anrufen?«

»Ach, alle großen Cops steigen im Breckenridge ab. Welches war Slaughters letztes Jahr bei den Cards?«

»Dreiundfünfzig.« Isaac hatte das Gedächtnis einer Fledermaus. Es waren metallene Regenbogen, die ihn verwirrten, nicht »Country« Slaughter. »Willst du sonst noch was wissen?«

»Trink deine Milch, Grandpa. Wiedersehen.«

Isaac schlief wie ein Baby. Der Wurm störte ihn kein einziges Mal.

Um sieben stand er auf, frühstückte Toast und Tee auf seinem Zimmer, kritzelte eine kurze Mitteilung an das Justizministerium und stieg in die nächste Maschine nach New York. Das Ministerium konnte sich einen neuen singenden Polizisten suchen. Er war nur Isaac Sidel. Er hatte keine Lust, in Seattle ins Bett zu gehen und zu denken, er wäre in St. Louis. Er saß im Himmel und musste sich keine Sorgen darüber machen, gegen metallene Regenbogen zu knallen oder von einem Jungen wie Kingsley McCardle aufgeschreckt zu werden. Er las Newsweek und Time, trank einen Schluck Milch und landete als der ehemalige Hamilton Fellow in New York.

2

Um ihn herum tobte der übliche Wahnsinn, der Wahnsinn der vierzehnten Etage, wo die Commissioner in der One Police Plaza residierten. Isaac vermisste das alte Polizeipräsidium: ein bröckelnder Palazzo in der Centre Street, der jetzt zu Eigentumswohnungen umgebaut wurde. Umgeben von Marmor hatte er in Teddy Roosevelts Büro gesessen wie ein unberechenbarer Fürst, ein Renaissance-Mann, der die grellen Farben des Verbrechens erkannte. In dem Palazzo hatte er das Gefühl gehabt, gebraucht zu werden. Er war die marmornen Stufen hinaufgetanzt, die zu seinem Büro führten, hatte mit Reportern geschwatzt, die jeden einzelnen seiner Schritte verfolgten, Kaffee mit heißer Milch getrunken, der ihm zusammen mit kleinen runden Ricotta-Küchlein aus dem Caffè Roma gebracht wurde. In Little Italy wurde Isaac verehrt. Er war Don Isacco und rein zufällig auch comandante di polizia. Er wurde dottore genannt, wie jeder andere angesehene Mann mit einem Highschool-Diplom.

Doch das neue Polizeipräsidium war ein Grab aus Ziegelsteinen. Es gab weder Cafés noch steinerne Löwen noch die privaten Terrassen eines Palazzos, Hinterlassenschaften einer prächtigeren Zeit, als ein Polizist noch so etwas wie ein consigliere war, der Auseinandersetzungen schlichtete und Babys zur Welt brachte und Einbrechern eins auf die Mütze gab. Heute bestand die Schar von Isaacs Cops aus unnahbaren Funktionären, die aus einem Himmelsbunker heraus operierten.

Zwei Wochen war er nicht im Büro, und es war, als wäre er nie fortgewesen. Seine Deputies machten sich auch ohne Don Isacco prächtig. Sie hatten ihre eigenen kleinen Territorien zu schützen. Sie schlossen ihre eigenen Bündnisse, während der PC irgendwo in San Diego war und für sein Essen trällerte. Er musste zwei seiner Sergeants bitten, das Gebäude nach dem First Deputy Commissioner abzukämmen, der das Department leitete, ob Isaac nun fort war oder nicht. Isaac sprach auf Banketten. Isaac unterhielt sich mit der Witwe eines Cops. Er nahm mit der Ehrenwerten Rebecca Karp, der Bürgermeisterin von New York, an Pressekonferenzen teil, aber er hätte nicht sagen können, wie viele Cops an einem bestimmten Tag draußen auf den Straßen waren.

Sein First Dep war ein Schwarzer von knapp zwei Metern. Carlton Montgomery III. Er kam aus der schwarzen Bourgeoisie. Sein Dad war Zahnarzt gewesen. Auf der Etage des Commissioners nannte ihn niemand Carlton. Er hieß einfach Sweets, nach Sweetwater Clifton, dem ersten schwarzen Basketball-Spieler bei den New York Knicks. Aber dieser Sweets war nie Basketball-Profi gewesen. Er hatte Isaac im John Jay College of Criminal Justice einen Vortrag halten hören, zitternd wie ein Unglücksprophet, der einen Sprechgesang über die Brutalitäten des Stadtlebens intonierte. Und Sweets hatte beschlossen, Cop zu werden. Er war Isaacs rechtmäßiger Erbe, vielleicht der nächste PC.

Sweets trudelte nach dem dritten oder vierten Aufruf ein. In Williamsburg gab es eine Krise. Die Chassidim steckten mitten in einem neuen Krieg gegen die Schwarzen. Kinder waren verletzt worden. Und Sweets musste Rabbis und Geistliche und Aktivisten zusammenbringen und dafür sorgen, dass sie sich an einen Tisch setzten. Vor drei Jahren wäre Isaac selbst nach Williamsburg hinausgefahren. Aber er wurde zunehmend unnahbarer. Er hielt Vorträge und verschwand wieder, wie ein Kardinal oder ein Staatschef.

»Sweets«, sagte er, »gibt es irgendwas, das ich wissen sollte?«

»Was zum Beispiel, Isaac? Die Moral in Manhattan North ist auf einem beschissenen Tiefpunkt. Die Polizeischule schickt uns Kids, die nicht mal mit einer Kanone umgehen können. Wir haben Sergeants, die zu alt sind, um sich auf den Beinen zu halten. Internal Affairs lässt mein bestes Revier hochgehen. Berichte über Polizeibrutalität sind um neun Prozent mehr geworden. Wir haben immer noch zu wenige Latinos, die die Sergeant-Prüfung bestehen. Wir haben hier eine gottverdammte irische Dominanz, die dauernd über ihren Nigger-First Dep und ihren Pink Commish meckert, der vor den Knights of Columbus über Stalin referiert.«

»Ja«, sagte Isaac, »aber was gibt’s Neues?«

»Die Rastafaris kontrollieren immer größere Teile des Drogenhandels.«

»Jesus, ich bin nicht Rip Van Winkle. Ich schlafe nicht an meinem Schreibtisch. Die Rastas haben Brooklyn schon versorgt, als ich noch First Dep war.«

»Goodstein ist seit einem Monat nicht mehr aufgetaucht.«

»Ah«, sagte Isaac. »Ein ganzer Monat.« Maurice Goodstein war der beste Mob-Anwalt, den New York je gehabt hatte. Angefangen hatte er als junger Assistant District Attorney in den Wäldern Brooklyns. Er hatte ein halbes Dutzend Mafiosi in den Knast geschickt. Sein Papa war als Richter gestorben. Er hatte die besten Rabbis der Stadt auf seiner Seite. Er hätte der neue Bundesanwalt für den Southern District von New York werden können. Was ihm vielleicht einen Sitz im Senat eingebracht hätte. Doch er fiel in Brooklyn in Ungnade und eröffnete seine eigene Kanzlei. Innerhalb eines Jahres bot ihm jeder wichtige Don von Syracuse bis Staten Island ein jährliches Fixum an. Die Feds kreischten und schrien und nannten ihn die größte Gefahr des Landes, den Al Capone der Gerichte. Aber er dinierte immer noch im Four Seasons und ging mit Botschaftern und ehemaligen Außenministern auf Partys.

»Lebt er noch?«, sinnierte Isaac mehr für sich selbst.

»Die Statistik spricht eigentlich dagegen, aber trotzdem würde ich sagen, ja. Maurice ist ein gerissener Bursche.«

»Aber was zum Teufel wird draußen auf der Straße geredet?«

»Gar nichts, Isaac. Das ist ja das Problem. Kaum erwähnt man Maurie Goodstein, schließt sofort jedes kleine Arschloch seine Äuglein und spielt toter Mann.«

»Kein einziger verdammter Don besitzt diese Macht. Sweets, es steckt was anderes dahinter.«

»Ich hab zu tun, Isaac. Ich mach mir Gedanken über Mauries Schicksal, wenn ich das nächste Mal auf dem Scheißhaus sitze.«

Carlton Montgomery III ging zur Tür. Isaac fragte sich, wer hier eigentlich der Commissioner war. In diesem Ziegelsteingrab kam er sich wie ein Pensionsgast vor. Aber er wusste, dass Sweets nie gegen ihn intrigieren würde. Der First Dep war Isaac gegenüber so loyal, wie ein »Commish« einem anderen gegenüber nur sein konnte. Sicher, da gab es die Frage der Hautfarbe. Aber Isaac war viel zu wild, um hundertprozentig für einen Weißen gehalten zu werden. Und Sweets spielte auf der Commissioner-Etage nicht den Nigger. Er leitete das Department. Er ließ selbst die Peitsche knallen.

Vor der Tür des PC blieb er stehen. »Isaac, eins noch. Wieso bist du zurückgekommen?«

»Ich hatte es satt, mit Police Captains zu Mittag zu essen.«

»Du hast einen Vertrag mit dem Justizministerium. Du hättest die Rundreise zu Ende bringen sollen. LeComte wird dich zur Sau machen. In Zukunft keine Gefälligkeiten mehr vom FBI. Keine Sonderbehandlung. Kein Bares.«

»Um LeComte kümmere ich mich schon«, sagte Isaac, und Sweets war fort.

Aber fünf Minuten später rief LeComte aus D.C. an. Isaac musste sich wie ein rabbinischer Schüler entscheiden, ob er den Anruf annehmen oder LeComte eine Woche in der Luft hängen lassen sollte, sich dumm stellen, krank spielen oder den gestressten Commissioner geben, der keine Zeit hatte, mit der Nummer Drei im Justizministerium zu sprechen. Er nahm den Anruf an.

Frederic LeComte war der Kulturkommissar des Justizministeriums. Das Finanzministerium hatte Angst vor ihm. Die Bundessteuerbehörde schickte ihm Weihnachtskarten. Die CIA lud ihn zu ihren montäglichen Brunches nach Langley ein. Ihm standen sämtliche Ressourcen des FBI zur Verfügung. Er stammte aus Salt Lake City, ein Poet, der Polizist geworden war. Er war ehemaliger Rhodes-Stipendiat. Er hätte Diplomat werden können. Doch das Justizministerium war ihm lieber. Die Hamilton Fellows waren seine Idee gewesen. Er wollte, dass sich Cops aus dem ganzen Land trafen und sich gegenseitig aus ihrer gewohnten Trägheit rüttelten. Und Frederic LeComte hatte sich für Isaac entschieden, weil Isaac der unorthodoxeste PC in ganz Amerika war, ein hebräischer Gelehrter des Verbrechens, der nicht an die Magie der Software glaubte. Aber Isaac war im Justizministerium alles andere als beliebt. Er mischte sich zu oft in FBI-Angelegenheiten ein, und LeComte hatte das Justizministerium erst überzeugen müssen, Isaac als ersten Hamilton Fellow zu akzeptieren. Und jetzt hatte Isaac LeComtes Vertrauen verraten.

»Sie Arschloch«, sagte LeComte, »Sie elendes, undankbares Arschloch.«

»Ich hoffe, Sie schneiden dieses Gespräch auf Band mit«, sagte Isaac. »Ich wäre enttäuscht, wenn Sie es nicht täten.«

»Ich kann den Gouverneur anrufen, Isaac. Ein Anruf, mehr ist nicht nötig. Wir kontrollieren die Hälfte Ihres Etats. Ich will, dass Sie um sechs in der Maschine nach Wichita sitzen.«

»Geht nicht«, sagte Isaac.

»Wieso nicht?«

»Mein Bandwurm.«

»Bandwurm? Ich werde Ihnen Ihr gottverdammtes Herz rausreißen. Ich ziehe Ihnen diesen Wurm raus und erdrossele Sie eigenhändig damit. Sie schulden mir was, Isaac.«

»Ja, stimmt. Aber ich kann nicht mehr auf Tour gehen, LeComte. Ich kann nicht. In St. Louis habe ich einen Jungen kennengelernt, einen Waisen, und ich habe erkannt, dass mein ganzes Gerede nichts als Zeitverschwendung war.«

»Kommen Sie mir nicht mit Waisenkindern«, sagte LeComte. »Ich will, dass Sie diese Maschine nehmen.«

»Na schön, LeComte, dann lassen Sie mich doch rausschmeißen. Gehen Sie im Bureau meine Akten durch und finden Sie raus, wie viele Frauen ich geküsst und wie viele illegale Festnahmen ich gemacht habe.«

»Ich könnte noch viel Schlimmeres tun, erheblich Schlimmeres.«

»Ich weiß«, sagte Isaac. »Aber Sie werden nicht. Ihnen ist doch auf diesem Stuhl ein Scheißkerl wie ich lieber als ein Kreuzzügler, mit dem Sie nicht zusammenarbeiten können … Ich brauche eine Verschnaufpause. Ich werde schon wieder auf Tour gehen. Vielleicht. Nächsten Monat.«

»Zehn Tage, Isaac. Mehr haben Sie nicht.«

»Ich entscheide, wann der Urlaub vorbei ist. Und jetzt erzählen Sie mir was über Maurice.«

Isaac konnte diesen winzigen Augenblick der Stille spüren. Er hatte LeComte erwischt, egal, was der Kommissar sagte.

»Sie meinen den kleinen Maurie Goodstein? Der liegt wahrscheinlich auf dem Grund irgendeines Sees. Wo er auch hingehört.«

»Da höre ich aber was anderes«, sagte Isaac. »Ich höre, er lebt.«

»Nun, Sie sind näher dran, Isaac. Ich sitze hier in Washington. Wir sprechen im Justizministerium nicht besonders oft über Maurie.«

»Glaub ich sofort«, sagte Isaac. »Was für einen Deal haben Sie gemacht, um Maurie aus dem Verkehr zu ziehen? Er hat allen Ihren Anwälten eins übergebraten. Sie bringen keine Verurteilung zustande, solange Maurie frei rumläuft. Wo ist er, LeComte?«

»Sie sind doch hier der Zauberer, Isaac. Sie sind Sherlock Holmes. Sagen Sie’s mir.«

Und LeComte legte auf. Isaac war nicht für Goodsteins Leben oder Tod zuständig. Er mochte Maurice nicht mal besonders. Aber er bewunderte Maurice’ Raffinesse im Gerichtssaal. Maurie war gerade mal einssechzig groß. Aber er konnte sich aufblasen wie ein junger Stier und jeden Zeugen der Anklage in der Luft zerreißen.

LeComte hatte recht. Isaac hatte etwas von Sherlock Holmes, aber ohne die Geige, das Kokain oder einen linkischen Doktor, der seine Geschichten erzählte. Er war ein »Amateur« des Verbrechens geworden.

An seiner Milchflasche nuckelnd marschierte er aus dem Präsidium. Wie ein Soldat streunte er im Zickzack durch die Stadt und schüttelte jeden Schatten ab, den LeComte womöglich auf ihn angesetzt hatte. Er betrat und verließ Gebäude, benutzte Hintereingänge, die nicht einmal ein Bewohner des Viertels kennen würde. Isaac besaß eine Karte jeder noch so kleinen Gasse in den fünf Boroughs. Er landete in einer alten Hemdenfabrik am Rand von Chinatown, stieg eine Treppe hinauf und war in seinen eigenen »Gewässern«, dem Special Department des PC. Dieses Department funktionierte wie ein Nachrichtendienst. Es spürte radikale Gruppen auf, verrückte Bombenleger und die sicheren Häuser von Geheimagenten anderer Länder.

LeComte stellte das Geld zur Verfügung. LeComte brauchte einen Verbindungsmann in New York. Aber das Justizministerium kannte den eigentlichen Umfang von Isaacs Bestrebungen nicht. Der PC bespitzelte alle Spitzel. Er konnte in seiner Stadt nicht einfach hundert verschiedene Geheimdienste fröhlich unter dem Schutz von hundert verschiedenen Flaggen werkeln lassen. Isaac standen nicht die Ressourcen des Justizministeriums zur Verfügung. Er hatte nicht einen einzigen echten Agenten unter seinen Leuten. Aber er hatte seine Kontakte zu Schläfern des bulgarischen Geheimdienstes oder des KGB gepflegt: Schlechtgelaunte Männer oder Frauen, die sich gern mit Isaac in eine ruhige Ecke setzten und über Philosophie, Religion oder die Winter in New York schwadronierten. Isaac verlangte von diesen Schläfern nie, dass sie sich selbst kompromittierten, aber aus einem Wort hier und einem Wort da nähte er sich seine eigene Flickendecke und konnte sagen, ob der KGB irgendeine große Sache plante. Isaac konnte nicht selbst zuschlagen. Aber er konnte einen Observationstrupp abstellen und etwas von dem verrückten Tanz zwischen den verschiedenen Spionen mitkriegen. Wenigstens blieb er so nicht im Unklaren über all die Armeen, die in seinem Dorf operierten.

Doch seine eigenen Schläfer hatten nichts Neues für Isaac. Sie waren keine offiziellen Polizisten. Außerhalb des Special Department existierten sie nicht. Sie hatten weder einen Rentenanspruch noch einen Ort, an dem sie sich zur Ruhe setzen konnten. Aber die Abteilung hatte einen Codenamen: Ivanhoe. Und sie waren Isaacs abtrünnige Cops, ehemalige Söldner und Knastvögel, denen der PC sein Leben anvertrauen musste. Isaacs Ivanhoes. Es war eigenartig mittelalterlich. Geächtete mit ihrem eigenen Geheimbund. Gefallene Ritter, die in einer alten Hemdenfabrik lebten.

Burton Bortelsman war ihr Kommandant. Er war ein Flüchtling aus Kapstadt. Er war Captain bei der Kriminalpolizei gewesen, mit hundert Detectives unter seinem Kommando. Aber er hatte im Rausch einen Mann getötet, den ehemaligen Liebhaber einer Frau, von der er behauptete, sie wäre ihm gleichgültig. Und Bortelsman hatte das Land verlassen müssen. Er hatte seinen Weg zu Isaac gefunden. Und wurde ein weiterer Ivanhoe.

»Hecken die Russkis irgendwas aus?«, fragte Isaac pro forma.

»Nichts Besonderes. Sie mussten einen ihrer Dechiffrierer nach Moskau zurückschicken.«

»Eine kleine außerplanmäßige Liebelei oder was?«

»Genau. Ein echtes Prachtstück. Sie stammt direkt aus einer Wiege des britischen Geheimdiensts. Der Mann tut mir leid. Sie ist eine echte Klassefrau, Isaac. Glaub mir.«

»Und die Syrer?«

»Die schlafen.«

»Dann tu mir einen Gefallen, Burt. Seit einem Monat wird ein Mob-Anwalt vermisst. Ich glaube nicht, dass die Mafia ihn kaltgestellt hat. Er ist viel zu wertvoll.«

»Maurice Goodstein.«

Isaac lächelte. »Ich wüsste gern, was mit Maurice passiert ist.«

»Ich würde sagen, der hockt auf einem Hochseil irgendwo zwischen Absturz und Zeugenschutzprogramm.«

»Dann hat das Justizministerium ihn sich gegriffen. Und er wird sein Liedchen über ein paar Dons singen. Aber das klingt nicht nach Maurice. Er ist ein Kämpfer.«

»Aber LeComte könnte ihm seine Kampfeslust ausgetrieben haben. Er legt die Menschen aufs Kreuz … dauernd. Wieso nicht auch Maurice?«

»Sieh dich ein bisschen um, Burt.«

»Das könnte LeComte vor unsere Tür locken. Ich kann Maurice nicht ausfindig machen und dabei unsichtbar bleiben.«

»In Ordnung«, sagte Isaac. »Aber zieh nicht zu viele mit rein. Es macht mir Sorgen, dass Maurice einfach so verschwinden konnte. Und es gefällt mir nicht, dass LeComte in mein Territorium eindringt. Finde Maurice.«

Und Isaac verließ die alte Hemdenfabrik und seine Ivanhoes. Er dachte nicht an Maurice. Er hatte Kingsley McCardle im Kopf, den Waisenjungen aus St. Louis.

Draußen auf der Straße lief es Isaac kalt den Rücken hinunter. »Enos Slaughter«, brummte er vor sich hin, bevor er sich auf seinen gewundenen Weg zur One Police Plaza machte.

3

Scheiß auf das FBI. Irgendein anderer würde für Frederic LeComte den Alexander Hamilton spielen müssen. Isaac war nicht nach Verreisen. Die Nachmittage verbrachte er in seinem Büro und dachte über den braunen Overall des jungen McCardle nach. Was ihn in seine eigene Zeit als Schulschwänzer in der Lower East Side zurückversetzte, als er der Schrecken der P.S. 88 gewesen war, einer Schule, die wie eine französische Kathedrale aussah, mit Wasserspeiern in der Form irgendwelcher grotesker Dämonen, die auf den Fenstersimsen kauerten und einem blauen Regen auf den Kopf spuckten. Niemand hatte eine Erklärung für den blauen Regen. Vielleicht hatten die Wasserspeier eine kalkhaltige Substanz in ihren steinernen Mäulern. Isaacs Dad hatte die Familie verlassen und war nach Paris gegangen, um dort zu malen. Und Isaac blieb mit seinem kleinen Bruder Leo und seiner Mom zurück, die einen Trödelladen aufmachte. Er entwickelte sich zu einem schrecklichen Dieb. Er stahl, um zu überleben und um etwas von der Wut auf seinen Dad verrauchen zu lassen. Er fühlte sich zur Waise gemacht, wie McCardle. Der Junge trug Isaacs eigenen inneren Aufruhr in sich. Nach einer Weile kehrte Isaacs Dad zurück. Doch er gehörte nicht mehr zur Familie. Er war wie ein Mann in einem Spukhaus. Er ging wieder nach Paris, als Isaac achtzehn war. Und Isaac verließ das College, um zu heiraten und Supercop zu werden.

Er war eingeladen worden, vor dem Christy Mathewson Club zu sprechen, einer Bruderschaft von Fans, die Aufzeichnungen und Memorabilien über den Baseball sammelten, wie er vor dem zweiten Weltkrieg gespielt wurde. Die Christys waren Antiquare. Joe DiMaggio war für sie fast schon zu modern. Die Geschichte hörte für sie nach dem Niedergang von Babe Ruth auf. Baseball war Isaacs große Leidenschaft gewesen, Baseball und Schach. Zweimal wöchentlich hatte er sich heimlich auf die Polo Grounds geschlichen, sich unter einem Zaun durchgebuddelt, um seine geliebten Giants zu sehen. Und er war sein eigener Enzyklopädist geworden. Sein Wissen hätte für die Christys nicht viel bedeutet, wäre Isaac nur irgendein einsamer Wolf gewesen, der in einem Verschlag lebte. Aber der Police Commissioner war schon was. Der Club konnte aus Isaacs Ruhm Kapital schlagen.

Isaac verstand den besonderen Kodex des Clubs. Die Christys glaubten an ein Amerika ohne Jackie Robinson, als Baseball noch die Domäne des weißen Mannes war und schwarze Männer in ihrer eigenen kleinen Liga lebten und starben. Aber die Christys waren nicht der Ku Klux Klan. Sie waren auf ihre eigene absonderliche Art rassistisch. Sie hatten schwarze Mitglieder, die sich die Märchen weißer Männer über Ty Cobb und Tris Speaker und die Schande von Shoeless Joe anhörten. Isaac hätte den Club boykottieren können. Aber er wollte mit diesen Antiquaren reden. Die Christys wussten, dass es schon lange vor Jackie Robinson schwarze Spieler in den Big Leagues gegeben hatte. Wie zum Beispiel Bones McClintick, der als Indianer herausgeputzt wurde, als er vor hundert Jahren in Louisville spielte. Und die Gebrüder Emery, Slats und Charles, die um die Jahrhundertwende ihren Spaß in der National League hatten. Es hatte andere gegeben, die mit blauen Augen gesegnet (oder geschlagen) waren, Männer und Jungen, die von irgendeiner Farm kamen und zweckmäßige Spitznamen wie Tadpoles oder Mad Tom annahmen. Isaac selbst hatte sich in die Namen der Catcher und Pitcher und First Basemen verliebt, die zu einer Ära gehörten, als jedes Dorf seine eigene Mannschaft auf den Platz schicken konnte. Isaac war im Grunde seines Herzens ein Hillbilly. Er hielt seine Vorträge nie des Geldes wegen. Was er damit einnahm, stiftete er der Police Athletic League.

Und so kam er vor dem Club an, einem blauen Sandsteingebäude an der East Twenty-ninth. Die Christys besaßen ein eigenes Haus. Sie waren reich wie ein byzantinischer König. Dem Club gehörten mehrere Banken und ein ganzer Block Stadthäuser. Auf einem Plakat vor dem Club erblickte Isaac sein eigenes Konterfei. Er sah aus wie ein Großvater, mit grauen Koteletten und tiefen Falten auf der Stirn. Es erschreckte ihn, wie sehr er gealtert war. Er war immer noch der Junge, der sich unter dem Zaun durchbuddelte.

Er hatte seinen Vortrag vorbereitet. Er wollte über die Litanei der Namen sprechen, die Isaacs Amerika ausgemacht hatten. Heutzutage war er vergesslich und musste sich die Namen seiner eigenen Commissioners und ihrer Frauen immer wieder ins Gedächtnis rufen, aber die Namen und Statistiken der Männer, die vor seiner Geburt gespielt hatten, kannte er auswendig. Baby Doll Jacobson. Sad Sam Jones. Roger Peckinpaugh.

Das Auditorium war bis auf den letzten Platz gefüllt. Isaac wurde von Schyler Knott, dem Präsidenten des Christy Mathewson Clubs, begrüßt. Schylers Großvater war Captain der Baseball-Mannschaft von Princeton gewesen. Und Schyler selbst hatte auf der Swarthmore oder Hamilton oder irgendeiner anderen Schule, die Isaac sich nicht merken konnte, als Second Baseman gespielt. Er war Investment-Banker in der Firma seines Großvaters. Ein merkwürdiger Mann von sechs- oder siebenunddreißig Jahren. Er wirkte ganz und gar nicht wie ein Antiquar. Er trug die Kleidung eines Bankers, hatte aber nicht wie die übrigen Christys die Ausstrahlung eines Absolventen einer Eliteschule. Schyler würde Jackie Robinson gefeiert haben. Aber er hatte den Vorsitz über einen Club, der Willie Mays nicht einmal erwähnen durfte.

Eifrig schüttelte er Isaacs Hand. Er war blonder als ein Filmstar. Er machte sich nicht die Mühe, Isaac nach seiner Rede zu fragen. Und Isaac begann sich heimtückisch zu fühlen. Heute Abend werde ich mit Mord davonkommen.

»Wo ist Maurie Goodstein?«, fragte Schyler.

Und Isaac zwang sich zu einem Lächeln. An der Wand hingen Fotos von Mathewson und Babe Ruth und Three Finger Brown. Little Maurice schien nicht in ihre Gesellschaft zu gehören.

»Ich bin mit ihm auf die Colgate University gegangen«, sagte Schyler. »Er war ein Freund. Außerdem ist er Clubmitglied. Ich bin sicher, er hätte Ihre Rede auch hören wollen.«

»Mir gegenüber hat er die Christys nie erwähnt.«

»Sie kennen doch Maurice«, sagte Schyler. »Wollte den Ruf des Clubs nicht in Gefahr bringen. Aber er hat in unserem Vorstand gesessen. Er war unser bester Spendensammler.«

Urplötzlich kamen Isaac die Christys gar nicht mehr so antiquarisch vor. Hatte der Club vielleicht unter Mauries Regie für irgendeinen Don aus Staten Island Geld gewaschen? Es juckte Isaac, den Antiquaren einfach zu entfliehen, aus diesem Haus der Toten wegzulaufen.

»Schyler, wir haben nicht die geringste Spur von Maurice.«

»Aber Sie müssen doch irgendwelche Theorien haben.«

»Natürlich. Aber das ist polizeiintern. Ich würde niemals meine Detectives gefährden, die dort draußen arbeiten.«

»Das ist das Problem«, sagte Schyler. »Ich war der letzte, der Maurie gesehen hat. Und nicht einer Ihrer Detectives hat sich die Mühe gemacht, an unserer Tür anzuklopfen. Maurie hat mit mir im Club zu Mittag gegessen.«

»Wirkte er irgendwie beunruhigt?«

» Ganz und gar nicht.«

»Denken Sie nach, Schyler«, sagte Isaac, wieder ganz Polizist und nicht der große Baseball-Fan.

»Er war fröhlich … für seine Verhältnisse. Hatte einen neuen Freund, nehme ich an.«

»Hat er einen Namen genannt?«

»Nein.«

»Was ist mit einem Beruf? Was hat dieser Freund gemacht?«

»Ich bin nicht sicher. Könnte sein, dass er Krankenpfleger war. Maurie erwähnte irgendein Krankenhaus.«

»Welches Krankenhaus?«

»Das weiß ich nicht mehr. Und es ist jetzt auch nicht der richtige Augenblick für ein Verhör, Isaac. Sie sind unser Gastredner.«

Schylers Blondheit war fort. Er hatte dieses geschmeidige, jugendliche Aussehen verloren. Er war nur ein weiterer Antiquar. Und Isaac mischte sich unter die anderen Mitglieder des Clubs. Er wanderte ein Gesicht nach dem anderen ab, bis er schließlich vor einem anderen alten Mann stehenblieb. Isaac spürte eine erbarmungslose Anziehungskraft.

»Der Bomber«, sagte er. »Harry Lieberman.«

Der alte Mann lachte. »Ja«, sagte er. »Ich bin Harry. Ich wollte Ihnen schon eine Ewigkeit mal sagen, wie sehr ich ihre Haltung bewundere. Sie sind der beste Commissioner, den wir haben.«

»Das sieht nicht jeder so. Aber sie hätten mir schreiben können … oder mich anrufen.«

»Ich bin zu schüchtern«, sagte der alte Mann, und Isaac erkannte die großen, unverwechselbaren Hände des Bombers wieder.

»Sie sind mein Held gewesen«, sagte Isaac. »Ich habe Ihnen zwei ganze Spielzeiten von der Tribüne aus zugesehen. 1944 haben Sie fünfundzwanzig Home Runs geschlagen.«

»Mr. Commissioner, die Hälfte unserer Talente war im Ausland. Ich bin nicht mal mehr in die Nähe der Mannschaft gekommen, als die Stammspieler zurück waren. Deshalb bin ich auch in die mexikanische Liga gegangen. Den größten Teil meines Lebens habe ich in Minor Leagues gespielt. Hätte es keinen Krieg gegeben, wäre ich heute noch bei den Jersey Giants.«

Ja, das war die rabbinische Seite der Geschichte. Der zweite Weltkrieg hatte die Major Leagues ausgetrocknet. Und ohne DiMaggio oder Greenberg oder Ted Williams war der Baseball zu einem einzigen großen Provinzler-Team verkommen. Aber der Bomber war kein zweitklassiger Spieler gewesen. Er hatte den Schläger und diese riesigen Baseballhandschuhe. Im Verlauf des Krieges war er besser geworden. Isaac erinnerte sich an seine katzenartigen Bewegungen, seine Art, das gesamte Infield der Cardinals zu verspotten. Er hätte der Joe DiMaggio der New York Giants werden können. Aber er unterlag diesem Mythos des zweitklassigen Baseballspielers und den Trash-Mannschaften, die der Krieg hervorbrachte. Der Bomber hätte 1946 nicht verschwinden dürfen. Er war das Opfer seines eigenen Bürgerkrieges. Hätte er nicht von einer Army-Uniform geträumt, wenn er am Schlagmal stand, hätte er noch hundert weitere Home Runs schlagen können.

»Ich hätte gern Ihr Autogramm«, sagte Isaac.

Der alte Mann bedeckte sein Gesicht mit diesen großen Händen. »Hören Sie auf. Sie sind heute der Bomber.«

»Bitte«, sagte Isaac.

Und der Bomber setzte seine Unterschrift auf das Programmheft, das die Christys für Isaacs Vortrag vorbereitet hatten. Für den Commissioner. Von Harry Lieberman, Ihrem größten Fan. 29. November 1982.

Isaac hätte am liebsten geheult. Nicht weil er einfach nur traurig war, den Sportler erst als alten, ergrauten Mann kennenzulernen. Isaac hegte keinerlei Sentimentalitäten bezüglich der Sterblichkeit von irgendwem. Aber der Bomber war der Geist eines Spielers, der in Isaacs Herz eingedrungen und dann in irgendeine ewige Kindheits-Liga entschwunden war …

Schyler Knott führte Isaac zum Podium.

Es wurde applaudiert.

Isaacs Schultern bebten. Er spürte, wie sich der Wurm regte. Doch der PC hatte seine Flasche Milch nicht dabei. Es war ihm egal. Der stinkende Wurm würde Isaac nicht zum Schweigen bringen. Er hätte über den Black-Sox-Skandal aus dem Jahr 1919 sprechen können und über den Untergang von Ed Cicotte, Swede Risberg, Chick Gandil und Shoeless Joe mit seiner Batting-Average-Statistik von 0,356. Aber das alles wäre nur albernes Zeug gewesen, weil Isaac von anderen Glücksspielern wusste, von anderen abgekarteten Spielen, die nie veröffentlicht, nie an die große Glocke gehängt worden waren, und wieso sollte er die Helden der Christys in den Schmutz ziehen? Don Isacco war nicht gehässig. Aber er wollte die Antiquare ein bisschen quälen. Liebend gern hätte er Willie Mays erwähnt, aber er musste sich im Rahmen der Clubregeln bewegen. Also beschloss er, über Josh Gibson zu sprechen, den großen schwarzen Catcher der Nigger-Leagues, der während des zweiten Weltkrieges zu den Washington Senators gehen sollte. Die Senators kniffen und Josh verfiel in eine Art Wahnsinn, hielt in seinem Kopf Zwiesprache mit DiMaggio, fragte Joe, wieso er Josh nicht erkannte.

Josh Gibson und Joe DiMaggio.