Marilyn the Wild - Jerome Charyn - E-Book

Marilyn the Wild E-Book

Jerome Charyn

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  • Herausgeber: Diaphanes
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Isaac Sidel, Deputy Chief Inspector mit unorthodoxen Methoden, herrscht über das härteste Pflaster New Yorks wie ein Patriarch. Babyhuren, marodierende Jugendgangs, Intrigen im Polizeiapparat sind sein Alltag. Aber was er nicht zu bändigen weiß, ist seine eigene Tochter, Marilyn the Wild. Mit 25 dreimal geschieden, ist sie neuerdings Manfred Coen verfallen, Isaacs Ziehsohn und Partner. Was die Balance zwischen Isaac und Coen gehörig in Schieflage bringt. Zugleich brodelt es in Isaacs Stammrevier, der jüdisch-puertoricanisch-chinesisch-italienisch geprägten Lower East Side. Eine auf Rache sinnende Jugendbande hat es auf Marilyn abgesehen. Für Isaac Sidel wie für »Blue Eyes« Coen steht viel auf dem Spiel.

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Seitenzahl: 305

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Jerome Charyn

Marilyn the Wild

Inhalt

Teil Eins

Teil Eins

1

»Blue Eyes.«

Sie war seinem unebenen Gesicht verfallen, den hohen Wangen, die urplötzlich eine beängstigende Färbung annehmen konnten. Die Sprenkel in seinen Augen konnten bei jedem Mädchen Schaden anrichten, das gerade ihrem Ehemann davongelaufen war. Sie wollte nicht schon wieder ins Netz gehen. Sie war wegen russischen Tees, praller Kissen und der Annehmlichkeiten eines vorübergehenden Zuhauses zu ihm gekommen.

»Marilyn«, sagte er mit einem Näseln, das sie zusammenfahren ließ. Er hatte die Stimme ihres Vaters. Und sie war nicht bereit, auf Coens Bett mit Isaac zu ringen.

»Marilyn, wär’s nicht besser, du redest mit Isaac?«

»Der kann mich mal.« Sie hatte erst vor einer Stunde ausgepackt. Ihr Koffer lag unter Coens Wäschesack. Sie hatte vor, ihre schmutzige Unterwäsche mit seiner zu vermischen. Mit dem Woolite, das sie mitgebracht hatte, würde sie sie in der Wanne einweichen, wenn Coen zur Arbeit gegangen war.

»Und wenn er dahinterkommt, Marilyn? Ich bin kein besonders guter Lügner.«

Sie nahm sein Schlüsselbein zwischen die Zähne und versetzte ihm gekonnte kleine Bisse, die den Mann ihres Vaters erregen sollten. Sie würde keinen Einspruch zulassen. Sie bohrte ihre Nippel in seine Brust. Sie ließ Spucke unter seinen Arm laufen. Doch sie würde in die Falle gehen, Coens Opfer werden, wenn sie nicht seine Augen mied.

Immer wenn sie schwach wurde und seinen infernalisch blauen Blick zuließ, senkte sie den Kopf und leckte die Narben auf seinem Rücken (Souvenirs, die Coen sich auf der Straße geholt hatte) oder starrte das Holster auf seinem Schreibtisch an.

Sie setzte sich rittlings auf ihn und rieb seinen Schwanz mit einem nassen Finger. Jetzt konnte das Blau ihr nichts mehr anhaben. In Coens Augen traten unreine Schlieren. Sie stieß ihn in sich hinein, molk ihn mit dem Druck ihrer Schenkel, bis sie jeden Gedanken an Isaac verlor, und an diesen Ehemann da, einen Architekten aus Brooklyn, und auf Coens sanften Körper reagierte.

Zwei Scheidungen mit fünfundzwanzig. Ihr Verschleiß an Ehemännern war größer als der jedes anderen Bronx-Manhattan-Mädchens, das vom Sarah Lawrence College kam. Isaac war immer zur Stelle gewesen und hatte neue Ehemänner für sie gefunden, vornehme, studierte Herren mit Vierzigtausend-Dollar-Jobs. Ihr Vater saß im Präsidium hinter den getäfelten Wänden des First Deputy Police Commissioner. Man hatte ihn, soweit sie gehört hatte, nach Paris eingeladen. Als Besten Cop der Welt (des Jahres 1970/71) oder so was in der Art. Und Coen ließ sich von Isaac herumschubsen, als Spion des First Deputy.

Sie atmete tief durch die Nase und roch Coens blondes Haar. Fünfmal kam sie; ihre Zunge zog sich in ihren Mund zurück. Jetzt konnte sie ihn bitten.

»Komm in mir, Manfred, bitte.«

Sie sah das Zögern auf seinen Lippen. Er fürchtete, Isaacs Mädchen zu schwängern und seinem Chief einen Enkel anzuhängen, einen kleinen Coen. Doch Marilyn war ein Dickkopf. Sie ließ ihre Wange über Coens pochenden Kiefer streichen. Sie begriff, wie abgründig dieser Cops ihres Vaters war. Er war ein schüchterner Junge, ein gutaussehender jüdischer Waisenknabe mit dem Hang, die gesamte Traurigkeit der Bronx in sich aufzunehmen: Seine Eltern hatten beide Selbstmord begangen. Sie löste die Anspannung seiner Kehle mit dem Fleisch ihrer Schulter und den kräftigen Knorpeln ihres Ohrs.

Mit dem Telefon hatte Marilyn nicht gerechnet. Coen war schneller aus ihr draußen, als sie den Hörer unters Bett kicken konnte. »Fuck«, sagte sie, weil ihr nichts anderes einfiel.

Sie hockte sich neben Coen, um ihren Vater zu hören. Er rief vom Times Square aus an. »Manfred«, krächzte er, »Marilyn hat wieder mal ihren Mann verlassen. Hat sie sich bei dir gemeldet?«

»Nein«, sagte Blue Eyes. Marilyn war froh, dass seine Erektion unter dem Druck ihres Vaters nicht verging.

»Bleib, wo du bist«, sagte Isaac. »Sie kommt immer zu dir.«

Coen kam ohne Rute wieder ins Bett. Marilyn konnte dem Cop nicht böse sein. Ihr Vater hatte halb New York City an den Eiern.

»Blöd ist Isaac nicht«, sagte sie. »In seinem Kopf hat er mich kartografiert wie ein Monopolibrett. Alle meine Rastplätze kennt er, mein Vater. Jedes Wasserloch.«

»Nun sei doch nicht so, Marilyn. Er macht sich Sorgen um dich.«

»Wach auf, Manfred. Dir geht’s wie mir. Wir stehen auf seiner Liste. Schließlich sind wir beide geschieden, oder?«

Und sie brachte den Cop zum Lachen. Wer weiß, vielleicht verliebte sie sich ja in ihn, wenn er nur dreist genug wäre, seine Dienstmarke zu zertreten und Isaac ins Gesicht zu spucken. Doch sie durfte nicht zu streng mit ihm sein und ihn mit Fantasien und Erwartungen strangulieren. Coen war Coen.

Es war nicht das Büro des First Deputy, für das Isaac sich auf dem Times Square herumtrieb, in verlotterten Bars hockte und in die Schaufenster von Pornoläden spähte. Er war in privater Mission unterwegs. Mit einem Foto in der Faust sprang er rein und raus aus dem Wagen. Der First Deputy hatte ihm seine Privatlimousine zur Verfügung gestellt, einen riesigen Buick mit kugelsicheren Scheiben. Aber Isaac weigerte sich, sich vom Chauffeur des First Dep fahren zu lassen. Er hatte seinen eigenen Fahrer. Fat Brodsky, ein Detective First Grade mit Schweinsäuglein, war Isaacs nützlicher Idiot.

»Wer ist die Kleine, Isaac? Du sagst, du hättest sie nicht mehr gesehen, seit sie fünf war. Wie willst du sie nach einem blöden Foto erkennen?«

»Keine Sorge«, sagte Isaac. Kurz vor der Forty-sixth Street stieß er auf ein Mädchen mit Kartoffelnase und einem kurzen Sommerrock (es war Februar). Er öffnete ihr die Tür. »Steig ein, Honey Shapiro.«

Das Mädchen hatte Striemen auf den entblößten Knien. Sie fauchte Isaac an. »Ich bin Naomi, Mister. Wer sind Sie?«

Er packte sie und zerrte sie auf seinen Schoß, aber die Tür ging nicht mehr zu. Honey trat zu heftig um sich. Isaac musste aufpassen, dass sie ihm nicht in die Ohren biss.

»Hey, was soll das? Sie sind nicht von der Pussy-Streife. Die Typen kenn ich alle.«

Sie fing an, nach ihrem Beschützer zu schreien, einem Kerl namens Ralph, der in seinem Ledermantel von der Forty-fifth Street angerannt kam. Brodsky brachte ihn mehr aus dem Konzept als Isaac. Der Chauffeur hatte eine Pistole auf Ralphs Leistengegend gerichtet.

»He, Bruder«, sagte Ralph mit einem Nicken zu Isaac. »Red schon.« Ralph griff nicht nach seinem Geldclip. Der Buick ließ ihn Zurückhaltung wahren; gewöhnliche Bullen wären nicht mit einem derart auffälligen Wagen zu ihm gekommen.

»Bringt ihr sie aufs Revier?«

»Nein«, sagte Isaac. »Sie geht nach Hause zu ihrem Vater.«

»Erzähl keinen Scheiß, Mann. Ich soll dir wohl ’n Hut kaufen? ’Ne Feder gibt’s keine dazu. Mehr als fünfzig geb ich heut nicht.« Dann sah er die blauen Zacken auf Isaacs Dienstabzeichen. Ihn fröstelte unter seinem Mantel. Ralph wusste, was Sache war in den Revieren von Manhattan: Kein Detective trug ein Abzeichen mit blauen Zacken.

Isaac sprach durchs Fenster mit ihm. »Pfoten weg von Honey Shapiro, verstanden? Wenn ich sie noch einmal oberhalb der Fourteenth Street finde, schlag ich dir eigenhändig die Fresse ein.« Er gab Brodsky ein Zeichen, und Ralph winkte dem Buick mit schlotternden Knien nach. Er ließ sich nicht gern verscheißern. Hätte er vorher gewusst, dass Honey Beziehungen hatte, hätte er ihr die Beine nicht so zugerichtet. Er hätte sie mit einer besseren Ecke und einem saubereren Kundenkreis belohnt. Die hässliche Judenschlampe hatte also einen Draht zur Polizei.

Auf der Fahrt Richtung downtown lachte Brodsky. »Mann, du kannst Niggerzuhältern vielleicht Angst machen. Hast du seine Augen gesehen, Isaac?«

»Halt’s Maul«, sagte Isaac. Und Brodsky war zufrieden. Er liebte es, von seinem Chief runtergeputzt zu werden. Wenn Isaac ihn anschnauzte, spürte er wieder neue Kraft in sich. In Brodskys Augen war kein Cop in der ganzen Stadt, einschließlich diesem irischen Ober-Chief, First Deputy O’Roarke, einen Furz wert. Der Chauffeur hatte sich auf Isaac eingeschworen. Fliegt er nicht nach Paris in Frankreich?, dachte Brodsky. Welcher andere Cop reist sechstausend Kilometer für einen Vortrag?

Das Mädchen rutschte von Isaacs Schoß. Beim Anblick der Bänke und des gefrorenen Rasens des Union Square Park geriet sie in Panik. In der Second Avenue grub sie ihr Kinn in die Polsterung unter dem Fenster. Mit hängenden Backen verfolgte sie missmutig, wie Isaac in die Lower East Side eindrang.

Brodsky bemerkte, dass sich die Stimmung des Mädchens verschlechterte. »Magst du ein Bonbon, Honey?«

»Lass sie in Ruhe«, sagte Isaac.

Sie parkten hinter der Sozialsiedlung an der Essex Street. Isaac legte seine Deputy-Chief-Inspector-Karte aufs Armaturenbrett. Uringestank begleitete sie bis zum Hintereingang des Wohnblocks. Brodsky wollte gerade einen Kommentar zu dem Geruch abgeben, da bemerkte er Isaacs Blick. Er zeigte dem Portier mit dem lädierten Gummiknüppel und den Stoppeln im Gesicht seine Dienstmarke. Mit sichtlicher Verachtung las er die Kritzeleien im Fahrstuhl. Über der Essex Street hing der Moschus und der beißende Charme eines Zoos. Brodsky wohnte in einem Haus oben am Spuyten Duyvil. In die Essex, Clinton und Delancey kam er, um Meerrettich und Zwiebelbrot zu kaufen, weil beides in Riverdale, wo er wohnte, unbekannt war.

In den überheizten Gängen des neunten Stocks verloren Isaac und das Mädchen ihre winterliche Röte. Sie betraten eine Wohnung mit graugrünen Wänden. Brodsky trat als letzter ein. Ein Mann in seidenem Pyjama und ohne einen Zahn im Mund drückte das Mädchen an sich und flennte in seinen Ärmel. Als er Brodsky bemerkte, einen Fremden, riss er sich zusammen. »Isaac, ich suche monatelang, und du findest sie in eineinhalb Stunden. Du kannst hexen, Isaac. Als du sie zum letzten Mal gesehen hast, war sie noch ein Baby.«

»Ich hatte ein Bild von ihr, Mordecai. Nicht der Rede wert.«

»Nicht der Rede wert, sagt er. Ohne dich wäre die Polizei erledigt.«

»Ich muss los, Mordecai.« Der Chief behielt Honey im Auge; sie blieb in der Umarmung ihres Vaters verkrampft. Ihre Züge waren wächsern wie die einer Aufblaspuppe.

»Noch was, Isaac. Philip sucht dich.«

Isaac ging zur Tür; er wollte sich nicht in einen weiteren Familienzwist ziehen lassen. Er hatte selbst genug am Hals: eine wilde, unbändige Tochter, die mitten im Winter Ehemänner abstieß.

»Darum kümmer ich mich später, Mordecai. Jetzt nicht.«

Brodsky stieg hinter Isaac in den Fahrstuhl. Er hörte Geschrei und Geheul aus der Wohnung, und das Echo einer Ohrfeige. Der Tumult, den Mordecai und Honey veranstalteten, brachte ihn zum Lächeln. Der Chief stieß ihm einen Daumen in die Rippen. »Denk an was anderes, Brodsky. Das ist eine Privatangelegenheit.«

»Wer ist der Typ, Isaac? Der Geliebte deiner Mutter oder was?«

»Ich bin mit ihm zur Schule gegangen.«

»Das ist nicht dein Ernst, Isaac. Der könnte dein Großvater sein!«

»Lass gut sein. Mordecai hat keinen Zahnarzt in der Park Avenue, der sich um sein Zahnfleisch kümmert.«

»Wovon lebt er so, Isaac?«

»Mordecai? Er ist ein Überbleibsel aus dem zweiten Weltkrieg. Er hat sich um alle Siegesgärten von Chinatown bis Corlears Hook gekümmert, ohne an seine eigenen Karotten zu denken.«

Was hätte Isaac seinem Chauffeur erzählen können? Mordecai hatte sich hundert Meter neben seiner alten Highschool, Seward Park, niedergelassen und sich seither nicht von der Stelle gerührt. Isaac hatte nichts dagegen, wenn jemand in seinem angestammten Umkreis blieb. Er war am West Broadway geboren, in einem Häuserblock, der Juden aus London gehörte, Leuten mit einem kraftvolleren Vokabular als ihre Nachbarn, die Yankees. Und doch zog er die Essex Street, an der seine Mutter einen Trödelladen betrieb, den Londoner Juden des West Broadway vor, ebenso dem Riverdale eines Brodsky und einer Kathleen, Isaacs entfremdeter Ehefrau.

Der Chauffeur hielt vor der Pickle-Fabrik an der Essex, Ecke Broome, um ein Glas geriebenen Meerrettich zu kaufen, rein und weiß und ohne den süßenden Effekt roter Bete. Nur ausgetrocknete Weiber und Tussis aus dem Büro des District Attorney kauften roten Meerrettich. Er steckte die Nase in das Glas, schnupperte, bis ihm Tränen in die Augen traten, und erholte sich rechtzeitig, um zu beobachten, wie Isaac an Sophie Sidels Trödelladen vorbeiging.

»Willst du nicht bei deiner Mutter vorbeischauen, Isaac?«

Der Chief antwortete nicht darauf. »O’Roarke braucht seinen Wagen, Brodsky. Bring ihn zurück.«

Isaac hoffte, um eine Begegnung mit seiner Mutter herumzukommen. Zu viele Dinge, die er nicht erklären konnte, gingen in seinem Kopf vor. Er würde sie nach Paris besuchen, nicht vorher. Isaac trat in Hubert’s Delicatessen fünf Häuser weiter. Alles schien in bester Ordnung zu sein: das Glas an der Theke beschlagen vom Dampf der Fischbällchen, auf dem Herd kochten verschiedene Töpfe blubbernd vor sich hin, aber mit Hubert selbst stimmte etwas nicht. Der kleine Mann mit den eckigen Schultern und der zottigen Löwenmähne hatte Beulen auf der Stirn, und ein paar Blätter Toilettenpapier bedeckten dunkel angelaufene Stellen um die Kinnpartie.

»Was ist passiert, Hubert?«, fragte Isaac und setzte sich auf seinen Lieblingsstuhl. »Hast du heute Morgen beim Rasieren nur ein Auge aufgemacht?« Isaac rechnete mit nichts Bösem. In dem Deli fühlte er sich zu Hause. Andere Deputy Chief Inspectors saßen in erlesenen Muschelrestaurants an der Mulberry und der Grand, Ellbogen an Ellbogen mit Mafia-Lieutenants und Emporkömmlingen. Doch Isaac aß allein. Bei Hubert konnte er ungestört die Sprünge in den Wänden betrachten. Hubert war in fünfzehn Jahren kein Cent aus seiner Ladenkasse gestohlen worden. Die Gauner der East Side hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Schritte südlich an dem Deli vorbeizulenken. Wenn sie doch bei Hubert vorbeischauten, um sich über einer winterlichen Tasse Tee die Hände zu wärmen, ließen sie ein extragroßes Trinkgeld zurück.

Der Chief wurde hellhörig. Als der große Löwenkopf sich ihm nicht sofort grämlich blickend zuwandte und mit dem üblichen Schwung Graupensuppe auf das Tischtuch spritzte, versuchte Isaac es anders.

»Wer war es? Weiß oder schwarz?«

»Weiß wie Schnee«, sagte Hubert.

»Wie viel haben sie mitgenommen?«

»Nichts. Sie haben die Kasse nicht angerührt, nur ein paar Stühle demoliert, mich zusammengeschlagen, und weg waren sie.«

»Was hatten sie an, Hubert?«

»Armeejacken, Marinejacken, was weiß ich? Sie hatten Masken auf. Skimasken.«

»Wie kannst du dann so sicher sagen, dass sie weiß waren?«

»Wegen der Hände, Isaac. Wegen der Hände. Ein Mädchen war auch dabei. Ich bin kein Detective, aber Titten erkenne ich an der Form.«

»Wann ist das passiert?«

»Gestern. Direkt vor Ladenschluss.«

»Und wieso erfahre ich das erst einen Tag später?«

»Schluss mit dem Verhör, Isaac. Bitte. Das ist nichts für die Polizei. Verrückte Kinder. Es hätte jeden erwischen können.«

»Na klar«, sagte Isaac mit belegter Stimme. »Sie haben Süßes-oder-Saures gespielt. Aber Halloween fällt nun mal nicht in den Februar. Dein Geld war ihnen zu gut. Also nehmen sie mit deinem Schädel vorlieb? Wie viele waren es?«

»Drei.« Spucke sammelte sich in Huberts Mund.

»Ich bin eine Woche weg. Mein Mann schaut sich die Sache an.«

Die Beulen auf dem Löwenkopf liefen dunkel an. »Ich will keinen Gorilla in meinem Laden, Isaac. Brodsky kommt mit breiter Brust. Er lässt den Leuten nicht genug Raum zum Suppe trinken.«

»Dann schicke ich dir Coen. Er nimmt nicht viel Platz weg, und er wiegt dir deine Gäste mit seinen blauen Augen in den Schlaf.«

Isaac klopfte an das Fenster des milchigen koscheren Restaurants in der Ludlow Street; ein Ort, den er tunlichst mied. Es war gerammelt voll mit hungrigen Theaterleuten und Studenten, die versuchten, Isaac in ein Gespräch über Spinoza, Israel, die Brutalität der Polizei und über die seltsame Bruderbeziehung zwischen Aaron und Moses zu verwickeln. Die Stückeschreiber behandelten ihn nicht von oben herab. Sie sahen in Isaac den Schutzheiligen der Ludlow und des East Broadway. Er hielt die Gangster von ihren Straßen fern, aber seine Stärke war keine Überraschung für sie. Er war mit ganz spezieller Muttermilch aufgezogen worden. Seine Mutter war eine eigensinnige Frau. Sie pflegte eher mit Arabern und Puertoricanern Umgang als mit Juden.

Sie lachten über die Reaktion der Kassiererin auf Isaacs Klopfen. Ida Stutz warf den Arbeitskittel ab und klatschte sich Puder ins Gesicht. Sie galt als Isaacs Verlobte. Alle wussten, dass Isaac eine irische Ehefrau oben in Riverdale hatte, aber es wäre unklug von ihnen, Ida zu kränken. Sie versorgte die Studenten mit Zahnstochern und schob ihnen heimlich Butterstücke und zusätzliche Brötchen zu, weil sie unterernährten Männer gern etwas Gutes tat. Idas Arme und Beine waren äußerst üppig. Ihre ganze Schönheit kam von diesen Proportionen. Sie verbrachte ihre eigene Mittagspause im Ludlow Restaurant. Vor- und nachmittags schuftete sie wie ein Ackergaul. Die Betreiber des Restaurants ließen sie rackern. Auf Idas Schweiß konnten sie zählen. Und auf Idas kräftigen Rücken. Daher gestatteten sie ihr eine Besonderheit. Wenn der Chief anklopfte, verschwand Ida.

Isaac bewohnte zwei schäbige Zimmer in der Rivington Street. Die Toilette musste er mit einem alten Junggesellen teilen, der immer daneben pinkelte. Er wusch seinen Körper in einem Küchenzuber, der ihn nicht vollständig aufnehmen konnte, wenn er seine Ohren nicht zwischen die Knie steckte. In dieser unwürdigen Haltung fand Ida den Chief vor. Auf dem Bett sah sie seinen Koffer, der vor gestärkter Unterwäsche, Notizbüchern und unbehandeltem Honig nur so überquoll.

»Ich kenne dich, Isaac. Das mit dem Einseifen ist nur ein Vorwand. In Gedanken bist du schon in Paris.«

Isaac krümmte sich in dem Zuber, ein Gefangener seiner Knie. Er musste lächeln. Seine Ehefrau Kathleen war eine außergewöhnliche Schönheit gewesen. Mit neunundvierzig (sie war fünf Jahre älter als der Chief) hatte sie einen Busen, der Ida zum Erröten gebracht hätte. Aber Isaac war nie ein großer Experte gewesen, was Fleisch anging. Sein Zuhause in Riverdale hatte er aufgegeben, weil Kathleen sich von ihm unabhängig gemacht hatte. Der Grundbesitz dieser Frau war spektakulär. Ihre Besitzungen in Florida verschlangen den größten Teil ihrer Energie. Isaac hätte es nicht nötig gehabt, der Liebe wegen in die Lower East Side zu kriechen. Er hätte mit gutaussehenden Witwen in Riverdale bleiben können, mit Filmsternchen, die nach intellektuellen Cops lechzten, Zicken mit Penthouses und restaurierten Hintern. Ida gefiel ihm besser. Sie besaß eine Zunge, mit der sie ihn ordentlich ausschimpfen, und einen Mund, in den sie all seine Zähne einsaugen konnte. Ihr war gleich, wie Isaac sich benahm. Ida war kein zerbrechliches Geschöpf. Sie konnte es mit den Küssen, den bärenhaften Umarmungen und den Bissen des Chiefs aufnehmen. Jetzt zog sie sich aus.

»Das ist dein letztes Bad in Amerika. Tut es dir nicht leid, dass du keine größere Wanne hast?«

»Im Präsidium gibt’s eine Wanne, in die du und ich und noch fünf Cops passen, Ida. Magst du da mal hin?«

»Gerne«, sagte sie. »Wenn du mal nicht in Eile bist.« Sie trocknete ihn mit feinstem Talkum aus der Mulberry Street und legte sich neben Isaacs süßlich duftenden Körper auf das Bett, ohne sich an dem Koffer zu stören. Sein gleichmäßig gepuderter Stiernacken konnte sie nicht einschüchtern. Ida machte sich keine Illusionen über ihren Verlobten. Er hatte einem Gangster aus East New York ein Auge ausgerissen, verdächtigen Subjekten die Arme gebrochen und Schusswechsel mit Puertoricanern und abgebrühten Juden überlebt. Doch sie hatte das Kind in dem Bären gesehen. Er war ein Mann, der sich leidenschaftlich gern bemuttern ließ. Unter der gepuderten Haut verbarg sich eine Furcht, die Ida zu lindern verstand. Der Chief spielte ihr keine Männlichkeit vor. In Idas Armen zitterte er. Seine Leidenschaft glich der primitiven Umklammerung eines Ertrinkenden.

Nachdem er sie geliebt hatte, war der Bär schweigsam. Solange Isaacs Sperma aus ihr tröpfelte, wollte Ida sich seiner Verdrießlichkeit nicht beugen. Sie zog ihn an der Nase. Der Chief trat mit einem Bein nach dem Honigglas und einem Stapel Unterhosen.

»Was hast du für Sorgen, Isaac?«

»Ah«, log er. »Ich hab an einen Fall gedacht.« Er murmelte Huberts Namen. »Er ist von einer Bande verprügelt worden. Die Kasse haben sie nicht angerührt. Da ist was faul.«

»Wahrscheinlich sind sie nicht in die Jewish Defense League reingelassen worden. Vielleicht ist Hubert nicht koscher genug. Bei ihm gibt’s Butter zum Fleisch.«

»Sag nicht so was, Ida. Das waren keine jüdischen Kids. Einem alten Mann die Birne einzuschlagen.«

»Glaubst du, das ist was Besonderes? Schau dir mal meine Arme an.«

Er betrachtete die blauen Flecken auf Idas Haut, Daumenabdrücke, die bereits braun wurden. An dem Kranz um jeden der Flecken konnt man sehen, wie viel Druck ausgeübt worden war.

»Die gleiche Bande«, sagte sie. »Bei mir waren sie auch. Sie haben Blintzen gestohlen, kein Geld.«

»Was haben sie sonst noch gemacht, Ida?«

»Kleine Tricks halt. Einer packt meine Arme, der andere steckt seine Hand in meine Bluse.«

Der Chief verteilte seine Unterwäsche um das Bett herum.

»Wenn ich wieder da bin, Ida, finde ich diese Hand und hacke sie ab.«

Mit zwei Fingern strich Ida seine verkniffenen Lippen glatt. »Soll ich dir mal erzählen, wie viele Kunden schon versucht haben, mich zu betatschen?«

»Das waren keine Kunden«, sagte der Chief. Aber Ida hielt ihn an den Ohren gepackt und massierte die winzigen Knochen an seinem Hinterkopf. Isaac hätte längst seine Krawatte anziehen müssen. Ihm blieben keine zehn Minuten mehr. Sein Gesicht war in Idas Brüste vergraben. Der Koffer fiel vom Bett.

Isaac wurde die alten Fragen nicht los. Idas Milchgeruch brachte ihm Marilyn zurück nach Hause. Der Chief betrieb keinen Inzest in seinem Bett. Er brachte die Mädchen nicht durcheinander. Doch Küsse konnten schmerzhaft sein. Er begehrte Idas Milch, und dabei hatte er eine Tochter, die von Ehemann zu Ehemann zog und sich ihm nicht anvertrauen konnte.

2

Marilyn lebte von Thunfischbrocken. Sie ging nicht vor die Tür, bis Blue Eyes ihr versichern konnte, dass Isaac im Flugzeug nach Paris saß. Das Büro des First Dep hatte die Nachricht bestätigt: Um neunzehn Uhr war Isaac an Bord gegangen. Sie hatte den ganzen Nachmittag mit Coen vertrödelt. Jetzt sah sie zu, wie er den Kragen eines weißen Hemdes an seinem schönen Hals zuknöpfte. Zuletzt kam das Holster. »Wart auf mich, Manfred. Ich komme mit.«

Coen hatte Isaacs Wagen übernommen. Blue Eyes hasste die Fahrerei. Es gab einfach zu vieles, was einen Cop vom Verkehr ablenkte, Tumulte in Hauseingängen, Bettler, die auf die Straße sprangen, Hunde, die Bussen nachjagten oder ihm unter die Räder liefen, alte Frauen, die mitten auf der Straße das Gedächtnis verloren.

»Du glaubst doch nicht, dass Isaac die gesamte französische Polizei reformieren wird?« Marilyn langweilte sich. Coen war nicht zum Reden aufgelegt. Sie musste ihn mit den Geheimnissen ihres Vaters aus der Reserve locken. »Dein Boss ist ausgefuchst, Manfred. Er wird kaum viel mit den Detectives da drüben zu tun haben. Isaac ist hingefahren, um seinen Vater zu besuchen.«

An Coens Kinn bildeten sich Falten. Marilyn schämte sich für ihre grobe Taktik. Coens Vater hatte sich umgebracht. Vor zehn Jahren, als Blue Eyes gerade in Deutschland stationiert war, hatte Papa Coen sich für den Gashahn entschieden. Seither trug Coen sein trauriges Gesicht.

»Ich wusste nicht, dass Isaac einen Vater hat … einen Vater, der noch lebt.«

»Es ist ihm peinlich. So peinlich wie ein Bruder im Gefängnis.«

Coen hatte gelernt, Isaacs kleinen Bruder nicht zu erwähnen. Leo war in der Crosby Street begraben, in einem provisorischen Anbau des alten Gefängnisses. Wegen ausstehender Alimente. Das ganze Police Department zuckte die Achseln über diese unwürdige Behandlung. Doch der First Dep war machtlos. Leo weigerte sich, das Gefängnis zu verlassen.

»Was bitte ist an einem Vater peinlich, Marilyn?«

»Er hat seine Familie vor vielen Jahren verlassen. Isaac musste von der Schule abgehen. Hat er dir das nie erzählt? Sein Vater war früher Millionär. Joel Sidel, der Pelzkragenkönig. Für einen lumpigen Pinsel hat er alles hingeworfen. Er hatte eine lange Nase, wie Gauguin. Paris war für ihn das neue Tahiti. Er hat sich in den Kopf gesetzt, den Dschungel um Sacré-Cœur zu malen.«

Pariser Dschungel sagten Coen nichts. »Warum besucht Isaac ihn ausgerechnet jetzt?«

»Weil er erstmals Anzeichen seiner eigenen Sterblichkeit verspürt hat.« Coens eingefallene Wangen ließen sie ihre blasierten Worte bereuen, die ihr das Sarah Lawrence College und die Dinners mit ihren zahlreichen Ehemännern eingegeben hatten. »Er geht auf die fünfundvierzig zu, Manfred. Das ist ein gefährliches Alter. Isaac braucht seinen Vater. Er muss Joel sehen, damit er weiß, dass noch Jahre vor ihm liegen.«

Coen setzte sie an der Crosby Street ab. Er würde den Wagen auf Isaacs Stellplatz in der Polizeigarage parken, ins Präsidium marschieren, den Staub von Isaacs Schreibtisch wischen und im Namen seines Chiefs Telefonate entgegennehmen. Er würde sagen: »Büro des First Deputy, Inspector Sidel«, und Marilyns Duft würde sich auf seiner Haut entfalten.

Die Besuchszeiten in der Crosby Street waren schon vorbei, aber Marilyn kam ohne Schwierigkeiten rein. Keiner der Wächter konnte sich an den Namen ihres derzeitigen Ehemannes erinnern. Sie kannten sie als »Miss Sidel«. Selbst der stellvertretende Gefängnisdirektor wollte es sich nicht mit Isaacs Mädchen verscherzen. Er brachte Leo persönlich zu ihr, ging ihr mit Schmeicheleien über Isaacs Reise um den Bart. »Er zeigt es denen in Paris, wie sie ihre Gauner rankriegen. Darauf können Sie Gift nehmen, Miss Sidel.«

Leo kam in der viel zu großen Gefängniskluft angeschlurft. Es fiel schwer, ihn als Onkel zu betrachten. Sein Leben lang würde er Isaacs kleiner Bruder sein.

Das Gefängnis hatte bei Leo Spuren hinterlassen. Er bestimmte seinen Tagesablauf in der Crosby Street selbst, zog sich Süßigkeiten aus einem Automaten und machte die Wächter in Binokel, Dame und Bridge nieder. Verbrecher, mit denen er Umgang hätte haben können, gab es keine. Nur Fälle wie Leo, Männer, die mit ihren Alimentenzahlungen im Rückstand waren und wegen Missachtung ihrer Pflichten festgehalten wurden. Detectives vom Sheriff’s Office hatten Leo aus dem überfüllten Foyer des Gebäudes, in dem er arbeitete, gezerrt, ihn schmählich den Blicken der leitenden Angestellten, Kunden und Tippsen ausgesetzt und ihn aufgrund einer Klage seiner früheren Ehefrau in Handschellen abgeführt. Den Detectives war ebenso unwohl wie Leo. Sie fühlten sich elend bei der Vorstellung, dass sie als die Männer gelten würden, die den Bruder Isaacs des Gerechten eingebuchtet hatten.

Marilyn hatte eine Schwäche für Leo. Sie besuchte ihn nicht als Isaacs mitfühlende Tochter. Sie konnte sich mit Leos misslicher Lage identifizieren. Er stand ihr näher als all ihre sonstigen Verwandten: Sie hatten beide kaputte Ehen hinter sich, sie waren beide lebendig gehäutet worden.

Im Besucherraum des Gefängnisses umarmten und küssten sie sich, ohne dass ein Wärter sie angeschnauzt hätte. »Bist du auch so fröhlich, Marilyn? Endlich kann man wieder frei atmen. Es geht die Rede, dass Isaac das Land verlassen hat. In den nächsten Tagen werde ich Fett ansetzen. Und du?«

Marilyn umarmte ihn noch fester.

»Onkel Leo, ich wünschte, ich hätte dreitausend, um dich hier rauszuholen. Würde das der blöden Selma reichen? Ich erwürge ich sie für dich, wenn du willst. Isaac würde mich heil aus der Sache rausholen, meinst du nicht? Du wärst dann allerdings Witwer mit Kindern. Haben Davey und Michael dich schon besucht?«

Leos Züge verdüsterten sich. Er machte sich von Marilyn los. »Die halten zu ihrer Mutter«, sagte er. »Sie schreiben mir gehässige Briefe. Selma zwingt sie, ihre Schönschrift an mir zu üben. Ich höre ihre Stimme hinter jedem Wort. ›Dad, du bringst uns ins Grab.‹ Marilyn, diese Frau hat genug Geld, um einen Elefanten damit zu ersticken. Sie bewahrt ihre Sparbücher in einem alten Büstenhalter auf.«

Marilyn ärgerte sich über ihre Unfähigkeit, Leo zu helfen. Ihre beiden letzten Männer waren reich gewesen, doch sie war arm zurückgeblieben. Sie musste Coen anpumpen.

»Sophie oder Isaac könnten was lockermachen, Leo. Ich kann sie fragen.«

»Auf keinen Fall. Marilyn, vergiss nicht, ich bin im Oktober zweiundvierzig geworden. Kann ich meine Mutter anbetteln oder sehen, was beim großen Isaac zu holen ist? Lieber sollen sie mich rausholen und erschießen. Wie sie mich erledigen, ist mir gleich. Solange Sophie nichts davon erfährt. Isaac hat Mama doch nichts erzählt, oder? Ich rufe sie jeden Morgen an. Ich erzähle ihr, dass ich in einem Hotel ohne Telefon im Zimmer wohne. Komisch, vorhin ist sie nicht drangegangen. Wahrscheinlich ist sie unterwegs und kauft neuen Krempel.«

»Isaac behandelt alle Welt wie Scheiße, aber er petzt nicht. Wegen dir schon gar nicht. Könnte ja ungemütlich werden für ihn. Er würde eurer Mutter erklären müssen, warum du im Gefängnis sitzt. Stell dich nicht so an, Leo. Ich rede mit Sophie. Ich gehe jetzt gleich hin.«

Die Wärter, die sie hinausbegleiteten, überboten sich in Banalitäten. Sie taten alles, um in Isaacs Gunst zu bleiben. »Wir kümmern uns um Leo, Miss Sidel. Wir sorgen dafür, dass er sich hier fühlt wie in einem Country Club.«

Marilyn überquerte die Bowery und betrat Isaacs Territorium: die puertoricanisch-jüdische East Side. Sie musste über die alte Synagoge in der Forsyth Street lächeln, die jetzt ein »Templo Adventista« war; der Judenstern in dem kleinen Fenster dicht unter dem Dach war noch intakt. Später würde sie in der Orchard Street Unterhosen kaufen. Erst musste sie Sophie besuchen.

Die Essex Street stand unter Isaacs Kommando. In den Schaufenstern der winzigen Lebensmittelläden überwogen Aprikosen aus Galiläa, Pflaumen aus Haifa und Spaghetti Made in Tel Aviv. Sie begriff, welch ein Schlag das für ihre Großmutter war, die für die Diaspora kämpfte, für heimatlose Araber und Juden gemeinsam in einem gojischen Universum. Vor Sophies Tür fehlte der übliche Plunder, der sonst auslag. Gab sie gerade Suppe an Penner aus? Oder befingerte sie eine pralle Gans beim christlichen Metzger? Die Tür war angelehnt.

Marilyn wusste nichts über Pflaumen aus Haifa. Sie war ein Mädchen mit irischer Nase und Erinnerungen an Kommunionshandschuhe und sabbernde Priester. Heißblütig wie sie war, ließ sie sich mit zwölfeinhalb ihre Unschuld rauben. Mit vierzehn erstreckte sich ihr Ruhm von Riverdale bis Washington Heights, und einige ihrer Unterhosen vermoderten in den Kellern der Fordham Road. Ihre Uptown-Frühreife verhinderte eine Bindung an ihre mysteriöse Großmutter, Sophie die Hamsterin. So interpretierte Marilyn die Sachlage. Sophie würde ihre Waren nicht riskieren, um einem Landstreicher Zuneigung zu erweisen. Dazu war sie zu vorsichtig. Marilyn stieg über die kaputten Kinderwagen, die Sophie besonders schätzte. Sie waren in einem desolaten Zustand. Keiner ließ sich noch fahren. Doch Sophie hatte die Gestelle mit meterweise Draht zusammengeschnürt.

Marilyn wagte sich tiefer in den Laden vor. Die zerfetzten Lampenschirme kamen ihr nicht merkwürdig vor. Das hätte auch Sophies Werk sein können. Sie spähte unter einen Stapel Decken, die sich sonderbar ausbeulten. Sophies Arm schockierte sie nicht; ohne einen Makel an den schönen Adern ruhte er in einer natürlichen Position. War dies der Schlafplatz einer Großmutter?

Marilyn zog an den Decken, folgte der Lage dieses Arms. Sophies Kopf tauchte auf. Die Blutlache, in der er lag, hatte sich in eine zähe, gallertartige Masse verwandelt. Die gallertartige Masse reichte ihr bis zu den Ohren. Die Abdrücke an ihrer Stirn erinnerten an eine Gürtelschnalle, die sich in Haut einprägt. Marilyns Schreie kamen trocken und abgehackt. Sie torkelte zum Telefon. An einen Krankenwagen dachte sie gar nicht. In ihrer Panik fiel ihr nichts anderes ein, als Coens Nummer zu wählen.

3

Isaac saß in einem feuchten Palais am Quai Voltaire. Er hatte kalte Füße. Umgeben von Waffenherstellern, pensionierten Polizisten, Herstellern von Schnüffelbedarf und einem Team von Spezialisten aus den Kriminallaboren in Brügge und Antwerpen versuchte er, mit seinem Schulfranzösisch über die Runden zu kommen. Sätze sprudelten an sein Ohr. Es gelang ihm nicht, den Wortschwall entschlüsseln. Isaac fühlte sich elend. Sein erster Spaziergang in Paris hatte ihn völlig fertiggemacht.

Mit verquollenen Augen war er eingetroffen, bereit, aus seinem Honigglas zu schlecken und gewappnet durch New York diese Stadt verächtlich zu betrachten. Isaac hatte keine Ader fürs Sightseeing. Er gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die sich magisch vom Eiffelturm und den Champs de Mars angezogen fühlen. Vor einigen Monaten war Herbert Pimloe, der Harvard-Absolvent, der dem First Deputy unterstand und aufs Reisen versessen war, aus Paris zurückgekehrt und hatte Isaac einen Zeitungsausschnitt mitgebracht, in dem ein gewisser Monsieur Sidel erwähnt wurde, ein Porträtmaler mit ständigem Wohnsitz in einem Hotel an der Avenue Kléber in der Nähe des Arc de Triomphe. »Chief«, hatte Pimloe gesagt und voller Stolz auf den Zeitungsausschnitt gedeutet. »Könnte das nicht ein Verwandter von dir sein?« Isaacs Kehle brannte. Er hatte nicht mehr damit gerechnet, dass sein Vater nach fünfundzwanzig Jahren noch den Lazarus spielte. Joel Sidel war unter den Vermissten und Gefallenen. Isaac hatte versucht, den Namen seines Vaters zu vergessen. Jetzt spielte er mit dem Gedanken, Joel zu ermorden oder ihm bei einer Konfrontation in der Avenue Kléber den Kopf einzubeulen. Isaac mauschelte ein wenig herum. Er lud sich zu einer Konferenz über Kriminalität ein, die für Waffenhersteller und Provinzpolizisten abgehalten wurde. Jetzt war er in Paris, um zu töten, zu zermalmen und sich sein Recht zu verschaffen.

Als Isaac auf dem Weg zur Konferenz die Seine überquerte, war er darauf eingestellt, auf die Boote im Fluss zu spucken, die schnarrenden Papageien auf den Schultern staubig gekleideter alter Frauen zu ignorieren und Bouquinisten und Leierkastenmännern aus dem Weg zu gehen. Doch gegen die Île de la Cité hatte er sich nicht wappnen können. Diese Insel aus Stein, eine Mittelalterstadt, die aus dem Wasser emporwuchs, machte Isaac sprachlos. Er starrte auf die grasbewachsene Stelle der Insel, ein Fleckchen Grün vor den grauen Hausmauern und den Spitzen von Notre Dame. Stein, der sich durch den Schleier eines dunstverhangenen Flusses bohrte, war Isaac unerträglich. Nichts in New York würde ihm dieses Bild wieder nehmen können. Verglichen mit diesen feuchten Mauern waren die Schornsteine von Welfare Island ein Witz. Finster dreinblickend erschien er bei der Konferenz.

Einer der Spezialisten aus Brügge trieb Isaac nach einer kurzen Ansprache über Pariser Bankräuber in die Enge. Der Flame, der ein virtuoses Englisch sprach, schüttelte pessimistisch den Kopf. Isaac verstand ihn nicht. »Inspector Sidel, wie ist denn die Lage in Amerika? Gibt es bei Ihnen Amateure, die Verbrechen begehen? Üble kleine Unterweltler, die sich einfach nicht aufspüren lassen? Ganz Paris ist voll davon. Ich rede jetzt nicht vom Abschaum der afrikanischen Viertel. Der stellt für uns keine Bedrohung dar. Ich rede von den jungen Wilden aus den staatlichen Sozialsiedlungen um Clignancourt und all den anderen Löchern am Rand von Paris – Kakerlaken mit Pistolen in den Händen. Die Kakerlaken tauchen auf den Champs-Elysées auf, knacken eine Bank und rennen zurück in ihre Löcher. Was soll man dagegen unternehmen? Kein Netzwerk, keine organisierte Bande, keine Unterwelt im eigentlichen Sinne. Bloß Ungeziefer, vereinzelte Kakerlaken.«

»Die haben wir in den Vereinigten Staaten auch, Monsieur, aber nicht so viele«, sagte Isaac. In Gedanken beschäftigte er sich schon mit dem Maler Joel, seinem abtrünnigen Vater in dem Hotel an der Avenue Kléber.

»Und was raten Sie unseren Freunden in Paris, Inspector Sidel?«

»Gehen Sie rein. In die Sozialsiedlungen.«

»Mit dem Militär?«

»Nein, mit Spionen.«

»Ah«, sagte der Flame, dem Isaac zu gefallen begann. »Sie meinen, es ist eine Frage der Infiltration. Solange man das Ungeziefer nicht ausrotten kann, schläft man in ihren Betten. Bleiben Sie in Paris, Inspector. Sie haben eine Zukunft bei der Sûreté.«

Isaac verließ die Konferenz vor dem Mittagessen. Er setzte seinen Spaziergang am Quai Voltaire fort und ging Richtung Invalidendom. Alles war in Ordnung, wenn er sich nur den schwitzenden Steinen der Île de la Cité fernhielt. New York holte ihn ein; die Mansardendächer der Commerce Street, die bröckelnden Mauern der Cherry Lane, die Schlachthöfe in Gansevoort, die mit gigantischen Stahlrollläden verrammelten Fabriken der Lafayette und der Mulberry. Paris war ein Klacks.

Die Boulevards oberhalb des Trocadéro kamen Isaac sehr gelegen. Hier hatte er es nicht mehr mit gewundenen Straßen zu tun. Er konnte die Augen schließen und über den kleinen Bäckereien und Schmuckgeschäften der Rue Hamelin die Madison Avenue vergessen. Er war keineswegs erstaunt, als er The Iroquois an der Avenue Kléber betrat: Es musste ein Hotel für reiche Amerikaner sein. Sämtliche Nebenflüsse des Ohio strudelten direkt über Isaaks Kopf über ein großes Bilddiagramm, das auf der dem Eingang gegenüberliegenden Wand angebracht war. Im Foyer des Iroquois musste er einen enormen Eiffelturm umrunden. Isaac unterdrückte ein Lächeln.

Sein Vater war ihm gegenüber im Nachteil. Joel Sidel war der einzige Maler im Foyer. Isaac empfand keine Anteilnahme für die Staffelei eines Siebzigjährigen. Dies war der Mann, der seine Mutter in den Wahnsinn getrieben und seinen Bruder zu einem Schwächling gemacht hatte. Sophie hatte sich in einen Trödelladen gestürzt, Isaac war ein Flic geworden, und Leo war von der Knabenzeit über die Ehe ins Gefängnis gerutscht.

Isaac musste zugeben, dass sein Vater eine gute Technik hatte. Joel schnappte sich Amerikaner, die gerade aus dem Aufzug traten; mit gewieften Handbewegungen dienerte er ein Paar hinüber zu seiner Bank. Während sie sich mit Kamera, Belichtungsmesser und Reiseführern in Positur stellten, tauchte Joel seinen dicken Pinsel in einen Farbtopf und malte in weniger als einer Minute ihr Profil und ihre hervorstechenden Züge, ehe sie protestieren konnten. Für seine Arbeit stellte er zwanzig Francs in Rechnung. Ähnlichkeit spielte keine Rolle. Zu große Genauigkeit hätte die Paare beleidigt. Bewundernd kommentierten sie Joels Geschwindigkeit im Umgang mit dem Pinsel. Isaac räusperte sich in den Aufschlag seines Regenmantels. Er war nicht nach Paris gekommen, um Spion zu spielen.

Joel schlief nicht. Das Grundlegende erkannte er: Das hier musste einer seiner Jungen sein. »Leo?«, fragte er.

»Nein, Papa. Schau noch mal hin.«

Joel klatschte seinen Pinsel in einen Malerlappen. Der Pinsel wackelte wie ein Fischkopf.