El Bronx - Jerome Charyn - E-Book

El Bronx E-Book

Jerome Charyn

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  • Herausgeber: Diaphanes
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Drogen, Waffengewalt, rivalisierende Gangs, korrupte Cops, ausgebrannte Straßenzüge: Die Bronx ist ein hartes Pflaster, das ständig am Rand eines kollektiven Gewaltausbruchs steht. Allein Baseball und das Yankee Stadium halten den Stadtteil am Leben. Nun droht ein Streik der Spieler den gesamten Borough in den Untergang zu stürzen. Ein letzter Hoffnungsträger scheint der zwölfjährige Aljoscha zu sein: ein Graffiti-Künstler, der die Häuserwände der Bronx mit den Heldentaten und Porträts gefallener Gangster schmückt. Als Aljoscha eines Tages zwischen die Fronten gerät und verschwindet, ahnt Isaac Sidel Böses. Inmitten eskalierender Gewalt ist es für den Bürgermeister New Yorks wieder einmal Zeit, in die kriminellen Schattenwelten seiner Stadt einzutauchen…

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Seitenzahl: 255

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Jerome Charyn El Bronx

Die Isaac-Sidel-Romane

Inhalt

Teil Eins

Teil Zwei

Teil Eins

1

Es war Jagdsaison. Amerika befand sich mitten in einem Baseballkrieg … und einem wilden Streik. Die Spieler hatten ihren eigenen Zar, J. Michael Storm, ein Mann mit mehr Macht als der Baseball Commissioner und die Präsidenten beider Ligen. Er akzeptierte nur einen einzigen Gesprächspartner. Isaac Sidel, der Bürgermeister von New York, musste Vermittler in einem Krieg werden, den er nicht wollte. J. Michael flog aus Houston ein, wo er eine Anwaltskanzlei besaß, lehnte es aber ab, sich mit Isaac in der Gracie Mansion zu treffen. Er fuhr mit Sidel hinauf zum Yankee Stadium, setzte sich mit ihm in die Eigentümerloge, schaute auf das verlassene Spielfeld hinaus und legte los.

»Leere Stadien, Isaac, genau das sehe ich.«

»Und am Ende werden wir alle verlieren … ich bitte Sie, J. Michael, kann ich nicht mit einem Angebot zu den Eigentümern der Clubs gehen? Sagen wir, eine Obergrenze von zehn Millionen Dollar?«

»Nein, keine Gehaltsdeckelung. Das wäre nur eine andere Art von Sklaverei.«

»Sklaverei bei zehn Millionen im Jahr? Das sind pro Spiel einundsechzigtausendsiebenhundertachtundzwanzig Dollar und verschissene vierzig Cent.«

»Ach, werfen Sie doch nicht mit Zahlen um sich. Es geht ums Prinzip. Ich kann nicht verhandeln, wenn das Preisschildchen von vornherein manipuliert ist.«

»Heulsuse«, sagte Isaac. »Haben Sie nicht den Mindestlohn gefordert?«

»Das ist etwas ganz anderes. Einer der Jungs könnte sich den Arm brechen und nie wieder spielen. Da muss er sich doch einen Notgroschen zurücklegen dürfen.«

Isaac begann, in der VIP-Loge auf und ab zu schreiten wie ein wildes Tier. Er war hier der Hausherr. Die Yankees waren seine Mieter. »J., Sie verlassen mir das Gelände hier nicht, bevor ich ein Zugeständnis von Ihnen habe.«

J. Michael Storm fing an zu lachen. »Wollen Sie mich vielleicht abknallen?«, fragte er und deutete auf die große schwarze Kanone in Isaacs Hose.

»Ich werde etwas noch viel Schlimmeres tun. Ich werde Sie aus dem Fenster werfen.«

»Ich pralle vom Gras ab und komme sofort wieder zurückgesprungen.«

Kennengelernt hatte Isaac ihn vor zwanzig Jahren als radikalen Studenten auf der Columbia University. Der Sohn von Vorschullehrern war aus dem Süden gekommen, um in der großen Stadt den Raskolnikow zu spielen. Als junger Chief im Büro des First Deputy war Isaac selbst eine Art Raskolnikow gewesen, der sich in Gesellschaft von Mafiosi anscheinend wohler fühlte als bei seinen eigenen Captains. Er hatte J. Michael vor dem Gefängnis bewahrt, hatte in studentischen Zirkeln mit ihm diskutiert, hatte über Platon und Karl Marx philosophiert. Als J. Michael und sein Ho-Chi-Minh-Club das Büro des Rektors in der Low Library besetzten und den Mann einen halben Tag als Geisel festhielten, war es Isaac, der in die Low marschierte, mit den Ho Chi Minhs redete und den Rektor befreite, der gegen keinen der Radikalen Anzeige erstatten wollte.

»J., die Bronx wird sterben. Ohne die Yanks kann sie nicht überleben. Dieses Stadion hier ist das letzte Schmiermittel, das in der ganzen South Bronx noch übrig ist. Soll ich Ihnen sagen, welche Einnahmen es generiert? Ich rede hier nicht von Ticketverkäufen. Ich rede von den kleinen Geschäften an der Jerome Avenue, von den Leuten, die auf den Parkplätzen arbeiten, den Hotdog-Verkäufern … «

»Isaac, Sie brechen mir das Herz.«

»Was ist aus dem Sohn von Ho geworden?«

»Den habe ich in meiner Abschlussrobe zurückgelassen. Isaac, ich vertrete ein paar hundert Millionäre. Keiner von denen ist mit einem Silberlöffel im Arsch auf die Welt gekommen. Es sind Homeboys wie Sie und ich. Und sie werden nicht verhungern. Sie haben einen längeren Atem als jeder einzelne Teambesitzer im organisierten Baseball. Und sollte es hart auf hart kommen, kann ich ihnen jederzeit fette Verträge besorgen, um in Japan zu spielen.«

»Ja, immer mehr gaijins zu den Yokohama Giants.«

Marvin Hatter, der Präsident der Yankees, betrat die Loge. »Kann ich euch Jungs irgendwas bringen? Champagner und Walderdbeeren vielleicht?«

»Sie sollten uns nicht bespitzeln, Marve«, sagte J. Michael. »Ich kann Sie per Gerichtsbeschluss hier rausjagen lassen.«

»Das hier ist mein Baseballteam, Mr. Storm. Sie und der Bürgermeister sind nur zu Gast.«

»Irrtum. Sie sind Isaacs Mieter … und jetzt verpissen Sie sich, Marve.«

Der Yankees-Präsident verschwand aus der Loge, machtlos gegen diesen Wirbelwind, der unvermittelt den Kopf in seinen Händen vergrub. »Isaac, ich verliere mein kleines Mädchen.« Storms Frau Clarice war mit ihrer gemeinsamen Tochter, einer zwölfjährigen Schönheit namens Marianna, nach Manhattan gezogen. Isaac hatte das Mädchen, das ihn häufig in der Gracie Mansion besuchte, sehr gern.

»Sie sind ihr Vater. Laden Sie sie zum Mittagessen ein.«

»Kann ich nicht. Clarice hat sie gegen mich aufgestachelt.«

»Ich werde nicht zwischen Ihnen und Clarice vermitteln. Ich muss mich um einen Baseballkrieg kümmern.«

»Aber Sie könnten mich doch in Ihren Club einschmuggeln.«

»In welchen Club, J. Michael? Die Ho Chi Minhs?«

»In dieses verschissene kulturelle Bereicherungsprogramm … die Magier oder wie die heißen.«

»Sie meinen die Merliners.«

Isaac drängte ständig auf das Terrain anderer Leute. Er konnte sich kein Schuldezernat nach seinem Gusto basteln, also gründete er eine Schattenbehörde, eine Schule außerhalb der Schule, in der Kids aus den heruntergekommensten Gegenden der Bronx kleine Zauberer von der Goldküste Manhattans und Brooklyn Heights treffen konnten. Allerdings war es ihm unmöglich zu sagen, wer die eigentlichen Zauberer waren, wer wen bereicherte, die Ghetto-Kids die Goldküstler oder umgekehrt. Und Isaac hatte Marianna Storm rekrutiert, die in ihrem Turm am Sutton Place South saß und noch niemals in der Bronx gewesen war.

»J.«, sagte Isaac, »ich kann Sie dort nicht einschmuggeln. Das wäre unmoralisch. Ich würde Mariannas Vertrauen enttäuschen, wenn ich zuließe, dass ihr eigener Vater ihr auf die Pelle rückt.«

J. Michael zog ein enormes Scheckbuch aus einer Tasche unter seinem Herzen und stellte einen Scheck über fünfzigtausend Dollar aus, zahlbar an »Merlin/Isaac Sidel«. Isaac starrte das Blatt Papier an und zog seine Glock. »Sie haben das Recht zu schweigen … «

»Was zum Henker machen Sie da, Sidel?«

»Ich verhafte Sie. Ich bin ein Staatsdiener. Sie können nicht versuchen, mich in meiner eigenen Stadt zu bestechen.«

»Ich habe doch nur eine Spende für Ihren kleinen Verein gemacht … und wieso können Sie mich überhaupt verhaften? Sie sind doch nur der Scheißbürgermeister.«

»Ich besitze sämtliche Polizeibefugnisse«, sagte Isaac. Er schob seine Kanone wieder in die Hose und zerriss den Scheck mit unterdrücktem Stöhnen. Merlin war pleite, und Isaac konnte jede noch so kleine Summe dringend brauchen, doch er durfte sich nicht von J. Michael kompromittieren lassen und ihm erlauben, sich eine Machtbasis bei den Merliners aufzubauen.

Der Zar der Spieler verlor plötzlich das Interesse an Sidel. Er hatte einen Fernsehtermin in Downtown. Ob er den Bürgermeister irgendwo absetzen könne? Isaac beschloss, in der Bronx zu bleiben.

»Sie sind eine Enttäuschung für mich, J. Der Junge mit dem Schnauzbart im Büro des Rektors war mir lieber.«

»Und Sie hätten mich damals in den Knast gehen lassen sollen. Denn ich werde Ihnen die Bronx nicht geben. Die Yankees können sich von mir aus der Dinosaurier-Liga anschließen. Dieses Stadion hier ist tot.«

»Warum, J.?«

»Weil ich ein verdammtes Arschloch bin … Adios.«

J. Michael kramte eine Yankees-Mütze aus seiner Tasche, strich sie glatt, setzte sie sich auf den Schädel, zwinkerte und ließ Isaac allein in der Wildnis des Yankee Stadium, ihn, der mit DiMaggio, Charlie »Kingkong« Keller und dem Dutchman Tommy Henrich aufgewachsen war, der sie durch die Glasscheibe spüren, der sie auf ihren Phantompositionen sehen konnte, die Yankees von vor fünfzig Jahren. Er war Giants-Fan gewesen, aber er durfte sich keine sentimentalen Vorlieben erlauben. Er musste die Bronx retten.

Er marschierte aus dem verlassenen Stadion, wobei er den Spielereingang nahm, der ihm von einem Wachmann geöffnet wurde, und besuchte die Ladenbesitzer an der Jerome Avenue, von denen die meisten bereits schwarze Bänder in ihre Schaufenster gehängt hatten. Sie trauerten um die Yanks und signalisierten gleichzeitig ihre eigene Unfähigkeit, zu überleben.

»Haltet durch«, sagte Isaac, »wir finden einen Ausweg.«

Er wanderte tiefer in die Bronx hinein und betrat ein Crackhaus voller neunjähriger Kids, deren Finger und Lippen von den heißen Pfeifen in ihren Händen versengt waren.

»Ziehst du einen mit uns durch, Papi?«, fragte ihr Anführer. »Kostet dich fünfzehn Mäuse.«

»Warum fünfzehn?«, fragte Isaac und sah in ihre grimmigen und habgierigen Gesichter.

»Weil du unsere Pfeife mieten und Schutzgeld zahlen musst.«

Isaac begann zu weinen. Wie konnte er solchen erbarmungslosen Kapitalisten helfen?

»Ach, es wird dich schon keiner ausrauben, Opa«, trösteten sie ihn und zeigten Mitleid mit diesem Eisbären, der in ihren Bau gewandert war. Dann bemerkten sie die Glock in seiner Hose. Sofort zogen sie gewaltige Schlachtermesser, die sie unter einer Decke verbargen. Sie konnten die Klingen kaum schwingen, die in ihren Händen zitterten.

»Willst du uns bestehlen?«

»Ach, habt ein Herz«, sagte Isaac und verließ diese kleine Höhle in der Bronx …

Er kehrte zur Gracie Mansion zurück. Marianna Storm war in der Küche und backte Kekse für Isaac. Sie war nach der Schule hergekommen, um ihn zu besuchen, und sie war das eifrigste Mitglied der Merliners, eine blonde Schönheit mit meergrünen Augen.

»Ich war heute Nachmittag mit deinem Dad zusammen«, sagte Isaac.

»Ich weiß.«

»Er war nicht bereit, über Baseball zu reden. Er hat angeboten, Merlin zu finanzieren, wenn ich ihm dafür helfe, dich zu sehen.«

»Und was hast du ihm geantwortet, Isaac?«

»Dass er sich sein Geld sonstwohin stecken soll. Ich habe angefangen, ihm seine Rechte vorzulesen … niemand besticht mich. Aber wie könnte ich den Vertreter der Spieler verhaften? Dann würden wir den Streik nie beenden. Was aber immer noch nicht erklärt, warum du ihn nicht sehen willst.«

»Isaac, sei nicht blöd. Er hat jemanden angeheuert, der Clarice umbringen sollte.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Isaac. »J. Michael liebt dich. Er würde doch sein kleines Mädchen nicht zur Waise machen.«

»Er könnte sich trösten«, sagte Marianna. »Er hätte dann ja Mamas Millionen.«

»Der Mann besitzt doch selbst genug Millionen.«

»Nicht mehr. Daddy hat kostspielige Hobbys. Im Moment bin ich reicher als er.«

»Aber warum ist deine Mutter nicht zur Polizei gegangen?«

»Sie mag die Cops nicht. Und sie will nicht, dass sie ihre Nasen in Familienangelegenheiten stecken.«

»Aber sie hätte zu mir kommen können. Ich werde J. Michael die Beine brechen.«

»Genau davor hat sie ja Angst. Du bist viel zu emotional. Sie wird Daddy mit Hilfe ihrer Anwälte in der Luft zerreißen.«

»Interessiert mich nicht. Man heuert in meiner Stadt keinen Killer an und kommt ungeschoren damit durch.«

»Isaac, so was passiert jeden Tag.« Sie streifte Topfhandschuhe über und zog das Backblech aus dem Ofen. Es war Mariannas eigenes Rezept, Mokka-Makronen mit Walnüssen. Sie backte immer gleich hundert Stück, aber Isaac konnte nie genug davon bekommen. Er würde sie nicht mit seinen Stellvertretern teilen, sondern nur mit der Köchin selbst.

»Du darfst mit Mom nicht über den Killer sprechen, Isaac, versprochen?«

»Wie kann ich so etwas versprechen?«

»Isaac, und wenn ich dir nun keine Kekse mehr backe?«

»Dann wäre ich ein sehr unglücklicher Mann. Aber … «

»Ich halt dich auf dem Laufenden«, unterbrach sie ihn und zog den Mantel über.

»Wo willst du hin? Wir haben noch gar nicht zusammen Kaffee getrunken.«

»Ich darf keinen Kaffee trinken. Ich bin doch erst zwölf. Vom Koffein kriege ich Herzrasen.«

»Und warum bettelst du mich dauernd um eine Tasse an?«

»Weil ich gern meinen Willen durchsetze … ich komme noch zu spät zu meinem Aikido-Training, falls du es unbedingt wissen musst.«

»Aikido«, wiederholte Isaac und war eifersüchtig darauf, dass dieses kleine Mädchen einen eigenen Kampfsportmeister hatte … und ein Holzschwert, das sie in einer Scheide aus Baumwolle aufbewahrte, die sie unter dem Arm trug. Sie drückte Isaac einen Kuss auf die Wange und rannte mit ihrem Schwert aus dem Amtssitz des Bürgermeisters. Isaac fühlte sich hundeelend. Er konnte weder Mariannas Gesellschaft genießen, noch konnte er die Bronx retten. Er verschlang sämtliche Kekse wie ein unersättlicher Bär. Die Kekse waren sein einziger Trost. Mit den schlimmsten Bauchschmerzen seines Lebens trottete er die Treppe zum Schlafzimmer hinauf.

2

Am nächsten Morgen hatte er eine Million Dinge zu erledigen. Bei Tagesanbruch schlich Isaac nach unten und machte sich einen Cappuccino. Ohne den Duft von Kaffeebohnen und angebrannter Milch kam er nicht in die Gänge. Seine Stellvertreter kamen vor acht, und von Mariannas Keksen konnte er ihnen nichts mehr anbieten. Sie versammelten sich im Wohnzimmer, während Harvey, der Kammerdiener des Bürgermeisters, eine Kanne Kaffee aufbrühte und am Tisch in einer silbernen Pfanne Rühreier zubereitete. Der Kämmerer war da und Martha Dime, die Leiterin des Rechtsamtes (die Anwältin der Stadt), außerdem Victor Sanchez, Chef des Bronx Sheriff’s Office, dann Nicholas Bright, der erste stellvertretende Bürgermeister, der sich für Isaac Sidel um die Alltagsgeschäfte kümmerte, sowie Candida Cortez, die als stellvertretende Bürgermeisterin für den Haushalt zuständig war und deren wesentliche Aufgabe in der Wirtschaftsplanung der Stadt bestand, deren Bankkonten sie im Auge behielt. Und sie alle fielen über Harveys Rühreier her. Der Bürgermeister hatte auch eine Köchin, doch die war eher mittelmäßig, und deshalb hatte Isaac Mathilde die Leitung der Hauswäscherei übertragen. Er brachte es nicht über sich, jemanden zu feuern. Stattdessen ließ er die Leute rotieren, als Spielfiguren in seiner eigenen, ausgeklügelten Reise nach Jerusalem.

Der letzte Mitspieler traf spät ein. Rebecca Karp, die Graue Eminenz der Sidel’schen Verwaltung und mit Abstand das unpopulärste Stadtoberhaupt in der Geschichte New Yorks. Ohne sie unternahm Sidel keinen Schritt. Er hatte unter Becky Karp als Police Commissioner gedient, hatte mit ihr geschlafen – Meinungsumfragen hatten ihnen den Spitznamen »Isis und Osiris« verliehen, die klassische Inzucht-Nummer – und ihr eines der hinteren Schlafzimmer überlassen. Doch Rebecca schlief nur selten in der Mansion. Sie wollte Isaacs Popularität nicht schaden, indem sie die böse Schwester spielte.

Isaac hatte sie alle zu sich gebeten, weil sie ihm helfen sollten, das Ausbluten der Bronx zu beenden. Queens konnte mit einem toten Baseballstadion überleben; Queens hatte ein Filmstudio, einen Golfplatz und Tennisplätze, es gab Brotfabriken und Flughäfen, ein Elektrizitätswerk, eine Rennbahn. Die Bronx hatte nur das Yankee Stadium.

»Dieses Arschgesicht von Robert Moses«, brummte Isaac. Moses, einer der großen Bauunternehmer New Yorks, hatte in den fünfziger Jahren die Bronx in zwei Teile zerschnitten, indem er quer durch ganze Viertel eine Schneise schlug, um das Rückgrat des Stadtbezirks entlang eine Schnellstraße zu bauen. Und alles, was östlich dieser Schnellstraße lag, hatte angefangen, zu verrotten und zu sterben.

»Isaac«, zischte Rebecca, noch einen Schluck Kaffee im Mund. »Setz nicht diese Grabesmiene auf. Wir können nicht ungeschehen machen, was Moses angerichtet hat.«

»Soll ich also auf die Banker hören, Rebeccaschätzchen, und sagen: ›Vergesst El Bronx. Da leben eh nur Latinos, die Sozialhilfe kassieren, Crackbabys und Säuglinge mit Aids‹?«

»Isaac«, sagte Rebecca, »wo sind die Banker? Sollten sie nicht hier sein?«

»Ich habe sie nicht eingeladen.«

»Und wo ist Billy the Kid?«

Billy the Kid war der Gouverneur des Staates New York und Vorsitzender des Financial Control Board, der wie ein Geier über New York City hockte. Isaac gehörte diesem Ausschuss ebenfalls an, doch Billy beherrschte ihn. Billy the Kid wollte ins Weiße Haus, und er wollte keinen kranken Stadtteil am Hals haben. In El Bronx war für seine Wahlkampfschatulle kein Geld zu holen. Die Wähler dort galten als unberechenbar. Es wäre ihnen durchaus zuzutrauen, dass sie sich gegen Billy stellten und stattdessen den Republikanern zujubelten.

»Der wird an meinem Tisch bestimmt keine Eier essen. Billy ist kein Freund von Baseball. Liebend gern würde er den Streik in die Länge ziehen, um im letzten Augenblick einzugreifen und den strahlenden Engel zu spielen, der J. Michael angefleht hat, den Krieg zu beenden.«

»Aber Isaac«, sagte Candida Cortez, »ohne die Banker und Billy the Kid können wir die Bronx nicht retten.«

»Doch, können wir.«

»Wie denn?«, fragte Victor Sanchez. »Hetzen wir J. Michael Storm einen Killer auf den Hals, oder legen wir den Kerl selbst um?«

»Gar keine schlechte Idee.«

Rebecca stöhnte. »Ja, red nur von Mord. Das wird sich wunderbar im Protokoll machen.«

»Es wird kein Protokoll geben … das hier ist ein zwangloses kleines Treffen. Kaffee und Eier.«

»Das Frühstück ist ja schön und gut, aber wenn wir die Yanks nicht zurückholen können, Sonnyboy, wird es bald keine Bronx mehr geben.«

»Wir könnten in der Zwischenzeit sparen«, meinte Martha Dime. »Hier ein Krankenhaus schließen, da ein paar Tagesstätten zusammenlegen.«

»Auf gar keinen Fall«, sagte der Bürgermeister.

»Isaac, wir können keine Wunder vollbringen. Die Zahlen geben das einfach nicht her«, sagte Candida Cortez. »Glauben Sie vielleicht, mir gefällt das? Als ich Kind war, gab es noch wilde Hunde im Crotona Park. Mein Vater musste sie mit seinem Gewehr erschießen. Aber die Hunde kommen zurück … «

»Ich werde ihnen das Herz rausreißen«, sagte Isaac.

»Wir würden Sie gar nicht erst in den Park gehen lassen«, sagte Nicholas Bright. »Das wäre ein zu großes Versicherungsrisiko. Sie würden die Stadt jeden Tag hunderttausend Dollar kosten, wenn Sie im Krankenhaus landen.«

»Wie das? Ist ein bisschen sehr viel.«

»Es braucht zehn Leute, um Sie zu vertreten, sollten Sie ausfallen. Es wären rund um die Uhr Leibwächter und Krankenschwestern erforderlich … Euer Ehren, im Interesse der Stadt verbiete ich Ihnen, den Crotona Park zu betreten.«

»In Ordnung«, sagte Isaac, »dann mache ich eben keine Jagd auf wilde Hunde. Aber, meine Damen und Herren, es wird nicht lange dauern, und die wilden Hunde jagen uns.«

Isaac verließ seine Stellvertreter und Dezernenten und ließ sich von einem seiner Leibwächter downtown zu Clarice Storm fahren. Clarice hatte ihr eigenes Sicherheitssystem, bestehend aus zwei Bodyguards, die Isaac filzten und verlangten, dass er seine Glock auf den Kaminsims legte.

»Ich bin der Bürgermeister«, musste Isaac geltend machen. »Ich begehe keine Verbrechen.«

»Lügner«, rief jemand von der Terrasse. Es war Clarice, um neun Uhr morgens bereits ein Glas Wodka in der Hand. Unter dem Bademantel mit dem Emblem eines Madrider Hotels war sie nackt. Clarice liebte es, Kleinigkeiten mitgehen zu lassen, wenn sie von einem Hotel zum nächsten zog: Handtücher, Bademäntel, Samtpantoffeln. Als J. Michael sie heiratete, war sie siebzehn gewesen und im letzten Schuljahr auf einem schicken Mädchenpensionat in der Nähe von Abilene, und sie war eine Kindsbraut geblieben, die sich von Wodka und Kartoffelchips ernährte.

Clarice knurrte ihre Bodyguards an und schlürfte den Wodka. »Isaac, bist du gekommen, weil du in mein Bett kriechen möchtest?«

»Nicht ganz. Marianna war gestern in der Mansion und … «

»Isaac, ich warne dich, so früh am Morgen werde ich nicht mit dir über meine Tochter diskutieren. Sei ein Schatz und hol eine neue Flasche aus dem Eisfach.«

»Ich bin nicht dein Wodka-Page.«

»Dann verpiss dich. Ich hab dich nicht hergebeten, Mr. Mayor. Keine Angst, ich werde deine kleinen Merliners schon nicht im Stich lassen. Du darfst auch in Zukunft mein Penthouse benutzen, um die Kinder zu treffen und deine Hirngespinste zu nähren … was hat Marianna gesagt?«

»Dass J. Michael dich umbringen will.«

»Wollen das nicht die meisten Ehemänner? Er hat die Nase voll von mir, oder ich habe die Nase voll von ihm. Kann mich an die richtige Reihenfolge nicht mehr erinnern.«

»Dass er sogar einen Killer engagiert hat.«

Mit einem Mal war Clarice hellwach. Der Wodkaschleier verschwand aus ihren Augen. »Das hätte sie dir nicht erzählen dürfen. Das ist reine Spekulation.«

»Hast du deswegen zwei Bodyguards mit Glocks?«

»Es bleibt alles in der Familie, Isaac. Sie beschützen mich vor J. Michael. Wärst du letzten Monat zum Kaffee gekommen, hättest du ein ordentliches Veilchen unter meinem Auge bemerkt. Ein kleines Geschenk von J. Er wollte, dass ich für ihn eines von Mariannas Treuhandvermögen anzapfe. Dem Baseballzar ist das Kleingeld ausgegangen.«

»Und wenn er dich umlegen lässt, ist er saniert?«

»Fast. Er kann sich mit Mariannas Geld amüsieren, kann die eine oder andere Versicherungspolice abkassieren und unsere gemeinsamen Konten plündern.«

»Nicht nach einem Mord. Die Gerichte würden nicht einen Penny an ihn rausrücken.«

»Und was, wenn dieser imaginäre Killer es wie einen Unfall aussehen ließe … oder wie einen Selbstmord? Nichtsnutzige, sturzbesoffene Ehefrau macht Flattermann von eigener Terrasse?«

»Aber ich werde es erfahren, und ich werde J. Michael keine Ruhe lassen … Clarice, ich könnte dir meinen Schwiegersohn ausleihen, Barbarossa. Er ist bei den Special Services. Ich glaube, im Moment arbeitet er als Personenschutz für Madonna. Ich könnte ihn von diesem Einsatz abziehen.«

»Keine Cops … meine Jungs haben klare Befehle. Keine Warnschüsse.«

»Das ist Teil des Problems. Ihnen könnte der Finger zu locker am Abzug sitzen. Und dann wimmelt es hier nur so von Cops … erzähl mir mehr von dem Killer.«

»Ach, da gibt’s nicht viel zu erzählen. Er hat sich in mein Schlafzimmer geschlichen, bevor ich Milton und Sam engagiert habe. Ich war in meinem üblichen Wodka-Tran. Er rauchte eine Zigarette und setzte sich neben mich, dann hob er mich in seine Arme und trug mich zur Terrasse. Eigentlich war er ziemlich zärtlich.«

»Wie hat er ausgesehen? Hast du sein Gesicht gesehen?«

»Sei nicht albern. Würde er eine Zigarette rauchen, wenn ich sein Gesicht sehen könnte? Er trug eine Kapuze.«

»Eine Kapuze?«, sagte Isaac. »Du meinst, eine Strumpfmaske.«

»Überhaupt nicht. Eine ganz altmodische Kapuze, wie sie die Henker früher getragen haben, so eine mit Löchern für die Augen und einem winzigen Schlitz für den Mund.«

»Fantômas«, brummte Isaac vor sich hin.

»Wer ist Fantômas? Bin ihm nie begegnet.«

»Der König des Verbrechens«, sagte Isaac. »Eine Figur aus einem paar Dutzend Büchern. Alle meine Studenten mussten Bücher über Fantômas lesen, als ich an der Polizeiakademie gelehrt habe. Er konnte ganze Polizeiapparate unterwandern, einen Police Chief spielen … er ist der Bursche, der das Chaos anführt. Er benutzt gern Masken und Kapuzen.«

»Und du meinst, mein Freund mit der Kapuze war ein zweiter Fantômas?«

»Woher soll ich das wissen? Er hat dich also zur Terrasse getragen, und was ist dann passiert?«

»Marianna kam in mein Zimmer gestolpert. Fantômas blieb stehen und setzte mich wieder ab. Ich konnte ihn fauchen hören.«

»Marianna hat ihn gesehen?«

»Ich glaube schon. Sie konnte Fantômas gar nicht übersehen.«

»Und er ist einfach so wieder gegangen? Warum hast du den Portier nicht angerufen, hast ihn aufhalten lassen?«

»Isaac, Fantômas mag keine Türen. Er ist die Wand der Terrasse hinuntergeklettert und verschwunden.«

»Wie ein Scheißjuwelendieb … Clarice, wenn er Zutritt zu deinem Balkon hat, wenn er einfach so kommen und gehen kann, dann spielt es auch keine Rolle, wie viele Leibwächter du hast. Er hat den Schlüssel zu deinem Fort. Du musst hier weg, zieh um.«

»Und Fantômas aufgeben?«

»Das ist kein Spaß. Das nächste Mal ist Marianna vielleicht nicht in der Nähe. Und dieser Killer wird dich über die Mauer schmeißen.«

»Oder mit mir schlafen. Isaac, ich kann Augenlöcher lesen. Fantômas war angespitzt.«

»Ja, ja, genau das sagen doch alle Philosophen, nicht wahr? Sex und Tod sind zwei Seiten einer Medaille … angenommen, er schläft mit dir und schickt dich dann mit dem Fantômas-Express auf Reisen?«

»Aber ich werde ihm seine Maske runterreißen, wenn er kommt, und wenn ich Fantômas nicht mag, kratze ich ihm die Augen aus … Isaac, ich flirte nicht. Ich habe an den Terrassentüren doppelte Schlösser anbringen und eine Alarmanlage installieren lassen. Aber könntest du nicht mein Fantômas sein? Oder bist du immer noch dieser russischen Schlampe treu?«

»Sie ist Rumänin«, korrigierte Isaac. Seine Liebste war eine Doppelagentin, die aus der Gracie Mansion verschwunden war. Isaac hatte sie dem FBI abgegaunert, und eines Nachmittags küsste Margaret Tolstoi Isaac auf den Mund und ließ ihn einfach sitzen. Inzwischen war sie seit sechs Monaten fort, und weder seine Nachforschungen noch all der Druck, den ein Bürgermeister ausüben konnte, waren imstande, sie zurückzubringen.

»Isaac, du bist vor mir sicher. Ich werde dich schon nicht verführen.«

Clarice umarmte den Bürgermeister, presste ihre Brust an seine, und Isaac konnte die körperliche Anziehungskraft nicht verleugnen, die sie auf ihn ausübte. In einer anderen Welt hätte Clarice ihn reizen können. Aber sie war Mariannas Mom, und Clarice anzufassen wäre wie Inzest gewesen.

Von Milton und Sam erhielt er seine Glock zurück und ließ sich von seinem Fahrer auf dem schnellsten Weg in die Bronx bringen, wo er hoffte, inmitten der Ruinen entspannen und Fantômas vergessen zu können. Die Jerome Avenue war zur Nuttenmeile verkommen. Autofahrer, die vom Cross Bronx Expressway kamen, hatten die freie Auswahl unter den Mädchen, die sich unter der Hochbahntrasse an der Jerome Avenue herumtrieben. Die Mädchen führten ihre Freier in den Innenhof des Castle Motel, eines riesigen Ziegelkastens mit fensterloser Fassade. Die Mädchen hatten eine eigene Patin, Mimi Brothers, eine Krankenschwester aus der Bronx, die in der Nähe des Motels einen Lieferwagen stehen hatte und Gratis-Kondome, Grippeimpfungen, Vitamine, Sexualkunde-Broschüren, Kaffee, Sandwiches und Schokoriegel verteilte. Auf Mimi Brothers’ linken Bizeps waren die Worte »Heart of Gold« tätowiert, und in ihrem Van bewahrte sie einen Baseballschläger auf. Sollte ein durchgeknallter Freier im Schatten der Hochbahn eines der Mädchen angreifen, wäre Mimi sofort zur Stelle.

Isaac teilte sich mit ihr einen Schokoriegel.

»Mimi, ich verspreche dir, eines schönen Tages komme ich mit einer großen Axt und schlage dieses Scheiß-Motel kurz und klein.«

»Isaac, du bist ein Baby. Deshalb habe ich dich gewählt. Das Ding abzureißen würde überhaupt nichts ändern. Es wird immer ein Castle Motel geben. Wenn ein Mädchen drückt, weiß ich wenigstens immer, wo ich sie finde.«

Die Patin war knapp bei Kasse, und Isaac steckte ihr hundert Dollar zu. Dann schlenderte er ohne seinen Bodyguard die Featherbed Lane hinauf. Früher war dies die feinste Adresse in der West Bronx gewesen. Heute war es ein Garten zerbrochener Ziegel neben Robert Moses’ Schnellstraße. Er verfluchte diesen Bauherrn, verfluchte ihn in seinem Grab. Doch während er so vor sich hin schimpfte, bemerkte der Bürgermeister etwas: ein Wandbild. Nicht die typische Tropenlandschaft irgendeines jungen Latino-Künstlers, auch kein abstruser Traum von Brüderlichkeit, der in der Bronx ohnehin nie Wirklichkeit werden würde. Es war vielmehr ein bebilderter Grabstein auf einer öden Ziegelwand. Da war das Gesicht eines gefallenen Gangmitglieds mit einer kleinen Botschaft, »Ruhe in Frieden, Homey«, und einer detaillierten Zeichnung der Featherbed Lane mitsamt den Autos, Prostituierten und Moses’ Schnellstraße, wie ein trostloses Paradies, das bedrohlich über dem Planeten aufragte. Der Künstler hatte den Nachruf in einer Ecke mit einem großen A signiert.

Isaac ging weiter. Er stieß auf einen weiteren Nachruf desselben Künstlers, wieder ein illustrierter Grabstein mit einer Szene aus dem Alltag in der Bronx: Drogendealer und Polizeibeamte, gefangen in einer danse macabre.

Die Nachrufe beunruhigten und begeisterten Isaac zugleich. Die jungen Bandenmitglieder, die in der Bronx gestorben waren, hatten in A ihren Chronisten gefunden: Er malte keine Heerscharen von Engeln und Dämonen und auch keine metaphysische Wälder, sondern nur das psychische Wetter auf der Featherbed Lane.

Isaac rannte den Hügel hinunter, beinahe so aufgeregt wie damals, als er das erste Mal Anastasia alias Margaret Tolstoi gesehen hatte. Er wollte all seinen Stellvertretern von dem Künstler berichten, den er in den Ruinen entdeckt hatte, direkt neben der Schnellstraße, die die Bronx getötet hatte.

3

Die Bronx hatte ihren eigenen Geschichtsschreiber, Abner Gumm. Isaac brannte darauf, den Mann zu treffen, der wilde Hunde im Crotona Park, zerrissene Vorhänge im Paradise (einem der letzten noch existierenden Filmpaläste) und die verstörten Gesichter junger Häftlinge in einer Bronxer Jugendstrafanstalt fotografiert hatte. Er war seit fünfzig Jahren immer mit derselben simplen Kamera auf den Straßen unterwegs. Gumm bezog kein festes Gehalt als Geschichtsschreiber des Stadtteils. Er lebte von einer kleinen Erbschaft.

Der Bürgermeister lud ihn zum Mittagessen in seine Residenz ein. Wie Sidel war er Ende fünfzig. Er trug gebrauchte Kleidung genau wie Isaac, dem nicht entging, wie unbehaglich sich Gumm inmitten der Kronleuchter und antiken Sofas fühlte. Der Bezirkshistoriker war ein leicht gestörter Einsiedler, der längst eingewiesen worden wäre, hätte er mit Hilfe seiner Kamera nicht einen Weg zurück in die Welt gefunden. Schon nach fünf Minuten hatte Isaac ihn ins Herz geschlossen. Fast war ihm danach, Gumm einzuladen, in die Villa zu ziehen.

»A«, sagte Isaac, einen Zahnstocher zwischen den Zähnen. »Erzählen Sie mir von diesem verfluchten Genie. Geben Sie mir einen Tipp.«

Der Bezirkshistoriker begann zu blinzeln.

»Kommen Sie«, hakte Isaac nach. »Wir sind Straßenkinder … wir machen keine krummen Dinger. Sie müssen diese Wandbilder doch fotografiert haben. Man vergisst sie nicht mehr, wenn man sie einmal gesehen hat.«

Isaac und Abner begannen, Harveys kalte Kartoffelsuppe zu schlürfen. Beide hatten sich Servietten vor die Brust gesteckt … falls sie kleckern sollten. Es war clever von Isaac, einen Koch zu haben, der gleichzeitig sein Kammerdiener war. Harvey konnte den Bürgermeister und seine Gäste füttern und sie anschließend sauber machen.

»Wandbilder?«, musste Abner nachfragen.

»Die an der Featherbed Lane … zu Ehren der Einheimischen, die im Viertel ihr Leben gelassen haben.«

»Mr. Mayor, vor nicht mal einem Jahr habe ich ganze Fotoserien von der Featherbed Lane geschossen. Da waren keine Wandgemälde.«

»Das ist aber komisch. Sie sind urplötzlich erblüht … wie die Kirschbäume?«

»Nein. Die Gangs sind einfallsreich. Ich kann mit ihnen nicht Schritt halten.«

»Wie zum Beispiel die Phantom Fives?«

»Die Featherbed Lane gehört den Latin Jokers. Ich muss es wissen. Ich habe eine kleine Karte, die es mir erlaubt, in ihrem Gebiet zu knipsen.«

»Und wenn Sie keine solche Karte hätten?«

»Würde ich meine Kamera verlieren … und mein Leben.«

»Aber ich bin die Featherbed Lane entlangspaziert, und es ist nichts passiert. Ich bin keinem einzigen Joker begegnet.«

»Sie waren da, Mr. Mayor, aber sie sind Ihnen aus dem Weg gegangen. Sie sind eine Berühmtheit. Sie verfolgen Ihre Heldentaten in der Glotze. Sie nennen Sie El Caballo, den Großen Juden.«

»Super«, sagte Isaac.

»Sie sollten sich geschmeichelt fühlen. Normalerweise sind sie einem Bürgermeister nicht so zugetan. Manhattan ist für die so was wie ein verbotener Planet.«

»Aber ich bin auch der Bürgermeister der Bronx.«

»Theoretisch ja. Aber Ihre Villa liegt nicht im Van Cortlandt Park. Und Sie hatten auch noch nie ein Powerfrühstück im Bronx Zoo.«

»Ich hasse Powerfrühstücke«, sagte Isaac.

»Aber Sie haben doch ständig welche.«

»Das gehört zu den Verpflichtungen und Lasten meines Amtes. Powerfrühstück und Powermittagessen.«

»Und sie sehen auch nicht, dass besonders viel Geld von Manhattan in die Bronx fließt.«

»Jesus, ich tue, was ich kann. Wir stehen mitten in einem Baseballkrieg, und außerdem ist es der Gouverneur, der die öffentlichen Mittel kontrolliert, nicht ich.«

»Billy the Kid hat für sie keinerlei Bedeutung. Sie interessieren sich ausschließlich für El Caballo.«

»Und ich interessiere mich für einen Künstler, der meinem Bezirkshistoriker noch unbekannt ist.«

»Ich bin nicht Gott, Mr. Mayor, aber ich werde noch mal auf der Featherbed Lane fotografieren.«

Abner wirkte auf einmal bedrückt, wollte seinen Nachtisch nicht mehr anrühren. Isaac hatte die miserable Angewohnheit, stets zu viel von seinen Soldaten zu erwarten. Abner Gumm hatte seinen Aktionsradius auf einen Bezirk verengt, der wie ein rauer Vorort von Manhattan war, eine Art Kindergarten, und diesen Kindergarten hatte er so gut er konnte erfasst. Aber er konnte nun mal nicht jeden kleinen Rembrandt katalogisieren.

»Es tut mir leid«, sagte Isaac. »Ich wollte Sie nicht unter Druck setzen. Sie sind schließlich keine Auskunftei … «