Little Angel Street - Jerome Charyn - E-Book

Little Angel Street E-Book

Jerome Charyn

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  • Herausgeber: Diaphanes
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Mit einem Erdrutschsieg ist Isaac Sidel zum Bürgermeister von New York City gewählt worden. Bevor er endgültig sein Amt antritt, heißt es, eine mysteriöse White-Power-Bande dingfest zu machen, die Obdachlose tötet. Dazu wirft Sidel sich wieder einmal in Lumpen und verschwindet unter dem Decknamen Geronimo Jones in den Untergrund von Manhattan North. Bald kommt er einer mordenden Gang auf die Spur, die in die unappetitlichsten New Yorker Polittricksereien verstrickt ist und deren Macht vom Ali-Baba-Sexpalast am Times Square bis ins Alte Europa reicht: nach Paris, Rumänien und ins Odessa der vierziger Jahre. Dort warten nicht nur Erinnerungen an eine alte Liebschaft auf Isaac Sidel, sondern diese Liebschaft, Margaret Tolstoi, selbst, die ihren ganz eigenen, gefährlichen Plan verfolgt…

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Seitenzahl: 338

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Jerome Charyn Little Angel Street

Die Isaac-Sidel-Romane

Inhalt

Teil Eins

Teil Zwei

Teil Drei

Für Georges Moustaki

Teil Eins

1

»Sweets.«

Er befand sich auf einem Feld voller Eis. Aber das Eis bot ihm keinen Halt. Seine Schuhe sanken unter die gefrierende Haut. Er ertrank nicht. Er hatte einen Riss im Eis verursacht, einen Spalt, der durch seinen bulligen Körper breiter und breiter wurde. Er war zu massig. War es schon immer gewesen.

»Sweets.«

Er tauchte aus einem Traum auf. Er befand sich in den Hollows, einem Urlaubsort in der Nähe von Morristown, New Jersey, wo seinem Vater ein Sommer- und Winterpalast gehört hatte. Es war der exklusivste Urlaubsort Amerikas. Er war ausschließlich auf schwarze Millionäre ausgerichtet. Und das Eisfeld war Sweets’ Revier gewesen, als er noch ein kleiner Junge war. Außerdem war es heroischer Boden. George Washington hatte im Winter 1779–80 seine Armee in den Hollows versteckt und die Briten auf genau diesem Eisfeld ausgetrickst.

»Sweets.«

Er öffnete ein Auge. Jemand mit einem breitkrempigen Hut saß auf seinem Schreibtisch. Es war sein eigener Frontmann, Albert Wiggens, der sich vorzugsweise an ihn anschlich und unangemeldet kam. Wig war sein getreuester Helfer, ein brutaler Polizist und Angehöriger der Purple Gang, einem mythischen Haufen Harlemer Desperados. Wig war wie ein Späher, ein Vorreiter, der unsichtbare Grenzen überschreiten und sein eigenes Gefühl für einen inneren Raum erschaffen konnte, den kein Police Commissioner, weder schwarz noch weiß, je betreten konnte. Carlton Montgomery III, genannt Sweets, war einmal der Star der Baseball- und Basketball-Mannschaften des Columbia College gewesen. Eine Knieverletzung hatte ihm jedoch einen Strich durch die Karriere eines Profisportlers gemacht. Er saß hinter seinem Schreibtisch mit einer Begonie, die er von Isaac Sidel geerbt hatte, seinem Vorgänger als Commish, und träumte von den Hollows, bis Albert Wiggens ihn schließlich weckte.

»Wig, du sitzt auf einem Erbstück. Das war Teddy Roosevelts Schreibtisch.«

»Ein Haufen weißer Abschaum«, sagte Wig.

»Aber jetzt ist es mein Schreibtisch. Beweg deinen Arsch da runter.«

»Oh, das werde ich, Mr. Sweets. Ich habe Neuigkeiten für Sie. Ich habe den Pink Commish gefunden.«

In einem Monat würde Sidel in die Gracie Mansion umziehen. Er war der zaudernde König von New York. Und der König hatte die derzeitige Bürgermeisterin, Ms Rebecca Karp, gezwungen, Sweets zum ersten schwarzen PC zu vereidigen. Sweets hatte keinerlei Interesse an rassenpolitischen Manövern, jeder andere dafür aber offensichtlich umso mehr. Er musste in Kirchen und Synagogen und Universitätsinstituten für Kriminologie reden. Er war nicht bereit, für sich persönlich ein Honorar anzunehmen. Was er bekam, spendete er in Gänze dem AIDS-Hospiz von Kardinal O’Bannon in der Attorney Street. Die Schäfchen des Kardinals wollten das Hospiz nicht. Aber Kardinal Jim war mutig. Sweets bewunderte den Mann, obwohl Jim gegen ihn intrigiert und versucht hatte, Isaac zu bewegen, einen irischen PC zu ernennen.

»Und wo ist unser König?«, musste Sweets fragen.

»Der Junge ist kein König. Er scheißt sich morgens, mittags und abends in die Hosen.«

»Wo ist er, Wig?«

»In der Seventh Avenue Armory.«

»Was zum Henker hat er in einem gottverdammten Asyl in Harlem zu suchen?«

»Herumschnüffeln, wie er’s immer macht.«

»Nach was schnüffeln?«

»Schmutzige alte Socken. Der weiße Junge lebt jetzt schon seit einer Woche in der Armory.«

»Er verschwindet so einfach mir nichts, dir nichts und zieht zu einem Haufen obdachloser Männer? Das ist seltsam. Er wird noch seine eigene Amtseinführung verpassen.«

»Ich wäre begeistert, Sweets. Ohne Bürgermeister läuft die Stadt runder.«

In Wigs Worten schwang Bosheit mit. Er war Chef der zu Rebecca Karp abkommandierten Truppe gewesen, die in der Gracie Mansion hockte wie eine alte Jungfer und niemanden empfing. Wig war ihr langer Arm gewesen. Und Isaac hatte ihn geschasst, Wig aus dem Spezialtrupp der Bürgermeisterin entfernt.

»Wir fahren zur Armory rauf, Wig.«

»Ohne mich, Bruder. Ich wische dem Pink Commish bestimmt nicht den Arsch ab.«

»Du wischst, wenn ich dir sage, dass du wischen sollst, sonst schicke ich dich nach Staten Island, wo du Kuhweiden bewachen kannst.«

»Sie geben sich schon viel zu lange mit diesen weißen Pissern ab. Sie sehen schon aus wie Al Jolson, ein weißer Junge mit Teer im Gesicht.«

»Ich lass dich fallen, Wig, das schwöre ich.«

»Nehmen Sie meine goldene Dienstmarke. Ich werde gebratenen Catfish auf der 125thStreet verkaufen. Dann verdiene ich mehr als jeder Police Commissioner.«

»Freut mich. Aber zur Seventh Avenue Armory fährst du trotzdem.«

Er hatte Isaacs schwarzen Dodge geerbt und auch Isaacs kranken Chauffeur, Sergeant Malone, der rosa Milch schluckte, um sein Magengeschwür zu besänftigen. Allerdings zog Sweets es vor, selbst zu fahren. Er setzte sich nach vorn zu seinem Frontmann. Wig hatte keinen millionenschweren Zahnarzt-Daddy wie Sweets. Er war bei einer langen Parade von Onkeln und Tanten an der Lenox Avenue aufgewachsen. Er war in East Harlem auf die Highschool gegangen und gehörte keinen Ehrengesellschaften an. Aber er hatte einen Schulabschluss. Sidel, der umherschweifende Polizei-Gelehrte, hatte an der Highschool einen Vortrag gehalten, war mit Sweets gekommen, einem seiner grünschnäbeligen Adjutanten, und Wig hatte nicht einen Augenblick zugehört, sich dafür aber sofort in Sweets’ Körpergröße von eins achtundneunzig verliebt. Wenn das Police Department schwarze Riesen akzeptierte, warum dann nicht auch Wig? Er arbeitete als Kfz-Mechaniker, absolvierte einen Crashkurs in Kriminologie und bestand die Aufnahmeprüfung der Polizei. Mit zweiundzwanzig ging er auf die Akademie, ohne jemals Dienst in einem Revier zu tun. Er wurde vom Büro des First Dep aufgenommen, wurde verdeckter Ermittler und war so was wie ein schwarzer Hawkeye in Harlem, spürte Dealer und ehrgeizige Banditen auf. Ihm wurde in den Kopf geschossen und er wurde von Dächern und Feuerleitern geworfen. Er war der höchstdekorierte Cop der Stadt direkt nach Vietnam Joe Barbarossa, der noch verrückter war als Wig, bis er Isaacs Tochter heiratete, Marilyn the Wild. Joe und Wig hatten geschworen, sich gegenseitig umzubringen. Zum Teil basierte der Hass auf der Tatsache, dass sie sich so ähnlich waren. Draußen auf der Straße kannten sie keine Angst. Beide hatten selbst gedealt und verdingten sich angeblich als Killer. Allerdings umgab Joe nicht die Aura der Purple Gang. Er hatte eine selbstmörderische Schwester und eine selbstmörderische Frau.

Wig erreichte mit Sweets die Seventh Street Armory. Es war eine staubige Burg mit dunklen Ziegelmauern. Einen Soldaten hatte er in der Armory noch nie gesehen, hatte aber gehört, dass dort während des Ersten Weltkriegs ein schwarzes Regiment einquartiert war. Sein Onkel hatte ihm von schwarzen Köchen und schwarzen Burschen erzählt, die weißen Generalen zugeteilt waren und sich in der Armee des weißen Mannes zu Sergeants »entwickelt« hatten, aber von keinem einzigen schwarzen Kämpfer. Doch sein PC war ein merkwürdiger Fall. Sweets’ Vorfahren hatten während der Revolution als freie Männer Seite an Seite mit George Washington gekämpft. Das war vielleicht ein krasses Ding. Mutige Nigger traten die Briten in den Arsch.

Sweets schien sich unwohl zu fühlen. Harlem war nie sein Terrain gewesen. Es war verbrannte Erde. Er konnte sich einfach nicht an die ganzen verlassenen Gebäude gewöhnen, nicht an das gelbe Gras, das aus den Ritzen der Bürgersteige wuchs, nicht an die halbleeren Bierflaschen, die die Bordsteine säumten und auf einen geisterhaften Trinker warteten.

Wig erkannte die Männer, die auf den Stufen der Armory herumlungerten. Es waren Whiskey-Prediger, die ihre Gemeinden verloren hatten, verurteilte Straftäter, die sich vor dem Gesetz versteckten, hirngeschädigte Psychopathen, Harlem-Ratten, die mit Wig die Schule besucht und die Aufnahmeprüfung bei der Polizei nicht bestanden hatten. Er kannte ihre Namen, ihre Vorstrafen, ihre sexuellen Vorlieben.

»Hallo, Brother John, hallo, Brother Joshua. Wie geht’s meinem Mann?«

»Hey, Wig, du willst uns doch nicht nerven, oder?«, sagte einer der Herumtreiber.

»Nein. Wir suchen den weißen König.«

Die Herumtreiber lachten.

»Du meinst den Trottel mit den Wahnvorstellungen? Der glaubt, eine Matratze in unserer Kaserne wäre besser als die Gracie Mansion.«

»Ja, das ist der König. Aber macht ihn nicht runter.«

»Scheiße, den nächsten Bürgermeister von New York würden wir doch nie runtermachen. Wer ist dein Freund da?«

»Der Police Commissioner«, sagte Wig. »Mr. Carlton Montgomery der Dritte.«

»Ist denn unser kleiner Zunftbruder nicht mehr Commish?«

»Nein«, sagte Wig.

Und die Herumtreiber salutierten Sweets. »Hallo, Brother Carlton.«

Wig schob sie beiseite und betrat mit Sweets die Armory. Ein Wächter versuchte, sie aufzuhalten, bis er Wig erkannte. Der Wächter war mit einem Gummiknüppel bewaffnet. Er trug eine Art Uniform, Hemd und Hose, die überhaupt nicht zueinander passten. Hinter einer Glasscheibe saß ein weiterer Mann. Er war der »Nachtportier«, der eine ununterbrochene Achtzehn-Stunden-Schicht arbeitete, bis die Zeit und das Wetter zu einem endlosen mitternächtlichen Nebel verschmolzen.

»Ohne Durchsuchungsbefehl, Wig, kannst du da nicht rein.«

»Du hast den Police Commissioner vor dir, Brother William.«

»Das heißt nichts. Das hier ist unsere Armory, Wig. Die armen Schlucker haben auch ihre Rechte.«

»Du versteckst doch nichts, William, oder? Denn wenn du Brother Carlton sauer machst, kommt er mit zwei Spezialstaatsanwälten zurück und macht dieses stinkende Loch zu.«

Und Wig führte Sweets ins Herz des Asyls, eine trostlose Kaserne mit endlosen Bettenreihen, eine letzte, ungewaschene Welt. Der Gestank war unerträglich. Er schien sich von den Wänden abzuschälen, diesen gewaltigen Raum einzunehmen und sich über Sweets zu legen. Er fing an zu husten. Er konnte kaum noch atmen. Nichts in seinem privilegierten Leben hatte ihn auf das hier vorbereitet. Er kam aus einer Gegend, in der immer noch George Washingtons Geist waltete. Er hatte sein eigenes Kindermädchen gehabt, das ihm Zaubertricks beigebracht hatte. Er hätte bei den Harlem Globetrotters spielen können, schlimmes Knie hin oder her, er hätte auch Vizepräsident der Ford Foundation werden können. Doch er hatte alle Headhunter abgewiesen. Er war ein Police Commissioner, der in einem Heim für obdachlose Männer stand, von denen sich manche völlig unter weiße Laken zurückgezogen hatten wie Gestalten in einem Leichenschauhaus.

Er erkannte Isaac, der in Winterunterwäsche auf einem Bett saß und Worte auf einen langen Block kritzelte. Er hatte keine Nachbarn, die ihn störten. Die verlorenen Seelen hatten die Betten um Isaac herum geräumt.

»Hallo, Mr. Mayor.«

»Nicht so laut«, raunte Isaac. »Ich bin hier unter Pseudonym. Geronimo Jones. Und nenn mich nicht ›Mr. Mayor‹. Ich bin nur der designierte Bürgermeister.«

»Aber Sie sind unser König«, sagte Wig.

»Musstest du den unbedingt mitbringen?«, fragte Isaac den Police Commissioner. »Er ist ein gedungener Mörder. Ich suspendiere Wig, und du hast nichts Eiligeres zu tun, als ihn wieder einzustellen.«

»Völlig richtig, Wichser«, sagte Wig. »Sie sind ein stinkender alter Mann. Ich würde Sie auch ohne Auftrag umlegen. Ich würd’s gratis tun. … wie geht’s Ihrem Schwiegersohn Barbarossa? Verkauft er immer noch Drogen an Collegeschüler?«

»Es reicht«, sagte Sweets. »Isaac, du kannst dieses Bett nicht belegen.«

»Wieso denn nicht? Ich brauchte Urlaub. Ich kann in diesem Raum hier meditieren.«

»Isaac, du hast eine Wohnung an der Rivington Street. Die Stadt muss dir kein Obdach geben.«

»Sweets«, sagte Isaac und starrte dabei Wig an. »Könntest du ihn wegschicken? Ich kann ihn nicht ertragen. Er ist mir nicht geheuer. Wie zum Teufel hat er mich gefunden?«

»Harlem ist sein Wohnzimmer.«

»Baby«, sagte Wig zu Isaac. »Ich hätte dich umlegen können, als du geschlafen hast, hätte meine Kanone unter dein Kopfkissen schieben und dir das Hirn wegblasen können. Ich war in Versuchung, Brother Isaac, als ich dich schnarchen hörte wie ein Walross. Ich hätte dich erdrosseln können, sauber und perfekt.«

»Warum hast du’s nicht gemacht?«, fragte Isaac mit unschuldigem Kinderblick.

»Ich würde Sweets doch nie zur Witwe machen.« Wig fing an zu lachen und verließ das Asyl.

»Er ist mir unheimlich.«

»Isaac, ich kann dich wegen ungebührlichen Verhaltens verhaften. Es ist dir nicht gestattet, einen Obdachlosen zu spielen.«

»Sweets, ich habe Angst.«

»Angst wovor? Du hattest sechsundachtzig Prozent der Stimmen. Es war ein Erdrutsch.«

»Phh«, machte Isaac, »die Republikaner haben eine Gurke aufgestellt.«

»Die Stadt ist verrückt nach dir. Es ist die heißeste Liebesgeschichte, die wir jemals hatten. Du kannst tun, was du willst. Die Stadt steht auf deiner Seite, Isaac. Du hast einen Blankoscheck.«

»Tu mir einen Gefallen, Sweets. Zieh zu mir hier ins Asyl, und dann reden wir über Schecks. Ich habe mir den Haushaltsplan angesehen. Was passiert neunzehnsechsundachtzig? Bauen wir mehr Asyle?«

»Frag deine Haushaltsexperten. Ich bin nicht der Bürgermeister. Ich kann dir nicht sagen, was die Stadt sich leisten kann.«

»Genau das ist das Problem, Sweets. Kein Mensch kann das Steueraufkommen der Stadt voraussagen. Zweihundert Millionen Dollar Überschuss, haben sie gesagt. Und wir hatten ein beschissenes Defizit. Ich kann nicht in Erfahrung bringen, wie viele Lehrer an unseren Schulen beschäftigt werden. Lehrer kommen und gehen. Das ist die Antwort, die ich kriege. Wir leben in einem Leviathan. Ich kann nichts verändern. Ich stelle ein paar Nachforschungen an. Deshalb bin ich hier. Ich sehe Wächter, die die Leute bestehlen, ich sehe, dass sie Sex verlangen.«

»Sie sind wie Gefängniswärter, Isaac, das ist alles.«

»Aber das hier ist kein Gefängnis.«

Isaac zog Hemd, Hose und Schuhe an, band seine Krawatte und streifte sich einen seiner berühmten Wintermäntel von der Orchard Street über. Er liebte seinen Downtown-Look. Er musste sich dringend rasieren, und doch: Er war der designierte Bürgermeister.

»Der Kardinal fragt nach dir, Isaac.«

»Ich rede derzeit nicht mit Kardinälen.«

»Ich dachte, Jim wäre dein Freund.«

»Ich habe keine Freunde. Ich habe Bittsteller und Suchende.«

»Und was zum Teufel bin ich, Mr. Sidel?«

»Mein ehemaliger First Dep. In fünf Wochen, nach meiner Krönung zum König, wirst du mich um Gefallen bitten. Aber es könnte gut sein, dass es keine Krönung gibt, Sweets. Ich könnte aus der Stadt verschwinden, weißt du.«

»Wig würde dich finden«, sagte Sweets.

2

Kaum erreichte Isaac die Rivington Street, da vermisste er auch schon die Armory. Er war fünfundfünfzig Jahre alt, fast schon sechsundfünfzig, und die Frau, die er liebte, war irgendwo im Auftrag des FBI unterwegs. Margaret Tolstoi, Flüchtling aus Rumänien. Sie hatte sich vom Justizministerium getrennt, aber Frederic LeComte, Kulturkommissar des Justizministeriums, hatte sie aus Isaacs Bett und zurück in den Schoß der Gemeinde gelockt. Sie war für kurze Zeit Isaacs Zimmergenossin gewesen, so etwas wie ein Gast. Die Tageszeitungen hatten sie während des Wahlkampfs entdeckt, hatten sie »die geheimnisvolle Anastasia« genannt. Aber die Presse liebte Isaac, und so ließen sie ihre Vergangenheit ruhen.

Während des Zweiten Weltkriegs war sie nach Odessa gegangen, als Kindsbraut von Ferdinand Antonescu, dem Schlächter von Bukarest, der im Schwarzmeerraum Zigeuner und Juden massakriert hatte. Er war Finanzminister von Russisch-Rumänien und gab sie als seine Nichte aus. Sie hatten in einem Haus an der Kleiner-Engel-Straße gewohnt. Als aber Ferdinand wie ganz Odessa zu hungern begann, stahl er Kinder aus der Irrenanstalt und verschlang ihr Fleisch. Er war ein gottverdammter Kannibale ohne Zukunft. Ferdinand schmuggelte Anastasia auf ein Schiff des Roten Kreuzes, und so kam sie als dreizehnjährige Lady nach Amerika. Sie besuchte Isaacs Klasse auf der Junior High. Für Sidel war es Liebe auf den ersten Blick. Aber es war nicht von Dauer. Anastasia verschwand so schnell, wie sie gekommen war, wurde zurück nach Rumänien geschickt und dort zu einer kleinen Schachfigur im Krieg zwischen dem FBI und dem KGB. Sie besuchte einen KGB-Kindergarten, lebte mit einem General zusammen, verführte Wissenschaftler und wechselte die Identitäten, bis sie schließlich nur noch eine konstante Größe im Schädel hatte: einen dunkeläugigen Jungen, der sie an einen Zigeuner erinnerte. Sidel.

Er hatte geheiratet, hatte eine Tochter, Marilyn, und jetzt auch einen Schwiegersohn, Joe Barbarossa, aber nichts konnte ihn so durchrütteln wie diese Prinzessin von der Junior High, wie Anastasia mit ihren zerrissenen Strümpfen.

Der König war ganz allein. Ohne Anastasia und ihre zahllosen Perücken konnte er die Rivington Street nicht mit Leben erfüllen. Er glaubte an Astralleiber, und doch schien er in seinem eigenen kleinen Karnickelstall nie Margarets Emanationen zu begegnen. So kam es, dass er eine Woche in der Seventh Avenue Armory als Geronimo Jones lebte, ein fiktiver Mann, der weder Telefonanrufe beantworten noch auf die Bitten von Politikern und Geschäftsleuten und allen anderen reagieren musste, die Sidel nachsetzten. Er musste seine eigene Verwaltung aufbauen, Dezernenten und Sekretärinnen finden, einstellen und entlassen, und dennoch war er untätig. In einem Monat würde er Bürgermeister sein, und bislang hatte er noch kein einziges Einstellungsgespräch geführt.

Er schlief sechzehn Stunden an einem Stück wie ein Grizzlybär. Dann warf er einen Blick auf den Kalender, den er auf seinem Ärmelaufschlag führte. Er musste ins Waldorf zu einem Geschäftsfrühstück mit drei der größten Immobilienbarone der Stadt. Alle hatten sie seinen Wahlkampf finanziell unterstützt. Papa Cassidy, ein Mittelsmann der Mafia, Jason Figgs, der Herr aller Wohnimmobilien, und Judah Bellow, der Architekt und Bauunternehmer, der einst bei Emeric Gray in die Lehre gegangen war, dem Baron aus einer anderen, früheren Zeit. Isaac liebte Emeric, der zwischen den Kriegen Wohnblockpaläste mit Zierbalkonen und Terrakottafliesen errichtet hatte, dem ein ganzer Hofstaat an Handwerkern zur Verfügung gestanden hatte, die Wassertürme mit Ziegeltürmchen gekrönt hatten, die nie mit Baumaterial gespart hatten. Emeric starb nicht als reicher Mann. In der Weltwirtschaftskrise verlor er alles, was er besaß, und wurde mit sechsundachtzig von einer Straßenbahn überfahren.

Es war Isaac immer eine zutiefst empfundene Freude, um eine Straßenecke zu gehen und auf einen Emeric Gray mit Terrakotta-Elementen zu stoßen, die auf einer Wand aus Ziegeln und Stein wie Tonleitern wirkten. Ach, in einem anderen Leben hätte er durchaus Architekt sein können.

Er traf im Waldorf ein. Die drei Barone hatten einen Privatraum angemietet. Sie hatten einen eigenen Butler. Isaac bestellte sich wie ein Gutsherr Eier zubereitet in gebutterten Schalen. Jason Figgs war neunundvierzig. Er hatte das Vermögen seines Vaters geerbt und es vervierfacht. Er repräsentierte altes Geld, ein Protestant in einer katholischen und jüdischen Stadt. Papa Cassidy hatte ein Porno-Modell geheiratet, Delia St. John. Er wusch Mafiageld. Er hatte versucht, Isaac umbringen zu lassen, und war Schatzmeister von Isaacs Wahlkampf geworden. So wurden in New York Allianzen geschmiedet. Judah Bellow war der reichste der Barone. Angefangen hatte er mit Türmen aus schwarzem Glas und war dann zum Ziegel und Stein seines Meisters zurückgekehrt, Emeric Gray. Ohne Emerics Bestreben, positive architektonische Akzente zu setzen, blieben Judahs Gebäude jedoch glanzlose Meisterwerke. Ihre Eleganz wirkte bedrückend, ihre Ornamentik viel zu gewollt. Isaac verachtete jeden einzelnen Judah Bellow, den Mann selbst aber mochte er.

Judah trank Grapefruitsaft. »Ich habe gewettet, dass Sie nicht aufkreuzen. Sie haben sich rar gemacht, Mr. Mayor.«

»Ah«, sagte Isaac, »ihr seid meine Lieblingspharaonen.«

Sie waren auf Steuersenkungen aus, um mit Isaacs Hilfe ihre Türme zu bauen. Doch sie erwähnten keine Türme.

»Isaac, wir machen uns Sorgen«, sagte Jason. »Wegen Schyler Knott.« Schyler war Präsident der Christy Mathewsons, einem Haufen Baseball-Antiquare. Außerdem war er Investmentbanker, aber wie könnte er den drei Baronen schaden? Und dann begriff Isaac plötzlich, worum es zum Teufel bei diesem Frühstück ging. Schyler Knott hatte ein Faible für alte Gebäude. Er war Vorsitzender des Denkmalschutzausschusses, und Isaacs Barone waren die einzigen drei Immobilienleute in diesem Ausschuss.

»Er ist völlig unfähig«, sagte Jason.

»Eine absolute Fehlbesetzung«, sagte Papa.

»Er ist ein gefährlicher Mann«, sagte Judah. »Er will alles unter Denkmalschutz stellen.«

»Das ist sein Vorrecht«, sagte Isaac. »Das ist sein Standpunkt.«

»Und wie sollen wir dann bauen?«, fragte Papa Cassidy.

»Keine Ahnung.«

»Das ganze Steuersystem wird vor die Hunde gehen.«

»Ich bitte euch«, sagte Isaac. »Ihr macht Konferenzen. Ihr streitet euch ein bisschen. Schyler ist kein verschissener Diktator.«

»Er ist noch viel schlimmer«, sagte Judah Bellow. »Er wird uns alle vernichten.«

»Wie denn?«

»Wir besitzen ein Stück Land.«

»Ihr drei zusammen?«

»Ja«, sagte Papa. »An der Ecke Fifty-sixth und Third. Und auf diesem Land steht eine Schuhschachtel, ein sechzig Jahre altes Monster mit Ratten im Keller.«

»Wer hat eure Schuhschachtel denn gebaut?«

»Emeric Gray.«

»Judah«, sagte Isaac, »Sie sollten sich schämen. Emeric war Ihr Lehrmeister.«

»Es ist trotzdem eine Schuhschachtel. Einen seiner Klassiker würde ich nie anrühren. Es ist ein mittelmäßiges Gebäude.«

»Ein Mietshaus, Mr. Mayor, voller Kakerlaken«, sagte Jason Figgs. »Wir könnten ein Prachtstück hochziehen. Coca-Cola wird mehrere Etagen übernehmen. Wir könnten Ihnen Judahs Entwürfe zeigen. Es würde der Stadt einiges bringen, Mr. Mayor. Millionen.«

»Ihr seid alle Genies«, sagte Isaac. »Könnt ihr euch kein anderes Stück Land suchen?«

»Wir würden sechs Monate verlieren. Coca-Cola sind wir dann los.«

»Jungs«, sagte Isaac zu den drei Baronen. »Baut doch auf Emerics Burg auf, sichert euch die Luftrechte.«

»Schyler ist dagegen. Er sagt, das wird die Konturen des Gebäudes negativ beeinträchtigen, das Dach entwerten. Er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank, Mr. Mayor.«

»Nein. Er ist Schyler Knott. Ich kann euch nicht helfen, Jungs.«

Jason versuchte, Isaac unter Druck zu setzen. »Wir könnten zum Gouverneur gehen.«

»Tut euch keinen Zwang an.«

»Er kontrolliert den Staatssäckel.«

»Da stimme ich zu«, sagte Isaac. »Wir sind Almosenempfänger. Aber falls er sich mit meiner Denkmalschutzbehörde anlegt, werde ich ihm das Bein brechen.«

Isaac verließ die drei Barone. Er fing an leise vor sich hin zu singen, bis er Margaret Tolstoi mit einer ihrer roten Perücken vor seinem geistigen Auge sah. Ach, wäre er doch nur sechsundachtzig. Vielleicht würde er nicht mehr so viel an Margaret denken, wenn seine Potenz einmal schwinden sollte. Andererseits wollte er nicht unter den Rädern einer Straßenbahn zermalmt werden wie Emeric Gray. Und dann erinnerte sich Isaac, dass es in Manhattan überhaupt keine Straßenbahnen mehr gab.

Er suchte Rebecca Karp auf, die in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda der Gracie Mansion saß. New York hatte sie in den Wahnsinn getrieben, sie wagte sich nicht mehr hinaus auf die Straßen, doch sie war Isaacs erste Beraterin, seine heimliche Außenministerin.

»Der äußere Anschein, Isaac. Du musst aussehen wie ein alter Hase.«

»Ich und ein alter Hase? Ich schaff’s ja kaum, mir die Hose anzuziehen.«

»Das liegt daran, dass deine Knarre zu schwer ist.«

Bürgermeister sollten eigentlich keine Schusswaffen tragen, aber der neue Commish hatte ihm seinen Waffenschein gelassen. Isaac und Sweets besaßen Glocks, Pistolen aus Plastik.

»Becky«, sagte Isaac breit grinsend, »ich habe meine Glock heute nicht dabei. Ich komme gerade aus meinem Schlupfwinkel in der Seventh Avenue Armory.«

»Schwanzlutscher«, sagte sie, »du bist noch nicht mal vereidigt, und schon nutzt du die Obdachlosen aus. Willst du uns begraben? Ich verliere meinen Schaukelstuhl, wenn gegen dich ein Verfahren wegen Amtsvergehen eingeleitet wird.«

»Ach komm. Ich musste fühlen, wie es ist, in einem Asyl zu leben.«

»Die Obdachlosen können dich nicht retten, Isaac. Die gehen nie zur Wahl. Und auf dich warten wichtigere Projekte. Du wirst einen Ersten Stellvertretenden Bürgermeister brauchen. Ich habe einen Kandidaten für dich. Malik.«

Isaac ließ ein Stöhnen los. Martin Malik war Chef der für Disziplinarverfahren zuständigen internen Gerichtsbarkeit des NYPD. Isaac hatte ihn selbst eingestellt. Malik war ein Moslem und Türke, dessen Vorfahren in Istanbul Mathematiker gewesen waren. Er war ein Richter, der mit Todesurteilen schnell bei der Hand war, der Cops um ihre Pensionen brachte. Die Republikaner bauten ihn als nächsten Gouverneur auf. Er hatte was mit Delia St. John gehabt, bis Papa Cassidy sie in sein Ehebett gelockt hatte.

»Malik ist mein Feind«, sagte Isaac. »Er glaubt, ich wäre Papa Cassidys Lude gewesen, ich hätte ihm Delia weggenommen. Er wird niemals in meine Verwaltung kommen. Er ist viel zu ehrgeizig.«

»Er wird sich einem Mann anschließen, der neunzig Prozent der Stimmen erhält.«

»Sechsundachtzig«, musste Isaac feststellen. »Übertreibe bitte nicht.«

»Malik wird dir die Minderheiten vom Hals halten. Und er wird dafür sorgen, dass dir die Barone nicht in den Arsch beißen.«

»Ich habe mit ihnen gefrühstückt«, sagte Isaac. »Mit Papa, Judah und Jason Figgs. Sie wollen, dass ich Schyler Knott mundtot mache, ihn aus dem Denkmalschutz entferne.«

»Sie haben recht«, sagte Rebecca.

»Du hast ihn ernannt.«

»Er ist unnachgiebig gewesen, Isaac. Wir müssen uns auf die Seite der Investoren schlagen. Sie sind unser Brot und unsere Butter.«

»Aber sie wollen einen Emeric Gray abreißen.«

»Die Schuhschachtel an der Fifty-sixth? Das ist Kakerlaken-Land. Wir können es uns leisten, einen Emeric Gray zu verlieren. Aber wenn wir die Barone enttäuschen, laufen sie uns womöglich in eine andere Stadt weg. Es ist stets ein heikles Tänzchen, Isaac. Schyler wird gehen müssen.«

»Dann feuere du ihn.«

»Isaac, du hast mich gebeten, Sweets zum Police Commissioner zu ernennen. Ich habe ihn ernannt. Ich kann Schyler Knott nicht feuern. Die Umweltschützer werden über uns herfallen. Und sie werden wissen, dass du dahinter steckst. Ich bin Ms Rebecca, die lahme Ente. Du wirst Schyler sanft abschieben und ihm ein anderes Amt geben.«

Rebeccas schnurloses Telefon klingelte. Sie nahm es vom Schoß, murmelte einige Worte und reichte das Telefon dann weiter. »Für dich.«

»Sidel am Apparat«, knurrte er.

Es war sein Schwiegersohn, Barbarossa.

»Chef, in deinem Bett liegt ein Toter.«

»Joey, sprich etwas langsamer, ja? Was für ein Toter?«

»Geronimo Jones.«

»Ich bin Geronimo Jones«, sagte Isaac.

»Nicht mehr. Er liegt mit einem Messer im Hals in deinem Bett in der Seventh Avenue Armory.«

»Joey«, sagte Isaac, »ich bin in fünf Minuten oben«, und sprang wie eine untaugliche Gazelle über das Verandageländer.

3

Lieutenant Quinn, Chef der persönlichen Polizeitruppe des Bürgermeisters, fuhr ihn zum Asyl. Isaac sprang um den Glaskasten der Rezeption herum und betrat den großen Schlafsaal. Es war kein großes Spektakel. Der Gerichtsmediziner war eingetroffen. Er stand mit einem Polizisten in Uniform, einem Detective von Homicide, zwei Typen von der Gerichtsmedizin und Joe Barbarossa an Isaacs früherem Bett. Darauf lag ein nackter Mann. Das Messer war inzwischen aus seinem Hals entfernt worden. Zurück blieb ein sehr schmales Mal mit geronnenem Blut. Ansonsten war er genauso rosa wie Isaac Sidel.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Ich«, sagte Barbarossa. »Ich habe dich gesucht und …«

»Gab es keine Zeugen?«

»Chef, das hier ist ein Obdachlosenasyl, um Himmels willen. Kein Mensch hört was, kein Mensch sieht was. Dieser Geronimo ist ganz allein gestorben.«

»Wieso bist du so sicher, dass er Geronimo ist?«

»Unter diesem Namen hat er sich hier angemeldet. Geronimo Jones.«

»Das ist doch alles nur Schwindel«, sagte Isaac. »Irgendein Wichser schickt mir hier einen Kassiber. ›Pass auf deinen Arsch auf, Sidel. Für deine Krönung wirst du nicht mehr lange genug leben.‹ Ich will, dass jeder Einzelne in dieser Kaserne verhört wird. Wir lassen zwanzig Detectives von Manhattan North kommen.«

»Chef, du bist nicht der Police Commissioner.«

»Ja, Joey. Der Commissioner arbeitet für mich.«

»Das ist das Problem. Er arbeitet nicht für dich. Noch bist du nicht Bürgermeister.«

»Aber ich werde es sein.« Und Isaac begann, den Gerichtsmediziner zu befragen. »Boris, gab es einen Kampf, eine Rauferei?«

»Ich würde sagen, nein. Der Schnitt ist viel zu sauber. Der arme Hund ist im Schlaf gestorben.«

Und Isaac fuhr mit der Eskorte, die Sweets ihm zugewiesen hatte, downtown. Sein Schwiegersohn war nicht besonders gesprächig. Isaac erkundigte sich weder nach Marilyn the Wild noch nach ihrer neuen Wohnung in Tudor City, das wie eine eigene kleine Stadt auf einem Felsen oberhalb der Forty-second Street lag. Isaac konnte es sich nicht leisten, ihnen die Wohnung zu kaufen. Das Geld kam von seiner getrennt lebenden Frau, Kathleen, der Immobiliengöttin aus Florida.

Er machte einen Zwischenstopp in der Rivington Street, holte seine Glock, schob sie sich unter den Gürtel, denn er mochte keine Holster, und drängte sich dann mit Joe in die Police Plaza. Er war immer noch der Pink Commish, auch wenn er in One PP keinen wirklichen Status mehr besaß. Ein zukünftiger König hatte keinen besonders großen Geschäftsbereich. Er fuhr hinauf zum vierzehnten Stock, bellte Sweets’ Assistenten an und betrat das Büro des Commissioners. Sweets und Wig gossen gerade Isaacs Pflanzen.

»Wunderbar«, sagte Isaac. »Was für ein eifriges Gespann … ich will, dass dieser Mann verhaftet wird, Sweets.«

»Wovon redest du, zum Teufel?«

»Er hat Geronimo Jones ermordet.« Isaac drehte sich zu Barbarossa um, der unmittelbar hinter ihm stand. »Joey, würdest du bitte Wig Handschellen anlegen und ihm seine Rechte vorlesen?«

»Chef«, sagte Barbarossa.

»Niemand legt mir Handschellen an«, sagte Wig. »Nicht Ihr kleines Arschloch Barbarossa.«

Alle drei, Isaac, Wig und Joe, zogen ihre Glocks.

»Ich rufe meinen Sergeant rein«, sagte Sweets. »Ich stecke euch alle in den Bau.«

»Vorher feuere ich dich«, sagte Isaac.

Barbarossa musste ihm ins Ohr flüstern. »Chef, du kannst niemanden feuern. Momentan ist alles im Fluss. Bis zum neuen Jahr bist du ein einfacher Zivilist.«

»Sag’s ihm«, sagte Wig. »Er ist ein weißes Gespenst.«

Sweets begann sich zu wiegen. »Ich lasse nicht zu, dass in meinem Büro Waffen gezogen werden. Steckt sie wieder ein oder verlasst sofort den Raum.«

Die Glocks verschwanden.

»Würdet ihr mich jetzt bitte aufklären?«, sagte er.

»Joey hat eine Leiche in der Seventh Avenue Armory gefunden … einen obdachlosen Weißen mit einem Messer im Hals. Angemeldet hat er sich als Geronimo Jones und geschlafen hat er in meinem Bett.«

»Und wo kommt Wig ins Scheißbild?«

»Hat er nicht versprochen, Geronimo Jones zu töten? Hat er nicht gesagt, er würde mich umlegen, sobald sich ihm die Chance dazu bietet? Er hat sich einen Spaß gemacht. Er hat einen anderen Geronimo umgelegt, damit ich ausraste.«

»So exaltiert ist er nicht, Isaac. Wig ist kein Dichter.«

»Aber er gehört zur Purple Gang.«

»Muss ich mir das alte Lied wirklich anhören?«, stöhnte Sweets. »Die Purples sind ein Mythos. Du weißt es, ich weiß es, Wig weiß es. Frag Joe.«

»Ich hab noch nie einen Purple gesehen«, sagte Barbarossa.

»Damit wäre das geklärt … Isaac hat sich diesen Toten nicht ausgedacht, Wig. Wie ist er dorthin gekommen?«

»Scheiße, Sweets. Ich bin kein Medizinmann.«

»Aber die Seventh Avenue ist Ihr Revier. Ein Mann namens Geronimo stirbt in Isaacs Bett … «

»Es war nicht Isaacs Bett. Er hat zufällig dort geschlafen. Soll ich Ihnen sagen, wie viele George Washingtons und Abraham Lincolns es in diesem Asyl gibt?«

»Aber es gab nur einen Geronimo Jones«, sagte Isaac. »Mich.«

»Und wie hab ich dich gefunden, Bruder? Jeder Penner in dem Viertel wusste, dass König Isaac als Geronimo Jones in dem Asyl abgestiegen war. Ich musste einen Scheißdreck tun. Ich bin der Nase nach gegangen, hin zum größten Gestank.«

Sweets starrte Wig an. »Dieser Zufall gefällt mir immer noch nicht. Zwei Geronimo Jones, die in ein und demselben Bett landen.«

»Ach, Sweets, dieser Wichser könnte überall umgelegt und dann in Isaacs Bett abgeladen worden sein. Ich wette mit Ihnen um hundert Dollar, dass wir über Geronimo nichts in den Akten haben. Rufen Sie die Spurensicherung an.«

»Ist noch zu früh«, sagte Isaac.

»Die Spurensicherung kann einem was über die Haare in der Nase eines Toten sagen.«

»Es ist zu früh«, murmelte Isaac. »Wir waren vor einer Stunde bei dem Gerichtsmediziner und zwei Labortechnikern.«

»Sweets«, sagte Wig, »rufen Sie die Zauberer an.«

Sweets machte zwei kurze Telefonate. Dann schüttelte er den Kopf. »Wir haben nichts über Geronimo Jones. Ein absolut Unbekannter. Er hat keine Geschichte. Downtown im Hauptasyl ist er nie aufgenommen worden. Niemand hat ihn zur Armory geschickt.«

»Aber sein Name stand im Dienstbuch. Joey hat’s auch gesehen.«

»Dienstbücher können lügen«, sagte Sweets. »Wig soll der Sache nachgehen.«

»Nicht Wig«, sagte Isaac. »Nicht Wig.«

»Willst du mir sagen, wie ich meinen Laden zu schmeißen habe, Mr. Mayor?«

»Nein«, sagte Isaac. »Wig wird für dich auf Forschungstour gehen … komm, Joe. Wir sind zwei Ausgestoßene. Wir sind auf der vierzehnten Etage nicht mehr willkommen.«

»Der Kardinal hat wieder nach dir gefragt«, sagte Sweets.

»Ich kümmere mich selbst um meine Termine«, sagte Isaac, ließ aber Barbarossa das Büro des Kardinals anrufen, nachdem sie zum Wagen zurückgekehrt waren, einem verbeulten blauen Plymouth, den Joe aus dem Fuhrpark der Polizei hatte mitgehen lassen. Sein Chef war kein Aristokrat. Isaac war der König des Volkes.

Sie trafen den Kardinal in einem Freizeitzentrum in der Nähe der Williamsburg Bridge an. Die Anwohner waren gegen das AIDS-Hospiz, das Jim an der Attorney Street aufgemacht hatte. Sie wollten, dass der Laden wieder geschlossen wurde. Sie redeten von der Seuche, die Jim in ihr Viertel gebracht hatte.

»Jesus«, sagte Jim mit einer Zigarette im Mund. Bevor er Priester wurde, war er Bantamgewicht-Boxer in Chicago gewesen. Er trug nicht seinen Kardinalsrock. Er sah aus wie ein ganz gewöhnliches Gemeindemitglied. Seine Hose war zerknittert. Seine Krawatte saß schief. Jim besuchte seine Gemeinden für sein Leben gern in Zivil. Aber seine Herde brüllte ihn an.

»Eure Eminenz, wir wollen nicht, dass unsere kleinen Kinder was mit der Seuche zu tun kriegen. Gehen Sie mit Ihrem Hospiz in eine andere Gemeinde.«

»Es gibt keine andere Gemeinde«, sagte Jim.

»AIDS ist die Krankheit des Teufels.«

»Dann werden wir eben gegen den Teufel kämpfen«, sagte Jim. »Aber mit Güte und Mitgefühl.«

Ein Sprechgesang war zu hören. »Weg mit dem Hospiz, weg mit dem Hospiz.«

»Ich werde sterbende Kinder und Frauen und Männer nicht alleinlassen.«

Doch die Schreihälse übertönten seine Stimme und siegten über Jim. Seine Wange begann zu zucken. Er kaute auf seiner Zigarette. Und dann legte sich für einen Moment Stille über den Raum. Der König hatte allein den Saal des Freizeitzentrums betreten. Isaac hatte Barbarossa auf den Fall Geronimo Jones angesetzt. Das war nicht legal. Doch ohne seine eigene Miniatur-Polizei konnte Isaac nicht überleben, und diese Polizei bestand jetzt aus seinem Schwiegersohn, Joe.

Der König trat zu Kardinal Jim.

»Sie haben mich im Stich gelassen, Junge«, sagte Jim. »Ich bin ein einsamer und verlassener Kirchenfürst. Ich werde zum Rückzug blasen müssen.«

»Hören Sie auf zu jammern«, sagte Isaac. »Ich kümmere mich darum.«

Und wie ein Mussolini trat er vor die Gemeindemitglieder, wobei die Glock aus seiner Hose ragte.

»Bei allem Respekt, Mr. Mayor«, sagte ein irischer Buchhalter aus einem der Mittelschichtsviertel an der Essex Street. »Hätte Kardinal Jim, Gott segne ihn, auch die Park Avenue mit seinem Hospiz heimgesucht?«

»Nein«, sagte Isaac. »Irgendein Millionärsclub hätte ihn lahmgelegt. Die Millionäre und ihre Frauen hätten sich von irgendeinem freundlich gesinnten Richter eine Verfügung besorgt, und es wäre nie ein Hospiz gebaut worden.«

»Und wieso müssen wir dann leiden?«

»Weil das hier die Lower East Side ist. Dies ist die Geburtsstätte der Politik. Wir schützen die Schwachen.«

»Unsere Schulen sind auch ohne kranke Kinder schon schlimm genug. Wir wollen hier keine Seuche.«

»Ich werde die Kinder selbst unterrichten. Fühlt ihr euch jetzt besser? Ich widme ihnen zehn Stunden die Woche.«

»Kleiner«, raunte ihm der Kardinal zu, »versprechen Sie nichts, was Sie nicht auch halten können.«

»Halten Sie sich da raus, Jim. Ich habe meine eigene Gemeinde.«

Und die Bürger aus dem Viertel hatten ihren König. Er war ihnen erheblich näher als ein Kardinal aus der fernen Machtzentrale der St. Patrick’s Cathedral im feinen Norden der Stadt. Isaac war einer von ihnen. Er würde sie nicht verraten. Sie tranken mit ihm Schnaps aus Pappbechern und gingen nach Hause.

Isaac stand allein mit Kardinal Jim und einem Berg von Pappbechern in dem menschenleeren Saal.

»Jungchen«, sagte Jim, »ich habe mich in Ihnen geirrt. Sie werden ein beeindruckender Bürgermeister. Aber wir müssen ein Treffen vereinbaren, Ihre Jungs und meine.«

»Ach, diese wunderbaren Monsignores. Sie sind Haie, Jim. Mit denen in einem Raum würde ich niemals überleben. Sie würden mir die Hose und die Einnahmen der Stadt klauen.«

»Ich bin ein Kardinal«, sagte Jim. »Ich muss stehlen. Ich leite die halbe Stadt, mein Junge. Und vergessen Sie nicht: Ich habe für Sie Wahlkampf gemacht. Ich habe Ihnen die Stimmen der Katholiken geholt.«

»Ach was«, sagte Isaac. »Sie wollten einen republikanischen Bürgermeister, damit Sie diese Stadt beherrschen können. Sie haben Ihre Monsignores in die Schatzkiste der Republikaner einzahlen lassen, und streiten Sie das ja nicht ab.«

»Jesus, ich musste mich ein bisschen absichern. Und Ihnen haftete eine echte Belastung an, mein Sohn. Diese Frau, diese Tolstoi. Sie ist bei den Nazis aufgewachsen. Wie ich höre, soll sie in Odessa Waisenjungen verspeist haben.«

»Sie war noch ein Kind, Jim.«

»Aber alt genug, um den Schlächter von Bukarest zu heiraten. Antonescu war sein Name, stimmt’s? Der hat Zigeunerblut getrunken. Er war ein echter Ghul.«

»Er war ihr Ballettlehrer.«

»Ach, das ist ja zum Schreien. Der Herr über Transnistrien, sein kleines, frei erfundenes Land am Meer. Ein Nazi-Fürst.«

»Sie scheinen Ihre Monsignores fleißig mit Nachforschungen beschäftigt zu haben.«

»Überhaupt nicht. Ich hatte ein Schwätzchen mit Frederic LeComte. Einen Kardinal kann er wohl er kaum anlügen, oder? Sie sollten diese Tolstoi lieber so schnell wie möglich fallen lassen. An einer Nazi-Prinzessin wird die Stadt keinen Gefallen finden.«

»Schweigen Sie von Anastasia.«

»Ach, die kleine Braut mit den vielen Namen.«

Isaac ließ den Kardinal stehen, ließ ihn allein mit seinen gelben Tabakfingern und einer Zigarettenkippe. Er kehrte zur Rivington Street zurück. Er legte seine Kleidung ab. Der König musste gar nicht erst in finsteren Schlaf fallen. Er träumte von Margaret Tolstoi, während er in der Wanne in seiner Küche saß. Er hatte vergessen, die Wanne mit Wasser zu füllen, also würde Isaac eines seiner Trockenbäder ertragen müssen. Der Kopf sackte ihm auf die Schulter. Er befand sich auf einem seiner Astraltrips. Seine Zauberwanne hatte ihn nach Odessa versetzt. Es war mitten im Zweiten Weltkrieg. Isaac sah ein Herrenhaus. Anders als Rebeccas Haus besaß es weder Schlagläden noch eine Veranda aus Holz. Es war vollständig aus Stein gebaut. Es stand auf einem Berg. Isaac befand sich in der Nähe eines Hafens. Er konnte das Meer riechen.

Ach, es war die Kleiner-Engel-Straße, wo seine geliebte Anastasia mit dem rumänischen Fürsten von Odessa gelebt hatte. Unter den Steinen rannten Ratten, ein ganzes Volk verhungernder Ratten, die sich um Isaac scharten. Es ließ sich nicht vermeiden, dass er mit seinen Schuhen auf sie trat. Sie hatten lange, knochige Körper, die an schreckliche graue Rüstungen erinnerten. Doch Isaac kam durch die Tür in Antonescus Haus. Hier wimmelte es von Ratten.

»Anastasia«, stöhnte er.

»Ich bin hier.«

Isaac der Tapfere musste blinzeln. Er war nicht im Odessa der Kriegszeit. Er war wieder in seiner Wanne, wie ein nacktes, wildes Tier. Und sein Schatz war nicht Annie, das arme kleine Waisenkind in den Klauen eines unechten rumänischen Fürsten. Sie war Margaret Tolstoi mit einer blonden Perücke.

»Ich hab geträumt«, sagte er. »Von der Kleiner-Engel-Straße … wie bist du reingekommen?«

»Mr. Mayor, ich habe immer noch deinen Schlüssel. Und ich bin ein findiges Mädchen. Dein Türschloss hätte ich im Schlaf knacken können. Badest du gern bei Kälte? … Oh, ich erinnere mich. Du bist ein Eisbär. Was hast du in der Kleiner-Engel-Straße gemacht?«

»Dich gesucht.«

»Musst du in mein Privatleben eindringen, Isaac? Odessa ist die einzige Vergangenheit, die ich je hatte. Und dort gab es keine Kleiner-Engel-Straße. Sie hieß Deribasovka. Onkel Ferdinand hatte beschlossen, die ganze Stadt umzubenennen.«

»Er hatte das Recht dazu. Er war ein Fürst.«

Anastasia lachte hinter einem Vorhang blonder Haare. »Das sagst du doch nur, weil du selbst ein Grandseigneur bist. Ein König, um’s genau zu nehmen.«

»Du hättest mein Bett nicht verlassen dürfen.«

»Ich musste, mein Lieber.« Sie zog sich aus, stieg zu Isaac in die trockene Wanne, und sie küssten sich mit einer Leidenschaft, die an den Wurzeln von Isaacs Augen zu zerren schien. Er war Annie, das arme kleine Waisenkind. Und sie war LeComtes kleine Soldatin …

Er fand sich in seinem Bett wieder. Er musste mit Anastasia geschlafen haben. Er konnte sich an absolut nichts erinnern. Er litt unter Amnesie, litt ständig unter Gedächtnisschwund. Aber diese Anastasia trug keine Perücke. Sie war kahlköpfig und wunderschön, wie ein wunderbares Mannequin mit kurzgeschnittenem, grauem Haar.

»Du bist ohne ein Wort gegangen. Hast deine Koffer gepackt und peng! Du bist wieder Frederics Spielzeug.«

»Ich bin kein Spielzeug«, sagte sie. »Ich bin auf der Jagd nach einem Kinderhändler, einem Dreckskerl, der blonde, blauäugige Jungs und Mädchen aus Rumänien verkauft.«

»Aha, einer von Ceausescus Ministern.«

»Lach nicht«, sagte sie. »Ich bin in Rumänien geboren.«

»Ich dachte, du wärest eine Weltbürgerin.«

»Bin ich auch«, sagte sie. »Der KGB hat mir mein Land genommen, und das FBI will es mir nicht zurückgeben. Aber ich habe immer noch Odessa, Isaac … und die Lower East Side. Sagen wir einfach, ich habe eine Schwäche für blauäugige Waisen.«

»Wer ist der Dreckskerl?«

»Er nennt sich Quentin. Er besitzt überall Massagesalons. Er dealt auch ein bisschen mit Koks. Und er besitzt Verbindungen zu den Reichen und Superreichen. Unter ihnen findet er seine Kunden.«

»Und LeComte schickt dich rüber, um mit ihm zu schlafen, was?«

Anastasia suchte ihre Perücke. Dann war sie wieder dieses blonde Wesen, Margaret Tolstoi.

»LeComte ist dein Zuhälter.«

»Er ist jedermanns Zuhälter, Liebling. Wusstest du das nicht?«

»Meiner nicht«, sagte Isaac.

»Du bist doch für ihn auf Tour gegangen, Lieber. Du warst sein Hamilton Fellow, der Berufsreisende des Justizministeriums.«

»Aber ich reise nicht mehr für ihn.«

»Tja, ich schon … ich habe gehört, dein Namensvetter ist ermordet worden, Geronimo Jones.«

»Aha, das hat dir LeComte erzählt. Das Justizministerium hat schon eine Akte über Geronimo.«

»Du solltest nicht in Asylen schlafen, Lieber. Das ist gefährlich.«

»Es war nicht gefährlich. In dieser Wohnung gibt es zu viele Geister. Ich musste mal weg. Und die Purple Gang hat den anderen Geronimo Jones umgelegt.«

»Es gibt keine Purple Gang. Du meinst Wig.«

»Ja, Sweets’ kleiner Deputy. Er hat von der Gracie Mansion aus mit Dope gedealt. Ich habe das Arschloch suspendiert, und Sweets holt den Kerl zurück.«

»Er ist der beste Cop in New York City. Er kann sich in Harlem frei bewegen, Isaac, und das kannst du nicht.«

»Ich bin ein Downtown-Mann.«