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Das literarische Gegenstück zu Martin Scorceses Gangs of New York
Manhattan, NYC, 1883-1919. Nachdem das Waisenkind Ben Ravage aus einer Hölle von Waisenhaus gerettet wurde und in Harvard Jura studierte, wird er Detektiv bei der Kehillah, einer Privatpolizei reicher jüdischer Geschäftsleute, die deren Interessen an der Lower East Side durchsetzen soll. Vor allem soll er einen halbverrückten Bösewicht, der die Prostituierten in der Allen Street angreift, aus dem Verkehr ziehen. Dabei entdeckt er, dass sein Schicksal unwiderruflich mit dem dieses gewalttätigen, finsteren Mannes verbunden ist.
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Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jerome Charyn
Ravage & Son
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Bürger
Herausgegeben von
Thomas Wörtche
Suhrkamp
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Die Originalausgabe erschien 2023 bei Bellevue Literary Press, New York, NY.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5495.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025Copyright © 2023 by Jerome Charyn
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Umschlaggestaltung: Zero-media.net, München, unter Verwendung des Originalumschlags von Bedford Square Press. Umschlagfoto (Zeitungsartikel): GRANGER – Historical Picture Archive/Alamy Stock Photo
eISBN 978-3-518-78237-8
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Präludium
1883
E
Eins
Der Baron des East Broadway
1
2
3
Zwei
Der Downtown-Detektiv
1
2
Drei
Auf der Jagd
1
2
Vier
Der Meister
1
2
Fünf
Montefiore
1
2
3
Sechs
Blutfedern
1
2
Sieben
Satan’s Circus
1
2
3
Acht
Das dreizehnte Kaufhaus
1
Neun
Manya
1
2
Zehn
Chlöe
1
2
3
4
5
Elf
Bad Babette
1
2
Zwölf
Lady Hamlet
1
2
3
Dreizehn
Old Sparky
1
2
Vierzehn
Manhattan Chaos
1
2
3
5
6
7
Coda
1919
1
2
3
4
Informationen zum Buch
Ravage & Son
Er war ein Verkäufer von Metallrohren und Knochen, der seinen eigenen Schrott und Kram angehäuft hatte, einen Friedhof von Beschlägen und Schellen und Schrauben, und er musste eine blonde Katze groß wie eine Kirche beschäftigen, die mit ihren Pfoten nach jedem Eindringling schlagen, einen Türknauf drehen oder eine monströse Ratte erstarren lassen konnte, die vom Blei in seinen Rohren lebte. Sie hieß Chlöe, und sie hörte auf niemanden außer dem Chef selbst. Fremde und seine Angestellten fauchte sie an, aber er musste nur »Chlöööeeee« rufen, und schon ließ sie die graue Ratte los, mit der sie gerade spielte, erhob sich über den Friedhof der Rohre und sprang ihm direkt auf den Schoß. Manchmal wurde er von ihrer ungestümen Kraft aus dem Stuhl geschleudert, und sie klammerte sich ohne ausgefahrene Krallen an ihn, während sein Betriebsleiter leise »Lionel und seine Löwin« murmelte.
Aber er konnte nicht den ganzen Tag mit einer Katze verbringen. Er streifte herum und jagte wie Chlöe, wenn er eigentlich nach Hause zu seiner Frau hätte gehen sollen. Er war Henriettas bereits überdrüssig, noch bevor sie im Temple Emanu-El heirateten. Er schlief mit ihr aufgrund einer rabbinischen Vorschrift, deren Sinn sich ihm noch nie erschlossen hatte. Er zog Chlöes Moschusduft dem von Henrietta vor. Er hatte in eine Sippe einflussreicher bayerischer Kaufmannsfürsten eingeheiratet, während sein eigener Papa selbst ein Fürst anderer Art war, ein Eisenwarenhändler wie Lionel, ein Immobilienspekulant mit kräftigen Armen, der im Alter von sechsundfünfzig Jahren zusammenbrach und wie ein Hund auf der Straße verendete, ohne dass ihm eine Menschenseele auch nur einen Becher Wasser angeboten hätte.
Lionel behielt das Firmenschild seines Papas, Ravage & Son, kaufte weiter Mietshäuser unter Marktpreis auf und ging in der Allen Street auf Jagd nach frischem Frauenfleisch. Alles, was er fand, waren jedoch verkommene Waschbecken – und verlotterte Schwestern, die ihn mit ihren geübten Handlungen nicht zu ergötzen vermochten. Und wann immer er ein Bordell zerlegte und in blinde Raserei verfiel, tauchte ein Kaufmannsfürst mit einem Detective von der Mulberry Street auf, und schon bald herrschte im Bordell wieder eitel Sonnenschein, auch wenn Lionel nach seinem Amoklauf blutverschmiert war.
»Ah, Mr Ravage, ein Gentleman wie Sie sollte sich nicht mit solchem Gesindel abgeben. Diese Damen haben ihre Luden, und die könnten Sie eines schönen Tages aufschlitzen. Uns würden Sie nur einen üblen Berg Formalitäten hinterlassen, fänden wir Sie im Leichenschauhaus.«
Also hatte er sich von einem Silberschmied an der Baxter Street eine Waffe anfertigen lassen. Sie war erheblich eleganter als der Schlagstock eines Polizisten oder ein Baseballschläger. Lionel Ravage besaß einen Gehstock aus Kiefernholz mit einem Wolfskopf aus poliertem Silber als Knauf. Mit seinem Gehstock konnte er jedem Luden einen Scheitel ziehen und Räuber abwehren, die ihn um seine Börse mit den Mieteinnahmen erleichtern wollten. Er schickte mehr als nur einen dieses Gesindels ordentlich durchgeprügelt ins jüdische Krankenhaus. Lionel trieb seine Mieten vorzugsweise selbst ein. Auf diese Weise begegnete er einer molligen Hausfrau, die mit der Miete im Rückstand war und deren Mann sich auf irgendeiner Armenstation die Lunge aus dem Leib hustete. Lionel war nie grob. Er würde niemals einen Räumungsbescheid an ihre Wohnungstür nageln, würde sich nie der Dienste des zuständigen Sheriffs bedienen. Er duldete einen Mietrückstand von drei oder vier Monaten. Die Hausfrau starrte dann in seine silberblauen Augen. Er trug ihr ein Gedicht vor. Er hatte ein Semester auf dem Amherst College studiert, bevor sein Papa ihn ins familiäre Eisenwarenimperium zurückholte, das einen immer größeren Teil der Canal Street einnahm. Lionel vermisste das Land, nicht so sehr das College. Sein feines Gespür für Abwasserkanäle und die geheimnisvolle Welt der Rohre hatte ihn zum besten Klempner von Amherst gemacht. Aber er hatte gehen müssen. Und jetzt, kurz vor dem Abschluss seines Bachelor of Arts in Klempnerei, trug er der Hausfrau Zeilen von Shakespeare in dem Jiddisch vor, das er bei den Kunden seines Vaters aufgeschnappt hatte, und dabei übernahm Lionel alle Rollen – die des Prospero im einen Moment, des Caliban im nächsten.
Sprache hast mich gelehrt, und mein Gewinn Ist, dass ich fluchen kann. An Pest krepier Fürs Lehren deiner Sprache!
Die Hausfrau war begeistert. Sie zog sich vor ihrem lyrischen Vermieter aus. Und wenn eine gewisse Hausfrau schwer zu kriegen war, bot er ihr womöglich an, sie heimlich zu heiraten. Er holte sich aus einer Synagoge an der Norfolk Street einen fehlgeleiteten Gabbai, besorgte aus einem Kramladen einen Ehering, küsste die Braut unter einem Gebetsschal und trank einen Pokal koscheren Wein. Schon bald hatte Lionel ein Dutzend Mätressen-Ehefrauen – und hatte von jeder einzelnen die Nase voll. Er kehrte mit seinem Silberknüppel in die Allen Street zurück, wie ein Caliban der Lower East Side, Herr und Diener seiner Begierden und Ambitionen, mit einer lähmenden Wut auf die Partner seines Papas, die ihn um sein Erbteil zu bringen versuchten. Er trieb sie alle in den Ruin, kaufte ihre Vermögenswerte auf und vergrößerte seinen Friedhof der Rohre und Armaturen mit Chlöe als ständiger Begleiterin. Allerdings konnte er mit einer Katze mit Schnurrhaaren und Krallen keine Liebe machen, egal, wie oft sie ihm auf den Schoß plumpste. Lionel musste sich auf die Jagd machen …
Er begegnete ihr zufällig. Er kassierte gerade die Miete in der Attorney Street, und sie kam in einem fadenscheinigen seidenen Morgenrock zur Tür. Sie hatte die wie gemeißelten Wangen und das wilde blonde Haar eines Dibbuk. Sein Mieter Rabinowitz war ein schwindsüchtiger Philosoph aus Wilna, der auf der Straße Äpfel verkaufte, wann immer es ihm gelang, einen Handwagen und eine Kommission Äpfel aufzutreiben. Lionel interessierte sich nicht für die Miete. Er konnte mit Rabinowitz über das Konzept der Schwerkraft diskutieren und auch über die Aufzugfahrkörbe, die schon bald immer höher und höhere Gebäude in Manhattan beherrschen würden, und über Meilen von Rohren, die allein Ravage & Son liefern konnten.
Lionel glaubte nicht an Dibbuks. Er hatte ein College im Herzen von Massachusetts besucht. Er war nicht in einem Viehwaggon nach Amerika gekommen – er war ein Aristokrat mit dem Zugriff eines Handwerkers. Dennoch konnte er die Augen nicht von dieser Blondine in fadenscheiniger Seide nehmen. Sie hatte sich mit diesen hohen Wangen in seine eigenen inneren Installationen eingeklinkt. Sie konnte nicht älter sein als achtzehn oder neunzehn.
»Hey«, sagte er mit dem groben Wortschatz eines Mieteintreibers, »du bist eine dieser importierten Bräute, hm? Wie hat der alte Mann das Geld für die Passage zusammenbekommen? Er besitzt doch keinen Cent.«
Sie schlug ihm ins Gesicht. Es war ein schlimmer Schlag, mit der ganzen Kraft von Chlöe, nur dass Chlöe nicht so unfreundlich gewesen wäre.
»Ich bin seine Tochter«, erwiderte sie mit einem Akzent, der von keiner Schule Manhattans stammen konnte. »Und er ist auch nicht Ihr alter Mann.«
»Genau, er ist ein Apfelpolierer, der seine Miete nicht zahlen kann.«
Sie schlug ihn wieder, und diese grandiosen Wangen pochten vor lauter Bosheit. »Ich liebe dieses verrückte Mädchen«, flüsterte er, und es machte ihm Angst. Lionel war noch nie verliebt gewesen, weder in sündige Hausfrauen noch in Uptown-Prinzessinnen wie Henrietta mit all ihren feinen Umgangsformen oder nassforsche Downtown-Mädchen, die ihn bis aufs Hemd ausziehen würden, wenn sie die Gelegenheit bekämen. Er hatte nur Chlöe. Jetzt musste er sich mit der hier auseinandersetzen, und er war im Nachteil. Rabinowitz’ Mädchen mit den wilden blonden Haaren besaß erheblich schärfere Krallen als Chlöe.
Sie heiße Manya, sagte sie. Und sie war allein von ihrem Vater großgezogen worden. Ihre Mutter war bei Manyas Geburt gestorben. Sie hatte weder Brüder noch Schwestern. Ihr Vater war ein Nonkonformist in einer Gemeinde strenggläubiger Juden. Er hatte mehr die Regeln der russischen Grammatik studiert als den Talmud. Er war Diener im Schloss eines litauischen Feudalherren, eingestellt, um das Silber zu putzen, und wurde binnen weniger Monate zum Hauslehrer des Sohnes des Adligen – nur Rabinowitz, der jüdische Polierer, konnte den Jungen im Lesen und Schreiben unterweisen. Manya lebte bei ihrem Vater im Schloss, trug die abgelegten Seidenkleider der adeligen Töchter. Die anderen Bediensteten wurde neidisch auf diesen autodidaktischen Gelehrten und schmiedeten Pläne, ihn und Manya zu töten. Ins jüdische Viertel konnte er nicht zurück, wo er als Paria galt.
»Dann bist du also ins Gelobte Land geflüchtet«, sagte Lionel. »Aber ich habe deinen Vater schon viele Male aufgesucht. Wo zum Teufel bist du da gewesen?«
»Hab mich im Kämmerchen versteckt«, erwiderte sie. »Papa sagt, Sie hätten eine unersättliche Wollust. Er wollte nicht, dass Sie sich an meinem Fleisch gütlich tun.«
»Und wo hast du gelernt, so zu reden?«
»Von Papa«, antwortete sie. »Er ist ein Alchemist, der Sprachen atmen kann.«
Wenn er nicht gerade Äpfel poliert wie das Silber, das er früher poliert hat, beruhigte Lionel sich selbst. Manya musste wohl über die Kenntnisse verfügt haben, als Buchhalterin oder als Verkäuferin zu arbeiten, doch Rabinowitz erlaubte ihr nicht, in die Lower East Side hinunterzugehen, wo sie irgendeinem Luden in die Fänge geraten und namenlose Männer mit schmutzigen Fingernägeln sie begaffen könnten wie wilde Tiere. Also saß die Prinzessin im Hinterzimmer ihres Mietshauspalastes und trug ihrem Vater die russischen und englischen Klassiker vor, die er ihr selbst beigebracht hatte. Und wann immer sie zum Einkauf auf die Hester Street musste, verkleidete sie sich mit Hut und Mantel ihres Vaters.
»Und was hat dich denn dann veranlasst, mir die Tür zu öffnen? Du hättest dich in der Kammer verstecken können.«
»Ich bin kein Kind«, sagte sie. »Und ich war neugierig. Ich konnte Sie durch einen Spalt in der Tür sehen. Sie haben wunderschöne Augen, wissen Sie, wenn Sie nicht gerade den Vermieter spielen.«
Lionel verlor, was ihm an Format noch geblieben war. »Aber ich bin der Vermieter.«
»Der Papa ein mietfreies Leben erlaubt«, sagte sie und lachte nun zum ersten Mal; ihr süßes Brüllen glich dem rasselnden Klingeln der Spielzeuge, die er als Kind hatte: Manya hätte Lionels Spieluhr sein können.
»Aber wie viele Gelehrte gibt es auf den Listen meiner Mieter?«, fragte er. »Unsere Unterhaltungen bereichern mich. Ich muss von ihm nichts einkassieren.«
Und genau in diesem Moment kehrte Rabinowitz mit fingerlosen Handschuhen zurück, eine zerlumpte Decke als Umhang über den Schultern. Er war in düsterer Stimmung. Er konnte das Zittern seines Unterkiefers nicht unterdrücken. Sein Gleichmut war dahin. Er hätte Lionel abgeschlachtet, hätte er ein Beil zur Hand gehabt.
»Papa«, sagte Manya, »warum machst du so ein langes Gesicht? Ich bin Debütantin hier in Amerika. Ich habe den Vermieter kennengelernt. Geh und wasch dir die Hände und lade uns beide zu einem Tee ein.«
So fing es an; Lionel vernachlässigte sein Unternehmen, vernachlässigte Chlöe, vernachlässigte seine Frau. Einem jungen Angestellten im Büro überließ er den Außendienst und das Eintreiben fälliger Mieten. Er traf sich mit seinen wichtigsten Bauunternehmern, und die Rohre verließen diesen Friedhof. Geschenke für seine Kinder kaufte er nur dann, wenn Manya ihn erinnerte. Er war immer dort, in dieser Wohnung in der Attorney Street, mit zischenden Gasbrennern auf den Fluren und dem immerwährenden Gestank von Kohl. Rabinowitz ließ nicht zu, dass Lionel ihm eine Wohnung nach vorn hinaus gab, wo er zumindest ein wenig Sonnenlicht bekommen hätte.
»Ravage, meine Tochter ist unverkäuflich. Ich tausche sie für nichts ein, verstehst du?«
Lionel erinnerte sich an den Augenblick, als er das erste Mal ihre Hand hielt; Rabinowitz tapste in seinen Pantoffeln herum, sein Gedächtnis wie weggeblasen, während er wie verrückt war vor einer Eifersucht, die er nicht ganz verstand. Und Lionel nahm wie ein Räuber ihre Hand in seine. Sie waren wie zwei Deserteure in einer nach hinten hinaus liegenden, sonnenlosen Wohnung, die Rabinowitz mietete und Lionel besaß.
Wann immer Rabinowitz zum Außenklo stürmte, mussten sie ihn begleiten. Lionels Klempner hatten begonnen, in einigen der neueren Mietshäuser Innentoiletten einzubauen, aber von diesen Rohren hatte es noch keines bis in die Attorney Street geschafft, wo der Gestank selbst im Winter unerträglich war, wenn die Aborte einfroren. Wie ein Geisteskranker leckte Lionel ihr das Gesicht ab, während der Gelehrte auf seinem splittrigen Thron saß.
»Hauswirt, wir werden Sie ein für alle Male abschütteln«, gackerte Rabinowitz aus dem Abort, aber er besaß weder den Mut noch die Mittel zu handeln. Es war dann Manya, die ihre kleine Verlobungsfeier beendete. Lionel hatte noch nie ihre Feuchtigkeit gespürt oder unter ihren Kleidern herumgefummelt.
»Lionel, wir bringen ihn noch um, und dabei ist er der letzte Papa, den ich je haben werde.«
Mit Träumen voller Gewaltfantasien kehrte er zu seinem Friedhof an der Canal zurück. Er wollte Rabinowitz umbringen, ihn mit dem Silberknauf seines Gehstocks ins Paradies befördern. Aber er empfand auch noch eine gewisse Zuneigung für diesen Gelehrten. Er hasste Rabinowitz nicht. Er wollte lediglich, dass er verschwand. Unterdessen schienen seine Geschäfte zu florieren. Bauunternehmer standen Schlange, um Angebote für seine Rohre abzugeben. Er musste einen Fernschreiber installieren. Chlöe spürte seine Launenhaftigkeit. Sie stieß ihn mit ihrem Kopf an und brachte ihm den Kadaver einer großen braunen Ratte. Er verlor Lagerbestände. Piraten waren von der Küste New Jerseys herübergekommen, um seine Ware zu stehlen, bis Chlöe ihren Anführer mit den Krallen blendete und die Bande zurück nach Hoboken trieb. Doch nicht einmal dieser Sieg konnte Lionels Wunden heilen.
Einige Monate später erfuhr er von Rabinowitz’ Ableben. Der Gelehrte war auf dem Abort tot umgefallen. Lionel eilte nicht sofort zur Attorney Street. Er fühlte sich immer noch verbittert und geprellt. Schließlich ging er ohne seinen Beutel für die Miete und mit dem Wind in den Augen hin. Es tobte ein Sturm. Die Gaslampen waren erloschen. Die Attorney Street war zu einer stockfinsteren Grube geworden. Die Lower East Side hätte auch eine unwirtliche Insel im Sturm sein können. Für einen Moment verlor Lionel die Orientierung. Ein Schwindelgefühl übermannte ihn, das fast einer Amnesie glich. Doch dann kam ihm schlagartig Chlöe in den Sinn, die Jägerin auf dem Friedhof der Rohre. Er erkannte Manyas Haus in der Reihe der Mietskasernen entlang der Attorney Street. Er stand auf dem zerbröckelnden Hausaufgang und betrat den stockfinsteren Flur. Die Treppengeländer waren kaputt. Er musste die Treppe mit einer Hand auf einer Wand aus Wellblech hinaufsteigen, die einstürzen und ihn unter sich begraben konnte. Das Linoleum auf Manyas Treppenabsatz erinnerte an ein heimtückisches Meer von Klumpen. Er klopfte an ihre Tür, kündigte sich an. »Manya, ich bin’s – der Hauswirt.«
Die Tür war nicht verriegelt. Er betrat die Wohnung, während die Fenster klapperten und das ganze Mietshaus zu erbeben schien. Die Gasdüsen fauchten ein giftiges Feuer, sprotzten und erloschen mit einem letzten Keuchen. Sie war nicht im Wohnzimmer, einem Salon mit einer zerlumpten Couch, die Lionels eigene Leute gebracht hatten. Sie mussten sie wohl in einem Trödellager nördlich der Canal gefunden haben. Lionels Wohnungen waren stets voll möbliert; auf diese Weise ersparte er sich die Krisen ein- und ausziehender Mieter. Eine Familie kam mit ihrer Wäsche und ging mit ihrer Wäsche – und ein paar zusätzlichen Bettwanzen.
Er betrat das Schlafzimmer, hatte Angst vor dem, was er vorfinden mochte.
»Manya«, flüsterte er. »Ich werde dir nichts tun.«
Sie lag in demselben fadenscheinigen Seidenmorgenrock, den sie auch bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte, auf einem zerwühlten Bett. Sie bewegte sich nicht einmal, als er ihren Arm berührte. Er rannte in die Küche. Bis auf ein Spinnennetz waren sämtliche Regale leer – nicht einmal eine einzige Nudel oder ein Stück Käse waren im Haus. Er kehrte ins Schlafzimmer zurück, hüllte sie in seinen Mantel und trug sie hinunter in den Sturm. Sie lag an ihn gelehnt wie eine schlaksige Puppe, die kaum merklich atmete.
Der Imbiss an der Ecke war geschlossen. Lionel klopfte mit dem silbernen Schädel seines Gehstocks an die Tür. Der Koch tauchte mit einer Decke über den Schultern auf und brüllte durchs Fenster: »Bist du meschugge oder was? Der Wind zerschlägt Scheiben und reißt Bäume um. Seit gestern Abend hatte ich keinen Gast mehr. Geh weg!«
Lionel klopfte wieder an, und jetzt erkannte der Koch ihn als den jungen Fürsten, dem die halbe Hester Street gehörte. Tatsächlich war Lionel sein Vermieter. Er sperrte die Tür auf.
»Verzeihen Sie mir, Herr Ravage. Der Wind spielte Streiche. Ich hab nicht …«
Der Koch trug eine Melone und lange Unterwäsche unter seiner Decke. Er musste einen großen Kerzenleuchter entzünden – er war verloren ohne seine Gasdüsen. Dann bemerkte er ihre wilde blonde Mähne und den seltsam blassen Teint wie ein Götzenbild aus Alabaster. Ihre Augen waren geschlossen.
Fast instinktiv ging er zu seinem Herd. Aber auf einem erloschenen Feuer konnte er weder ein französisches Omelett zubereiten noch einen Topf Hühnersuppe erhitzen. Also beugte er sich in seinen Eisschrank, die Melone auf dem Kopf, und nahm wie ein Meisterkoch eine Zutat nach der anderen heraus und war noch in der Lage, auf einer alten Feuerstelle ein Ei zu braten, einen Gurkensalat und ein Frischkäse-Sandwich herzurichten, während Lionel sie häppchenweise fütterte – bis sie ihre kristallblauen Augen aufschlug, ein Charakteristikum der edelsten litauischen Juden. Sie brachte sogar ein vages, zitterndes Lächeln zustande, das fast wie ein Zucken erschien.
»Hauswirt, Sie hätten mich in Frieden lassen sollen.«
»In welchem Frieden?«
»Mein Vater liegt auf einem Armenfriedhof. Ich möchte dort bei ihm liegen.«
»Er wird nicht sehr lange dort liegen. Wir werden ihn erneut beerdigen, diesmal in meinem Familiengrab.«
»Er gehört nicht dorthin«, sagte sie, mit einem Mal unbändig. »Sie haben Ihre eigenen Kinder und eine Frau.«
»Ihr seid meine Familie. Hattest du genug zu essen?«
»Ja, Lord Lionel«, erwiderte sie mit einem Anflug von Belustigung in der Stimme.
Der Koch bereitete reichlich Essen zu, wollte aber kein Geld von seinem Fürsten annehmen. »Bitte, kommen Sie wieder, Herr Ravage. Bei einem Sturm sind Sie mir stets willkommen.«
Und Lionel trug sie in seinen Mantel gehüllt durch den Wind zurück hinauf in ihre Höhle, wo die Fenster die ganze Nacht klapperten. Sie schlief in seinen Armen ein und erwachte mit dem gleichen alabasternen Aussehen.
»Du könntest für mich arbeiten, weißt du. Ich werde meinen Buchhalter feuern.«
»Und bei Ravage & Son einen Skandal auslösen. Sie werden die Kunst des Mietinkassos verlieren.«
Sie griff nach Lionel, die Arme immer noch in seinem Mantel vergraben, und küsste ihn auf den Mund. Es war ihr erster Kuss. Jetzt war er es, der zitterte, nicht Manya. Ihre Zunge trug den süßesten Geschmack. Sie zerrte an seinen Hosenträgern, bis sie aneinandergeschmiegt auf dem Bett lagen. Sie zog ihm Hose und Winterunterwäsche aus, wie eine Kurtisane in einem Traum. Und er drang in sie ein, während sie noch in seinen langen Mantel gehüllt war. Ineinander verschlungen bewegten sie sich barmherzig langsam. Er dachte weder an seine Konten noch an seinen toten Vater oder die Katze, die in dem endlosen Rohrsystem auf ihn wartete. Sie redeten nicht. Er lauschte auf ihren Herzschlag und leckte das Salz hinter ihrem Ohr.
»Es ist mir peinlich«, sagte sie schließlich. »Lionel, ich habe seit einer Woche nicht mehr gebadet.«
»Das ist wundervoll. Dann wirst du auf ewig meinen Geruch auf dir tragen, wie die Tätowierung eines Chinesen.«
Er war nicht sicher, wie lange er bei ihr blieb. Er führte keinen Kalender in seinem Kopf. Er wusste, dass gewisse Rechnungen beglichen werden mussten, aber darum konnte sich sein Buchhalter kümmern. Er hätte seine Frau benachrichtigen sollen. Was könnte er sagen? Henny, ich bin auf einer langen Reise. Vielleicht komm ich nie mehr zurück.
Sie hätten zu Lord & Taylor gehen können oder zu irgendeinem anderen Geschäft für Damenbekleidung an der Grand Street. Aber sie untersagte ihm, Kleidung für sie zu kaufen. Sie fuhren niemals mit der Pferdebahn in einen anderen Stadtteil, sahen nie jiddischen Gauklern auf der Bowery zu. Lionel ging das Bargeld aus. Es schien nichts auszumachen. Unter die Rechnung des Lebensmittelhändlers setzte er seinen Namen, und der war so gut wie Gold. Eine Woche nach dem Sturm gingen auf wundersame Weise die Gasdüsen wieder an und brannten mit kleiner blauer Flamme. Lionel holte Eimer voller Wasser von dem undichten Wasserhahn auf dem Treppenabsatz und verbrachte Stunden damit, ihr den Rücken zu schrubben. Abends las sie ihm aus den in Leder gebundenen Büchern vor, die ihr Papa aus Litauen mitgebracht hatte, Bücher, die der Schlossherr ihm ausgeliehen hatte und die nie mehr zurückgegeben worden waren, Klassiker mit Illustrationen. Ganz besonders mochten sie Barnaby Rudge; sie schwärmten für Dickens’ größten Gesetzlosen und groteske Figur, Dennis the Hangman, der es liebte, einen Aufstand anzuzetteln, dann eine Kehrtwende zu machen und die Aufständischen zu hängen. Sie waren überzeugt, dass Dennis in Amerika auf der Mulberry Street als Captain der Polizei aufgeblüht wäre, wenn er nicht in dem Roman selbst aufgeknüpft worden wäre.
»Was für eine Schande«, sagte Manya. »Dennis hätte an meine Tür anklopfen können.«
»An unsere Tür«, korrigierte er, und dann klopfte es plötzlich an der Wohnungstür, als stünden sie unvermittelt auf einer Bühne, befänden sich mitten in einem jiddischen Melodram.
»Herein«, rief Manya.
Wie aus heiterem Himmel tauchte Lionels Büroleiter auf, mit einer Melone in Händen. Er trug rote Hosenträger, genau wie Lionel. »Es hat eine schreckliche Tragödie gegeben, Chef, andernfalls würde ich Sie nicht belästigen.«
»Was ist passiert? Hat’s uptown gebrannt? Sind meine Kinder verletzt?«
»Nein, Chef, aber ich denke, Sie sollten besser mitkommen.«
Der Büroleiter musste mit geschlossenen Augen in der Ecke stehen, während Lionel sich Hose und Mantel überstreifte, die mit jeder Wollfaser den schwindelerregenden Duft von Manya verströmten.
»Manya«, raunte er, »ich bin gleich wieder zurück.«
Der Büroleiter schwieg den ganzen Weg zur Canal Street. In mürrischer Laune betrat Lionel seinen Friedhof von Rohren. Und dann sah er sie an einem Haken in der Wand baumeln, mit seinem besten Kupferdraht wie eine Halskette unter den Ohren; ihr helles Fell blutgetränkt, und ihre Pfoten verstümmelt.
Lionel schluchzte laut vor seinen Männern. »Seht euch mein kleines Mädchen an.«
Mit einer Zange befreite er sie von der Wand, hielt diese gewaltige Katze in den Armen und zerzauste mit einer Hand ihr blutiges Fell. »Idioten, haben wir nicht Wächter rund um die Uhr?«
»Chef«, sagte der Büroleiter. »Es war dieselbe Gang aus Hoboken. Sie haben unsere Wächter verjagt und absolut nichts gestohlen. Es war etwas Persönliches, Chef. Zwischen denen und der Katze.«
»Schnauze«, fauchte Lionel. »Sie wären nicht mal in Chlöes Nähe gekommen, und wenn sie hundert gewesen wären.«
»Die haben sie geblendet, Chef, mit Säure. Sehen Sie nur ihre Augen.«
Sie hatte keine Augen. Sie hatte versengte Gruben, wo ihre Augäpfel weggeätzt worden waren, und trotzdem konnte er immer noch die leuchtend grünen Augen seiner toten Katze spüren – nichts konnte sie schmälern, nicht einmal diese Bande von Flegeln aus Hoboken, die er alle zu töten schwor. Er würde Angehörige der Hafenpolizei beknien müssen, ihn in einer Polizeibarkasse über den Hudson zu bringen, und sich dann auf diese Hoboken-Ratten stürzen. Er würde jeden Preis zahlen, um Chlöe zu rächen. Und während er von Vernichtung träumte, trafen Männer in schwarzen Mänteln in der Canal Street ein. Sie waren eine andere Sorte Piraten, diese Kaufmannfürsten, die Henriettas Onkel, Neffen und Brüder waren, und Lionel selbst war nun der Gesetzlose mit einer toten Katze in den Armen.
»Geht weg«, sagte er. »Ich bin in Trauer.«
Aber sie zogen vor Lionel nicht den Kopf ein wie sein Büroleiter. Auch waren sie nicht gekommen, um mit ihm bei einem Glas Schnaps zu verhandeln. Sie rissen ihm den Mantel vom Leib, schlugen mit ihren Gehstöcken auf ihn ein, bis er im Sägemehl lag, mitten in dieser Welt aus Kupfer und Blei.
Henriettas Lieblingsonkel ragte mit seinem gewachsten Schnurrbart über ihm auf. »Neffe, du bist einen Monat nicht zu Hause gewesen. Deine Kinder sind ohne ihren Vater wie wilde Tiere. Deine Frau ist sogar noch ungestümer – vor Sorge. Sie hat nicht mehr geschlafen. Sie will nicht mehr essen.«
»Onkel«, rief er. »Ich kann ihr nicht helfen. Ich habe eine andere Frau.«
Sie verdroschen ihn weiter und weiter, bis Chlöe neben ihn fiel und er nur noch die verätzten schwarzen Löcher in ihrem Kopf sah. Und dann verschwand sie hinter den russischen Filzstiefeln der Bayern.
»Dein Vater war ein Bankrotteur«, sagte Onkel Rainer. »Wir haben ihn aus dem Ruin gezogen. Wir haben dir unsere schönste Blume gegeben – eine Braut, die du nicht verdient hast. Die reichsten Männer wollten sie, gut aussehende Männer, brillante Männer, und sie hat sich in eine aalglatte blonde Schlange verliebt. Das hat Konsequenzen, Lionel. Du wirst alles verlieren, dieses Unternehmen, deine Immobilien, jede einzelne Parzelle Land.«
»Ich werd’s überleben«, sagte er.
Onkel Rainer lächelte; er war der Smarteste der Bande.
»So wie deine Katze überlebt hat, ja? Und was wird aus der Tochter des Apfelhändlers, wenn du dein Vermögen verloren hast? Es wird kein schöner Anblick sein. Wir werden sie als Landstreicherin verhaften lassen. Und wie willst du ihr helfen? Almosenempfänger können nichts gegen die Polizei unternehmen.«
Lionel stürzte sich auf Onkel Rainer, den er immer bewundert hatte. Rainer hatte Lionels Papa aus dem Gefängnis geholt, nachdem der Ehevertrag besiegelt war. Er und Henny besaßen die Hälfte von Ravage & Son.
»Ich bringe dich um«, heulte Lionel mit einer rauen Stimme, die seine Niederlage signalisierte. Rainer konnte es sich leisten zu lachen. Die bayerischen Fürsten ließen ihn im Sägemehl liegen, mit seiner toten Katze irgendwo vergraben zwischen den Rohren. Er war ausgeblutet. Er war so blind wie Chlöe, aber das spielte keine große Rolle. Ihm würden Schnurrhaare wachsen und er würde umherstreifen. Er würde alle Jubeljahre mit Henrietta schlafen, zwischen ihren Periodenkrämpfen. Er würde weiter Land kaufen, seine Rohre verkaufen, in der maurischen Burg des Temple Emanu-El sitzen, mit den bayerischen Fürsten beten und zugleich Komplotte gegen sie schmieden. Er würde verstümmeln, er würde marodieren und dabei die Maske der Anständigkeit tragen. Sollten sie sich doch alle ihren eigenen Lionel Ravage erfinden – Klempnermeister, Eisenwarenhändler, Immobilientycoon. Sie würden weder das Ungeheuer noch den Mann finden. Er saß im Sägemehl und schnalzte vor seinem Betriebsleiter und seinen Rohrschlossern »Chl-ö-ö-ö-eeee«. Aber die Katze kam nicht.
Es war weit nach Mitternacht in der Lower East Side, und Cahan musste noch einen letzten Artikel über den jüngsten Versuch des Kongresses fertigstellen, Ellis Island zu schließen und dem Ghetto die Luft abzuschneiden. Der Herausgeber verließ seinen Falkenhorst im Gebäude des Forward am East Broadway und beschloss, durch die dunkeln, schmierigen Straßen in Hafennähe zu streifen in der Hoffnung, einen Rhythmus zum Schreiben zu finden, als ein einzelner Hahn seinen Weg kreuzte, ein Flüchtling aus einer Hahnenkampfschule, die von Glücksspielern im Ghetto betrieben wurde; der Hahn hatte sehr rote Augen, und seine Kehllappen waren angefressen. Er hatte nur noch ein Bein und humpelte, versteckte sich vor den Spielern, die ihm seine Lahmheit verübelten, vermutete Cahan, und ihm mit einem Beil den Kopf abgehackt hätten. Cahan war versucht, diesen Flüchtling unter seine Fittiche zu nehmen, doch die Sekretärinnen und Buchhalter des Forward wären in Panik geraten, wenn sich ein einbeiniger Hahn im Gebäude aufhielt.
Und während er so über das Schicksal des Hahns sinnierte, hörte er das vertraute Rumpeln eines Schubkarrens mit lädierten Rädern. Avram Polski tauchte in seinem Wintermantel auf, verkaufte Waren an eine unsichtbare Kundschaft; der Krämer gehörte eingesperrt. Aber es gab keine jiddische Irrenanstalt, und Avram mit seinen Schnürsenkeln, Gummibändern, stockigen Radierern, gespaltenen Bleistiften und Tintenfässchen ohne Tinte war auf der Straße besser aufgehoben. Er war ein Riese von Mann und hatte Frau und drei Kinder bei einem Choleraausbruch verloren, der vor sechs, sieben Jahren in seinem Mietshaus wütete.
»Schnürsenkel, einen Dime das Dutzend«, jammerte Avram wie das Klageweib, das er auch war.
Cahan kaufte Schnürsenkel und einen Schwung Gummibänder, so wie er es stets bei seinen nächtlichen Begegnungen mit Avram tat, der immer noch ein passionierter Leser des Forward war.
»Genosse, warum machst du Werbung für White-Rose-Tee? Das ist doch Gift in der Teetasse. Besser solltest du Rekruten für einen Pogrom erfassen.«
Cahan verlor jeden Streit mit dem Hausierer, der es trotz seiner endlosen Reisen durch dieselben dunklen Straßen immer noch verstand, das letzte Wort zu behalten.
»Avram, ich warte darauf, dass eine andere Teemarke auftaucht.«
Der Verrückte wollte nicht zuhören. Er zählte seinen winzigen Schatz und verzog sich in den Nebel. Lange konnte Cahan sein Alleinsein nicht genießen. Luden waren immer noch mit ihren Harems auf der Jagd. Eine solche Königin der Nacht sprach den Herausgeber an. Sie hatte einen schrecklichen Husten. Ihre Fingernägel waren schmutzig, ihre Augenbrauen erinnerten an verblichene blaue Gummibänder. Sie konnte kaum älter gewesen sein als sechzehn. Sie trug nichts als ein Baumwollkleid und musste völlig durchgefroren sein. Sie blinzelte Cahan einmal an, mehr an Verführungskunst kam da nicht.
»Mister«, krächzte sie mit heiserer Stimme, »Lust auf eine Weltreise?«
Sie gehörte in ein Bett im Hebräischen Krankenhaus, nicht auf die Cherry Street zum Anschaffen. Ihre Wangen glühten, während sie gleichzeitig am ganzen Leib zitterte. Die Augen schienen ihr aus dem Kopf zu treten.
»Meine Liebe«, flüsterte er so sanft er konnte, »was würde es mich kosten, dich für die Nacht in den Ruhestand zu schicken?«
»Einen tenski«, sagte sie zwischen zwei Hustenanfällen.
Cahan griff in seine Börse und reichte ihr einen Zehndollarschein. Ihren Namen wollte er gar nicht wissen; ein Name hätte ihn behindert, hätte ihrem Schädel Haut und Fleisch hinzugefügt und ihm Albträume bereitet. Aber er hatte nicht richtig gefeilscht und so dem armen Mädchen das Leben schwer gemacht. Ihre Beschützer tauchten auf, zwei Luden in identischen Bibermänteln; sie mussten aus einem urzeitlichen Klima gekommen sein, in dem die bärbeißigsten Männer lebten. Sie hatten tiefe Narben im Gesicht, Andenken an oder Auszeichnungen für Messerstechereien, die sie überlebt hatten. Beide trugen Feuerwehrbeile, die an Tomahawks erinnerten. Cahan war auf ein geheimes Wildwest am Hafen gestoßen. Er war aufgebracht, selbst mit Tomahawks vor der Nase.
»Das Mädchen hier gehört in ein Krankenhaus.«
Die Luden klopften sich auf die Oberschenkel wie Bowery-Sänger und holten mit ihren Kriegsbeilen nach ihm aus, verfehlten seine Nase nur um wenige Zentimeter.
»Mushke, scheiß drauf, skalpieren wir ihn. Anschließend verkaufen wir ihn an die Gerberei, die Haut und alles.«
Ein Nebelhorn dröhnte in Cahans Ohren, als ein weiterer Mann aus dem Dunst trat; er hatte das fleckige Gesicht eines Halunken, der in eine Feuersbrunst geraten war. Nicht mal dieser unförmige Haufen Haut und die Perücke, die er schief aufgesetzt trug, um die Verbrennungen auf seinem Schädel zu kaschieren, konnte das bösartige Funkeln seiner blauen Augen mildern. Früher mal war er der schönste Kavalier des Ghettos gewesen. Jetzt streifte er mitten in der Nacht durch die Straßen und schwang einen Gehstock mit einem silbernen Wolfskopf. Er schlug nach den Luden, die auf die Knie gingen, als sich die Zähne des Wolfs mit einem lautlosen Bellen in sie verbis-sen.
»Mensch, Mr R., wir wussten ja nicht, dass er ein Freund von Ihnen ist.«
»Ist er nicht«, erwiderte der Mann. »Aber ihr solltet euch nicht solche Freiheiten herausnehmen. Verschwindet!«
Und beide rannten Richtung Bowery.
»Herr Ravage«, sagte Cahan mit einem leicht bitteren Unterton, »ich stehe in Ihrer Schuld.« Er wusste, dass die Uptown-Fürsten gern an ihren deutschen Wurzeln festhielten. Der hier jedoch war ein Rebell, der an der Canal seine eigene Festung besaß. Darüber hinaus war er ein Mysterium, das Hilfseinrichtungen für Arme finanzierte, jiddische Opernstars der Metropolitan anheuerte, damit sie in einer zerfallenden Synagoge das Totenlied sangen, und half, auf Ellis Island ein Netz an Beobachtern zu installieren, die Einwanderer durch das Labyrinth von Doktoren, Krankenschwestern und kleinlichen Beamten begleiteten, aber er war ebenfalls ein skrupelloser Hausbesitzer, der Mietskasernen komplett entmietete und Block für Block in eine schlimme Hölle verwandelte. Er selbst war aus einer brennenden Mietskaserne spaziert, sein halbes Gesicht in Flammen.
»Sie schulden mir nichts, Cahan. Und Sie sollten nicht so förmlich sein. Lionel genügt völlig.« Er zupfte an der Perücke, die dem Strohhut eines Geisteskranken ähnelte. »Ich hätte die zwei Sie umbringen lassen können. Sie haben mich im Forward schon genug ans Kreuz genagelt.«
»Wie viele Familien haben Sie denn schon aus ihren Mietpalästen zwangsgeräumt, Lord Lionel?«
Der Geisteskranke lachte. »Nie ohne Räumungsbefehl. Alles völlig legal. Und halten Sie sich nach Mitternacht von den Straßen fern. Das ist meine Nocturne, Cahan, nicht Ihre. Sie maulen ständig über Bullen und Luden. Nun, der eine wie der andere könnte Ihr Hirn zu Erbsensuppe verwandeln, und dann wäre es aus mit Ihrer Wortgewandtheit. Gute Nacht.«
Und plötzlich hatte Cahan das Timbre gefunden, das er brauchte, um seine Geschichte über Ellis Island hinzukritzeln, als hätte dieser Geist mit weißen Haaren ihn wachgerufen. Er kehrte in dem Wissen zum East Broadway zurück, dass er Herrn Lionel Ravage wohl niemals verstehen würde, einen Mann mit seinem eigenen Harem, der einen ganzen Stamm von Bastarden gezeugt hatte, über die der Herausgeber nicht zu schreiben wagte, sofern er nicht gnadenlos wegen übler Nachrede verklagt und aus seinem eigenen Titelkopf entfernt werden wollte.
Man nannte ihn den »Pulitzer von Jiddischland«, den William Randolph Hearst des Ghettos. Cahan besaß einen Koloss – den Jewish Daily Forward. Er hatte mehr Leser als der Philadelphia Inquirer und die St. Louis Post-Dispatch, und er wurde für die Bevölkerungsgruppe der jüdischen Einwanderer herausgegeben. Cahan rühmte sich gern seiner Million Leser, weil ganze Familien jede einzelne Ausgabe des Forward verschlangen, und das nicht nur auf den schäbigen Straßen um den East Broadway, sondern auch in Buenos Aires und Budapest und all den anderen Welthauptstädten, in denen im Jahr 1913 die Zeitung verkauft wurde. Aber Cahan konnte die Galle auf seiner Zunge schmecken, als er aus seinem Bau im zehnten Stock des Forward-Gebäudes ins Herz der Lower East Side hinunterblickte, während seine Mitarbeiter nebenan auf ihren Zeilensetzmaschinen die aktuelle Ausgabe im Bleisatz montierten.
Draußen wirbelte roter Staub durch die Luft und herrschte großer Lärm, was beides nichts mit seinen Setzern zu tun hatte. Der Staub hatte nichts Geheimnisvolles für Abraham Cahan; es waren Trümmerteile und Rötel, die sich von den Mauern und zerklüfteten Dächern der Mietshäuser und anderer Gebäude lösten, als würde ein monströser Bildhauer an jeder einzelnen Immobilie des Ghettos herummeißeln: Schulen, Synagogen, Kirchen, das Gefängnis in der Ludlow Street, der Essex Market Court, die Handkarren, die Pylonen der Williamsburg Bridge, das Erdreich, das in der Delancey Street für eine neue U-Bahnlinie ausgehoben wurde, die Flanken der Brauereipferde, die Fliegen anzogen und noch mehr Staub – der spitzbübische Bildhauer war die Zeit selbst. Und Zeit war der große Feind eines jiddischen Journalisten. Cahan konnte nur gedeihen, wenn neue Einwanderer mit ihrem Gepäck, ihren Kindern und ihren Frauen aus dem Boot von Ellis Island drängelten. Schon sehr bald würde dieser Einwanderungsstrom zum Erliegen kommen, und die Leser des Forward würden im roten Staub verschwinden.
Und dann war da der Lärm, so ohrenbetäubend wie das Gekrächze bösartiger Vögel. Aber auf dem East Broadway gab es keine Krähenplage. Diese Geräusche waren auch nicht das Wehklagen von Trauernden. Daran hätte Cahan sich erinnert. Es war eher wie das raue, unregelmäßige Schnurren eines sterbenden Tiers. Cahan hielt nichts von Ausschmückungen. In den Kolumnen des Forward weinten keine Steine. Männer erkrankten und starben an Auszehrung – der Tuberkulose. Ehemänner verließen ihre Frauen. Kinder verhungerten. Trotzdem war er nicht im jiddischen Theater, wo ganze Chöre weinen konnten. Es war, als besäßen die Straßen ihren ganz eigenen unheimlichen Klang, keine Totenglocke, sondern ein Klang, der ihn und all seine Taten verhöhnte.
Er war ein Geächteter, lange bevor er Herausgeber wurde. Nachdem es zu einer Pandemie von Pogromen gekommen war, in deren Verlauf Kosaken mit weißen Pelzmützen in einem Dorf litauischer Juden nach dem anderen wüteten, alte Frauen und junge Mädchen schändeten und sich mit ihrer Beute aus dem Staub machten und dabei ganze Straßenzüge in Brand setzten, hatte er sich in Wilna einer Gruppe von Bombenbauern angeschlossen. Cahan hatte mit eigenen Augen eine ganze Reihe dieser jungen Mädchen gesehen, die ihre Sprache verloren hatten und für den Rest ihres Lebens nur noch humpeln würden. Andere Mädchen waren wahnsinnig geworden und verstümmelten ihre eigenen Puppen. Cahan war durch die verkohlten Straßen gegangen, mit all den brennenden Kadavern von Kühen und den Gliedmaßen, die wie wertloser Plunder in Aschehaufen begraben lagen; in seinem ganzen Leben hatte er noch nie eine solche Angst erlebt. Manche der Dorfältesten konnten gar nicht aufhören zu weinen oder zu zittern. Und da schwor Cahan sich, die Kosaken zu jagen, wie die Kosaken die Juden gejagt hatten, auch wenn Pistolen in seinen Händen explodierten und die von ihm gebauten Bomben nur wie harmlose kleine Feuerwerkskörper sprotzten. Eine andere Gruppe von Bombenbauern hatte versucht, vor dem Winterpalast die Kutsche des Zaren in die Luft zu jagen, und doch hatten sie nicht mehr geschafft, als sich selbst zu verstümmeln.
Cahan kam als steckbrieflich gesuchter Mann in Amerika an, ohne auch nur ein einziges Wort Englisch im Schädel. 1882 gab es keine Abendschule für Anarchisten aus Wilna. Doch er dachte nicht daran, zu verzweifeln. Er ging in eine öffentliche Schule an der Hester Street und bat den Direktor um Erlaubnis, mit Dreizehnjährigen am regulären Tagesunterricht teilnehmen zu dürfen; zwei Monate lang saugte er auf, was er konnte, und prägte sich die Sprachmelodie des Lehrers ein, und innerhalb von ein, zwei Jahren feilschte er mit Redakteuren und schrieb für The Sun über das Leben in der Lower East Side. Er nahm an politischen Veranstaltungen teil, sprach davon, in die Domäne der Kapitalisten an der Fifth Avenue zu marschieren und mit der Axt Millionäre in ihren Palästen zu meucheln. Und heute nahm er im Forward Werbung für White-Rose-Tee und Maxwell House an, hätte ohne sie nicht überleben können. Seine Feinde nannten ihn »Kapitalistenknecht im sozialistischen Hemd«. Von den Anarchisten hatte er sich schon vor Jahren abgewendet, sah sich selbst einfach nicht mehr die Mörderaxt schwingen. Er wurde Polizeireporter, las Henry James und begann, für Cosmopolitan und The Atlantic Monthly, wo auch James selbst veröffentlicht hatte, Artikel über das Ghetto zu schreiben – auf Englisch. Cahan hatte sogar in der Sprache seiner staatlichen Schule Romane und einen Band mit Kurzgeschichten verfasst, die in der angelsächsischen Presse gelobt wurden.
Seine Frau hatte ihn eindringlich gebeten, nicht mehr zum Forward zurückzukehren – Cahan hatte dreimal gekündigt. Anya mit ihrem Kneifer sah in ihm einen neuen Tolstoi. Er war tatsächlich einmal in Petersburg gewesen, als Flüchtling, und hatte jene Straße aufgesucht, die er sich bei der Lektüre von Anna Karenina eingeprägt hatte, aber die Boulevards und Kanäle boten ihm kaum Trost. Cahan war kein Kavalier. Er war ein ehemaliger Bombenbauer aus Wilna, der für den Forward arbeitete, wahrscheinlich sein Leben lang. Es ähnelt einer Todesstrafe, plapperte Anya oft mit einem Hauch Mandelmus auf der Zunge.
Er hatte die Zeitung vor Bankrott und Vergessenheit gerettet. Er lehnte es ab, zum Scheitern verurteilte sozialistische Traktate zu veröffentlichen, die von der Revolution auf der Straße und der Ankunft eines proletarischen Messias säuselten. Cahan gab Jacob P. Adler in The Yiddish King Lear im New National den Vorzug. Das war für ihn genug Messias. Als er im Jahr 1906 A Bintel Brief (Ein Bündel Briefe) einführte, schnellte die Auflage auf der Lower East Side dramatisch in die Höhe. Er musste von anderen jiddischen Zeitungen und von Hearst klauen. A Bintel Brief war letzten Endes nur ein Kummerkasten, wenn auch mit der besonderen Note Cahans. Er erhielt Briefe von seinen Lesern – die meisten verquast und ungebildet –, überarbeitete sie mit geringfügigen Änderungen hier und da, sodass am Ende die Briefe Geschichten von Kummer und Leid erzählten. Und dann bot Cahan selbst seinen Rat an, nicht wie ein Potentat aus dem zehnten Stock heraus, sondern wie ein Freund, ein weltlicher Rabbi, wie Elijah, der Gaon von Wilna, aus dem achtzehnten Jahrhundert und dem Wilnaer Ghetto ins Ghetto des East Broadway versetzt. Als siebenjähriger Junge stürzte sich der kleine Elijah auf das Wissen jedes Gelehrten und Rabbis der Großen Synagoge von Wilna, und weitere siebzig Jahre war er ein geschätzter Weiser, der den Armen und Niedergeschlagenen stets mit Rat zur Seite stand, ohne je ein Entgelt zu verlangen. Elijah hatte keine Zeit zum Schlafen. Er war immer gefragt. Niemand konnte Elijahs Geistesgröße erben. Aber auch Cahan hatte keine Zeit zum Schlafen. Er lektorierte und beantwortete immerzu irgendein Bintel Brief. Männer schrieben ihm genau wie Frauen, doch Cahan wusste, dass er jede zweite Hausfrau der Lower East Side als willige Sklavin seiner Kolumne gewonnen hatte. Manchmal musste er den Verfasser eines Briefs verschleiern, denn andernfalls hätte er einen Skandal ausgelöst und Schande über seine eigenen Beiträger gebracht. Also jonglierte er mit Namen und Adressen wie ein jüdischer Akrobat. Plante Sonya aus der Sheriff Street mit ihrem wunderbaren Untermieter durchzubrennen und zwei kleine Mädchen und einen abtrünnigen Ehemann sitzen zu lassen, der die halbe Zeit betrunken war und sie grün und blau schlug? »Ich liebe unseren Untermieter«, gestand sie. »Er hat so gar keine ungeschickten Hände. Er zwickt mich nie. Er schreibt Gedichte, wenn er auf der Arbeit ist. Er liebt meine Töchter. Wir fliehen nach Kanada, ich schwör’s bei Gott.«
Cahan hatte eine primitive Seite angesprochen. Ehebruch war ein durchaus verbreitetes Thema im Ghetto, wo Ehefrauen, Ehemänner und Untermieter zusammengepfercht in Mietskasernen aufeinanderhockten, halb nackt über einen dunklen Flur zur Toilette und zurück huschten. Hatte Cahan nicht Feuilletons veröffentlicht, die sich fatalistisch mit dem Thema Liebe auseinandersetzten? Und hatte er nicht im Jahr zuvor eine gekürzte Fassung von Anna Karenina in mehreren Teilen veröffentlicht, bei der Anya Tolstois elektrisierenden Rhythmus in ein jiddisches Potpourri mit allen möglichen Kapriolen übersetzte, für die seine Leser schwärmten, sodass Anna eine gefallene Heldin war, die unter dem Schatten der Second Avenue El hätte wandeln und auf den Schienen einer Straßenbahn landen können?
Seine Anya war eine geborene littérateuse, und ihre Ehe war so trocken und bitter wie ein verrottender Knochen. Er hätte kein Kind haben können, nicht mit einer solchen Nonne. Aber Cahan war auch unfruchtbar. Als Schuljunge in Wilna hatte er mit einem Mädchen vom Gymnasium herumgemacht, hatte sie in einer dunklen Gasse begrabscht, und das war seine einzige Vorbereitung auf die Ehe gewesen. Er hatte sich sechsmal von Anya getrennt; irgendwie war es genauso schwierig, voneinander getrennt zu leben. Und jetzt wohnten sie im Norden der Stadt, unter all den Nichtjuden und deutschen Juden. Aber es hatte nichts mit einem Wunsch zu tun, dem Ghetto zu entkommen und mit einem Seidenhut auf der Fifth Avenue zu flanieren. Er hatte seine Anya in einen eleganten Vogelkäfig gesteckt, eine sozialistische Anarchistin, die sich mit Charlotte Russe vollstopfte, während Cahan meistens auf einem Tisch in der Setzerei schlief.
Er konnte den Meister bewundern, sich wie ein rabbinischer Gelehrter in Henry James vertiefen, den Duft jedes einzelnen Absatzes schnuppern, doch er blieb ein Geschöpf mit gelähmten Flügeln. Sein schriftstellerisches Handwerk lag in den Seiten des Forward begraben, praktisch jedes Wort, das er schrieb oder überarbeitete. Und höchst selten hatte er Ruhe vor seinen Korrektoren.
Während er aus dem Fenster schaute, marschierte Barush, sein Redaktionsleiter herein, irgendein Manuskript in der Hand, zusammengerollt wie eine satanische Thora in hämorrhagisch schwarzer Tinte. Barush trug einen Zwicker, genauso einen wie Cahans Frau. Zu einer anderen Zeit bei einer anderen jiddischen Zeitung war er einmal Cahans Chef gewesen. Er war Theaterkritiker, Stückeschreiber und Romancier, dessen Feuilletons im Forward erschienen, aber keine Hausfrau oder Schneiderin hätte sein hochgestochenes Jiddisch entziffern können. Auch seine Politik war anders als Cahans. Er wollte mit der Kehillah kooperieren, dieser Verschwörung von Juden aus dem Norden der Stadt, um das Ghetto zu überwachen und zu kontrollieren. Irgendeine Form der Kehillah gab es seit dem Spätmittelalter, als reiche jüdische Kaufleute ihre ärmeren Brüder in den Ghettos Osteuropas bespitzelten, als umherstreifende Banden bettelnder Juden häufig kleine Straftaten begingen – Stoffe stahlen und halbverfaulte Früchte –, um nicht zu verhungern oder zu erfrieren.
Solche jüdischen Zigeuner gab es nicht in Manhattan. Aber ein früherer Polizeipräsident, ein polternder Hitzkopf namens Howard Galt, hatte vor einigen Jahren in der Lower East Side für reichlich Furore gesorgt. Er schrieb einen Artikel über das Ghetto in der North American Review, wo Cahan selbst bereits mehrmals veröffentlicht hatte. Deshalb konnte er dem Magazin schlecht Borniertheit vorwerfen. Galt behauptete, die Hälfte aller Verbrechen der Stadt würden von russischen Juden begangen. »Sie sind Einbrecher, Brandstifter, Taschendiebe und Straßenräuber – sofern sie den Mumm haben –, aber auch wenn jederart Verbrechen ihr Metier ist, Taschendiebstahl ist doch dasjenige, das ihnen am meisten zu liegen scheint.«
Die deutschen Juden wollten nicht, dass eine solche Plage vor ihrer Haustür landete. Viele von ihnen waren aus Bayern in die Lower East Side gekommen, hatten ihre Synagogen gebaut, während sie als Kurzwarenhändler ein Vermögen verdienten, waren dann mit ihren Synagogen und Kaufhäusern und ihrem ganzen Tross aus Onkeln, Cousins und Ehefrauen in den Norden der Stadt gezogen. Diese Kaufleute und ihre Verbündeten waren bestrebt, dass sich Cahan und andere führende Persönlichkeiten der Kehillah anschlossen, damit auch sie diese »schmählichen russischen Feiglinge« in dieser Wiege des Verbrechens auf der Lower East Side im Auge behalten konnten. Doch Cahan mied die Kehillah und ihre Uptown-Detektive, die kaum besser waren als Spitzel und Lakaien der Polizei. Sie hätten das Ghetto in ein riesiges Gefängnislager verwandelt.
Barush flehte ihn an. »Genosse Cahan, du kannst diese Allrightniks nicht ausschließen. Sie werben in unserem Blatt für ihre Kaufhäuser. Und was ist mit der Hawthorne School, hä? Sie haben Straftäter aus einem Zuchthaus für Jugendliche gerettet, das kaum mehr war als ein Irrenhaus und eine Räuberhöhle. Sie mussten mit dem Gouverneur darum ringen, mit allen Mitteln.«
»Und was haben wir nun, Barush? Eine malerische jüdische Besserungsanstalt am Hudson. Studieren die Jungs etwa Spinoza, Barush? Sie können Tischler, Maurer, Klempner oder Drucker werden. Mehr hat die Hawthorne School ihnen nicht zu bieten.«
»Was erwartest du, Genosse? Die Hälfte der Jungs hat doch kein Hirn im Kopf. Die Seele hat man ihnen in der Anstalt aus dem Leib geprügelt.«
»Nein, Barush«, versteifte sich Cahan. »Nicht die Seelen.«
Er war mit den jüdischen Magnaten zu einer Art Picknick in den Norden des Staates gefahren, wozu man vom alten Grand Central-Bahnhof aufbrach. Er hatte Trauben und Wein und Käse mit den Magnaten und ihren Ehefrauen in Satinslippern und Gesichtsschleiern geteilt, auf denen bei jedem geflüsterten Wort tiefe Falten zurückblieben. Als eine Art Friedensangebot hatte Cahan sogar Anya mitgenommen. Aber sie hatte diesen Frauen wenig zu sagen. Sie wollte Tolstoi nicht mit ihnen teilen, und ihr Mann hatte ihr verboten, über Politik zu reden. Also saß sie die ganze Strecke schweigend da, starrte mit ihrem Kneifer auf der Nase auf den Hudson hinaus, bis sie schließlich an einem winzigen Bahnhof mit einem Blechdach eintrafen, wo sie von einer kleinen Flotte Kutschen aus schwarzem Mahagoni mit livrierten Fahrern erwartet wurden, die einer russischen Romanze hätten entsprungen sein können. Cahan hatte noch nie zuvor eine solche inszenierte Pracht gesehen. Die Kutschen fuhren eine sehr steile und felsige Schlucht entlang, dann ging es höher hinauf und man hielt schließlich vor einer kleinen Festung auf dem Gipfel des Bergs.
Cahan war entsetzt. Die jüdische Erziehungsanstalt verfügte über einen Baseballplatz, einen Garten, eine Synagoge, geräumige Häuschen und eine Backstein-Burg, in der sich die Werkstätten befanden und der Unterricht abgehalten wurde; alles hatte die antiseptische und kühle Ausstrahlung eines Zuchthauses mit Blick auf den Fluss. Er fühlte sich wie benommen, als er auf dem Gelände umherging, und konnte es kaum erwarten, wieder fortzukommen. Barush hatte nicht Unrecht. Viele dieser wilden Jungs hatten ihre Seele in einer anderen Einrichtung gelassen. Doch aus welchem Grund sollten ihn die jungen Maurer von Hawthorne so verstören? Gewiss würden die Magnate doch für die besten Absolventen der Schule Arbeit finden. Doch er las nichts in den Augen der Jungs, nicht einen Funken Emotion oder Neugier, so als ob sie träumten und Ziegel aßen.
»Genosse«, sagte Barush und wedelte mit der Druckfahne seines Artikels über die Kehillah, übersät mit der allgegenwärtigen grünen Tinte des Herausgebers. »Ich bin kein Bauchredner. Sie können mich nicht zwingen, meine eigenen Worte zu schlucken. Es ist für die erste Seite, ja oder nein?«