Patrick Silver - Jerome Charyn - E-Book

Patrick Silver E-Book

Jerome Charyn

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  • Herausgeber: Diaphanes
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

In seinem früheren Leben war Patrick Silver einmal Cop. Und Kollege von Isaac Sidel. Jetzt ist der jüdisch-irische Koloss hauptberuflich Synagogenwächter und hoffnungsloser Guinnesssäufer. Sein Leben nimmt eine jähe Wende, als er als Aufpasser für das grauhaarige Baby Jerónimo Guzmann angeheuert wird, die absonderlichste Ausgeburt der Guzmann’schen Gangstersippschaft. Den verdächtigt Isaac Sidel, der »Lippenstiftmörder« zu sein, der kleinen Jungen erst die Gesichter anmalt, bevor er sie umbringt. Da bietet sich eine Reunion mit Patrick Silver geradezu an.

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Seitenzahl: 226

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Jerome Charyn

Patrick Silver

Inhalt

Teil Eins

Teil Eins

1

Patrick Silver ließ das Baby im Foyer des Plaza Hotel. Das Baby, das vierundvierzig Jahre war, saß in einem gepolsterten Sessel, die Hände im Schoß. Es hieß Jerónimo. Er war ein Junge mit Grau um die Ohren, ein Guzmann aus der Boston Road, dessen Ausbildung in der ersten Klasse stehengeblieben war. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens in einem Süßwarenladen unter der Aufsicht seines Vaters und seiner zahlreichen Brüder. Doch die Guzmanns lagen in Fehde mit der Polizei. Sie konnten das Baby nicht aus eigener Kraft beschützen. Sie mussten Jerónimo der Obhut Patrick Silvers anvertrauen. Patrick war vorübergehend sein Hüter.

Jerónimo hatte Brombeeren im Kopf. Einen Teppich unter den Füßen und Kandelaber um seinen Sessel herum, dachte er an die Farm der Guzmanns in Loch Sheldrake. Jetzt war Brombeerzeit, und Jerónimo wollte seine Finger ins Gestrüpp stecken und Brombeersaft trinken. Doch er war hundert Meilen von Loch Sheldrake entfernt und wartete in einem Hotel mit rostroter Wolle am Boden auf Patrick Silver.

Patrick Silver betrat den Fahrstuhl des Plaza in einem schmuddeligen Fußballtrikot. Dem Liftboy war unbehaglich neben einem Riesen, der nach Dubliner Bier stank. Silvers Gesicht war gerötet. Er kam ohne Schuhe ins Plaza. Er war einen Meter neunzig groß. Auf bloßen schwarzen Socken.

Patrick schlenderte die Gänge des dritten Stocks entlang. Die Zimmermädchen zogen ihre Wäschewagen beiseite; ein Mann ohne Schuhe war den Mädchen, die hinter den Wagen geduckt Patricks Socken anstarrten, ein Gräuel. Erst als Patrick an eine Tür klopfte, fuhren sie fort zu arbeiten. Er murmelte drei Worte: »Zorro schickt mich.«

Er trat in ein Zimmer, das für ein Hotel, dessen Aufzüge goldene Wände hatten und in dessen Teppichen ein Männerfuß versinken konnte, ungewöhnlich klein war. Hinter der Tür stand ein Mädchen in einem Pullover, der einst Jerónimo gehört hatte; ihre Schultern wirkten verloren, doch die Form ihrer Brüste konnte der Pullover nicht überspielen. Patrick war loyal, ohne Wenn und Aber. Die Guzmanns zahlten ihn dafür, sie zu beschützen und all ihre Interessen zu wahren. Dennoch war er nicht der Mann, den die Wirkung von Nippeln unter einem alten Pullover kaltließ.

Das Mädchen lächelte über Patricks Socken. Sie hatte schon von diesem verrückten Leibwächter gehört, der im Keller einer Synagoge wohnte und Fußballtrikots und ein Holster ohne Schusswaffe trug. Sein knorriges Gesicht gefiel ihr, die weißen Haare auf seinen Knöcheln und seine unvollkommene Nase. Das Mädchen war Odile Leonhardy, die jugendliche Pornoqueen, und sie bewunderte Männer mit gewaltigen Zinken. Sie war uptown gezogen und hatte sich im Plaza ein Zimmer gemietet, um den Durchbruch ins legale Filmgeschäft zu schaffen.

»Wo ist Ihre Jarmulke, Patrick Silver?«

»In meiner Tasche«, sagte er.

»Warum setzen Sie sie nicht auf?«

»Ich trage sie beim Beten, Miss. Oder wenn mir kalt ist.«

»Und das Baby?«

»Er sitzt unten.«

»Kann man ihn einfach so alleinlassen?«

»Kein Cop würde ihn je aus dem Plaza holen, Miss. Ich muss das wohl wissen. Ich war dreizehn Jahre Detective.«

»Nennen Sie mich nicht Miss. Ich bin Odile. Hat Zorro Ihnen nicht gesagt, Sie sollen Jerónimo zu mir bringen?«

Das Mädchen verwirrte ihn. »Nein. Zorro ist nach Atlantic City gefahren. Er hat mich gebeten, zu Ihnen zu gehen und Ihnen auszurichten, dass er eine Weile weg ist.«

»Was macht er denn in Atlantic City? Zorro hasst das Meer. Haben Sie ihn je sein Hemd ausziehen sehen?«

»Er ist nicht zum Baden dort. Er hat Geschäfte in New Jersey.«

»Na, wie auch immer. Tun Sie jetzt, was Sie tun müssen, Patrick Silver, und bringen Sie mir Jerónimo.«

Ob sie mit dem Baby Klatschespielchen machen wollte? Das ging ihn nichts an. Patrick drückte sich an den Wagen der Zimmermädchen vorbei und holte Jerónimo aus dem Foyer. Was für eine Macht hatte Zorro über das Mädchen? Sie löste Jerónimos Gürtel und knurrte Silver an: »Warten Sie draußen.«

Auf seine alten Tage wurde Patrick noch zum Makler (noch acht Jahre, und er würde fünfzig sein). Die Guzmanns hatten ihn zu einem irischen Zuhälter gemacht; er war derjenige, der Jerónimo in Odiles Bett führte.

Patrick musste dem Gesang einer Hure lauschen; er kam nicht von der Tür weg. Odile murmelte: »Jerónimo, Jerónimo«, und das Baby fing an zu stöhnen. Jerónimo schrie nicht aus Missvergnügen, das war klar.

Das Stöhnen hörte auf. Jerónimo konnte nicht mehr als drei Minuten dringewesen sein. Sein Gürtel war zugeschnallt, als Odile ihn rausbrachte. In ihrem Pullover waren noch dieselben Knitterfalten. »Sagen Sie Zorro, dass Odile ihm Glück in Atlantic City wünscht.«

»Wird gemacht, Miss.«

Patrick nahm das Baby bei der Hand und wanderte mit ihm durch die Korridore. Jerónimos Handfläche war feucht. Beim Gehen ließ er den Kopf hin und her baumeln, seine Schultern hingen schlaff herab und in seiner Brust pfiff es, als er Silver zu den Aufzügen zerrte.

Jerónimo brachte seinen irischen Hüter außer Atem. Patrick rang nach Luft. Die beiden alten Knaben traten in den Fahrstuhl. Die Insassen starrten sie an. Patrick und Jerónimo hatten gewaltige grauweiße Haarschöpfe; ihre dicken Kleider rochen nach Winter; der Riese im Fußballtrikot glaubte nicht an Schuhe.

Sie hielten wieder Händchen, als sie aus dem Aufzug traten; das Baby hielt Patrick am Daumen. Er führte seinen Hüter sicher unter dem Vordach des Plaza durch und in einen feuchtheißen Juli hinein.

Haartürme trieben sich am Busbahnhof rum, Haartürme und Spione. Schrotflinten beulten Dashikis aus, die Antennen von Funkgeräten kletterten Rücken hinauf, Zeitungspapier war in Büstenhalter gestopft; unter den wallenden Perücken steckten blonde »Engel« von der Abteilung des First Deputy. Sie gehörten zu Isaac Sidel. Ihr Chief hatte seinen Krieg gegen die Familie Guzmann verloren, eine Sippe von Zuhältern und Glücksspielbetreibern aus der Bronx, Marranen aus der Boston Road. Papa Guzmann und seine fünf Söhne Alejandro, Topal, Jorge, César und Jerónimo hatten den Zorn des Chiefs auf sich gezogen, als sie die Third Avenue Bridge überschritten, um mitten in Manhattan einen Hurenmarkt zu betreiben. Isaac dem Tapferen gelang es nicht, César, der in der Bronx Zorro genannt wurde, und seine Bande von Babyhuren in die Falle zu locken. Also hatte der Chief für seinen eigenen Rausschmiss gesorgt, war in der Bronx verschwunden und als ein Faktotum von Papa Guzmann in der Boston Road wieder aufgetaucht. Doch seine Nähe zu den Guzmanns brachte ihn nicht wirklich weiter. Was er aus der Bronx mitbrachte, war ein Bandwurm und eine schwarze Zunge, aber keine Verhaftungen.

Die blonden »Engel« würden die Blamage ihres Chiefs rächen. Sie durchkämmten Port Authority nach Hinweisen auf Zorro und seine Brüder. Wie gern hätten sie Alejandro das Genick gebrochen, Topal in der Kloschüssel ertränkt und Zorro kleine Münzen in die Augen gedrückt.

Sie fanden überhaupt nichts. Zorro ging in seidenen Unterhosen zwischen den Dashikis spazieren. Sein Gesicht war mit zerlaufenem braunem Wachsstift beschmiert, und er trug einen Bastkoffer wie die Chicanos, die jeden Sommer zur Süßkartoffelernte nach New Jersey geschmuggelt wurden. Sein Bruder Jorge war bei ihm. Unter Jorges Ohren klebte zerlaufene Farbe in kleinen Krümelchen.

Die Brüder stiegen in einen Bus mit alten Rattansitzen. Zorro hatte für seinen Bruder eine Banane aus der Bronx und einen Koffer voller Äpfel aus dem Obstgarten seines Vaters mitgenommen. Die Äpfel hatten leichte Druckstellen. Die Guzmanns hatten sie gerade erst gepflückt, als Isaacs Freunde vom FBI sich mit einem Schweißbrenner auf das Anwesen geschlichen und Papas Farm den Garaus gemacht hatten.

Für ihren Papa ertrugen die Jungen die Rattansplitter der alten Sitze in ihren Hintern. Sie fuhren einen Laufburschen namens Isidoro besuchen, der zu Papas entfernten Cousins zählte.

Der Laufbursche hatte Papa seine Existenz zu verdanken. Er nagte in einer Hütte am Rand von Bogotá am Hungertuch, als Papa Isidoro rettete und ihn in einen Süßwarenladen in der Bronx brachte. Dieser Süßwarenladen hatte vielerlei Funktionen: Für die Guzmanns war er Hauptquartier, Krankenhaus, Schlafsaal und Lotteriebank in einem. Isidoro wäre zufrieden gewesen, Bitterschokolade zu essen und in dem Laden eine Glatze zu kriegen, wenn Isaac nicht gekommen wäre. Weil es dem Chief nicht gelang, einen von Papas fünf Jungs zu korrumpieren, machte er sich an Isidoro ran. Er jagte dem armen bogotano Angst ein, indem er ihm verriet, was die Polizei von Manhattan mit Laufburschen machte. »Sie bohren dir Löcher in die Zunge, wenn ich dir nicht beistehe, Isidoro. Du hast hier keine Zukunft.«

Mit dieser und anderen Schmeicheleien kriegte er Isidoro rum. Der Laufbursche fing an, für Isaac zu spionieren. Seine Enthüllungen waren unbedeutend; er verkaufte dem Chief nur unzusammenhängende Informationsfetzen. Als Isaac den Süßwarenladen auseinandernahm, verzog der Laufbursche sich nach Atlantic City. Als Isidoro und Isaac gleichzeitig verschwanden, musste Papa Guzmann sich nicht lange den Kopf zerbrechen, um sich das liebevolle Verhältnis zwischen seinem Cousin und Isaac dem Scheißer auszumalen.

Die Brüder trafen am alten Busbahnhof an der Arctic Avenue ein. Jorge litt Hungerqualen. Er hielt sich den Bauch und jammerte erbärmlich; er hielt Ausschau nach Süßkramverkäufern, die es nicht gab. Zorro hatte keine Bananen mehr in der Tasche. Aber er musste Jorge beruhigen; das Quengeln eines Mannes mit fünfzig Zentimeter Halsumfang hätte die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt und die Guzmanns in Atlantic City geortet. »Wein nicht, Jorge. Am Strand kriegst du was Süßes.«

Sie gingen über die Arkansas Avenue zur Strandpromenade und kauften Jorge unterwegs in einem Hadassah-Laden eine Mütze, damit ihm die Sonne nicht in die Augen schien. Sie kamen an einer Reihe niedriger, verwahrloster Hotels an der Pacific Avenue vorbei, mit morschen kleinen Terrassen und Veranden, hinter den Jalousien alte Männer. Die große, stockfleckige Kuppel des Claridge funkelte von der South Indiana Avenue herüber. Der Geruch von Sonnenöl schlug den beiden Brüdern entgegen, als sie den Strand erreichten. Ohne den Schutz der Arkansas Avenue waren sie dem heißen Wind ausgesetzt.

Die Krümmung des Boardwalk verdross Zorro. Auf Holz, das sich von seinen Füßen fortbog, konnte er nicht weit gehen. Er brachte Jorge zu einem Laden, wo es Fudge zu kaufen gab. Jorge strahlte das Förderband an, das geröstete Erdnüsse vom Fenster zu einem Ofen ganz hinten im Laden beförderte. Eine Marionette mit flinken Händen rührte in einer Kupferschale hinter den Erdnüssen Buttertoffeemasse. Das buschige Haar der Marionette erinnerte Jorge an seinen älteren Bruder. »Jerónimo«, grunzte er und vergaß einen Moment lang seinen Bauch. Er wollte kein Fudge mehr – ob schwarz, weiß, grün oder gelb. Zorro musste ihm Schokoladengeld, Gummibärchen und Mandelmakronen kaufen.

Sie schleppten sich die holperige Promenade entlang und wichen den übervollen Bimmelbahnen aus, deren Passagiere große Cowboyhüte trugen und Rum aus kleinen Fläschchen nuckelten. Sie lachten über Zorros buntbemaltes Gesicht. »Komm mit, du Clown.« Jorge hätte die Bimmelbahnen auseinandergenommen und sämtliche Hüte über die Promenade verteilt, wenn Zorro ihn nicht mit einem Daumen in seiner Hose zurückgehalten hätte. »Papa hat doch gesagt, du sollst dich nicht mit Idioten anlegen. Wir verlieren noch Isidoros Spur. Bruder, denk daran, was Isaac uns angetan hat. Er hat versucht, Jerónimo umzubringen. Er hat uns das Landhaus weggenommen.«

Jorge warf mit Makronenstücken nach der Bimmelbahn. Er grollte Flüche, die nur ein Marrane hätte verstehen können. Er sprach wirres Portugiesisch. Aber er riss keine Karosserieteile von den Waggons. Er blieb einen Schritt hinter seinem Bruder. Von den Sonnenterrassen monströser steinerner Hotels, die bis an den Rand der Promenade reichten, starrten sie die Leute an. Der Rost auf den Kupferdächern der Hotels war schleimig grün geworden. Die Steinmauern der Sonnenterrassen bröckelten unter der Oberfläche. Jorge fuhr die aufgeworfenen Stellen mit dem Finger nach.

Die Unreinheiten im Stein schimmerten unter dem weichen Schirm seiner Mütze. Eine Hand an der Mauer, wäre Jorge immer weitergebummelt, doch Zorro brachte ihn von den Sonnenterrassen fort. Ein Ruck an seiner Hose, und sie standen in einer Zigeunerbude, die nicht mehr als eine hässlich klaffende Wunde in der Mauer war. Das Wort »Phrenologie« war in hübschem Gelb über die Bude gepinselt. Das erschreckte Jorge, der keine langen Wörter lesen konnte, obwohl er gescheiter war als Jerónimo. Jorge konnte eine Krawatte bügeln, in ganzen Sätzen reden und unter Aufbietung all seiner Standhaftigkeit ins Herz einer Kloschüssel pinkeln. Wie alle seine Brüder hatte er keinen bestimmten Geburtstag (was solche Ereignisse betraf, war sein Vater abergläubisch), doch er war ein Sommerkind, im Januar geboren, während der peruanischen Trockenzeit vor knapp vierzig Jahren.

In der Zigeunerhöhle spürte Jorge einen Hauch im Nacken. Eine schwangere Frau in einem Herrenunterhemd saß hinter dem Eingang der Bude. Sie hieß die beiden Brüder mit einem gewaltigen Gähnen in ihrer Höhle willkommen; ihr Unterhemd legte sich in Falten, und durch ihren Bauch zogen sich Risse. Zorro interessierte sie nicht. Ihr gefielen kleine Ohren an einem großen Kopf. Jorge musste sich für die Zigeunerin bücken. Die Frau atmete in seinen Skalp. Ohne Jorge zu berühren, konnte sie die Form seiner Ohrläppchen und die Größe der Unebenheiten auf seinem Schädel deuten. »Dieser Junge begehrt Frauen«, sagte sie. »Gib acht auf ihn. Seine Knie sind nicht stark. Er wird zu Fall kommen.«

»Alles klar«, sagte Zorro. »Wunderbar. Ich werde auf die Knie meines Bruders aufpassen.« Er ließ fünf Dollar in das Unterhemd der Zigeunerin fallen. »Madame Sonia, sparen Sie sich Ihre Voraussagen. Unsere Religion gestattet uns keine Zukunft. Wir sind katholisch, aber im prähistorischen Sinn. Wir lieben Jesus, aber für seine Mutter haben wir keine besondere Verwendung. Erwarten Sie also kein Mitleid von uns. Mein Vater sehnt sich nach seinem Cousin. Wo ist Isidoro? Sie sollen jetzt seine Wirtin sein, heißt es.«

Der bogotano war nicht besonders helle. Die Hälfte von Papas Springern und Eintreibern machte am Boardwalk zwischen Texas Avenue und Steeplechase Pier Urlaub, weil Miami zu weit weg war. Die Springer hatten Isidoro mit der schwangeren Hexe gesehen.

»Nun seien Sie nicht so, Sonia. Sie haben die Wirbel im Haar meines Bruders gezählt. Er hat jetzt schon Heimweh. Sehen Sie’s denn nicht? Er kriegt Blähungen, sobald er die Bronx verlässt. Wo ist Isidoro?«

Ein Junge sprang hinter dem Stuhl der Hexe hervor. Er hielt Jorge einen kleinen Revolver an den Kopf. Zorro bemerkte, dass er schiefe Zähne hatte und dass der mit Klebeband umwickelte Lauf des Revolvers in Jorges Ohr zitterte. »Das ist mein Sohn«, sagte die schwangere Zigeunerin. »Er hört auf mich. Er bläst deinem Bruder die Birne weg, das schwöre ich. Verschwindet aus Atlantic City.«

Jorge ließ sich nicht verdrießen. Eine Knarre in seinem Ohr konnte ihn nicht erschüttern. Er aß ein Gummibärchen und legte zwei Finger um die Trommel des Revolvers. Jorges Handbewegung machte die Hexe stutzig; es erschien blödsinnig, eine Schusswaffe mit zwei trägen Fingern zu streicheln.

Zorro rieb sich die Backe. Die Marranen verachteten Schusswaffen (die waren für Banditen in der Großstadt und für Cops wie Isaac die Kröte da), aber Zorro konnte sehen, mit welcher Hartnäckigkeit sein Bruder zupackte. Er grub der Hexe einen Fingernagel in den Bauch. »Bring mir Isidoro.«

Der Junge fauchte Zorro an und versuchte, den Abzug zu lösen; die Trommel ließ sich nicht drehen. Mit seinen zwei Fingern hatte Jorge den Revolver blockiert. Die Hexe wand sich auf ihrem Stuhl. Die Guzmanns mussten Untermenschen sein, Geschöpfe mit stinkenden Seelen; wer sonst hätte Bleikugeln mit dem Druck eines Daumens zurückgehalten? »Misters, tun Sie meinem Jungen nichts.«

Die Waffe verschwand in Jorges Ärmel. Die Zigeunerin wackelte mit dem Kopf. Nur Männer, die die dampfende Pisse christlich-jüdischer Heiliger tranken, konnten so starke Zauberer sein. Sonia hatte von den Marranen gehört, die Moses auf dem Sinai, Jesus, Jakob und die Könige von Babylon zu ihrem Schutz anrufen konnten. Sie führte die Brüder aus der Höhle und in das dichte Gras ihres Privatgrundstücks, ein schmaler Keil Land hinter der Pennsylvania Avenue. Auf dem Rasen der Hexe gab es keine Bimmelbahnen, nur das Aushängeschild eines alten Restaurants, The Merman’s Roost, und Blechstücke, die wie eine Gondel oder ein schmales Schiff aussehen sollten und auf dem Boden vor sich hin rosteten; die Ränder der Gondel waren angenagt, und in der Mitte warfen sich enorme Blattern auf.

Eine Gondel im Gras irritierte Jorge. Man konnte sich die Hose zerreißen, wenn man über ein Boot stieg, das Zähne an seinen ohrenartigen Auswüchsen hatte. Zorro musste seinen Bruder über das Aushängeschild führen, Schritt für Schritt. Rost beschmierte Jorges Schuhe.

Die Zigeunerin brachte sie zu einem niedrigen Häuschen am Ende der Parzelle. Die Brüder fanden keine benutzbare Tür. Sie mussten durch ein Loch im Gitter der Veranda kriechen, um in das Haus der Zigeunerin zu gelangen. Der Laufbursche machte ihnen keinen Ärger. Er rief Zorro von der Küche aus zu: »Was kann ich für dich tun, César? Ich vermisse den Tee deines Vaters. Mir fehlt die Geduld, Gebete über den Kessel zu sprechen. Wie Papa es tut.«

»Isidoro, meine Zunge ist heute nicht trocken. Ich komm auch ohne deinen Tee klar.«

Der Laufbursche schlurfte im Schlafanzug durch die Küche. Zorros Groll war verflogen; er hätte nicht grob zum Cousin seines Vaters sein sollen. Die Guzmanns tranken dunkelroten Tee mit Isidoro. Jorge verbrannte sich die Finger am Glas. Isidoro gestattete sich ein schüchternes Lächeln. Die Krypto-Juden aus Spanien, Portugal, Holland, Brasilien, Peru und der Bronx konnten nur brühheißen Tee genießen; das Feuer in ihrer Gurgel sagte ihnen, dass sie noch am Leben waren.

Mit rotem Tee im Magen legte sich Zorros Wut. Es galt Finanzielles zu besprechen. »Isidoro, Papa schuldet dir einhundertsiebzig Dollar. Ich habe es in seinem Rechnungsbuch gelesen. Wie soll der Betrag gezahlt werden? An die Zigeunerin und ihren Sohn?«

»Zur Hälfte«, sagte der Laufbursche. »Die Hälfte an Madame Sonia und die andere Hälfte an das Waisenhaus in der Stebbins Avenue.«

»Isidoro, du kennst die Dummköpfe, die dieses Heim verwalten. Deine Wohltätigkeit wird in die Tasche eines reichen Arztes fließen.« Die verquollenen Augen des Laufburschen kappten Zorros Einwand. Er malte eine Zahl auf seine Manschette; dort erledigten die Guzmanns den größten Teil ihrer Rechnerei. »Fünfundachtzig Dollar an die Waisen der Stebbins Avenue«, verkündete Zorro. Dann umarmten er und Jorge Isidoro; die drei wiegten sich vor dem Ofen der Zigeunerin. Die Brüder waren dem bogotano immer noch zugetan.

Sie hielten einander noch im Arm, als Jorge schniefte und Isidoro sich nach Jerónimo erkundigte. »Das Baby ist in guten Händen. Papa hat ihm einen Leibwächter zugeteilt. Einen irischen Gorilla.« Da roch Zorro Isaac auf Isidoros Schlafanzug. Er beendete die Umarmung.

»Isidoro, du hättest dich nicht mit Isaac dem Scheißer einlassen dürfen. Warum hast du nicht bei einem anderen Bullen gesungen …?«

Jorge knallte seinen Ellbogen unter den Mund des Laufburschen. Isidoro krümmte sich nicht an Jorges Brust. In seine Augäpfel trat kein Blut. Die Adern auf Isidoros Wangen wurden nicht zu schrecklichen, blau anlaufenden Würmer. Die Knochen hinter seinen Ohren knackten einmal, und der Laufbursche war tot.

Am späten Nachmittag würde ein Lastwagen eintreffen. Die Guzmanns waren keine Frevler. Für Papas Cousin waren Vorkehrungen getroffen worden. Er würde nicht in der Erde von New Jersey ruhen müssen. Der Wagen würde ihn auf den Friedhof der Guzmanns in Bronxville transportieren, und dort würde sich eine bestellte Trauergesellschaft um Isidoros willen die Kleider zerreißen und um ihn klagen, bis der Himmel schwarz wurde.

Die Brüder verließen das Haus durch das Loch im Gitter, stiegen über die rostige Gondel und traten aus der Höhle der Zigeunerin. Sie schlossen sich in einer Toilette am Steeplechase Pier ein. Zorro leerte seinen Koffer aus. Äpfel, zwei bunte Halstücher, Röcke, eine Bluse, hochhackige Schuhe. Jorge verließ den Pier mit den beiden bunten Halstüchern auf dem Kopf und Äpfeln in seiner Bluse. So würde Zorro sie unerkannt zum Laden seines Vaters zurückschaffen. Isaac der Scheißer hatte auf der ganzen Boston Road Bullen aufgestellt. Nur Nigger, Kinder und Mädchen mit bunten Kopftüchern waren sicher.

Jorge bekam schlechte Laune von all den Schals, Blusen und Röcken. Er ließ die Äpfel bis zur Hüfte rutschen. Dann stakste er über die Strandpromenade davon. Zorro kam nicht zur Arkansas Avenue, ohne seinem Bruder noch mehr Gummibärchen zu kaufen.

2

»Die dunklen Flaschen, Sammy, wenn ich bitten darf. Im üblichen Kübel. Ich hab einen Durst, der ein Nilpferd umhauen könnte.«

Patrick Silver trank sein Guinness warm. Es kam aus Dublin in winzigen Flaschen, die zeremoniell hinter der Theke gestapelt waren. The Kings of Munster konnten ihren besten Kunden nicht hängen lassen. Als irische Bar in der Horatio Street ging ihnen das Guinness nie aus.

Silver brauchte seine zwanzig Schlückchen. Erschöpft von dem Joch der Synagoge kehrte er im The Kings of Munster ein. Immer nach dem Abendgebet stellte der Barkeeper zwei Krüge für ihn bereit. Patrick war das Los zugefallen, einen Minjan (ein Quorum von zehn aufrechten Juden) für seine Shul zusammenzutrommeln. Seine Technik, Juden einzufangen, war eigentümlich. Er hockte sich auf die Stufen der Synagoge und zirpte die Passanten an, ob Kleinkind, Mann oder Junge. »Sind Sie Jude, Sir?« Wenn man auch nur einen Moment zögerte, war man verloren. Patrick schlug von der Treppe aus zu, packte einen am Arm und zerrte den Betreffenden hinein. Er konnte zwei Männer oder drei Jungen auf einmal tragen. Jerónimo erleichterte ihm diese Aufgabe. Er hängte dem Baby einen Gebetsschal über den Kopf und zählte ihn zum Minjan. Jerónimos Gemaunze kam nicht gegen das dröhnende Summen des Minjan an. Wenn ihm nur ein Jude abging, hatte Patrick sein Gebetbuch. Er wickelte es in die Fransen seines Schals, sprach einen Segen, und das Gebetbuch wurde zu Patricks zehntem Mann.

Doch die Belastung durch so viele Minjans zerrte an Patrick, der sich um die Synagoge und das Baby kümmern musste. Daher saß er im The Kings of Munster auf dem Hocker, der ihm am liebsten war, weit ab vom Fenster und der Hundescheiße auf der Horatio Street, die sich im Juli so schnell ausbreitete; für einen Iren war es gefährlich, vor die Tür zu gehen. »Gottes Segen«, sagte er zu dem Barkeeper Sam, ehe er aus dem Krug trank.

Silver ging liebevoll mit seinen Flaschen um. Ihm wuchs kein Guinness-Schnurrbart, ehe die sechste Flasche eingeschenkt war. The Kings of Munster war keine Säuferbar. Patrick nippte am Bier, steckte seine Zunge in den bitteren Schaum. Er verabscheute amerikanisches Bier, pissblonde Plörre, die mit Seifenwasser gebraut wurde. Silver war ein Guinness-Kind, mit einer schwarzen Flasche im Mund geboren. Sein Vater, der in Limerick Bleistifte herstellte, bis ein verrückter Priester alle Juden fortjagte, hatte ihn ins The Kings of Munster mitgenommen, als er einen Monat alt war, und ihn auf den Tresen gesetzt. Und so lernte Patrick krabbeln, auf einer welligen Eisenschicht, die mit Whiskey und Dubliner Bier galvanisiert war. Er brauchte seine Nase nicht heimlich in den Krug eines Gentleman zu stecken. Er trank sein Guinness direkt vom Tresen, angewärmt und mit einem leichten Beigeschmack nach Zink.

Bei der zwölften Flasche hatte Patrick an drei Seiten seines Gesichts Schnurrbärte. Er fing an, die Lieder seines Vaters über die Hexen, Riesen und Kröten von Limerick und den Brand der Wolfe Tone Street zu grölen. Stockbesoffen war er, das Guinness kam ihm aus den Ohren raus, da sah er einen bösartigen Chrysler dreimal am Fenster der Kings vorbeifahren. Patrick spuckte sich in die Hände, um die Racheengel zu verscheuchen, die womöglich über der Horatio Street schwebten. Er kannte sowohl den Besitzer dieses Wagens als auch seinen häufigsten Fahrgast. Er verabschiedete sich von Sammy, zog die Hosen hoch und humpelte aus der Bar.

Es war trügerisch, auf Socken auf den Abingdon Square einzubiegen. Aber Patrick konnte einfach keine Schuhe tragen. Leder an den Füßen verursachte ihm scheußliche Blasen. Als Cop war er der Gnade seiner Vorgesetzten ausgeliefert gewesen: Der Police Commissioner duldete keine unbeschuhten Detectives in seinem Dunstkreis. Patrick musste alle seine Schuhe in seinem Schuhschrank mit Wattebäuschen auspolstern. Dreizehn Jahre lang war er auf Watte gegangen und hatte über die zahllosen Blasen gejammert, die er sich dabei einhandelte. Die Ärzte im Bellevue hatten noch nie von einem Cop mit derart empfindlichen Füßen gehört. Patrick mied Fußpfleger und ihr Gerede über Wunderpulver. Wenn er einen Dieb jagen musste, hopste er schmerzgepeinigt herum.

Jetzt hielt er Ausschau nach Hundescheiße. Bei den Bänken des Abingdon Square Park bog er ab, wobei er im Halbschatten zwischen den Straßenlaternen auf der Hut war. Abends war er etwas kurzsichtig. Die Halbglatze im Park bemerkte er erst, als sie ihm etwas zuzischte. »Komm her, Silver.«

Patrick stöhnte. »Hätt ich mir gleich denken können, dass du das in dem Wagen vom First Deputy warst. Warum zum Teufel folgst du mir?«

Der Mann auf der Bank war Isaac, Isaac der Tapfere, der seine roten Backen in der Bronx verloren hatte. Und den größten Teil seines guten Aussehens. Er hatte tiefe Furchen in der Stirn, die selbst im Dunkeln nicht weggingen. Sein Kiefer saß krumm auf einem ausgemergelten Hals. Ein Guzmann musste Isaac die Zähne eingeschlagen haben.

»Patrick, es ist nicht nett von dir, uns zu ignorieren. Commissioner Ned war wie eine Mutter zu dir. Er hat dich im Präsidium aufgezogen. Du solltest ihn noch mal besuchen, ehe er stirbt.«

»Wenn ich je in die Nähe des Präsidiums käme, würdest du mich in Ketten legen und mir die Zehen abschneiden.«

»Dein Kopf könnte auch mal einen Schnitt vertragen … wo ist Jerónimo?«

Patrick verlor beinahe den Halt in seinen schwarzen Socken. Er kannte die Tricks des First Deputy. Isaac hatte ihm nicht im Park aufgelauert, um ein Schwätzchen zu halten. Das hier waren clevere Typen. Isaacs »Kinder« mussten hier herumschnüffeln, engelsgleiche junge Detectives, die schamlos eine alte Shul gefilzt hätten. Patrick musste schnell nach Hause, ehe die Engel Jerónimo kidnappten. Doch das Guinness hatte ihm eins hinter die Ohren gegeben. Er konnte nicht mit zwei verknoteten Beinen loslaufen.

»Ich hab dich gefragt, wo Jerónimo ist.«

»Isaac, mein Bester«, sagte Patrick in seinem besten Irisch, einem Akzent, den er in der Synagoge in der Bethune Street eingesogen hatte, umgeben von einer ständig schrumpfenden Gruppe von »Itzigs«, die Irland seit neunundsechzig Jahren nicht mehr gesehen hatten. »Der Junge schläft. Heute haben wir geschlemmt. Schokoladentorte aus dem Laden seines Vaters. Nach einem guten Essen macht er gern ein Schläfchen.«

»Hat er Blut an den Händen?«

»Wieso?«

»Weil er auf den Dächern gespielt hat.«

Auf einem Dach über der Charles Street war ein kleiner Junge mit aufgeschlitzter Kehle gefunden worden. Jemand hatte ihm Augen, Ohren und Lippen dunkelrot angemalt. Homicide Squads aus Manhattan South durchforsteten die Gegend nach möglichen Kindermördern.

»Red keinen Käse, Isaac. Das Kerlchen geht nie höher als ins Erdgeschoss. Fenster und Feuerleitern setzen ihn außer Gefecht. Ich muss es wissen. Wir kleben seit einem Monat zusammen. Ich bin ständig bei ihm.«

Isaac trat aus dem Schatten. Er hatte keine einzige Locke im Gesicht. Da, wo früher seine Koteletten gewesen waren, hatte er jetzt schorfige Stellen. Ohne diese Haarbüschel wirkte er entblößt. Doch er konnte einen immer noch anschnauzen.

»Kein Wunder, dass Jerónimo bei dir wohnt. Ein perfektes Paar, du und das Baby. Patrick, du bist der dümmste Detective seit Menschengedenken. Der First Dep war dein Rettungsanker. Ohne seine Zuneigung wärst du längst ersoffen. Wenn du Minute für Minute Rechenschaft über Jerónimo ablegen kannst, dann sag mir, wo er jetzt ist.«

Schwarze Dämpfe blubberten aus Patricks Nase: Er schnaubte Luft und Guinness gegen Father Isaac. »Ich hab dir doch gesagt, das Kerlchen schläft.«